Im Unterschied zu Wissen und Information, die als statisch oder festgefügt angesehen werden, assoziiert man „bilden“ und „Bildung“ mit einem Vorgang kontinuierlicher Veränderung. Es ist sinnvoll, von einem derzeitigen Stand des Wissens auszugehen, jedoch nicht von einer aktuellen, zeitgemäßen Form von Bildung, die immer über das bloße Sammeln und Ordnen in einer Art Setzkasten, einer Kartei oder einem Lexikon, hinausgeht, aber ohne den Erwerb von Wissen nicht denkbar ist: Bildung liegt eine bestimmte Art und Weise der Handhabung von Information und Wissen zu Grunde, die sie erst konstituiert. Die Inhalte des Bildungsprozesses, die Art und Relevanz des beteiligten Wissens, können (und sollten) unter dem Aspekt des Verfalls und der Erneuerung betrachtet werden.
Es liegt nahe, Bildungsprozesse als vorläufige, nie abgeschlossene Formung und Gestaltung aufzufassen. Aber was verändert sich eigentlich, worin nimmt es seinen Ausgang und welchen Zielen dient es? In welchen Relationen muss ein Wissenserwerb stehen, um Bildung genannt zu werden? Und was macht das zweite gegenüber dem ersten besonders?
Offenheit und Erwartung
Die Prozesshaftigkeit von Bildung legt nahe, dass Menschen gleichermaßen Subjekt und Objekt des Bildungsprozesses sind: Sie verändern sich stetig durch das, was sie nicht sind: Bildung setzt Offenheit und Neugierde gegenüber der Welt und ihren Erscheinungen voraus, zu denen ein Element von Passivität hinzutritt, das einen Freiraum aufspannt, der es ermöglicht, das Andere, Welt und Menschen, so zu ertragen und anzusehen, wie sie sind: Erst ihr Sosein, das durch die bereits vorhandene Bildung mit konstruiert wird, bringt es in eine – weder zur Gänze objektiven, noch wahren – Relation zum eigenen Selbst, was einen Reflexionsprozess anstößt, aus dem das Ich und sein Verhältnis zur Welt oder Teilen von ihr, verändert hervorgeht. Werden diese Veränderungen, auch wenn sie Mühsal bedeuten, zunächst Verwirrung oder Verstörung auslösen, als letztlich positiv angesehen, wird man sein Bemühen verstärken oder wenigstens nicht vermindern: Die Offenheit für anderes, wird durch den Bildungsprozess weiter verstärkt, hält ihn am Laufen, ist zugleich aber Voraussetzung für ihn und muss schon vorhanden gewesen sein.
Freiwilligkeit
Neben der notwendigen Offenheit sind die Steine, die das Unternehmen Bildung mit anstoßen, wesentlich Hoffnung und Erwartung, Vorurteil und Vorschuss: Diese schwachen Grundbedingungen und die zu entwickelnde Offenheit, verweisen auf ein Moment von Freiheit: Bildung hat hierin, einen ersten Berührungspunkt mit Ethik und Moral: Den Amoralisten kann (und soll) man nicht zwingen, wie man den Bildungsprozess nur anregen, die eigene Faszination zu transportieren versuchen, aber nicht verordnen kann. Letztlich bleibt es jedem selbst überlassen, den entscheidenden Schritt zu wagen. – Wiederum wird deutlich: Es muss irgendeine Art von Vorverständnis, von Erwartung entwickelt werden, und der Aufbruch wird sich für jeden, hinsichtlich Persönlichkeit und Lebenserfahrung, anders darstellen.
Die Freiwilligkeit sich zu bilden, die Entwicklung dieses Wollens, hat weitreichende Konsequenzen: Eine autoritative Vermittlung von Bildung und ihrer Inhalte widerspricht der ihr eigenen Offenheit, weil der Bildungsprozess durch seinen Fokus auf das Andere, eine gewisse Selbstrelativität beanspruchen muss; sie widerspricht aber auch ihrer Prozesshaftigkeit und Unabgeschlossenheit, dem ihr innewohnenden Element von Freiheit und ihrer Bedingtheit in persönlichen Erwartungen und Bedürfnissen.
Einem ganz ähnlichen Missverständnis sitzt auch der berühmte Habitus des Bildungsbürgers auf, der, obgleich „gebildet“, diese Bildung als Abgrenzung zu anderen, weniger gebildeten Menschen hin, ansieht: Der Ungebildete soll es auch bleiben.
Der Ursprung, das Warum des Wagnisses Bildung, bleibt auf einer allgemeinen Ebene schemenhaft, undeutlich und fast noch schwieriger ist auszumachen, warum ein unabgeschlossen bleibender Prozess eine regelrechte Leidenschaft, einen Hunger zu entfachen vermag.
Ziele und Widersprüche
Man kann den Bildungsprozess als einen evolutionären auffassen: In ständiger Weiterentwicklung und vor allem Veränderung, liegt alles schon am Prozess selbst: Er fördert eine Haltung von Offenheit und eine Auseinandersetzung mit der Welt in all ihrer Vielfalt, aber es fehlt – analog zum Evolutionsprozess der lebendigen Welt – ein klar auszumachendes Ziel, eine Linie, die man überschreiten könnte oder eine letzte Stufe, die zu erreichen wäre. Bildung führt stattdessen zu immer neuen Veränderungen, Stabilisierungen und Destabilisierungen und setzt das Selbst wieder und wieder in eine andere Relation zur Welt: Der Zufall spielt eine untergeordnete Rolle, im Vordergrund steht ein mit Dauer des Prozesses immer deutlicher werdender Wille, eine Haltung, ein Bestreben.
Der Bildungsprozess bleibt auf sich selbst bezogen, mäandert, fast unentschlossen, hierhin und dorthin und befördert immer wieder seine Bedingtheit freier Entscheidung ans Licht: Es gibt nichts, was notwendig aus Bildung folgen müsste und ein solches Verständnis erklärt mit einem Mal alle Widersprüche und Missverständnisse, alle Verirrungen gelehrtester Köpfe.
Und doch steht man, genauso rasch, wieder vor einem Zusammenhang, der das Gegenteil annehmen lässt: Der Bildungsprozess sensibilisiert mit zunehmender Dauer für ethische Probleme und Fragestellungen, die sie sich aus dem Umgang des Selbst mit seiner Um- und Mitwelt ergeben: Der Raum den es dem Nichtselbst während des Bildungsprozesses zur Verfügung stellt, ist ein grundlegend ethisches Moment, das sich freilich erst erweist, wo es handlungswirksam wird.
Das Unnotwendige, Unabgeschlosse der Unternehmung Bildung bewahrt es vor Missbrauch und überzogenen Erwartungen, andererseits enttäuscht es denjenigen der sich Endgültiges erwartet: Vielleicht ist Bildung „nur“ eine Quelle, die aus der steten Konfrontation mit der Welt fließt und anregende Anstöße für andere Belange und Bereiche, bereit hält. Auch das ist nicht wenig. Und selbst hinsichtlich der Offenheit von Bildung zeigt sich, dass sie diese zwar erzeugt, aber ihr Ausmaß nicht weiter bestimmt: Eine uneingeschränkte Förderung führte zu ihrer Relativierung und Auflösung.
Handlung und Gefährdung
Ob Bildung nur der theoretischen Vorbereitung von Handlungen dient oder sie erst gegeben ist, wenn die Veränderungen des Selbst und seiner Relation zur Welt auch handlungswirksam werden, darüber lässt sich lange streiten. Aber irgendeine praktische Relevanz oder Auswirkungen von Bildung wird es geben, denn nicht zu Letzt erkennt man einen gebildeten Menschen nicht nur daran, dass er viel weiß, sondern etwas darstellt, in seinem Sein und seinen Handlungen.
Gerade in der Erwartungshaltung, dass Bildung wirksam wird, bei aller Vorläufigkeit des Prozesses, liegt das Scheitern oder das Versagen von Bildung heute, begründet: Je rascher die Anhäufung und die Reproduktion von Wissen erfolgt; umso detaillierter und komplexer es wird; je schnelllebiger der Lebensrhythmus, je Vielfältiger und inkonsistenter Selbst und Perspektiven werden, desto instabiler und brüchiger wird der Bildungsprozess und desto weniger vermag er überhaupt irgendwelche Erwartungen zu erfüllen, in einer Zeit in der es schwierig geworden ist Ordnung und Beziehungen zur inneren und äußeren Welt überhaupt noch aufrecht zu erhalten: Wie aus dem Märchen, erscheinen uns „die Alten“, denen es noch möglich war, weil sie in einer anderen Zeit heran wuchsen: Nicht dass der Versuch aufzugeben wäre, aber die Schwierigkeiten sind größer denn je.
* * *
Anmerkung: Der Text wurde durch diese Diskussion auf Tainted Talents angestoßen.
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Sehr schöner Gedankenflug, metepsilonema! Besonders der letzte Abschnitt (»Handlung und Gefährdung«) hat es in sich. Fühlte mich daran erinnert, wie ich schon vor langer Zeit regelrecht gezwungen wurde, nach Alternativen zur absurd beschleunigten und fragmentierten Wissensreproduktion zu suchen, eine andere Haltung zu gewinnen, um noch halbwegs handlungsfähig zu bleiben. Im 18. Jahrhundert sprach man ja auch gern von »Herzensbildung«. Das bedeutete: sich vom Wissensstoff und der Erfahrung tief affizieren zu lassen, damit die Informationen sich zur weisen Handlung wandeln. Weniger ist dabei sicherlich mehr.
Die Zuschreibung nehme ich gerne an – danke!
Das Wirken, vor allem die Tiefe geht mit der zunehmenden Geschwindigkeit sicherlich verloren; und wahrscheinlich auch ein Gefühl von Lebendigkeit.
Sehr schöner Text; wirklich ein »Gedankenflug«, wie Michael Plattner schreibt. Erinnert durchaus an Sloterdijks »Du mußt dein Leben ändern« und die hierin verstecke Verpflichtung zur Selbstbildung und damit zur »ständigen Konfrontation mit der Welt«.
Aber was sagt man denjenigen, die sich dem verwehren? Und sei es auch nur aus Bequemlichkeit (und demzufolge mit zuckenden Achseln und Hände in den Taschen).
Auch Dir, danke. Zu Deiner Frage: Das hängt davon ab, wie weit sie sich auf Argumente oder überhaupt etwas einlassen. Ansonsten muss man sie, wenn man auf Seiten der Freiheit steht, gewähren lassen.
Obwohl, man sollte die Macht emotionaler Erfahrungen nicht unterschätzen, auch die weisen uns Wege, vielleicht häufiger als uns lieb ist.
Das hieße – polemisch formuliert – es gäbe ein Recht auf Dummheit? Wenn ja: Welche Auswirkungen hat dies auf ein demokratisch organisiertes Gemeinwesen? Ein Gemeinwesen, dass häufig »Bildung« als »elitär« begreift.
Dummheit ist kein Verschulden, das ist man oder nicht. Insofern, ja.
Aber hier geht es eher um etwas wie Bemühen: Mir scheint die Grundsituation nicht als weiter auflösbar, man kann sich dafür entscheiden etwas zu erzwingen oder nicht, für oder gegen Freiheit.
Etwas anderes sind die demokratischen Implikationen und theoretisch könnte man sagen, dass sich nur diejenigen beteiligen dürfen, die auch ein Bemühen in Richtung Bildung und Politik zeigen. Dann könnte sich noch jeder entscheiden, müsste aber die staatsbürgerlichen Konsequenzen tragen.
@metepsilonema
Das wäre dann tatsächlich die Konsequenz. Aber das verbietet sich ja mit dem Egalitätsgrundsatz. Insofern muss der »Ansporn« auf einer anderen Ebene liegen. Oder man löst sich davon und agiert nur für das eigene Seelen- bzw. Wissensheil.
Das wäre schön @Gregor, für das eigene Wissensheil zu werken. Einige von diesen jenigen sind allerdings noch nicht ausgestorben – zum Glück!
@Gregor
Mit Ansporn meinst Du den Ansporn sich zu bilden? Nun, der hängt schon in der Ebene der Person, wenngleich der Prozess Bildung diese dann überschreitet. Die öffentlichen Belange würde ich davon aber trennen: Man kann gebildet sein, aber mit Politik nichts (mehr) am Hut haben, also, wie Du schreibst, nur für das eigene Seelenheil agieren (was vielleicht auch immer stärker geschieht).
@metepsilonema
Sloterdijks Lebensänderungs-Programm, welches sich ja auch aus dem Individuum heraus ergeben soll, inkludiert ja sehr wohl eine Art Verpflichtung, die Resultate Exerzitien dem Gemeinwohl anzudienen bzw. sich »gemein« zu machen. Das muss nicht zwingend ein politisches Engagement sein. Ich glaub(t)e aus Deinem Aufsatz eine ähnliche Verbindlichkeit herausgelesen zu haben. Zwar geschieht die Bildung auf Basis der Freiwilligkeit (wie auch sonst) – aber nicht gänzlich ohne Ehrgeiz (oder, um es neutraler zu formulieren, Intention).
Daher überrascht am Ende ein bisschen die Aussage über das »Scheitern oder das Versagen« von Bildungsprozessen heute. Muß es nicht eher heißen, dass »Bildung« immer dann scheitert, wenn sie sich allzu sehr auf die Akkumulation von Wissen verläßt? Muss nicht »Bildung« neu definiert werden? Niemand wird mehr die umfassende Bildung von und über die Welt eines Leibniz haben können. (Vielleicht war dies damals wie heute auch nur eine Schimäre: Indem Leibniz fast alles kommentierte und wendete, hatte es den Anschein einer umfassenden Gelehrsamkeit.)
@Gregor
Du hast Dich auch nicht verhört, aber ich glaube nicht, dass man das auf allgemeiner Ebene weiter spezifizieren kann: Wenn Bildung eine Haltung von Offenheit erfordert und fördert, ist damit nicht gesagt wie und wo sie sich konkretisiert, schon deshalb nicht, weil der Bildungsprozess für jeden anders verläuft. Dasselbe gilt für die Intention, hier spielen persönliche Belange und Motivationen eine große Rolle und ich glaube fast, dass die Intention zunächst oft unformuliert bleibt und sich erst während des Prozesses in den Vordergrund schiebt. Zwei historische Beispiele mit sehr unterschiedlicher Äußerung von Bildung wären Goethe und Heine.
Ob Bildung versagt, hängt natürlich damit zusammen, was man von ihr erwartet oder an sie heran trägt – letztlich hängt das wieder zum Teil vom persönlichen Rahmen des Betreffenden ab. Was ich auch meinte, war, dass gebildete Menschen »alter Schule« eine Abgerundetheit aufweisen, die mit umfassender Bildung zusammenhängt, aber nicht dasselbe ist; und dass sie etwas wie Orientierung in oder einen Bezugspunkt (eine Beziehung) zur Welt, trotz der Unabgeschlossenheit des Prozesses, gefunden haben. Etwas, das wir, wie mir scheint, heute kaum mehr schaffen (mein Eindruck). Wobei »wir«, die Generationen meint, die in der Medien- und digitalisierten Welt groß geworden sind und werden.
Welche Konsequenzen hat das für eine Gesellschaft, wenn Dein Eindruck stimmen würde? Oder ist dieses Vermissen von Weltläufigkeit schon eine Frage des Alters? Das würde mich eher wundern, weil Du einiges jünger bist.
Tatsächlich ist es doch eher ein »Privileg« des Alters in der aufkommenden Jugend die sich selbst zugeschriebenen Tugenden zu vermissen. Oder wird dieser Prozess inzwischen nicht zuletzt durch die mediale Durchdringung der Welt beschleunigt? Wer heute 60 Jahre alt ist, hat zum Beispiel drei Generationen Bürokommunikation mitgemacht: Fernschreiber, Fax-Gerät, Computer/E‑Mail. Fast scheint es so, als würden die Evolutionen inzwischen ihre Kinder fressen.
»Fast scheint es so, als würden die Evolutionen inzwischen ihre Kinder fressen.« (Gregor Keuschnig #12)
Es war noch nie so einfach, so schnell und gezielt Information zu beziehen – per Mausklick. Hätte ich als Student nur die Monumenta Germaniae Historica online zur Verfügung gehabt! Die große Gefahr: es bleibt beim Mausklick. Der nimmt einem noch nicht die Lese‑, Denk- und Schreibarbeit ab. Das meinen aber heute viele Schüler, Studenten und Doktoranden – und Lehrer.
@Gregor
Es hat sicherlich Konsequenzen für die einzelnen Individuen, für ihr Lebens- und Existenzgefühl; eine Gesellschaft kann man wahrscheinlich auch anders organisieren, es kommt darauf an von welchem gesellschaftlichen System wir sprechen, obwohl es natürlich sein kann, dass Menschen, denen etwas Wesentliches abgeht, sich immer weniger mit ihrer Gesellschaft (Gemeinschaft) identifizieren (dann wäre das System wieder egal).
Eine Frage des Alters nur insofern, dass man heute als Kind oder Jugendlicher in einer Welt heran wächst, die weder Du noch ich in diesem Alter in dieser Form erlebt haben. Und ich glaube, dass das auch Auswirkungen hat: Dass die Gestaltung von Ordnung und Beziehung zur Welt schwieriger zu verwirklichen werden oder vielleicht unmöglich, weil z.B. Informationen in einer Fülle verfügbar sind und sich mit rasender Geschwindigkeit verändern und wachsen. Nicht die (möglicherweise) fehlende Denkarbeit ist das Problem, es findet sich kein Anker und keine Stabilität mehr: Man muss sich vorsehen nicht im Treibsand unter zu gehen.
»Es war noch nie so einfach, so schnell und gezielt Information zu beziehen – per Mausklick. [...] Die große Gefahr: es bleibt beim Mausklick. Der nimmt einem noch nicht die Lese‑, Denk- und Schreibarbeit ab.«
Und noch schlimmer, laut einer Studie aus den USA: »Denkt ein Mensch, er könne eine Information jederzeit im Internet wiederbeschaffen, bemüht sich das Gehirn nicht, diese auch abzuspeichern.« Nach dem Motto: Wir lernen, nicht zu lernen.
@metepsilonema
Aber war das nicht immer so, dass die Welt sich so rasant entwickelte? Bzw.: das man glaubte, die Rasanz sei so groß wie nie zuvor? Es gibt ein wunderbares Buch von Manfred Osten über Goethes Weltsicht im fortgeschrittenen Alter und seine Angst vor der beschleunigten Gesellschaft: »Alles veloziferisch«. (Hier ein Kurzessay dazu von Osten aus der ZEIT.)
@Gregor
Danke für den Link. Aber ich meinte nicht die Raserei selbst, sondern ihre Auswirkungen, die Veränderungen, die Wechselhaftigkeit – es ist schwierig Stabilität, Ruhe und Beziehungen zur Welt zu entfalten, wenn sie sich ständig ändert (oder unsere Vorstellungen davon): Genau das benötigt man aber für den Bildungsprozess und erwartet man wiederum von ihm (vorläufig zumindest). Und auch in die Richtung in die Jan deutet: Dass es auf unser Erinnerungsvermögen oder generell unser Gehirn Auswirkungen haben muss. Oder den den Fluch der Unterbrechung. Dass man das in früheren Jahrhunderten vielleicht ähnlich empfunden hat, kann schon sein, aber waren die Auswirkungen ähnlich oder dieselben?
[»Die ungeheuerlichste Kultur, die ein Mensch sich geben kann, ist die Überzeugung, daß die anderen nicht nach einem fragen« – interessant dieser Satz, er kommt mir gerade wie die Vorwegnahme unserer Gegenwart vor: Keiner hat mehr ein Auge für seine Nachbarn oder Bekannte.]
@metepsilonema
»Aber irgendeine praktische Relevanz oder Auswirkungen von Bildung wird es geben, denn nicht zu Letzt erkennt man einen gebildeten Menschen nicht nur daran, dass er viel weiß, sondern etwas darstellt, in seinem Sein und seinen Handlungen.«
Kann man das wirklich heute noch so sagen? Haben nicht das 3. Reich oder Serbien z.B. anderes gelehrt? Damit spreche ich der Bildung ja nicht die Relevanz ab, aber kann man heute wirklich Bildung so eindeutig definieren bzw. ihr eine praktische Relevanz oder Bedeutung zuschreiben? Wenn man Gerhard Roth liest, kommt da doch sehr viel Skepsis rüber, bedenkt man die geringen Chancen, die er der Änderung von Verhalten und Einstellungen von Menschen gibt.
@metepsilonema
Mir ging es auch um die Auswirkungen, die jemand wie Goethe (und aktuelle eben Schirrmacher) eben an der Rasanz festmachen, die sie nicht mehr bändigen können bzw. die sich in die Interaktionen verfestigen.
Damals wie heute dachte man, dass die Auswirkungen noch nie so schlimm waren wie jetzt. Auch Goethe dachte an einen »Paradigmenwechsel« (wie man das heute nennt). Die Restauration wollte sich dem entgegenstemmen – fast erfolglos. Die Moderne fraß immer ihre Kinder. Die Computerpioniere feierten den 30. Geburtstag des IBM-PC wie sich Veteranen an eine längst vergangene Zeit erinnern. Ich habe allerdings den Eindruck, dass der Rhythmus sich beschleunigt hat; die Zyklen werden kurzlebiger.
Die Schallplatte hatte 30, 40 Jahre. Die CD wartet schon auf ihre Ablösung (ein vielleicht dummes Beispiel, aber es fällt mir kein anderes ein). Ähnlich geht es mit dem Bildungskanon, der sich nicht mehr alle 3, 4 Generationen verändert, sondern innerhalb einer Generation mehrmals.
@Norbert
Ich bin zwar nicht angesprochen gebe jedoch zu bedenken, dass diese Frage keine spezifische des 20. oder 21. Jahrhunderts ist. Es ist sozusagen säkulare Theodizee-Frage, die letztlich nicht beantwortbar ist, weil es eigentlich keine Alternative gibt.
@Gregor
Gut, dann habe ich dich missverstanden. Dass man damals wie heute dachte, dass es nie so schlimm war, ist eigentlich logisch, da man die Zukunft nicht kannte. Ich glaube aber, dass nicht nur die Rasanz schuld ist, sondern auch Virtualität, Unterbrechung, Informationsmenge und nicht zuletzt, dass sich all dies schon von früher Kindheit an auswirkt (das war früher nicht der Fall oder weniger intensiv, von den Halbwertszeiten einmal abgesehen).
@Norbert
Die Lehre aus Serbien und dem Dritten Reich könnte sein, dass Bildung nichts festlegt, dass sie das Unmenschliche nicht per se verhindert – aber steht das im Widerspruch dazu, dass Bildung (vorläufig) praktische Relevanz haben kann oder soll?
Können Sie vielleicht etwas zu Roths Argumentation schreiben?
In seinem neuen Buch »Bildung braucht Persönlichkeit. Wie Lernen gelingt«, 2011, schreibt G. Roth leider nicht, was er unter Bildung versteht. Dem Buch kann man aber entnehmen, dass er Bildung mit unseren Bildungsinstitutionen identifiziert, was natürlich etwas dürftig ist. Seine Haupthese lautet: « dass Lehren und Lernen stets im Rahmen der Persönlichkeit des Lehrenden und desLernenden stattfinden, also der höchst individuellen Art des Wahrnehmens, Denkens, Fühlens, Wollens, Handelns sowie der Bindungs- und Kommunikationsfähigkeit eines Menschen. Mit anderen Worten: Die Art, wie jemand lehrt und lernt, wird bestimmt durch seine Persönlichkeit.« (S. 35).
Mit meinem Einwand bezog ich mich allerdings auf sein früheres Buch: »Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten. Warum es so schwierig ist, sich und andere zu ändern«, 2007. In diesem Buch führt Roth aus, dass die entscheidenden Schübe zur Entwicklung des Gehirns in der vorgeburtlichen Entwicklung. dem letzten Teil der Schwangerschaftsentwicklung und in den ersten Lebensjahren sttfinden. Nach Roth entscheidet sich in diesem frühen Stadium ein Großteil derPersönlichkeit und damit deren Intelligenz (außer dem genetischen Anteil), deren Motivation, die Gefühle wie Empathie, das Sozialverhalten usw. Roth belegt dies mit zahlreichen Erkenntnissen aus der Forschung und mit neuen neurologischen Erkenntnissen. Sein pessimistisches Fazit aus den Erkenntnissen dieser Forschung, es gelingt, wenn überhaupt, nur sehr schwer und mit erheblichem Aufwand, die bereits früh angelegten Dispositionen und neurologischen Prägungen zu verbessern oder zu verändern. Ich hoffe, dass diese knappe Zusammenfassung meinen Kommentar ausreichend erläutern.
@Norbert
Danke. Roth behandelt anscheinend Lernen und Bildung zugleich, was zumindest in unserem Kontext nicht dasselbe ist. Dass die Persönlichkeit ein große Rolle spielt, würde aber wieder »passen«.
Ich mag Roth nicht ganz zustimmen: Viele soziale Prägungen und Beeinflussungen, auch dramatische Erlebnisse und Erfahrungen, finden doch auch noch lange später statt und haben ihren Einfluss (zumindest scheint mir das aus meiner persönlichen Erfahrung heraus so zu sein).
Ein wenig seltsam auch, dass er die Entwicklung des Gehirns mit Intelligenz, Motivation, Empathie, Sozialverhalten so eng zusammen bringt – warum sollte sich unser Sozialverhalten nicht später durch Lernprozesse verändern? Gerade die Lernfähigkeit zeichnet doch unsere Spezies aus? Warum sollten Motivationen von Geburt an determiniert sein?
Führt Roth Beispiele an? Ich denke, dass etwa musikalische Begabung und Talent, sich nicht nur in den ersten Lebensjahren oder der vorgeburtlichen Phase entwickeln, sondern zumindest in der gesamten Kindheit (und auch später noch).
@metepsilonema
Ja, mir ging es genauso, dass ich diese starke frühkindliche Prägung nicht glauben wollte. Man kannte das ja schon früher durch den Spruch: »Was Hänschen nicht lernt.....« Aber G. Roth bringt tatsächlich eine Fülle von Forschungserkenntnissen aus der Lernpsychologie, der Psychologie und den Neurowissenschaften, die belegen, dass sehr viel bereits in den ersten Jahren determiniert ist. Natürlich kann man noch etwas verbessern. Ein Beispiel soll das illustrieren. Die Intelligenzforschung hat eigentlich schlüssig nachgewiesen, dass Intelligenz zu ca. 50% genetisch bestimmt ist, der Rest durch die Einwirkungen der fördernden Umwelt wie Familie etc. Man hat in vielen Studien festgestellt, dass ca. 20% der Intelligenz durch Förderung verbessert werden können. Das hört sich wenig an, ist aber der entscheidende Unterschied. Geht man davon aus, das normalerweise jedes Kinde, das aufwächst einen IQ von 90 hat, dann bringen die 20% Förderung die Kinder genau dorthin, wo die meisten Abiturienten bzw. Studenten den IQ haben, nämlich bei 110. Wenn jedoch durch schlechte familiäre und andere Bedingungen das Kind keine Förderung bekommt und sogar negativen Einflüssen ausgesetzt ist, dann können diese 20% weniger genau zu einer Person an der Grenze zur geistigen Behinderung führen.
G. Roth führt auch gerade in de´n Bereichen Empathie, psychische Dispositionen viele Beispiele aus der klinischen Forschung an, wo konnte zwar Jugendliche, die z.b: unfähig zu Empathie waren, in langwierigen Fördermaßnahmen etwas empathiefähiger machen, aber es gab klare Grenzen und man erreichte nie das Maß an Empathie, was z.B. ein Kind mit stabiler Bindung im Kleinkindalter erwirbt. Das ist zugegebenrmaßen nicht das letzte Wort der Forschung, aber man hat schon sehr valide Ergebnisse.
@Norbert
Frühkindlich/Kleinkindalter: Welcher Altersabschnitt ist da gemeint? Vielleicht hängt es auch nur daran.
Man kann die Sache mit dem IQ auch anders herum sehen: Wenn alle gleich gut gefördert werden, dann ist der genetische Unterschied entscheidend.
@metepsilonema
Wenn dich das Thema interessiert, es ist gerade ein Geo-Kompakt-Heft »Intelligenz, Begabung, Kreativität« erschienen, u.a. mit Artikeln über die Intelligenzentwicklung und mit einem Interview mit Gerhard Roth.
Wenn alle gleich gut gefördert werden, dann ist der genetische Unterschied entscheidend.
Das stimmt, verleitet aber zu Spitzfindigkeiten. »Gleich gute« Förderung bedeutet bei unterschiedliche Begabten nämlich unterschiedliche Förderung. ;-)
@metepsilonema
Zur Förderung und Intelligenz hat Köppnick schon richtig geschrieben, dass es keine gleich gute Förderung bei unterschiedlichen Begabungen gibt.
Richtig ist aber, dass die genetisch determinierte Intelligenz eine ganz entscheidende Auswirkung auf die gesamte Intelligenz hat. Dies ist durch die Zwillingsforschung hinreichend belegt. Ansonsten gibt es auch heute noch in der Intelligenzforschung einige Ungewissheiten, obwohl im Prinzip die Forschungsergebnisse sehr valide sind.
Die Bezeichnung frühkindliches oder Kleinkindalter wird synonym benutzt. Frühkindlich meint in der Regel von der Schwangerschaft bis ca. 2 – 3 Jahre. Die Entwicklungspsychologin Sabina Pauen spricht aber vom Baby und Kleinkind in den ersten Lebensjahren, hier wiederum bis 2/ Jahre.
Wie Sie sicher wissen, gibt es für ganz bestimmte Lernphasen sogenannte Zeitfenster, zum Beispiel für das Fremdsprachenlernen oder das Laufenlernen oder Sprechenlernen etc. Diese Zeitfenster sind durchaus individuell, wenn also die Förderung nicht innerhalb dieses Zeitfensters, sondern verspätet einsetzt, sind Defizite unausweichlich und nur noch begrenzt korrigierbar.
Die Psychologin Tania Singer führt zur Zeit Laborexperimente zu diesem Thema durch und ist da optimistischer, was nachträgliches Lernen betrifft. Aber diese Forschungsreihen laufen über Jahre, so dass erst relativ spät die Ergebnisse vorliegen.
Letzten Sonntag war im ZDF-Nachstudio eine interessante Sendung zu dem Thema. Man kann sie sich in der ZDF-Mediathek noch einmal ansehen.
@Norbert/Köppnick
Danke für den Hinweis.
Was heißt nicht gleich gut? Sicher wird die Förderung nicht hundertprozentig dieselbe sein, aber Talente im Leistungssport, die früh genug entdeckt werden, genießen wohl eine sehr ähnliche.
Ich glaube das so nicht (bzw. nicht für alle Lernvorgänge). Gehen wir einmal davon aus, dass Musikalität angeboren ist (auch wenn das so wahrscheinlich nicht stimmt): Aber alle mechanisch-technischen Fertigkeiten, die für das Erlernen eines Instruments benötigt werden, werden selbst bei frühester Förderung später erlernt und trainiert (also nach dem 2. Lebensjahr). Es muss also noch Zeitfenster geben, die weiter »hinten« liegen.
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