Zum 25. Gründungsjubiläum der Kunststiftung Nordrhein Westfalen wurde ein Erzählband konzipiert, der, so im Vorwort, zeigen soll, »was das Land Nordrhein-Westfalen an Literatur zu bieten hat«. Herausgekommen ist ein Band mit 29 Erzählungen von Autorinnen und Autoren, die jeweils mit einem Ort in Nordrhein-Westfalen verknüpft sind; einem Geburtsort, Wohnort, Studierort, manchmal auch nur einem Sehnsuchts- und Vergangenheitsort. Geplant sei dies nicht gewesen, so die beiden Herausgeberinnen Bettina Fischer und Dagmar Fretter, aber am Ende seien es mehr als man dachte Heimatgeschichten geworden. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen und der drohenden Vereinnahmung durch den Kitsch entgegenzuwirken wurde wohl der relativierende Titel »Eigentlich Heimat« gefunden.
Was Separatisten wie Wilfried Scharnagl nie einleuchten wird: Bindestrichländer sind nicht trotz sondern wegen ihrer Vielheit, ihrer Heterogenität, interessant. Das wird im vorliegenden Band sehr schön sichtbar, obwohl es mit dem Ruhrgebiet und dem Großraum Köln durchaus Schwerpunkte gibt. Zu Beginn erzählt Jörg Albrecht (»Vor dem Roadmovie«) von den Vorbereitungen zur 30-Jahr-Feier der leicht dystopisch angehauchten »Ruhrstadt« (53 Städte von Camp Lintfort [sic!] bis Hamm haben sich zusammengeschlossen), die im »nächsten Jahr«, hier: 2045, anstehen soll und von der Sehnsucht seiner Bewohner, die Zeit vor dieser Vereinigung, die Zeit des wimmelnden, unorganisierten »Ruhrgebiets«, wieder aufleben zu lassen.
Fast ein Drittel der Erzählungen des Buches umfassen dieses »Ruhrstadt«-Gebiet, was unausweichlich zu gelegentlichen Redundanzen führt. So ist der Wuppertaler Regen mindestens drei Mal präsent. Aber auch sonst ist das Wetter sehr häufig schlecht. In »Ostwestfalen« erzählt Tilman Rammstedt von zwölf verschiedenen Worten für Regen im lokalen Dialekt. Und aus dem immerhin zweimal vertretenen Siegen berichten Navid Kermani (»Woher ich stamme«) und Hanna Lemke (»Glückaufstraße«) ebenfalls übereinstimmend von Dauerregenwetter. Thorsten Krämer entdeckt trotz des Regens in Wuppertal ein Miniatur-NRW: Barmer und Elberfelder entsprechen temperamentsmäßig Westfalen und Rheinländern (»Der erste Wuppertaler«). Auch Judith Kuckarts »Erinnerungsalphabet Wuppertal« (ganz viel Pina Bausch!) zielt in diese Richtung.
Viele Erzählungen sind im besten Sinne Heim-Suchungen, Zeitreisen in die Orte der Kindheit; Rückbesinnung und Abtauchen aus dem hektischen Metropolen-Leben wie beispielsweise aus Berlin. So geht Marc Degens in »Dorsten« in den »Schreibknast«, genießt die Versorgung zu Hause und wird nur einmal überrascht, als er eine vollkommen leere Straßenkreuzung bei Rot überquert und 5 Euro beim umtriebigen Polizisten bezahlen muss. Am Ende klappt er im zur Abfahrt bereitstehenden Zug sein Notebook auf – und das »Leben« hat ihn wieder. Markus Orths besucht seine »Damalswelt« an der Niers und lokalisiert seinen »Heimatphantomschmerz«. Kein falsches Wort hier. Marion Poschmann empfiehlt in »Bad Münstereifel, ein Selbstversuch« einen Besuch der Kurstadt im Winter. Auch hier gibt es viel Regen aber einen Abstecher in einer »Karnevalsorden-Manufaktur« und anschließend sieht man förmlich schon die duftende Kaffeetafel.
Grandios Barbara Köhlers »Inseln gelegentlich«, eine Umrundung eines künstlichen Sees (»Entenfang«) im Niemandsland zwischen Duisburg und Mülheim-Ruhr mit dem fast schon mystischen Zentrum, dem Kiosk »Schlemmer-Insel«. (Unbedingt besuchen, habe ich mir notiert.) Auch »Kiesgrube Römlinghoven« von Esther Kinsky ist eine sehr dichte, epische Erzählung. Der Autorin gelingt wie beiläufig eine Kultur- und Sozialgeschichte ihres Kindheitsortes, einer Kiesgrube und deren Wandlungen im Laufe der Zeit. Christoph Peters besucht in »Heimreise« seine Eltern in Hönnepel, »Stadt Kalkar, Kreis Kleve«, erzählt von »seinem« Fluß, dem Rhein, als Tröster (»nirgends lieber allein mit meinem Schmerz«), kokettiert mit einer gewissen Verklärung, gibt sich aber dem »prähistorischen Früher« am Ende gerne hin. Wie auch Julia Trompeter mit ihrer wunderbar elegischen Erzählung über »Die Bienen von Hohkeppel«, die sie auf dem Friedhof beobachtet.
Eine fast reine Ortserzählung hat Sabrina Janesch mit »Münster, Blicke« komponiert, in dem sie ein Hollandrad um den Münsteraner Hauptbahnhof kreisen und ähnlich wie Peter Handke in »Die Stunde da wir nichts voneinander wussten« Passanten auf- und auch wieder abtreten lässt. In »Langendreer Dorf (Bochum)« unternimmt man eine Führung von und mit Wolfgang Welt in »sein« Stadtviertel und erfährt, in welche Geschäfte er geht und in welche nicht (und warum). David Wagners Erzählung »Bonner Loch« kommt einem zuweilen wie eine »Billard um halbzehn«-Szene vor.
Sehr eindrucksvoll sind auch zwei Geschichten, die das Schicksal von Menschen in ihrer Heimat zum Gegenstand haben. Norbert Scheuers »Drei Pfeile« erzählt vom Unglück eines früher als Globetrotter umherreisenden, jetzt verlassenen Kauzes in der Eifel. Und Thomas Pletzinger wählt Hagen als Ort für die letzten Stunden eines Mannes vor seinem Tod (»Was soll ein Mensch wie Franz Bruck bei McPaper?«). Bis auf drei Erzählungen sind alle neu, zum Teil Romanauszüge, die neugierig machen wie Burkhard Spinnens »Gladbach«, das die Bedeutung der Fußballmeisterschaften der 1970er Jahre von Borussia Mönchengladbach für diese eigentlich eher provinzielle Stadt fassbar zu machen verspricht.
»Eigentlich Heimat« ist eine sehr schöne, bisweilen luftige Reise durch Städte und Landschaften Nordrhein-Westfalens. Im gut editierten Autorenverzeichnis am Ende des Buches wird man zuweilen überrascht sein, dass viele Autorinnen und Autoren jünger sind, als man bei den oft melancholisch angehauchten Texten dachte. In die Idyllen- und Nostalgiefalle wird glücklicherweise selten getreten. Ein bisschen schade nur, dass die Erzählungen strikt alphabetisch nach Autorennamen sortiert abgedruckt wurden und damit auf eine ästhetische Komposition der Reihenfolge der Texte verzichtet wurde. Sei’s drum: »Eigentlich Heimat« ist ein ideales Geschenk – und zwar sowohl für Ausgewanderte als auch neue Einwanderer.
Danke für die Vorstellung. Ist erstaunlich, wie leicht man eine große Anzahl regional verankerter Texte versammeln konnte. Unwillkürlich werden Erinnerungen aus dem Deutsch-Unterricht (Mittelstufe) wach. Das macht mir ein ganz klein bisschen Angst. Wie in diesen Alptraumen, wo man wieder die Schulbank drückt. Jede Wette, dieses Buch kommt in den Lehrplan.
@kalte sophie: schon länger nicht mehr mit Schülern über den Deutschunterricht gesprochen, oder?
Sie haben durchaus recht damit, daß Bindestrichbundesländer etwas Spezifisches zu bieten haben können, denn schließlich, wie auch im Falle Nordrhein-Westfalens, treffen dort oftmals unterschiedliche Mentalitäten und auch Sprachen (im Sinne etwa von Ober- und Niederdeutsch) aufeinander. Allerdings fällt mir in NRW immer auf, wie sehr dort die Gleichförmigkeit des Lebens betont wird, »is’ eben so, kann man machen nix«, aber so lange, so mein Eindruck, alle schön fleißig sind und sich nicht dicketun, wird’s schon gehen, was sich im »Ça va« des Ruhrgebiets ja sprachlich deutlich zeigt: »Wie is’? Muß!« Ich selber stamme ja, und da kann ich ja schließlich nichts zu, aus Schwerte an der Ruhr, und was soll ich sagen, die Stadt ist nicht nur ein Regenloch (klar!), sondern in all ihrer Mittelmäßigkeit ein Paradebeispiel für die Art, wie in der alten BRD gelebt wurde und ! wird. Was diese Stadt aber so besonders macht ist, daß sie überhaupt nur selten in den Medien auftaucht (außer wenn Stau ist auf der A 1), und in den meisten Ruhrgebietsreiseführern steht sie nicht drin, weil an der Grenze zum Sauerland verortet, in denen zum Sauerland aber auch nicht, weil schon nördlich der Ruhr, ja sie hatte sogar nie ein eigenes Nummernschild (SWT wäre toll gewesen) und heutigentags nicht einmal mehr ein Kino. Imgrunde ist Schwerte heute eine Schlaf- und Sterbestadt, die es wohl zurecht nicht in das von Ihnen besprochene Regenbuch geschafft hat (oder?) und in der ich tatsächlich immer von der Polizei angehalten werde, wenn ich da mit dem fremden B‑Nummernschild durchfahre.
Fast. Thomas Pletzinger lässt Franz Bruck »unter der Eisenbahnbrücke angeln, gleich da, wo sich Lenne und Ruhr zusammentun, die Züge rauschen über dem Wasser und seinem Kopf entlang. Die Verbindung nach Berlin ist nicht schlecht.« (S. 169) Glaubt man Google Maps, ist das nur fünf Bahnkilometer von Schwerte entfernt.
In Hagen bin ich fünf Jahre lang aufgewachsen, aber den Zusammenfluss erinnere ich nicht. So wie später die Türme des Doms ein Nachhausekommen signalisierten, auch wenn es sich noch eine ganze Weile lang hinzog, bis der vertraute Geruch der Wohnung endlich wieder die Nase füllte, so waren es damals die Buchstaben RWE oben auf den Röhren des Koepchenwerks über dem Hengsteysee. Fast meine gesamte Grundschulzeit wohnten wir in Boele, zentral, Schwimmbad und Krankenhaus in der Straße, Bäckerei gegenüber, zur Kirche und Schule nur über die Straße.
Mein Vater arbeitete bei Feldmühle in Kabel. Sie sicherten die Qualität der Papierproduktion mit Computerhilfe, das war vielleicht neu damals. Wenn mein Vater Endlospapier mitbrachte, spielten mein Bruder und ich mit bunten Smarties als Knöpfen Computer. Er rechnete mit einem programmierbaren Taschenrechner von Texas Instruments und konnte ein Spiel Mondlandung draufladen. Das zeigte aber nur Zahlen an, Höhe und Treibstoff, und man musste eine Zahl eingeben, die den Schub bedeuten sollte, und das in einer Schleife, bis die Fähre sanft zu Boden gebracht war. War mir zu langweilig.
Der Umzug ans andere Ende der Stadt, die neue Grundschule erst und ein halbes Jahr später die weiterführende Schule in der Innenstadt und ein weiteres halbes Jahr später der Umzug in die Stadt, in der meine Eltern noch heute leben, beendeten diese Kindheit, die ich als meine eigentliche betrachte mit Abenteuern, Verletzungen, Romanzen. An den späteren Orten nicht mehr heimisch geworden, genausowenig wie mich etwas mit der Stadt meiner Geburt verbindet, die für meine Eltern nur ein zeitweiliges Domizil war.
»Die Einstellung des Straßenbahnbetriebs im Mai 1976« (S. 170) schreibt Pletzinger. Mit der Straßenbahn musste ich zur weiterführenden Schule fahren und auch zum Klavierunterricht bei einem Herrn Short, der mich »The Whale« spielen ließ, etwas pädagogisch Modernes, bei dem ich mit den Unterarmen Wellenbewegungen auf der Tastatur machen sollte, die auch irgendwie schwungvoll ohne Musiknoten in einer Partitur notiert waren. Später wurde Hagen ein bisschen berüchtigt, weil Nena und Extrabreit daher kamen.
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