38 Gespräche von Carsten Gansel mit Schriftstellerinnen und Schriftstellern zwischen 1989 und 2014 sind im von Norman Ächtler im Verbrecher-Verlag herausgebrachten Band »Literatur im Dialog« chronologisch abgedruckt. Gansel, 1955 in Güstrow geboren und mit dezidiert ostdeutscher Akademikervita, ist seit 1995 Professor für Neuere Deutsche Literatur und Germanistische Literatur- und Mediendidaktik an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Die meisten Gespräche aus dem Band wurden in der DDR- Wochenzeitschrift »Sonntag« bzw. später in »Der Deutschunterricht« veröffentlicht; einige sind allerdings erstmalig publiziert. Das 39. Gespräch ist bilanzierend und findet zwischen Carsten Gansel und Norman Ächtler, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Gießener Institut für Germanistik, statt.
In der interessanten Einleitung Ächtlers, die einige grundsätzliche Fragen behandelt, etwa ob es sich um Interviews oder Gespräche handelt und wie es um die Selbstinszenierungen der Befragten bestellt sein mag, werden die »drei Generationen« vorgestellt, die Gansel in und mit seinen Interviews zu DDR und Literatur befragte: Die Gründungsgeneration nach 1945, die »Heineingeborenen« (ein Wort von Uwe Kolbe) und die heute um die 40jährigen, »Hineingeschriebenen«. Es kommen so unterschiedliche Autoren wie Stefan Heym, Hermann Kant, Christoph Hein, Christa Wolf, Erich Loest, Ulrich Plenzdorf aber auch »westdeutsche« Stimmen wie Peter Kurzeck, Norbert Gstrein, Peter Härtling, Günter Grass oder Alexa Hennig von Lange zum Spannungsfeld von Erinnerung und Literatur und Politik und Publizität (vor allem aber nicht nur im Hinblick auf die »geschlossenen Gesellschaft« der DDR) befragt.
Es gibt mehrere Gründe, warum man dieses Buch nicht mehr so schnell aus der Hand legen mag. So wirken Gansels Sach- und Fachkenntnisse der jeweiligen Publikationen der befragten Autoren auf eine berückende Weise altmodisch. Man ist es vom dröhnenden Feuilleton-Geschwafel einfach nicht mehr gewohnt, dass da jemand tatsächlich die Bücher gelesen hat und kundig (Lektüre-)Eindrücke zu formulieren und einzubringen weiß.
Häufig sind auch Analogien zur Hand, die dem Lektüreunkundigen Hilfestellung geben. So entsteht eine sehr dichte, an fachliche Problemstellungen orientierte Atmosphäre. Das Resultat dieses für den Leser zuweilen durchaus anspruchsvollen Herangehens (besonders historische Daten werden schlichtweg vorausgesetzt) ist, dass sich neue Erkenntnisse gewinnen lassen und manchmal scheinbar bekannte Persönlichkeiten in neuem oder zumindest leicht anderem Licht erscheinen.
Und dann gibt es diese aufschlussreichen, durchaus an Heinz-Ludwig-Arnold-Interviews erinnernden Momente, etwa wenn Tschingis Aitmatow über die »Einstellung gegenüber dem Dasein« nachdenkt und den Stellenwert von Literatur in Deutschland und der ehemaligen Sowjetunion vergleicht, Lutz Rathenow über seine Erfahrungen mit dem »Berichterstatter« Hermann Kant im DDR-Schriftstellerverband erzählt, Brigitte Burmeister in ihrer Eigenschaft als Romanistin in der DDR schon als »halbwestlich« galt, Christa Wolf vom Schreiben als ein Arbeiten im »Geflecht« räsoniert, Hermann Kant sich wortgewaltig entlastet, Robert Schneider ein Lob auf die Provinz anstimmt, Peter Kurzeck Lektorenliteratur ablehnt, Ulrich Plenzdorf über das Serienschreiben (»Liebling Kreuzberg«) berichtet, Andreas Neumeister (fast ein wenig verzweifelt in seinem Hochmut) Pop immer noch als subversiv ansieht, Uwe Kolbe seine Kindheit 200 Meter von der Mauer entfernt evoziert, Stefan Heym an das Jiddisch-Sprechen erinnert, Peter Härtling über den Verlust des Paradieses trauert oder Erich Loest mannhaft seine politischen Irrtümer erklärt. Eines der interessanten Gespräche ist das mit Jürgen Becker (2001) über Adorno, die Hysterien in der BRD und die NS-Bewältigung in der DDR. Auch die Interviews mit Gustav Just, Norbert Bleisch (aka Norbert Leipold) und der Kinder- und Jugendbuchautorin Jutta Richter, die über Mensch und Verrat sinniert, gehören in diese Reihe. Überhaupt sind zuweilen die Interviews mit weniger bekannten Protagonisten (bspw. Gottfried Meinold oder Kathrin Gerlof) ergiebiger sind als die mit den vermeintlich großen Namen. Wobei einige »große Namen« fehlen, die man allerdings nicht vermisst.
Im Laufe der Lektüre entsteht ein »zeit- und mentalitätsgeschichtliches Mosaik« (Ächtler) der untergegangenen DDR und vor allem der Westdeutsche lernt eine Menge über das Leben als politisch denkender Mensch und Schriftsteller im real existierenden Sozialismus. Und nicht nur historisch sondern auch literaturwissenschaftlich bedeutend: Gansel, den man salopp als eine Art »Erinnerungsforscher« bezeichnen könnte, ergründet mit seinen Gesprächspartnern die Zuverlässigkeit dessen, was man gemeinhin Erinnerung nennt und lotet das Neben‑, Mit- bzw. Gegeneinander von Erinnerung und Fiktion aus. Diese Fragestellung ist unabhängig vom jeweiligen politischen System.
Bei allen Gesprächen gibt es einen ganz großen, auf den Gansel immer wieder rekurriert, der aber nicht mehr zur Verfügung stand. Es ist der 1984 verstorbene »Erinnerungsarbeiter« Uwe Johnson. Kaum ein (wichtiges) Interview, in dem nicht wenigstens einmal der Name und ein Zitat von Johnson fallen. Aber dies passiert nicht aus Manierismus des Fragestellers, sondern ist stets kontextuell begründet.
»Literatur im Dialog« ist ein aufklärerisches, lehrreiches und in seinen besten Momenten fesselndes Buch. Idealerweise bekommt man noch ein Paket von Literaturempfehlungen mit. Carsten Gansel zeigt sich als Könner des Fragens im öffentlichen (bzw. halböffentlichen) Raum. Niemand, der an deutscher Literaturgeschichte interessiert ist, kann an diesem Buch vorübergehen.
Norman Ächtler, nicht Norbert Ächtler, wie es im Text fälschlicherweise heißt. Ansonsten ein schöner Text.
Lesen sollte man können...Schande über mich und Danke für den Hinweis. Ist korrigiert.