»Das Licht spielt auf jeder Haut anders; bei jedem Menschen, in jedem Monat und an jedem Tag.« (Yoko Tawada)
Philip Roth hat das alles kommen sehen, als er gegen Ende des 20. Jahrhunderts Der menschliche Makel schrieb. In diesem Roman, dem dritten Teil seiner »amerikanischen Trilogie«, gibt sich ein junger, relativ hellhäutiger Afro-Amerikaner namens Coleman Silk 1944 bei der US-Armee als Weißer aus und bleibt bis zum Ende seines Lebens bei dieser Lüge. Im amerikanischen Englisch bezeichnet man einen solchen Schritt, der in der Wirklichkeit gar nicht so selten vorkam, als passing. Nach seinem Tod im Jahr 1998 bemerkt Colemans (dunkelhäutigere) Schwester im Gespräch mit dem Erzähler, daß Ende des 20. Jahrhunderts »kein intelligenter Neger aus der Mittelschicht« die rassische Selbstzuordnung wechseln würde. »Heute ist es nicht vorteilhaft, so etwas zu tun, so wie es damals eben sehr wohl vorteilhaft war.«
Wenn schon passing , dann in die andere Richtung. Aus Weiß mach Schwarz oder eine andere Farbe, warum nicht Rot – das könnte doch vorteilhaft sein, wenn es darum geht, ein Universitätsstipendium oder Wählerstimmen zu bekommen. So machten es die demokratische Politikerin Elizabeth Warren, die behauptete, indianische Vorfahren zu haben, oder die Historikerin Jessica Krug, die sich unter anderem als Afro-Puertorikanerin ausgab, oder die Künstlerin und Politaktivistin Rachel Dolezal, die mittlerweile als Frisörin jobbt, nachdem ihr Betrug als »schwarze« Studentin an der traditionell afro-amerikanischen Howard University aufgeflogen war. Wenn man es als Betrug auffassen will, denn Dolezal selbst meint, rassische Zugehörigkeit – den Amerikanern geht das Wort »race« leicht über die Lippen – sei keine biologische Frage, sondern eine der persönlichen Entscheidung und der Sozialisierung.
Dolezal ist übrigens jüdischer Herkunft. In Europa, besonders in Deutschland und Österreich, wurden Juden aus rassischen Gründen verfolgt und schließlich ermordet. In den USA gelten sie als »weiß«, und sie selbst sehen sich wohl meistens auch so. Coleman Silk, der Held in Philip Roths Roman, gibt sich nicht als irgendein Weißer aus, sondern als Jude. Und zufällig hat auch er an der Howard University studiert, wenngleich nur eine Woche lang, vor seinem Eintritt in die Navy. Er hielt den Rassismus im damaligen Washington D. C. nicht aus und entzog sich dem brennenden Wunsch seines Vaters, eines »bekennenden« Schwarzen, an dieser Universität zu studieren. In seinen letzten Lebensjahren wird Coleman auf paradoxe Weise von seiner Herkunft eingeholt. Nachdem er lange Zeit Dekan einer kleineren Universität gewesen ist, wird ihm der Vorwurf des Rassismus gemacht, und darüber verliert er seine (jüdische) Frau und seine Stellung am College. Ironie des Schicksals, Ironie der amerikanischen Geschichte. Der systemische Antirassismus ist rassistisch geworden und bringt einen Mann mit afro-amerikanischen Wurzeln zu Fall.
Whoopi Goldberg, die dunkelhäutige Schauspielerin, ist nicht rassistisch, sie ist nur etwas naiv und vielleicht, im Unterschied zu Coleman Silk, nicht sehr gebildet. Die Verfolgung der Juden durch die Nazis sei ein Problem unter Weißen gewesen, sagte sie Anfang 2022 in ihrer TV-Show. Nun ja, viele Juden haben eine eher helle Hautfarbe – und für Goldberg ist »Rasse« gleichbedeutend mit Hautfarbe. Ihr Familienname klingt deutsch-jüdisch, doch ihre Vorfahren, soweit man etwas über sie weiß, waren Afro-Amerikaner. Fünf Jahre zuvor kokettierte sie in einem Interview mit ihrem Jüdisch-Sein; sie spreche oft zu Gott, sagte sie, ließ aber offen, zu welchem.
Colemans Schwester, die hier als Sprachrohr des Autors fungiert, ist Lehrerin, im Gespräch äußert sie nebenbei Zweifel am Sinn des Black History Month . Diese auf das Jahr 1926 zurückgehende Einrichtung, ursprünglich Black Negro (!) Week , ist vor allem für die Schulen und Universitäten von Bedeutung. Die Lehrerin hört von Schülern, sie würden in diesem Monat grundsätzlich nur eine von Schwarzen verfaßte Biographie eines Schwarzen lesen. Sie fragt daraufhin, »welche Rolle es spielt, ob der Verfasser schwarz oder weiß ist.« Offenbar hält es diese Frau mit dem Prinzip der color-blindness , das mehr und mehr in die Defensive gerät. Im Umgang mit anderen sollte man am besten gar nicht auf seine Hautfarbe achten: so hieß es früher im Sinn eines menschheitlichen, humanistischen Universalismus. Im Online-Zeitalter stellt die University of North Carolina ihren Studenten in einem allgemein verfügbaren Unterrichtsmodul die Aufgabe, eine positive (!) Antwort auf die folgende Frage zu formulieren: »Erklären Sie, warum die Konzepte von ‘color-blindness’ und ‘Neutralität’ schädlich für antirassistische Arbeit einschließlich der antirassistischen Arbeit in Buchhandlungen sind.« Die entsprechende Einstellung scheint im akademischen Betrieb der USA heute vorherrschend zu sein; eine gegenteilige Meinung ist nicht vorgesehen. Die separaten Abschlußfeiern für unterschiedliche ethnische Gruppen ebenso wie für homosexuelle Studenten und – wohl nur als Alibi – für solche aus einkommensschwachen Gruppen bestätigen diese Beobachtung ebenso wie die Umkehrung des traditionellen Absence Day der Schwarzen an einem College: Weiße Studenten und Professoren sollen an diesem Tag dem Campus fernbleiben. Als ein weißer Biologie-Professor namens Bret Weinstein, der sich selbst als deeply progressive, also politisch links, bezeichnet, trotzdem Unterricht halten wollte, wurde er von einer etwa fünfzigköpfigen Gruppe von Studenten umzingelt und als Rassist beschimpft. Der nun schon einige Jahre zurückliegende Vorfall wurde gefilmt und war auf YouTube zu sehen. Will man sich selbst ein Bild machen, stößt man auf eine schwarze Fläche mit der weißen Inschrift, das Video verstoße gegen die YouTube-Richtlinien zu Belästigung und Mobbing. Als würde Zensur irgendetwas besser machen… Der Professor ist übrigens jüdischer Abstammung.
John McWhorter, ein in Philadelphia geborener Linguist dunkler Hautfarbe, wie man beim Googeln feststellen kann, wies ebenfalls schon an der Schwelle zum 21. Jahrhundert auf die Tendenz vieler schwarzer Gruppen – »Communitys« – und Persönlichkeiten hin, ihren Opferstatus hervorzukehren und zu zementieren, anstatt selbst an positiven Veränderungen zu arbeiten, also quasi vor der eigenen Haustür zu kehren. Ein Jahrzehnt später zweifelte auch er den Sinn des Black History Month an. Die Lehrbücher für Geschichte würden die Sklaverei in den USA mittlerweile in solchem Umfang behandeln, daß zu wenig Platz bleibe für andere Aspekte der Geschichte. Die Lehrer würden sich so ausführlich mit dem »institutionellen Rassismus« beschäftigen, daß die Studenten keinen Schimmer mehr bekämen von anderen Dingen wie etwa dem Münchner Abkommen. McWhorter gebraucht in diesem 2011 veröffentlichten Artikel das Wort wakeful in positivem Sinn, lange bevor woke zum Schlagwort für eine politische Haltung wurde, die allenthalben in den Mikrostrukturen des Alltags reale oder vermeintliche Ungerechtigkeiten aufstöbert und eine politisch-moralisch korrekte Kultur samt zugehörigem Sprachgebrauch durchzusetzen versucht. Das letzte, 2021 erschienene Buch McWhorters trägt nun den Titel Woke Racism: How a New Religion Has Betrayed Black America , und es handelt genau davon.
Europa ist nicht Amerika, die ethnische Zusammensetzung der Bevölkerungen ist anders, die Geschichte ist anders, die zeitgenössischen migrantischen Bewegungen sind andere. Auch deshalb scheint es mir verfehlt, wenn Sharon Dodua Otoo in ihrer Rede 2020 beim Bachmannpreis-Wettbewerb derart auf Communitys – laut Duden gilt für das Fremdwort der deutsche Plural – insistiert und fordert, sie durch den Großbuchstaben im Adjektiv »schwarz« kenntlich zu machen, um deren Bedeutung zu betonen (was in ihrem eigenen Text nicht gut funktioniert, weil man das Adjektiv zunächst als Nomen liest). Coleman Silk hat eben mit diesen Communitys seine Probleme und betont seine eigene, individuelle Identität, er setzt sich vom Kollektiv ab, um sich als der eine und einzige zu verwirklichen, der er ist und werden will. Richten wir den Blick auf unsere tägliche Wirklichkeit im Jahr 2022: Welche Communitys sollen das sein, in Festlandeuropa? Schwarze? Oder Türkische? Kurdische? Wollen wir wirklich unsere Gesellschaften ethnisieren? Wollen wir Rassentrennungen für Schulabschlußfeiern einführen? Wie immer man »Rasse« definieren will, ich verwende das Wort widerwillig. In Frankreich sprechen antirassistische Aktivisten gern von racisés , von Leuten, die durch die böse Mehrheitsgesellschaft, also die systemisch »weiße« Gesellschaft, erst in eine rassische Schublade gesteckt werden, natürlich zu ihrem Nachteil, damit sie besser ausgebeutet werden können. Doch indem diese Aktivisten ständig auf ihr »rassisiertes« Dasein hinweisen, bestätigen sie dieses nicht nur, sie bestärken es auch. Mögen die Lippenbekenntnisse auch anders lauten, die Opfer sollen ihren Status behalten, denn sonst erübrigt sich der antirassistische Aktivismus.
Im September 2021 bekämpften einander in einer französischen Kleinstadt Mitglieder der afrikanischen und der kurdischen communauté – auf deutsch: Community – auf offener Straße, es gab Schwerverletzte. Auslöser war ein alltäglicher Streit zwischen Kleinkindern auf einem Spielplatz gewesen. Afrikanische Community? Nordafrikaner, Araber, Kabylen waren anscheinend nicht dabei. »Die Republik anerkennt keine Communitys«, sagte damals der Bürgermeister. »Die Stadt kennt nur Stadtbürger, die alle gleich sind und alle verantwortlich für das, was sie tun. Gewalt wird hier nicht toleriert.« Dem kann ein vernünftig denkender Mensch nur zustimmen.
Frankreich ist nicht Deutschland (oder Österreich oder die Schweiz). Frankreich hatte bis vor nicht gar so langer Zeit afrikanische Kolonien, und die Nachwirkungen dieser Geschichte sind bis heute spürbar, sie haben Einfluß auf die Zusammensetzung der Bevölkerung. Hier liegt einer der Gründe für die im Aufschwung befindliche, von Rechtsextremen gepflegte Theorie des grand remplacement , die der in Österreich eine Zeitlang verbreiteten Theorie der Umvolkung entspricht, aber wegen der französischen Kolonialgeschichte andere Akzente setzt. 2019 inszenierte der Hellenist und Theaterregisseur Philippe Brunet im wunderschönen Amphitheater der Sorbonne Die Schutzflehenden von Aischylos. Eine Aufführung wurde von selbsternannten antirassistischen Aktivisten gewaltsam verhindert, weil Schauspielerinnen – die aus Ägypten geflohenen Danaiden – dunkle Masken trugen und einige Gesichter dunkel bemalt waren. »Blackface!«, schrien die wachsamen Antirassisten, nachdem sie irgendwo in den Sozialen Medien auf Fotos von den Aufführungen gestoßen waren. Ein Sprecher des Dachverbands schwarzer Gruppierungen (»associations noires«) bezichtigte die Inszenierung der afrophoben, kolonialistischen Propaganda.
Wenigstens ein Teil der französischen Intellektuellen, darunter die Theatermacherin Ariane Mnouchkine und die Schriftstellerin Hélène Cixous, war darüber erschrocken und reagierte mit einer öffentlichen Stellungnahme zu diesem Vorfall, in der die Blockade als identitäre Zensur bezeichnet wird. Das Theater, hieß es darin, sei seit seinen griechischen Ursprüngen der Ort der Verwandlung, der Metamorphose – aber kein Rückzugsort für Identitäten. Wird es demnächst Autodafés geben, fragen die Unterzeichner, Veranstaltungen wie die Bücherverbrennungen der Nazis? Muß man Shakespeares Othello verbannen, die Verfilmung (von 1951) verbrennen, weil Orson Welles darin als Othello schwarz geschminkt war?
Philippe Brunet wies unterdessen auf die fundamentale Tatsache hin, daß es die Aufgabe der Schauspieler ist, einen anderen darzustellen – mit oder ohne Maske, mit oder ohne Schminke. »Der Schauspieler auf der Bühne spielt eine andere Person, und er tut es vor einer Versammlung von Leuten, die das Spiel mitspielen und ihn für einen anderen halten.« Ein Schwarzer könne von einem Weißen gespielt werden, und umgekehrt, ein Weißer von einem Schwarzen. Dieselben Diskussionen sind in den vergangenen Jahren auf volkskultureller Ebene in Bayern und Österreich aufgetaucht. Der Bischof von Bamberg fühlte sich unlängst bemüßigt, das Schminken von Melchior (oder war es Balthasar?), dem einen der heiligen drei Könige, fürs Sternsingen zu verteidigen – auf Facebook, wo sonst. Vertreter schwarzer »Communitys« hatten diesen Brauch kritisiert, und manche katholischen Organisationen raten mittlerweile davon ab. Dabei wird das beim Sternsingen gesammelte Geld oft für notleidende Kinder in Afrika gespendet. Aber das ist wohl die alte christliche Heuchelei...
Störungen, Blockaden, Absetzungen von kulturellen Veranstaltungen aus ideologischen Gründen sind mittlerweile weltweit zu beobachten. Das Berliner Staatsballett setzte vor Weihnachten die traditionelle Aufführung von Tschaikowskys Nußknacker nach einer Choreographie des 1910 verstorbenen Marius Petipa ab. Begründung: Der in dem Stück enthaltene »chinesische Tanz« enthalte Bewegungen, die alten Stereotypen über China enthielten. Unter anderem wurden die Trippelschritte von Tänzern moniert. Nun spricht nichts dagegen und vieles dafür, alte Inszenierungen zu überdenken und sie womöglich durch neue zu ersetzen. Bedenklich ist allerdings die Beflissenheit, mit der überall nach eventuellem, sei es auch »unbewußtem« Rassismus gestöbert wird. Ganz ohne Stereotype werden wir auch in einer moralisch properen Zukunft nicht leben können. Einiges davon entspricht nun mal realen Gegebenheiten, und ganz ohne Verallgemeinerung gibt es überhaupt kein Denken, kein menschliches Empfinden. Trippelschritte sehe ich in meinem Alltag häufig, bei Japanern und, in geringerem Maß, Japanern. Häufig drücken sie Dienstfertigkeit aus, und dieses Verhalten ist längst nicht Geschichte, es gehört immer noch zur Semiotik der Körper. Ein historischer Grund dafür sind die traditionellen Kleidungsformen: Der Kimono erlaubt keine Spreizschritte.
Bei einer Modeschau der Firma Christian Dior im November 2021 in Shanghai wurde ein chinesisches Model von einem chinesischen Modephotographen photographiert. Ein dabei entstandenes Foto erregte den Zorn einiger anonymer Social Media-Teilnehmer und in der Folge der Journalisten vom Nachrichtendienst der staatlich kontrollierten Mediengruppe Yicai. Man ereiferte sich, weil das Model so geschminkt sei, daß das es mit sehr kleinen Augen erscheine und damit die alten europäischen Stereotype von der chinesischen Frau wiederhole. »Jahrelang wurden asiatische Frauen aus westlicher Perspektive stets mit kleinen Augen und Sommersprossen dargestellt, doch die chinesische Art, Kunst und Schönheit zu schätzen, kann dadurch nicht verzerrt werden«, hieß es in dem Artikel. Was an der ziemlich ungewöhnlichen, individualistischen Erscheinung dieses wohl von einem Maskenbildner bearbeiteten Gesichts westlichen Stereotypen entsprechen soll, ist für mich überhaupt nicht nachvollziehbar. Andererseits wirkt es auch nicht, nach örtlichen Standards, »typisch chinesisch«. Der chinesische Photograph entschuldigte sich umgehend für das Foto; offensichtlich möchte Dior keine potentiellen Kunden vergrämen und sich den chinesischen Markt nicht versperren. Was aber Stereotype anbelangt, so glaube ich eher, daß die staatstreuen Journalisten pikiert waren, weil die Darstellung jenes Models nicht den Stereotypen einer nationalen Weiblichkeit entsprach. Die Yica-Rüge verströmt den ideologischen Geruch, der einst die Reden über die heldenhaften Repräsentanten der Arbeiterklasse kennzeichnete. Der mittlerweile ins bloß Nationalistische umpolten Gesinnung unterwerfen sich westliche Antirassisten bedenkenlos.
Bücherverbrennungen sind übrigens keine bloßen Kassandra-Phantasien, in Kanada wurde 2019 bereits eine durchgeführt – natürlich gut gemeint und ökologisch korrekt. Die Bücher aus einer Bibliothek für Schüler, von Büchern, die angeblich negativ typisierende Darstellungen von autochthonen Menschen enthielten, sollten »Mutter Erde zurückgegeben werden«, mit ihrer Asche ein neu gepflanztes Bäumchen gedüngt werden. Man brachte es damals, 2019, nur auf dreißig Exemplare, doch einige Tausend waren schon ausgesondert und zur Entsorgung vorgesehen. Hauptverantwortlich für die Aktion war eine Frau namens Suzy Kies, Mitglied der Liberalen Partei und stellvertretende Vorsitzende, bis letztes Jahr aufflog, daß die indigenen Vorfahren, von denen sie angeblich abstammte, erfunden waren. Konvertiten sind oft besonders eifrig, wenn es um Säuberungen geht.
Nach einem Sieg seiner Mannschaft Manchester United gegen den FC Southampton dankte der uruguayische Fußballspieler Edinson Cavani auf Instagram einem Freund mit den Worten gracias negrito! Sogleich wurden wachsame Antirassisten auf das aufmerksam, was sie für ein Äquivalent englischen N‑Worts hielten. Mit dem Smartphone in der Hand ist doch jedermann polyglott!? Darauf reagierte unter anderem die argentinische Academia de Letras , die über den örtlichen Sprachgebrauch wacht, mit dem Hinweis, im Spanischen, wie es zu beiden Seiten des Río de la Plata, also auch in Uruguay, gesprochen wird, habe das Wort »negrito« zärtliche Bedeutung. Die Klarstellung wurde zumindest in der hispanischen Welt mit einem dankenden Kopfnicken vernommen. Trotzdem könnte man weiter diskutieren: Versteckt sich in solchem Sprachgebrauch nicht doch ein unbewußter volkstümlicher Rassismus? Schließlich bedeutet negro (Pardon!) »Neger« (nochmals Pardon!). Aber eben auch »schwarz«, erwidere ich darauf, und ebenso »Schwarzer«, weil fast alle Hauptwörter im Spanischen kleingeschrieben werden. Negrito –Negerlein? (Fragezeichen.) Nein, natürlich nicht! Ich weiß, und eigentlich sollten es auch die Antirassisten bedenken, daß es auf den Kontext, den Sprachgebrauch, die Intention ankommt. Jeder auch nur ein wenig Dunkle, ob durch Haut- oder Haarfarbe, wird am Río de la Plata häufig als negro bezeichnet, und manchmal auch, aus reiner Freundschaft, die Helleren.
In Der menschliche Makel übersetzt Dirk van Gunsteren das amerikanisch-englische Wort spook mit diesem Ausdruck ins Deutsche: »dunkle Gestalten«. Er erläutert seine Entscheidung in einer ebenso interessanten wie überzeugendenn Vorbemerkung. Coleman Silk hatte zwei dauernd abwesende Studenten als spooks bezeichnet; erste Wortbedeutung von spook : »Gespenst«, zweite Bedeutung: »Spion«. Früher hatte man das Wort auch zur abwertenden Bezeichnung von Schwarzen gebraucht. Coleman wird von Studenten und Lehrern unterstellt, er habe die beiden afro-amerikanischen Studenten damit rassistisch beleidigen wollen. Da sie immer abwesend waren, wußte er allerdings nicht, welche Hauptfarbe sie hatten. (Überdies war er seiner Herkunft nach selbst ein Afro-Amerikaner.) Der Vorwurf an – oder besser gesagt: die Verleumdung Colemans, die über sein restliches Leben und über den ganzen Roman, gewissermaßen ins 21. Jahrhundert hinein, seinen Schatten wirft, bedient sich einer böswilligen Verdrehung des Wortsinns.
Bei der versuchten Anschwärzung Cavanis handelt es sich nicht um Durchtriebenheit, sondern um Dummheit. Oder, so mein Verdacht, es stehen Fans eines rivalisierenden Klubs, etwa Manchester City, dahinter. Cavani entschuldigte sich unverzüglich: »Sollte ich damit jemanden beleidigt haben…« Sogar Philippe Brunet, eindeutig das Opfer von Gewalt und Drohungen, hielt es für angebracht, sich im Potentialis zu entschuldigen. Alle tun das mittlerweile, man darf und will bloß nirgendwo anecken, niemanden verstören. In einer schwedischen Stadt hörten Kindergartenkinder in einer öffentlichen Bibliothek eine alte Hörspielfassung von Pippi Langstrumpf . Jemand alarmierte die Polizei, weil das Wort »Negerkönig« vorkam, und die Polizei zögerte nicht, nach dem Rechten zu sehen. Wenn zufällig ein Schwarzer das Wort hört, könnte er sich doch beleidigt fühlen. Systemischer Rassismus? Ich würde eher sagen: systemischer Antirassismus, praktiziert von der Polizei. Prinzipiell eine gute Sache, aber man kann auch da über die Schnur hauen. In der deutschen Ausgabe von Pippi Langstrumpf , die ich meiner Tochter oft vorlas, als sie klein war – wie haben wir Pippi geliebt, und lieben sie immer noch! –, wurde der frühere »Negerkönig« durch einen »Südseekönig« ersetzt. Nun gut, Südsee, weit weg, abenteuerlich, kommt aufs selbe hinaus, wird man sich gedacht haben. Der deutsche Verlag ist brav vorangegangen, der schwedische hat nachgezogen und den negerkung im Original ausgemerzt. Was würde Astrid Lindgren zu dieser Rückübersetzung, dieser »Korrektur« ihres Werks sagen?
Dieselbe Behandlung hat man Mark Twains Huckleberry Finn angedeihen lassen. Dort bezeichnet sich Hucks Freund Jim selbst als old nigger . Bei unseren Kinderbuchlektüren stand auch in der Übersetzung noch »Nigger« da. Vor gut zehn Jahren mokierte sich der englische Literaturprofessor Peter Messent im Guardian über die Säuberung des Romans vom N‑Wort, das 219 Mal darin vorkommt, in einer Neuauflage. Ich fürchte, heute würde der Guardian einen solchen Kommentar nicht mehr veröffentlichen. Auch Messent fühlte sich bemüßigt, die (potentiellen) Gefühle der Schwarzen zu bedenken: »One can fully understand the feelings of anger and humiliation that many African American children and parents feel at having such a word repeatedly spoken in the classroom.« Aber statt zu säubern, wäre es nicht sinnvoller, anstelle solch zweifelhafter Empathie einfach die Geschichte des Rassismus und des damit verbundenen Sprachgebrauchs zu besprechen? In der Sache selbst, der Sprach-Sache, hatte der Professor keine Zweifel: »To tamper with the author’s words because of the sensibilities of present-day readers is unacceptable.«
Der jüngste Fall von Zensur, der mir untergekommen ist, betrifft Norman Mailer. Anscheinend hat man im Verlag Random House seinen Essay The White Negro aus einer Anthologie, in die er aufgenommen werden sollte, wieder gestrichen, weil im Titel das Wort negro vorkommt. In diesem Text aus den fünfziger Jahren versucht Mailer zu zeigen, daß Schwarze aus der Unterschicht nach einer Mittelklasse-Existenz streben, die gewöhnlich den Weißen vorbehalten ist, während weiße Beatniks, Außenseiter, amerikanische Existentialisten sich gleichfalls von ihrer Herkunft lösen und wie deklassierte Schwarze leben wollen. Dieses Konzept wurde damals von schwarzen Autoren wie James Baldwin kritisiert, des Rassismus wurde Mailer allerdings nicht bezichtigt. Für den gedanklichen Gehalt und eine schlichte Auseinandersetzung damit scheint sich im digitalen Zeitalter niemand mehr zu interessieren. Die Aufmerksamkeit bleibt bei Titeln und Schlagzeilen hängen.
Bei einer Anhörung im US-Kongreß sprach Ibram Kendi über die ungleichen Auswirkungen der Corona-Pandemie bei den verschiedenen ethnischen Gruppen des Landes. Er stellte sich mit folgenden Worten vor: »Mein Name ist Dr. Ibram X. Kendi. Ich bin ein Historiker mit dem Forschungsschwerpunkt auf Rassismus und Antirassismus, Autor von vier Bestsellern und Gewinner des National Book Award.« Ich weiß nicht, ob es in den USA üblich ist, zuerst einmal seine großartigen Leistungen zur Schau zu stellen, möchte aber nicht verschweigen, daß ich über eine solche Einleitung zur Rede über ein ernstes Thema erstaunt war. Kendi wies darauf hin, daß Schwarze, Asiaten und Latinos häufiger an Covid-19 erkrankten als Weiße und daß besonders die Zahl der nach einer Infektion Verstorbenen viel höher sei. Man müsse danach fragen, warum diese Gruppen weitaus weniger als andere Telearbeit machten, warum mehr von ihnen keine Krankenversicherung hätten, warum weniger von ihnen in unverschmutzten (»unpolluted«) Wohngegenden lebten. Kendis Antwort war kurz und bündig: Schuld ist rassistische Politik (»racist policy«). Eine rhetorische Antwort auf rhetorische Fragen.
Daß insbesondere die Schwarzen öfter als die Weißen unter schlechten sozialen Bedingungen leben, ist bekannt. Die Gründe sind komplex, die Vorgeschichte dieser Situation ist lang. Wer keinen Zugang zu medizinischer Versorgung hat, wird eher an Covid-19 erkranken als jemand, der sich das beste Spital leisten kann; wer in beengten Wohnverhältnissen lebt, wird leichter angesteckt. Im Handumdrehen wird sich da keine Abhilfe schaffen lassen. Ich habe mir die von Kendi genannten Statistiken angesehen. Im März 2021 war die Todesrate bei Schwarzen bzw. Afro-Amerikanern am höchsten, gefolgt von den Indianern (»American Indians«), den Latinos, den autochthonen Hawaiiern. Die Asiaten sind deutlich weniger stark betroffen als die Weißen. Warum? Ich weiß es nicht; da ich aber in einem ostasiatischen Land lebe, weiß ich wohl, daß der Umgang der Bevölkerung mit der Covid-Gefahr ein anderer ist als etwa in Europa und gewiß auch bei den meisten ethnischen Gruppen in den USA. Soziale Distanz muß man in Japan (und Südkorea, China) nicht erst einüben, und den Nasen-Mund-Schutz tragen fast alle unaufgefordert und viele durchaus gern.
John McWhorter schrieb schon im Jahr 2000, gewisse Communitys würden aus ihrem Opferdasein eine Identität machen, anstatt sich darauf zu konzentrieren, es als ein Problem zu sehen, das nach Überwindung verlangt. In Philip Roths Roman tut Coleman dies auf seine individualistische Weise, er entzieht sich der Verdammung zu einer benachteiligten Rasse. Sein Bruder Walter dagegen steht zu seiner Herkunft und engagiert sich politisch, Coleman kann er seine Flucht nicht verzeihen, und rational betrachtet hat er sicher recht, denn schließlich steht den meisten Schwarzen diese Möglichkeit gar nicht offen. Auch Walter hat seinen Weg gemacht. Wahrscheinlich würde er McWhorter zustimmen: Es genügt nicht, sich als Opfer zu gerieren, vielmehr geht es darum, aus dem Gegebenen etwas Besseres zu machen und sich nicht unterkriegen zu lassen. Nicht durch positive Diskriminierung, sondern zum Beispiel durch Bildung. Tatsächlich hat sich die Lage der Schwarzen in den USA seit Colemans Jugend in den vierziger Jahren oder auch im Vergleich zu den frühen sechziger Jahren, in denen der Film Green Book spielt, deutlich gebessert, wie sich auch die Lage der Frauen gebessert hat. Bei aller berechtigten Kritik an fortbestehendem Rassismus und Sexismus sollte das nicht vergessen werden.
Manchmal hat man den Eindruck, der heutige Antirassismus würde den Opferstatus dieser Gruppen für immer festschreiben wollen, während die Weißen ihrem Rassismus niemals werden entkommen könnten. Was für die antirassistische Community in den USA oder in Frankreich gilt, gilt mutatis mutandis auch für afrikanische Länder (bzw. deren Repräsentanten), etwa Algerien, die ihre hausgemachten Probleme dem nun schon mehr als ein halbes Jahrhundert zurückliegenden Kolonialismus der Vergangenheit aufhalsen. Sie lenken von ihren eigenen Verfehlungen und Widersprüchen ab. Bei den Theoretikern und Anhänger des sogenannten Postkolonialismus hat man oft den Eindruck, sie würden die Möglichkeit einer tatsächlichen Überwindung des Kolonialismus gar nicht ernsthaft in Betracht ziehen.
Wer ist eigentlich schwarz? Und wer ist weiß? In den USA war lange Zeit die Tropfen-Regel gang und gäbe. Klingt lächerlich, ins Deutsche transponiert, ist aber ernst gemeint. Ein einziger Tropfen Blut eines Schwarzen macht einen Weißen – oder Gelben usw. – zu einem Schwarzen. Warum eigentlich nicht umgekehrt? Und was heißt das, ein Tropfen? Wenn die Einmischung »fremden« Bluts Jahrhunderte zurückliegt, wie soll man sie beweisen? Am Ende kann dann doch jeder behaupten, was er will, Elizabeth Warren, Jessica Krug, Coleman Silk, sie sind, was sie entschieden haben, zu sein. Es gibt dann auch keine Lügen mehr, und vielleicht ist das besser so. Allerdings werden damit auch all die Programme positiver Diskriminierung, der Bevorzugung von Schwarzen, Indianern, Frauen, fragwürdig. Der Dichter Langston Hughes, der das Wort Negro ganz selbstverständlich und mit großem Anfangsbuchstaben gebrauchte (black mit kleinem B), schrieb 1940 in seiner Autobiographie: »You see, unfortunately, I am not black. There are lots of different kinds of blood in our family. But here in the United States, the word ‘Negro’ is used to mean anyone who has any Negro blood at all in his veins. In Africa, the word is more pure. It means all Negro, therefore black. I am brown.«
Also braun. Wie später Muhammad Ali alias Cassius Clay, der ein paar irische und englische Vorfahren hatte, einige weiße Tropfen im schwarzen Blut. Braun, wie viele andere US-Bürger, und noch mehr Menschen in Brasilien. 1925 erschien in Mexiko eine Schrift mit dem Titel La raza cósmica . Ihr Verfasser, der Schriftsteller und Pädagoge José Vasconcelos, träumte von einer Menschheit, in der es nur noch Mischungen gäbe und keine einzelne Rasse bevorzugt werden könnte. Mexiko, das vor Kolumbus und Cortés viel zahlreicher bevölkert war als der Boden der heutigen USA, kommt dieser Vision recht nahe. Vasconcelos wollte Mischungen nicht verhindern, sondern fördern. Die Identitätspolitik der wachsamen Antirassisten müßte konsequenterweise in die andere Richtung wirken: Bloß kein fremdes Blut in unserer Community, sonst könnte die Identität noch in Frage gestellt werden.
Auf einer Reise in den Norden Brasiliens fiel mir bei Streifzügen durch die Stadt Salvador auf, daß zwar das Gros der Einwohner dunkelhäutig war, viele auch schwarz, in den Banken hinter den Schaltern aber nur weiße Gesichter. Systemischer Rassismus? Schon möglich. Das war um 1990, vielleicht hat es sich inzwischen geändert. Wenn die Vermischung weiter voranschreitet, und es spricht vieles dafür, daß dies der Fall ist, wird sich die Identitätspolitik eines Tages erübrigen. In ihrer heutigen Ausprägung ist sie durch die Erfahrungen, die demographische Struktur und die Geschichte der USA geprägt. In anderen Ländern sieht das alles ganz anders aus. Einige sind auf dem Weg zur kosmischen Rasse, andere immer noch ziemlich »reinrassig«. Zum Beispiel Japan: Zwar gibt es weit zurückreichende kulturelle, in geringerem Maß auch ethnische Einflüsse, aber diese lassen sich leichter verleugnen, weil sie aus dem ostasiatischen Raum kommen und die Neigung zur Vermischung in der Bevölkerung gering ist. Doch sogar in diesem konservativen, durchaus »identitären«, sich seit jeher abschließenden Land gehen Änderungen vor sich.
Ein Beispiel: Naomi Osaka, die Tennisspielerin. Ihr Vater stammt aus Haiti, also aus der Karibik, und Naomi wuchs in den USA auf, doch ihre Familie bekennt sich zur haitianisch-japanischen Mischung und zum Geburtsort der Kinder. Anderes Beispiel: Die beiden Mädchen, die mir oft auf dem Weg zur Arbeit entgegenkommen. Sie fahren gemeinsam auf dem Fahrrad zur Schule, die eine japanisch-weiß (oder muß ich sagen »gelb«?), die andere tiefschwarz, vermutlich aus Afrika stammend. Ein trautes Paar, beide unvermischt, aber nebeneinander. Langsam wird sogar Japan der kosmischen Vision Vasconcelos’ entgegengehen.
Noch ein Beispiel: Meine Tochter, fast hätte ich sie vergessen. Von Farben möchte ich da lieber nicht reden, auch nicht von »Rasse«. Inzwischen ein Teenager, bekennt sie sich zu beiden Erbteilen, dem japanischen und dem österreichischen. Sie besitzt beide Staatsbürgerschaften, eines Tages muß sie sich entscheiden, für den einen oder den anderen Paß. Aber ein Reisepaß ist letztlich nur Papier – mit schwarzem Fingerabdruck, damit der Einzelne wirklich unverwechselbar ist.
Seit ich in Japan lebe, fällt mir immer wieder ein Typus mit dunkler Haut auf, manchmal so bronzefarben oder gar dunkelbraun, daß man sie mit Afro-Amerikanern, Brasilianern oder auch Mexikanern verwechseln könnte. Ich habe einiges zu diesem Thema gelesen und zuweilen im spontanen Gespräch Einheimische danach gefragt. Eine befriedigende Antwort auf die Frage, warum ein Volk, das sich – vor allem die Frauen – so viel auf seine helle Haut zugutetut, ein gewisser Prozentsatz »schwarz« ist, habe ich nie gehört. In der japanischen Prähistorie, als es wahrscheinlich eine Landverbindung zu Festlandasien gab, sind Bevölkerungen aus verschiedenen Weltgegenden zugewandert, auch aus Nord- und sogar Südamerika. Die japanische »Rasse« ist also in historischer Zeit niemals rein gewesen.
Was das Weißheitsideal betrifft, so gab es in unseren Tagen nur eine sehr marginale Gegenbewegung während der verrückten neunziger Jahre, als sich gewisse Mädchen in Solarien bräunen ließen (heute wird man in ganz Japan kein Solarium finden). Die einzige mir systematische Studie über die soziale Wahrnehmung der Hautfarbe veröffentlichte ein japanischer Psychologe Mitte der sechziger Jahre. Der gute Mann sprach von der »kaukasischen Rasse« – der Begriff ist heute nur noch auf Pornoseiten anzutreffen –, gab einen historischen Überblick bis zurück in die Nara-Zeit (8. Jahrhundert) und befragte viele Landsleute, darunter solche, die lange Zeit in den USA lebten, zum Thema. Die Tatsache, daß nicht wenige Japaner dunkelhäutig sind, erwähnte er mit keinem Wort; wenn, dann waren sie von der Feldarbeit sonnengebräunt und niedriger sozialer Herkunft. Offenbar ist das »den Japanern« peinlich.
Die meisten der vom Professor Befragten bekannten sich zur Hellhäutigkeit, wenige bezeichneten sich als »gelb« (was sich nicht mit meinen Lektüren und Erfahrungen deckt). Einer der befragten US-Japaner meinte: »Als ich nach Mexiko reiste, waren die meisten Frauen nicht weißhäutig wie die Amerikanerinnen. Bei ihrem Anblick fühlte ich mich schon eher zu Hause.« Der Schriftsteller Shusaku Endo, der später mit einem Roman über die japanischen Christenverfolgungen im 17. Jahrhundert berühmt wurde, lebte als junger Mann während der Blütezeit des Existenzialismus in Paris und verliebte sich in eine hellhäutige Französin. Als beide die Hüllen fallen ließen, war er schockiert. Seine Schlußfolgerung: »Klassenkonflikte können beseitigt werden, doch die Hautfarbe wird ewig bleiben. Ich werde ewig ein Gelber sein und sie eine Weiße.« Genau so reden heute die politisch korrekten Antirassisten.
Bei der Amtseinführung des US-Präsidenten Joe Biden rezitierte eine Lyrikerin ein Gedicht, deren Namen bis dahin nur Insider kannten: Amanda Gorman. Ihre ins Auge stechenden Eigenschaften: jung, schwarz, weiblich, hübsch, Turmfrisur, knallgelbes, elegantes Kostüm, gelb-grün funkelnder, wirklich sehr schöner Fingerring (mit Blumen und zwitscherndem Vöglein), den ihr die berühmte Fernsehmoderatorin Oprah Winfrey zu diesem Anlaß geschenkt hatte. Paßt perfekt! Wikipedia bezeichnet Gorman als poet and activist , wobei für die Einladung zur Amtseinführung die zweite Eigenschaft ausschlaggebend gewesen sein dürfte. Das Langgedicht ist gestelzt, progressiv und bieder, es sieht sich in der Tradition von Walt Whitman, schwadroniert und reimt in der Art von Rappern, pardon, Rapperinnen.
In Europa entbrannte eine Diskussion darüber, wer so ein Poem übersetzen dürfe – und wer nicht. In den Niederlanden war eine verdiente, aber weißhäutige Frau dafür auserkoren worden, und prompt weckte die Entscheidung Kritik, zunächst in den empörungsfreudigen Sozialen Medien, dann von Journalisten, dann auch von der afro-deutschen Literaturwissenschaftlerin (und Aktivistin) Marion Kraft, die in ihrer langen Karriere auch ein wenig übersetzt hat. In einer weißen Mehrheitsgesellschaft könne sich eine weiße Übersetzerin – von Übersetzern, männlich, war sowieso nicht die Rede – nicht wirklich in die Erfahrungswelt einer schwarzen Autorin einfühlen. Und natürlich wurde wieder einmal die Gefahr, »an einigen Punkten für einen Teil der Leserschaft verletzend zu sein«, heraufbeschworen, grotesk vorsichtig formuliert, man will ja den Übersetzern, seien sie auch weiß, nicht zu nahe treten.
Nun gut, vielleicht sollte man wirklich eine schwarze Übersetzerin heranziehen – wenn es eine gibt, die dafür qualifiziert ist. Es zeigte sich, daß es im deutschen Sprachraum nicht viele gibt. Und wenn man sich vorstellt, dasselbe Gedicht ins Isländische, Mongolische oder Japanische übersetzt – wo soll man da die ethnisch passende Person hernehmen? Stellen wir uns umgekehrt vor, eine schwarze Übersetzerin übersetzt einen weißen Autor, sagen wir: aus dem Englischen ins Deutsche, und weiße Kritiker wenden ein, sie könne sich niemals in die Haut eines männlichen Weißen versetzen – würde dann nicht sofort »Rassismus!« geschrien werden? Solche Einwände, ganz gleich, von welcher Seite sie kommen, sind ideologisch motivierter Unsinn, denn es geht beim Übersetzen wie bei der Literatur selbst eben genau darum: Einfühlung zu praktizieren, Empathie, ein anderer zu werden, wenn auch nur für einen begrenzten Zeitraum, mit dem konkreten Ziel, ein Äquivalent in der eigenen Sprache herzustellen. Männer können Frauen übersetzen und umgekehrt, Alte können Junge übersetzen und umgekehrt, und natürlich auch Weiße Schwarze, Gelbe Weiße und so weiter. Wenn man an dieser Möglichkeit zweifelt, zweifelt man an der Möglichkeit des Übersetzens an sich. Jorge Luis Borges, ein weißer Argentinier, der auf die Tropfen englischen Bluts, die in seinen Adern flossen, stolz war, spielte diese Unmöglichkeit in seiner Erzählung Pierre Menard, Autor des Don Quijote durch. Die Erzählung ist eine Groteske, Borges macht sich letzten Endes über die Skrupel des Übersetzers lustig. Wenn er sich nicht in die Haut des anderen versetzen kann, dann soll er es lieber bleiben lassen! Wenn ich mich nicht in das, was mir eine Schwarze zu sagen hat, einfühlen kann, dann bin ich zum Übersetzen nicht geeignet. Im Fall des Pierre Menard kommt zum kulturellen und sprachlichen Abstand noch der zeitliche hinzu: vom 16., 17. Jahrhundert ins zwanzigste! Wie können wir überhaupt etwas verstehen, was nicht wir selbst sind? Doch, wir können! Wir müssen den Abstand überwinden, müssen Brücken schlagen. Genau darin besteht die Tätigkeit des Autors, der Figuren schafft (und nicht nur von sich selbst redet), des Lesers, der mit ihnen mitgeht, und darin besteht auch die Aufgabe des Übersetzers, der letztlich ein genauer, kompetenter, kreativer Leser des Originals ist.
Ich bin mir nicht einmal so sicher, daß Amanda Gorman in ihrem Amtseinführungsgedicht von eigenen Erfahrungen spricht. Eher scheint mir, daß sie auf Überzeugungen, Ideologeme, historische Versatzstücke zurückgreift. The Hill We Climb ist ein ideologisches Gedicht von mäßiger literarischer Kühnheit. Für diese paar Seiten hätte der norddeutsche Verlag nicht unbedingt drei Übersetzerinnen – keine Schwarzen, aber mit Migrationshintergrund – gebraucht. Eher wird hier eine ganz andere Faustregel gelten: Viele Köchinnen verderben den Brei. Jedenfalls dann, wenn man annimmt, daß es sich um Lyrik mit persönlichem Tonfall handelt, für die man ein ebenso persönliches Äquivalent in deutscher Sprache zu finden hat. Aber vielleicht trifft diese Annahme gar nicht zu.
Die Dichterin selbst wurde durch ihren Auftritt schlagartig weltberühmt. Sie unterschrieb kurz danach einen Vertrag bei einer berühmten Model-Agentur und war auf dem Titelbild der Modezeitschrift Vogue zu sehen. Alle diese Angaben entnehme ich dem ihr gewidmeten Artikel in Wikipedia, wo mehr von den Begleitumständen als von ihrer Dichtung die Rede ist – was dem Thema vermutlich gerecht wird.
Zum ersten Jahrestag der Amtseinführung und ihres eigenen Auftritts veröffentlichte Gorman eine poetische Rede in der New York Times. Sie knüpft nahtlos an jenes Gedicht an, schreibt es weiter. Gorman prüft darin auf recht abstrakte Weise, ob in diesem Jahr etwas weitergegangen ist oder nicht. Vielleicht nicht so viel wie erhofft, aber ein bißchen doch, das ist der Tonfall. Wir können Joe Biden weiterhin vertrauen, läßt sie das Publikum wissen. Stabreime in der Rede, das swingt. Even as we’ve grieved, we‘ve grown . Darf ich als Weißer mir erlauben, das Sätzchen zu übersetzen? »Obwohl wir uns grämten, sind wir doch gewachsen.« Voilà .
Können Schwarze Blumen malen?, hatte Sharon Otoo in ihrer Rede gefragt. Nimmt man die Frage ernst, kann die Antwort nur lauten: Natürlich können sie das! Genauso wie sie Blumen beschreiben können, oder phantastische Blumen erfinden. Blumen des Traums, Blumen der Phantasie. Blaue Blumen wie die des Heinrich von Ofterdingen. Oder grüne, gelbe.
Reine Farben? Ja, und noch lieber gemischte.
Aber schwarze Blumen, die können nicht malen. Nicht einmal blaue können das. Es sei denn im Traum, wie bei Novalis. Da beginnt dann erst die Verwandlung, die blaue Blume bewegt sich, die Blätter schmiegen sich an den Stängel, die Blütenblätter werden zum Kragen, darin schwebt ein zartes Gesicht…
Die Literatur ist nicht schwarz oder weiß, sondern romantisch.
Ein Auszug dieses Textes erschien am 04. Juni in der »Wiener Zeitung« unter dem Titel »Farbwechsel, umgekehrt«.
© Leopold Federmair
Der Satz: »Der systemische Antirassismus ist rassistisch geworden...« erinnerte mich an folgenden Witz, den wir uns schon vor vierzig Jahren in der DDR erzählten:
In einem (Schul-)Bus in [Land*] herrscht ein Riesengedränge. Schwarze und Weiße streiten sich um die letzten Sitzplätze. Die Weißen beharren darauf, sich setzen zu dürfen. Da es immer lauter wird, platzt dem Busfahrer der Kragen und er schreit: »Alle aussteigen, aber sofort!«
Als alle ausgestiegen sind, sagt er: »Ich hab die Nase voll von schwarz und weiß!
Von nun an seid ihr alle grün! So, und jetzt alle wieder einsteigen – die Hellgrünen nach vorne und die Dunkelgrünen nach hinten!«
[* Ich weiß nicht mehr, ob der Witz in Südafrika oder USA »spielt«.]
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Und noch eine kleine Engführung:
»Meine Tochter ... [i]nzwischen ein Teenager, bekennt sie sich zu beiden Erbteilen, dem japanischen und dem österreichischen. Sie besitzt beide Staatsbürgerschaften, eines Tages muß sie sich entscheiden, für den einen oder den anderen Paß.«
Kurz vor dem Lesen Ihres Textes hörte ich eine Besprechung auf DLF (Büchermarkt) zum Buch von Pico Iyer „Japan für Anfänger“, in der der Autor (ein Auslandsreporter!) im zweiten Teil behaupten soll: »Eine doppelte Staatsbürgerschaft existiere ebenso wenig wie eine offene Debatte über Sexualität.« https://www.deutschlandfunk.de/pico-iyer-japan-fuer-anfaenger-dlf-748e777d-100.html (ab Minute 5:00)
M. Fürböter
Eine doppelte Staatsbürgerschaft gibt es in Japan für Erwachsene nicht. Kinder von Eltern verschiedener Staatsbürgerschaft haben aber die Möglichkeit, zwei Pässe zu haben, bis zum 21. Lebensjahr, dann müssen sie sich für einen der beiden entscheiden, den anderen zurückgeben. (In Japan wird man mit 20 volljährig.)