Vom Idioten (idiotes) über den Höhlenbewohner zum »Fortführer« – der Reigen der reflexiv-aphoristischen, bisweilen zeit- und kulturkritischen Notate von Botho Strauß, die fast ein eigenes Genre kreieren, geht weiter. Bezeichnenderweise sind diese drei Bücher in drei verschiedenen Verlagen publiziert worden; einzig »Oniritti«, das kryptischste der drei, ist in Strauß’ Hausverlag Hanser erschienen.
Schon das Cover vom »Fortführer« verweigert sich in seiner Naturleinen-Optik jeglichen Designattitüden. Wüsste man es nicht besser, könnte es sich auch um ein Buch aus den 1950er Jahren handeln. Nicht nur an dieser Kleinigkeit ist spürbar, wie der Autor mit den fast schon reflexhaft daherkommenden Zuschreibungen des Literaturbetriebs spielt. Dabei wird die selbstreflexive Nachdenklichkeit, die hinter den zuweilen trotzigen Einlassungen steckt, geflissentlich übersehen. »Ich habe nie mitten im Leben gestanden«, stellt Strauß an einer Stelle fest. Er lebe »als Trouvaille…von Trouvaillen« heißt es anderenorts. Sich selbst verortet der Dichter also weit draußen, jenseits von Kumpelhaftigkeit und Trendsetting.
Eigentlich handelt es sich bei Strauß’ neuestem Buch um zwei Bücher. In »Zwischen Jetzt und Nu« werden in vierzehn Kapiteln in der Form von Prosagedichten »bitterste Fünkchen« (Strauß) gezündet, die zum Teil ähnlich mystisch-surreal klingen wie in »Oniritti«. Strauß zeigt sich diesmal vor allem als ein »Gefangener seines Zungenschlags«, plädiert voller Leidenschaft für eine Sprache, die »glüht wie feuriges Eisen kurz vor der Schmelze«, macht es sich absichtsvoll ungemütlich in einer »Hütte aus Altsprache« und erzählt eine Menge skurriler Dinge, wie etwa eine Person, die ihr Leben lang die Kerne der Kirschen aufgehoben hat, die sie gegessen hatte. Er seziert einen Blumenstrauß, entdeckt an einem Sandstrand einhundert Jahre alte Mulden von Frauen, feiert das »Wunder der Erschöpfung«, differenziert zwischen Nichstuer und Faulenzer, entdeckt die »Gottverlassenheit des Diskutierens«, macht Kinder zu »Erfahrungsuralten«, die »erst zu kleinen Erwachsenen [werden], wenn sie an der Erfahrungsarmut der Erwachsenen teilnehmen und teilnehmen müssen« und entwickelt eine Dystopie über eine Handy-App, die bei Personen auf Wunsch »ausgesuchte Erinnerungszonen mit Dunkelstoffen ‘beschießt’, also schwärzt«.
Erst im letzten Fünftel, auf knapp 47 Seiten, kommt »Der Fortführer« zum Zuge. Das poetische Ab- und Anschwellen weicht der selbstbewußt vorgetragenen Sentenz: »Man ist Fort-Führer – oder es gibt einen gar nicht.« Auch hier geht es dem Sprachschmied Strauß um die Sprache, um das das »große herrliche Deutsch«, was das Erlernen des »rohen Verfluchens« einschließt. Tatsächlich taucht sogar der »letzte Deutsche« als »Phänotyp« auf. Und wer jetzt hyperventiliert, wird sogleich belehrt: »Er ist weder Chauvinist noch völkisch gesinnt. Ist hörig allein seiner Muttersprache. Er ist auch nicht der Einwanderer und Fremden wegen so letztlich. Sondern weil neben ihm, unter seinen Landsleuten, keiner ähnlich angebunden und angestammt lebt.«
Es geht Strauß um ein immer »tiefer hinein« ins Deutsche – gemeint ist dabei allerdings die deutsche Sprache. Das Andienen an die »lingua franca« vernebele die Gipfel; der Sprachschatz verkümmert. »Der Berg der Sprache wird gerade für so hoch eingeschätzt, als man selber sprechen kann«.
Natürlich inszeniert sich Strauß auch selber. Der Fortführer als Wortführer, als »Märtyrer des heiligen Anachronisten« – in einer Reihe mit jemandem wie dem längst vergessenen Albrecht Schaeffer. Da bleibt dann auch irgendwann das Wir nicht aus: »Wir Durchschauende« heißt es dann und kurz darauf: die »Nicht-Erschreckbaren«. Und doch ist er immer wieder erschrocken – wie sollte es auch anders sein? Kein Stein bleibt bei ihm auf dem anderen. Strauß moniert die »abgerichtete Intelligenz« genauso wie die »Strolche in der Kunst«. Entdeckt das »Paradox des intimen Textes«. Ungewöhnlich, wie er den Unterschied zwischen Gläubigen und Religion definiert. Er findet das Meisterliche albern, keilt gegen Blogs und die asozialen Netzwerke mit ihren auftrumpfenden Banalitäten aus. Und er denkt schon weiter: »Was wird in einem Zeitalter empfunden werden, in dem sich die ‘Kommunikation’ erschöpft haben wird?«, fragt Strauß, der einst von der »Rattenplage der Kommunikation« sprach. Diese Fragestellung geht einem lange nicht aus dem Kopf. Ebenso auch die gelegentlich eingestreuten Beschwörungen wie »Horche, doch höre nicht« (der jetzt neugierig gewordene Leser soll sie suchen, diese Stellen).
Der aufgefächerte Referenzrahmen ist variantenreich. Von Ovid und Gregor von Tours über Dante und Goethe (der mehrmals vorkommt) bis Joseph Conrad, René Char, Ernst Jünger, Rudolf Borchardt oder der bereits erwähnte Alfred Schaeffer. Von Strauß’ literarischen Hausgöttern fehlt lediglich Nicolás Gómez Dávila.
Die kultur- und medienkritischen Ein- bzw. Auslassungen, das Beharren auf Form und Sprache – all dies wirkt in einer Welt der Fetischisierung des Lässigen und des Affekts fast treuherzig. Und ja, Strauß sucht dieses Anachronistische, Sperrige, weitet sich selbst und dem (geneigten) Leser den Blick und entdeckt en passant noch Schicksalsgenossen, die sich den jeweiligen Moden hartnäckig verweigerten, was am Ende dazu führte, dass sie nicht überliefert wurden. Indirekt erklärt er damit wie Kanonisierung von Literatur funktioniert: Als Transformation und Abgleich des Jetzt-Populären auf das Vergangene (wobei die wenigen Ausnahmen eher die Regel bestätigen).
Aber es ist nicht nur grimmige Unversöhnlichkeit des »immer hadriger und unleidlicher« werdenden Unzeitgenossen, der »sein Lebtag im Ausweglosen unterwegs« ist oder resignativ über die ausbleibende »Funkenzeit« nachdenkt. Es gibt auch humoristisch-ironische Volten und surreale Wendungen. »Der Fortführer« wirkt insgesamt verspielter als die beiden genannten Vorgänger. Die reaktionäre politische Agenda, die Strauß so gerne nachgesagt wird, wird man mit viel Unterstellungsphantasie in der ein oder anderen Eintragung finden können. Hier ist die Reaktion zumeist eher eine Re-Aktion. Den näherliegenden Vorwurf des Elitären kann man mit der Anmaßung des grassierenden digitalen Narzißmus kontern. Was dem einen recht ist, müsste dem anderen billig sein dürfen.
Auch wenn einem die Welt dieses Schreibenden, Wahrnehmenden, Schauenden, Horchenden weitgehend fremd bleibt – es ist ein anregendes Buch, gelegentlich dem Leser Haken schlagend und ihn überfordernd. Im besten Sinne eine Zumutung. Sei’s drum. Bleibt noch eine Frage: Wann man wohl den unzeitgemäßen Botho Strauß als zeitgemäß entdecken wird? Ob überhaupt?
Auch wenn Ihr Text so nicht gedacht war, gibt er mir ein so genaues Bild des besprochenes Buches ein, dass mich das schlechte Gewissen nur ein wenig zwickt, es nicht zu lesen.
Danke auch für den Hausgott Nicolás Gómez Dávila, bei dem gehe ich mal stöbern; stellt er doch einer seiner Aphorismensammlungen unter anderem das schöne Nietzsche-Zitat voran:
»Dass es sich hier um die lange Logik einer ganz bestimmten philosophischen Sensibilität handelt und nicht um ein Durcheinader von hundert beliebigen Paradoxien und Heterodoxien, ich glaube, davon ist auch meinen wohlwollendsten Lesern nichts aufgegangen.«
Dávila lohnt sich. Man könnte seine Aphorismenbücher auf die berühmte einsame Insel mitnehmen – und würde lange brauchen, alles zu durchdenken.
Dávilas Zigarre
Dávila, so gelehrt,
stürzte bei dem Versuch
sich im Sattel
eine Zigarre anzuzünden
vom scheuenden Pferd.
Flamme Rauch erster Zug:
vom hohen Brennen
hatte er nicht viel.
Immerhin genug,
um zu erkennen:
»In der Kürze
liegt die Würze« :
die Binde an seinem Stil.
»Dávilla«: Ein L zuviel. Villa ...So gar nicht passend für den ganz anders Behausten.
Ich hab’s geändert...