Am 8. und 15. August 2007 brachte die ARD um 22.45 Uhr eine zweiteilige Dokumentation mit dem etwas martialischen Titel »Blut und Spiele«. Die drei Autoren (neben Freddie Röckenhaus auch Petra Höfer und Francesca D’Amicis) führten dort auf beeindruckende Weise vor, wie auch der Sport im »westlichen Lager« mit Doping durchdrungen war (und vermutlich noch ist).
Die Aufrüstung der USA
Im ersten Teil beschäftigte sich der Film ausführlich mit der US-amerikanischen Leichtathletik, die seit Mitte der 80er Jahre mit dem staatlichen osteuropäischen Doping aufgeschlossen hatte. Es werden Dokumente gezeigt, die belegen, dass mehrere Wochen vor den Olympischen Spielen 1988 in Seoul zahlreiche US-Athleten bei den »Trails« positiv gedopt waren. Die eiligst vorgenommene Amnestie (»Exucse«) hatte auch zur Folge, dass diese Resultate verschwanden. Die Athleten nahmen an den Olympischen Spielen teil; zahlreiche Olympiasieger und Medaillengewinner unter ihnen.
Zu den inkriminierten Sportlern gehört auch Carl Lewis. Ausgerechnet er, der nach der Disqualifikation von Ben Johnson im 100 m‑Lauf die Goldmedaille zugesprochen bekam. Im weiteren Verlauf des Berichtes wird gezeigt, dass nur einer der acht Endlaufteilnehmer des 100 m‑Herren-Finales von Seoul niemals mit Doping in Kontakt gekommen ist. Warum ausgerechnet Ben Johnson erwischt wurde – auch das wird thematisiert. Zumal Johnson mit einem Mittel überführt wurde, welches er – nach übereinstimmenden, freimütigen Aussagen seines damaligen Managers und Arztes – niemals genommen hatte.
Zahlreiche Zeugen aus der amerikanischen Leichtathletik-Szene kommen zu Wort und berichten in einer nie gesehenen Offenheit. Ins Visier gerät Florence Griffith-Joyner, die in sehr frühem Alter unter mysteriösen Umständen starb (ihr 100 m‑Weltrekord dürfte für immer unerreicht bleiben), aber auch Marion Jones. Der ehemalige Doping-Händler Victor Conte gibt freimütig Auskunft über seine Kunden, über Produkte, Mengen und Trainingspläne. Ein US-Kugelstosser und die (Ex-)Doppelweltmeisterin Kelli White, die später des Dopings überführt wurde und gestand, komplettieren das Bild eines flächendeckenden Dopings. Es ist, so der Tenor des Films, nicht der so häufig beschworene Einzelfall – es handelt sich um systematisches Doping mit Wissen der entsprechenden Verbände. US-Sportler wurden sogar von IOC-zugelassenen Labors vor entsprechenden Meisterschaften vorgetestet – um nur ja nicht bei den entsprechenden Wettbewerben aufzufallen. Die positiven Ergebnisse verschwanden in den Archiven.
Auch der Fussball ist längst nicht mehr dopingfrei
Im zweiten Teil dreht es sich hauptsächlich um den Radsport und die Blutdopingaktivitäten des ominösen Arztes Fuentes. Die Autoren fragen unter anderem warum ein spanischer Richter den Ermittlern nach wie vor verbietet, die bei Razzien beschlagnahmten Computer zu untersuchen. Die These: Fuentes’ Verwicklungen reichen auch in den italienischen und spanischen Fussball hinein. Am Rande wird über den Prozess um Juventus Turin herum berichtet.
Natürlich gibt es viele kämpferische und appellative Stellungnahmen von Dopingjägern. Aber die Ernüchterung bleibt. Auch der Zweifel, diesem Treiben jemals Herr zu werden – und falls doch, zu welchem Preis? Erhellend an dieser Dokumentation ist aber auch, dass der Zuschauer mit in die Verantwortung gezogen wird. Auch er wird in gewisser Weise für das Geschehen mitverantwortlich gemacht. Wie Freddie Röckenhaus im Interview in »Kulturzeit« erwähnt, besteht durchaus eine Bereitschaft beim Publikum, von allzu vielen Details »verschont« zu bleiben, damit die Mythen weiter gesponnen werden können und es auch weiterhin die »grossen Emotionen« und Märchenstorys gibt. Der Jubel um immer neue Weltrekorde ist fatal – denn die physische Leistungsgrenze des Menschen muss irgendwann erreicht sein ‑Trainingsmethoden oder Ausrüstung hin oder her.
Freigabe oder Repression? – Was ist überhaupt »Doping«?
Was also tun? Die Freigabe aller bisher verbotenen Mittel? Oder ist dies das falsche Signal? Alle Argumente, die insbesondere hier dagegen ausgeführt wurden, konnten mich nicht vollständig überzeugen. Matthias Heitmann schreibt in einem Artikel für die neueste Ausgabe von »Novo«:
Wo liegen die Ursachen dafür, dass zwischen verschiedenen Arten der Leistungssteigerung so vehement unterschieden wird? Man könnte es sich leicht machen und sagen, der Unterschied läge darin, dass einige verboten seien und andere nicht. Doch das ist zu einfach. Regeln haben dann einen Sinn, wenn sie ein konkretes Ziel verfolgen und sich gleichzeitig an lebensweltlichen Wirklichkeiten und klar bestimmbaren Unterschieden orientieren.
Welche Ziele werden mit dem Dopingverbot verfolgt? Ein sauberer, gerechter sportlicher Wettbewerb, sagen manche. Doch ist es gerecht, wenn manche Sportler, da sie die finanziellen Mittel dazu haben, in Hightech-Labors trainieren können und andere nicht? Ist es „fair“, große Menschen gegen kleine antreten zu lassen? Warum gilt jemand, der sich zweimal im Jahr ein intensives Höhentraining leistet, um im Flachland bessere Leistungen zu bringen, als „natürlicher“ und „ehrlicher“ als jemand, der sich Eigenblut – also nicht einmal etwas „Körperfremdes“ – injiziert? Sind Gebirgsbewohner eigentlich immer gedopt? Wo liegt die angeblich so klare Grenze zwischen Vitamin-C-Präparaten und Epo, die viele dazu bringt, das eine zu nehmen und gleichzeitig das andere zu verteufeln? Ob ich mir Hilfsmittel in die Blutbahn spritze oder sie nur auf dem Körper trage – wo liegt der moralische Unterschied?
Doping sei ungesund, argumentieren andere. Das mag stimmen. Andererseits üben Leistungssportler ihren Sport nicht aus, um gesund zu bleiben. Sie verbrauchen ihren Körper, um Ziele zu erreichen. Körperkraft ist Mittel zum Zweck. Ist die Leistung erbracht, ist der Körper nicht selten ein Wrack, der Mensch aber oft ein Held.
Heitmann wird sehr deutlich, was das moralische Argument angeht:
Die moralische Ablehnung von Doping erklärt sich nicht dadurch, dass jemand offensichtlich gegen eine klar umrissene Spielregel verstoßen hat. Sie rührt vielmehr von einem sehr seltsamen Verständnis dessen her, was als „natürliche“ oder „menschliche“ Leistung angesehen wird. Dabei macht doch menschliche Leistung – und menschliches Leben insgesamt – gerade aus, dass natürliche Grenzen beständig durchbrochen werden. Wenn Doping als willentlich herbeigeführte unnatürliche Leistungssteigerung definiert würde, wären wir alle überführt. Doch die Definition ist viel banaler, denn sie existiert nicht: Doping ist, was auf der Liste eines Sportverbandes steht.
Welchem Zweck dient der Sport in unserer Gesellschaft?
So oft man diese Argumentation vertritt, kommt man schnell in den Geruch, den Sport »kaputt« machen zu wollen. Aber wer macht den Sport denn jetzt kaputt? Ist die jetzige Situation für denjenigen besser, der nicht gedopt hat? Wird er sich nicht irgendwann resigniert zurückziehen oder eben einfach mitmachen? Was ist – auch dieses Problem wird in »Blut und Spiele« angesprochen – wenn irgendwann das »Gen-Doping« kommt? Die Veränderung ist dann irreversibel und wird nur noch ein einziges Mal durchgeführt.
Einerseits. Und andererseits: Wollen wir einen Sport mit Mutanten? Sicherlich nicht. Aber wer sagt denn, dass wir so etwas nicht längst schon haben? Schwimmer, die in ihrem Körper Luftpolster tragen? Beispielsweise.
Wenn, wie oben angesprochen, der Zuschauer eine Mitschuld an der Entwicklung trägt (und es auch nur durch eine Verdrängungskultur) – was sagt dies über den Stellenwert des Sports in der Gesellschaft aus? Dient er überhaupt noch dem hehren Ziel einer »Gesundheit« oder »körperlichen Ertüchtigung«? Oder sind die Sportler schon längst die modernen Gladiatoren des 21. Jahrhunderts?
Vieles spricht vorerst dafür, dass die Medien wieder zur Tagesordnung zurückkehren werden. Es gab bei der Tour de France einige Bauernopfer. Bei der Live-Berichterstattung zur »Deutschland-Tour« gab es keinerlei kritische Töne mehr – obwohl sich an den Parametern nichts verändert hat. Die Durchschnittsgeschwindigkeiten der Spitzenfahrer lag deutlich über 40 km/h. Und das soll nur vom Nudelessen kommen?
ERGÄNZUNG: Die Manuskripte der Sendungen als PDF-Dateien (jeweils ca. 160 kB) kann man anfordern unter inland@wdr.de
Deutlich über 40 km/h
Ich schätze, dass Geschwindigkeit und dafür notwendiger Leistung eines Radsportlers etwa mit der 3. Potenz miteinander verknüpft sind. Das bedeutet, man muss, um statt mit 40 mit 41 km/h fahren zu können, etwa 7% mehr Leistung aufbringen. Umgekehrt heißt das, dass die Leistungen ohne Doping nicht ins Bodenlose fallen würden, die Zuschauer würden den Unterschied gar nicht bemerken. Es fällt nur innerhalb der Athleten auf, wenn einer konstant mit 1 km/h schneller fahren kann als die anderen.
Im Umkehrschluss bedeutet das, dass du aus einer Durchschnittsgeschwindigkeit von über 40 km/h überhaupt keine Schlüsse über eventuelles Doping ableiten kannst. Die Tour de France ist nicht deshalb so dopinganfällig, weil so schnell gefahren wird, sondern weil hier die Besten mit minimalen Leistungsunterschieden aufeinandertreffen und es unmenschlich lange drei Wochen geht.
Ein Stundenschnitt
von deutlich mehr als 40 km/h über mehrere tausend Kilometer für drei Wochen ist unschaffbar ohne die Zuhilfenahme irgendwelcher Mittelchen. Der Mensch stösst an die Grenzen seiner Physis. Es macht natürlich einen Unterschied, ob ich ein Radrennen von 150 km (ein Tag) nehme und dort 40 oder 45 km/h gefahren wird, oder ob dies – fast unabhängig davon, ob am Berg oder in einer Flachetappe – in der TdF geschieht.
Dein Attribut »unmenschlich« trifft m. E. ins Schwarze. Wenn es denn tatsächlich »unmenschlich« ist, warum macht man es überhaupt? Beleidigt nicht die Ergebnisliste jedes Jahr aufs Neue meine Intelligenz, wenn ich glauben soll, dass sei alles sauber, nur weil die Dopingproben negativ ausgefallen sind? Wie lange will man eigentlich so etwas noch goutieren?