Chri­sti­an Schwep­pe: Zei­ten oh­ne Wen­de

Christian Schweppe: Zeiten ohne Wende

Chri­sti­an Schwep­pe: Zei­ten oh­ne Wen­de

Fast zwei­ein­halb Jah­re be­ob­ach­te­te der Jour­na­list Chri­sti­an Schwep­pe das, was man »Zei­ten­wen­de« nann­te: Die Re­ak­tio­nen der deut­schen Re­gie­rung auf den Über­fall Russ­lands auf die Ukrai­ne. Schwep­pe weiß, dass es vom Kanz­ler­stuhl der Re­gie­rungs­bank zum Red­ner­pult sie­ben Schrit­te sind. Am 27. Fe­bru­ar 2022 rief Bun­des­kanz­ler Olaf Scholz ei­ne »Zei­ten­wen­de« aus. Spä­ter er­fährt man von Schwep­pe, dass Scholz sich mit dem Be­griff der Zei­ten­wen­de selbst pla­gi­iert hat­te; er ver­wen­de­te ihn be­reits 2017 in ei­nem Buch, frei­lich oh­ne Ver­bin­dung mit mi­li­tä­ri­schen Fra­gen. An je­nem Fe­bru­ar 2022 kün­dig­te er ei­ne In­stand­set­zung der längst ma­ro­de ge­wor­de­nen Bun­des­wehr mit­tels ei­ner als Son­der­ver­mö­gen de­kla­rier­ten Ver­schul­dung von 100 Mil­li­ar­den Eu­ro an und ver­sprach, zu­künf­tig 2% des BIP für die Bun­des­wehr aus­zu­ge­ben. Die Ukrai­ne soll­te mit Waf­fen un­ter­stützt wer­den, um sich ge­gen den rus­si­schen Ag­gres­sor zu weh­ren. Mit die­ser Re­de und den er­sten Schrit­te da­nach brach man mit meh­re­ren Ta­bus der Bun­des­re­pu­blik, die spä­te­stens seit der Ver­ei­ni­gung 1990 in ei­nen geo­po­li­ti­schen Däm­mer­schlaf ver­fal­len war. Vie­le Me­di­en wa­ren be­ein­druckt, ei­ni­ge an­de­re zeig­ten sich pflicht­schul­dig schockiert, sa­hen den ag­gres­si­ven Deut­schen wie­der auf­le­ben.

Zei­ten oh­ne Wen­de heißt das Buch von Schwep­pe über die­se Zeit, das An­fang Ok­to­ber er­schie­nen ist. Ein Wort­spiel. Der Un­ter­ti­tel nimmt das im Früh­jahr bei Druck­le­gung sich ab­zeich­nen­de Re­sul­tat be­reits vor­weg: »Ana­to­mie ei­nes Schei­terns«. Man liest die 350 Sei­ten trotz­dem, in ei­nem Rutsch, in ei­ner Mi­schung aus Fas­zi­na­ti­on und Wi­der­wil­len.

Schwep­pe schreibt ei­ne Lang­zeit­re­por­ta­ge, Stil und Am­bi­ti­on er­in­nern an Ste­phan Lam­by. Im­mer wie­der wer­den ei­ni­ge aus­ge­such­te Prot­ago­ni­sten be­sucht. Be­son­ders häu­fig spricht er mit Ma­rie-Agnes Strack-Zim­mer­mann (»Flak-Zim­mer­mann«), je­ner FDP-Frau, die in hib­be­li­ger Un­ge­duld und mit en­er­gi­schem me­dia­len Auf­tre­ten den bei Waf­fen­lie­fe­run­gen für die Ukrai­ne chro­nisch stocken­den und zö­gern­den Scholz mehr­mals her­aus­for­der­te. Er be­glei­tet Da­ni­el An­drä, zu Be­ginn 43, Oberst­leut­nant, zu­nächst Kom­man­dant ei­nes in­ter­na­tio­na­len Ge­fechts­ver­bands in Li­tau­en. Man lernt Mat­thi­as Leh­na ken­nen, Mit­te 30, ei­nen ehe­ma­li­gen Ge­birgs­jä­ger, der in Ma­li war. Bei­de wer­den am En­de über die Bun­des­wehr und den Um­gang in ihr und mit ihr des­il­lu­sio­niert sein.

Schwep­pe zeich­net Por­traits von Al­fred Mais, Deutsch­lands ober­stem Hee­res­ge­ne­ral und In­go Ger­hartz, dem »Chef« der Luft­waf­fe – bei­de könn­ten nicht un­ter­schied­li­cher sein. Aber auch Ar­min Pap­per­ger, der Vor­stands­vor­sit­zen­de von Rhein­me­tall, wird be­äugt. Er schaut dem Haus­häl­ter To­bi­as Wald­hü­ter über die Schul­ter (da­bei be­kommt man in­ter­es­san­te Ein­blicke in die so­ge­nann­te »Nacht der lan­gen Mes­ser«, in der »der fi­na­le Haus­halt für das neue Jahr aus­ge­dealt« wird), be­glei­tet den Nach­rücker Nils Grün­der, der »in der FDP-Ar­beits­grup­pe Ver­tei­di­gung« ar­bei­tet, zi­tiert den ehe­ma­li­gen Wehr­be­auf­trag­ten Hans-Pe­ter Bartels und er­lebt die am­tie­ren­de Wehr­be­auf­trag­te Eva Högl, die zwar al­les zu wis­sen scheint, was die Man­gel­la­ge der Bun­des­wehr an­geht, aber ir­gend­wie wir­kungs­los bleibt.

Man­che Tref­fen wir­ken wie pflicht­schul­di­ge Pro­to­kol­le, weil sie kei­ner­lei Er­kennt­nis­ge­winn lie­fern. Et­wa bei Agnieszka Brug­ger, die über­zeugt ist, dass die Bun­des­wehr im »Ernst­fall« bes­ser funk­tio­nie­ren wür­de, als man­che Schlag­zei­le ver­mu­ten las­se. Dass es nicht »Ernst­fall« heißt, wis­sen bei­de an­schei­nend nicht, was ein biss­chen pein­lich ist, wenn man sich gleich­zei­tig dar­über amü­siert, dass Ver­tei­di­gungs­mi­ni­ste­rin wie Bun­des­kanz­ler von »Luft­ab­wehr« (statt Flug­ab­wehr oder Luft­ver­tei­di­gung) spre­chen. Er scheint auch Brug­ger zu­zu­stim­men, die meint, dass die »Zei­ten­wen­de« zu sehr von Män­nern do­mi­niert wür­de. Ei­ne merk­wür­di­ge Fest­stel­lung, schließ­lich ist zu die­sem Zeit­punkt Chri­sti­ne Lam­brecht Ver­tei­di­gungs­mi­ni­ste­rin, Eva Högl Wehr­be­auf­trag­te, An­na­le­na Baer­bock ist om­ni­prä­sent und sieht sich auch schon ein­mal mit Russ­land im Krieg und Strack-Zim­mer­mann be­herrscht die in­nen­po­li­ti­schen Schlag­zei­len.

Zu­nächst je­doch dringt Schwep­pe tief in die Be­schaf­fungs- und Aus­rü­stungs­si­tua­ti­on der Bun­des­wehr ein. Da ist vor al­lem die Dys­funk­tio­na­li­tät des »Bun­des­amts für Aus­rü­stung, In­for­ma­ti­ons­tech­nik und Nut­zung der Bun­des­wehr« aus Ko­blenz, die­ser Mon­ster­be­hör­de, die Aus­schrei­bun­gen for­mu­liert, die für Her­stel­ler bis­wei­len tech­nisch un­er­füll­bar sind, wie er an ei­ner Be­schaf­fung von Schlauch­boo­ten zeigt. Schwep­pe be­rich­tet von den »deut­schen Son­der­we­gen« bei Rü­stungs­käu­fen (»Gold­rand« ge­nannt) und der Ver­strickung »in ei­ner Viel­zahl sper­ri­ger bis ab­sur­der Nor­men.« Da­bei geht es um es­sen­ti­el­le Din­ge, wie feh­len­de Mu­ni­ti­on (die Ver­pflich­tung ei­ner Min­dest­re­ser­ve wird schon län­ger nicht mehr ein­ge­hal­ten). Man hat we­der ab­hör­si­che­re Funk­ge­rä­te noch Droh­nen. Flug­zeu­ge sind nicht ein­satz­be­reit, die Bun­des­wehr ist nacht­blind und win­ter­un­taug­lich; so­gar Un­ter­wä­sche fehlt. Deutsch­land ist wehr­los.

Das al­les soll sich nun än­dern. Hat man sich je­doch erst ein­mal in die La­ge der Bun­des­wehr ein­ge­le­sen, dann schwin­det rasch die Hoff­nung auf nach­hal­ti­ge Bes­se­rung. Be­son­ders mit der Ver­tei­di­gungs­mi­ni­ste­rin Chri­sti­ne Lam­brecht, de­ren Wir­ken (es ist eher ein Nicht-Wir­ken) Schwep­pe nun in al­len De­tails aus­brei­tet, ei­ne Chro­no­lo­gie des Ver­sa­gens. Lam­brecht ist ei­ne Par­tei-Lin­ke in der SPD, hat­te mit Bun­des­wehr kei­ner­lei Be­rüh­rungs­punk­te. Sie woll­te In­nen­mi­ni­ste­rin wer­den. Im Ko­ali­ti­ons­ver­trag gibt es an­dert­halb Sei­ten zur Bun­des­wehr mit am­bi­ti­ons­lo­sen Ge­mein­plät­zen. Zu­nächst gibt es al­ler­dings ei­nen klei­nen Fort­schritt: Lam­brecht ver­fügt, »dass al­les un­ter­halb von 5000 Eu­ro künf­tig oh­ne Aus­schrei­bung be­schafft wer­den darf.« Im­mer­hin. Aber rasch meh­ren sich Stim­men der In­kom­pe­tenz der Mi­ni­ste­rin. Sie be­nö­tigt Über­set­zun­gen vom Eng­li­sche ins Deut­sche, kennt die Dienst­gra­de nicht, liest sich nur lücken­haft in die Ak­ten ein und will sich mit der Lie­fe­rung der 5000 Hel­me an die Ukrai­ne zu Be­ginn des Krie­ges pro­fi­lie­ren. Der Ar­beits­stil der Mi­ni­ste­rin wird kri­ti­siert; sie blockiert Ent­schei­dun­gen. Ab­ge­schlos­sen wur­den bis En­de 2022 zehn Ver­trä­ge für gro­ße Rü­stungs­vor­ha­ben. Und: »Mit dem 1. Ja­nu­ar 2023 wird be­kannt, was bis­lang als Sum­me schon kon­kret ab­ge­flos­sen ist aus dem Son­der­ver­mö­gen des Kanz­lers – ge­nau null Eu­ro.«

Emp­feh­lens­wert wä­re es ge­we­sen, wenn Schwep­pe die bei­den un­ter­schied­li­chen Kom­po­nen­ten, aus de­nen die­se »Zei­ten­wen­de« zu­sam­men­ge­setzt ist, bes­ser von­ein­an­der ge­trennt hät­te. Zum ei­nen hat­te Scholz da­mit ei­ne »Wen­de« hin zu ei­ner bes­se­ren, wie der spä­te­re Ver­tei­di­gungs­mi­ni­ster Pi­sto­ri­us es nann­te, »kriegs­tüch­ti­gen« Aus­rü­stung der Bun­des­wehr nach Jahr­zehn­ten der Ver­nach­läs­si­gung an­ge­kün­digt, in­klu­si­ve dau­er­haft bes­se­rer Fi­nan­zie­rung (2%-Ziel). Zum an­de­ren han­del­te es sich um die Zu­sa­ge, der an­ge­grif­fe­nen Ukrai­ne so­wohl mit Ma­te­ri­al wie auch fi­nan­zi­ell zu hel­fen, um sich ge­gen die An­grif­fe Russ­lands mi­li­tä­risch zu ver­tei­di­gen.

Be­son­ders der letz­te Punkt, Art und Um­fang der Waf­fen­lie­fe­run­gen, stan­den be­son­ders stark im Fo­kus der Öf­fent­lich­keit. Und hier stock­te es be­reits sehr früh. Zum ei­nen, und das be­han­delt Schwep­pe sehr gut, weil die Kom­man­deu­re die oh­ne­hin sehr mä­ßi­ge Aus­rü­stung der Bun­des­wehr nicht noch zu­sätz­lich de­zi­miert se­hen woll­ten und nicht zu Un­recht lan­ge Lie­fer­zei­tun­gen für Er­satz­lie­fe­run­gen kal­ku­lier­ten. Und zum an­de­ren weil Scholz in na­he­zu star­rem Blick auf das Han­deln der Bi­den-Re­gie­rung fi­xiert war.

Schwep­pe neigt da­zu, für den de­sa­strö­sen Zu­stand der Bun­des­wehr die Ver­tei­di­gungs­mi­ni­ster der Ver­gan­gen­heit nebst der da­mals am­tie­ren­den Mi­ni­ste­rin Lam­brecht al­lei­ne ver­ant­wort­lich zu ma­chen. Er ver­gisst, dass Mi­ni­ster nichts oh­ne das Ein­ver­ständ­nis des Kanz­lers, von 2005 bis 2021 der Kanz­le­rin, tun. Zu lan­ge träum­te die Bun­des­re­pu­blik »ih­ren ge­ruh­sa­men Frie­denstraum«. Selbst im Aus­lands­ein­satz in Af­gha­ni­stan wur­de sie von den Me­di­en als Hel­fer für den Bau von Brun­nen vor Ort dar­ge­stellt.

Schwep­pe be­rich­tet auch von den Lob­by­tä­tig­kei­ten der Rü­stungs­in­du­strie wie Lock­heed, Air­bus und, al­len vor­an, Rhein­me­tall. Je­der will ein Stück vom gro­ßen Ku­chen. Er führt Te­le­fo­na­te mit NGOs, die in hy­per­ven­ti­lie­ren­dem Stil so­fort von ei­ner Re­mi­li­ta­ri­sie­rung Deutsch­lands und »Hoch­rü­stung« schwa­dro­nie­ren. Aus­führ­lich wird über ein Abend­essen im Reichs­tag, or­ga­ni­siert von Lock­heed, er­zählt. Glaubt er, dass man deut­sche Ab­ge­ord­ne­te tat­säch­lich mit ei­nem Din­ner be­stechen kann? Im­mer­hin ent­deckt er in­mit­ten die­ses Her­um­sto­cherns ei­nen ve­ri­ta­blen Skan­dal, der merk­wür­di­ger­wei­se bis­her nicht groß the­ma­ti­siert wur­de. Es geht um Dirk Nie­bel, ehe­ma­li­ger Bun­des­mi­ni­ster von 2009 bis 2013, da­nach bei Rhein­me­tall, heu­te im Lob­by­re­gi­ster als Ver­tre­ter ei­ner Be­ra­tungs­ge­sell­schaft ein­ge­tra­gen, die sich u. a. mit »Ver­tei­di­gung« be­schäf­tigt. Ei­ner der Söh­ne von Nie­bel ar­bei­tet aus­ge­rech­net im Ab­ge­ord­ne­ten­bü­ro von Flo­ri­an Ton­car (FDP). Der ist Staats­se­kre­tär im Bun­des­fi­nanz­mi­ni­ste­ri­um und über sei­nen Schreib­tisch ge­hen »al­le neu­en Rü­stungs­ge­schäf­te der Bun­des­re­gie­rung, die ei­nen Wert von 25 Mil­lio­nen Eu­ro über­schrei­ten.« Ein Schelm, wer Bö­ses da­bei denkt?

Zäh lau­fen die er­sten Be­schaf­fun­gen an. Und es gibt Rück­schlä­ge. Der größ­te ist ei­ne Schild­bür­ger­ge­schich­te. Man hat­te »für 1,3 Mil­li­ar­den Eu­ro neue Funk­ge­rä­te be­stellt – nur pas­sen sie lei­der nicht in die 34.000 Fahr­zeu­ge, die man da­mit um­rü­sten woll­te«. Pas­siert bei Lam­brecht, aus­ba­den muss­te es der neue Mi­ni­ster Pi­sto­ri­us. Aber­mals ver­sagt die Ko­or­di­na­ti­on der Be­schaf­fungs­stel­len. Ab­ge­ord­ne­ten brennt die Si­che­rung durch. Die si­cher­heits­po­li­ti­sche Spre­che­rin der Grü­nen, Sin­na Nan­ni, for­dert das, was Po­li­ti­ker im­mer dann wol­len, wenn sie über­for­dert sind: ei­nen Son­der­be­richt. Und sie tobt: »Wenn die noch mal Geld von mir ha­ben wol­len, soll­ten die das bes­ser tun.« Als wä­re es ihr Geld, dass da ge­ge­ben wur­de.

Nach­dem ihm die Bun­des­wehr kei­ne Per­spek­ti­ve nebst Be­för­de­rung ge­bo­ten hat, ori­en­tier­te sich Da­ni­el An­drä an­der­wei­tig und wech­sel­te auf Zeit in das Bü­ro von Fried­rich Merz. Auch Ma­thi­as Leh­na hat am En­de die Bun­des­wehr ver­las­sen und ar­bei­tet in der Ukrai­ne für ei­ne deut­sche Fir­ma, die Droh­nen her­stellt. Leh­na ma­che jetzt sei­ne ei­ge­ne Zei­ten­wen­de, schreibt Schwep­pe. Die Bot­schaft ist deut­lich: Die be­sten Leu­te ver­las­sen den be­we­gungs­lo­sen Tan­ker – neu­er Ver­tei­di­gungs­mi­ni­ster Pi­sto­ri­us hin oder her. In­di­rekt passt da­zu auch die Mel­dung von En­de 2002, dass Strack-Zim­mer­mann 2024 nach Brüs­sel wech­seln will. Nach­dem Schwep­pe und sie vor­her ei­nen durch­aus ver­trau­en Um­gang pfleg­ten, er­staunt die la­pi­da­re Be­grün­dung doch ein we­nig: » ‘Das Le­ben ist ein Dau­er­lauf!’, sagt die Ab­ge­ord­ne­te zu sol­chen Fra­gen.« Ein schwa­ches State­ment ver­gli­chen mit dem, was sie an­son­sten so hin­aus­po­saunt. Sie klagt über den Stress, aber ihr Bü­ro hat ge­nug Zeit, Kla­gen an Leu­te zu for­mu­lie­ren, die sie be­schimpft ha­ben. Auch das be­zahlt der Steu­er­zah­ler.

Nach­träg­lich be­merkt man noch ein­mal den Ruck, der die Be­tei­lig­ten in der Zei­ten­wen­de-Kom­po­nen­te Bun­des­wehr kurz­zei­tig er­fass­te, als Bo­ris Pi­sto­ri­us Ver­tei­di­gungs­mi­ni­ster wur­de. Eu­pho­ri­siert wie er war, sag­te er ei­ne neue Bri­ga­de von rund 5000 Mann in Li­tau­en zu, die bis 2027 sta­tio­niert sein soll. Nur wie das funk­tio­nie­ren soll – das weiß nie­mand. Spä­ter schil­dert Schwep­pe, wie Pi­sto­ri­us mit Kür­zun­gen von Haus­halts­zu­sa­gen für das Ver­tei­di­gungs­res­sort zu­recht­ge­stutzt und ge­de­mü­tigt wur­de und mit wel­chen Tricks man das 2%-Ziel her­bei­mo­gelt.

Im­mer wie­der zö­gert Scholz bei der Be­waff­nung der Ukrai­ne. Schließ­lich geht um Tau­rus, ei­ne, wie es scheint, un­ver­zicht­ba­re Waf­fe der Bun­des­wehr, mit der ziel­ge­steu­ert bei­spiels­wei­se die Kertsch-Brücke auf der Krim, ei­ne wich­ti­ge Nach­schub­li­nie des rus­si­schen Mi­li­tärs, zer­stört wer­den könn­te. Ir­gend­wann steht Scholz’ Ent­schei­dung. Un­ter wech­seln­den Be­grün­dun­gen wird Tau­rus nicht ge­lie­fert. Ge­zeigt wer­den die par­la­men­ta­ri­schen Tricks der Op­po­si­ti­on, mit der man Grü­ne und FDP zwin­gen woll­te, ge­gen die Be­ton­frak­ti­on der SPD zu stim­men. Das Er­geb­nis: Man er­gab sich in Ko­ali­ti­ons­dis­zi­plin. Bei ei­nem zwei­ten Ver­such blieb als ein­zi­ge Strack-Zim­mer­mann bei ih­rer Li­nie und stimm­te ge­gen ih­re Re­gie­rung. So ernst kann es dann doch nicht sein, denkt sich der Bür­ger.

Man kann vie­les an die­sem Buch kri­ti­sie­ren. Et­wa die­se Te­le­tub­by-Spra­che, in der es »Ober­be­fehls­ha­ben­de«, »Steu­er­zah­len­de«, »Be­wer­ben­de« und »Hin­weis­ge­ben­de« gibt. Gra­vie­ren­der ei­ni­ge Un­ge­nau­ig­kei­ten, et­wa wenn die Zahl der Sol­da­ten der Bun­des­wehr von 1990 mit 2023 ver­gli­chen wird oh­ne zu er­wäh­nen, dass 1990 noch die Wehr­pflicht galt. Die Fest­stel­lung, dass man ge­mäß Ar­ti­kel 5 der NA­TO-Char­ta ver­pflich­tet sei, »An­grei­fer zu­rück­zu­drän­gen«, ist in die­ser Ab­so­lut­heit un­prä­zi­se. Ab­surd ist der Schluss, Deutsch­land müs­se »un­ab­hän­gi­ger von Frank­reich und den USA wer­den«, wenn es um Waf­fen­sy­ste­me geht. Da­bei er­klärt Schwep­pe schön, dass die USA die nu­klea­re Teil­ha­be Deutsch­lands an ame­ri­ka­ni­sche Aus­rü­stung kop­pelt. Woll­te man die­se Ab­hän­gig­keit ab­schüt­teln, blie­be nur Frank­reich, ein Land, dass sich in der Ver­gan­gen­heit im­mer wie­der Aus­zei­ten von der NATO ge­gönnt hat­te (von ei­ner even­tu­el­len Prä­si­den­tin Le Pen gar nicht zu re­den). Bünd­nis­se schaf­fen stets Ab­hän­gig­kei­ten, die Kehr­sei­te des Zu­sam­men­ge­hens.

All die­se Ein­wän­de sind Klei­nig­kei­ten im Ver­gleich zum größ­ten Feh­ler die­ses Bu­ches: Erst am En­de, als über die Ent­wick­lun­gen des Früh­jahrs 2024 be­rich­tet wird und sich längst ab­zeich­net, dass die Zei­ten­wen­de ei­ne Far­ce war, kommt Schwep­pe auf die Mos­kau-Con­nec­tion der SPD zu spre­chen. Erst jetzt fal­len die Na­men Jens Plöt­ner, Wolf­gang Schmidt und Ralf Ste­g­ner. Erst jetzt wer­den die Ver­strickun­gen von Ma­nue­la Schwe­sig und ih­rer Nord­Stream-Pseu­do­stif­tung an­ge­deu­tet, die bis heu­te in den Leit­me­di­en aus wel­chen Grün­den auch im­mer nie in den Fo­kus ge­rückt wur­den. Statt­des­sen ar­bei­te­te man sich an der Jam­mer­ge­stalt Ger­hard Schrö­der ab.

Be­son­ders her­vor­zu­he­ben die un­zähl­ba­ren Es­ka­pa­den des Bor­des­hol­mer Schmie­ren­ko­mö­di­an­ten Ralf Ste­g­ner, der als von Be­ginn an als nütz­li­cher Idi­ot der Russ­land-Freun­de in die­sen Talk­show-Ver­blö­dungs­ma­ne­gen im­mer wie­der Salz­was­ser in den oh­ne­hin sich ste­tig ver­dün­nen­den Zei­ten­wen­de-Wein träu­fel­te. Die­je­ni­gen SPD-Ab­ge­ord­ne­ten in der Frak­ti­on, die Scholz in­ten­siv zu ste­ti­gen Waf­fen­lie­fe­run­gen für die Ukrai­ne und ver­bes­ser­ter Aus­rü­stung der Bun­des­wehr auf­for­der­ten, wur­den der­weil von der grau­en Emi­nenz, dem Frak­ti­ons­vor­sit­zen­den Müt­zenich, suk­zes­si­ve an den Rand ge­drängt. Müt­zenich ist es auch, der den Ver­tei­di­gungs­mi­ni­ster ge­le­gent­lich maß­re­gelt.

Zu­rück zum Buch. Schwep­pe hat im Früh­jahr 2024 nun end­lich ei­nen Ter­min mit Kanz­ler­amts­mi­ni­ster Wolf­gang Schmidt. Es ist der Hö­he­punkt die­ser Re­por­ta­ge, weil es ge­lingt, die kum­pel­haf­te Fas­sa­de Schmidts und den Bluff die­ses Luft­schlos­ses »Zei­ten­wen­de« zu­gleich bloß­zu­le­gen. Es wird deut­lich, dass die »ge­sam­te Zei­ten­wen­de­po­li­tik der Früh­pha­se un­ter die zen­tra­le An­nah­me ge­stellt [wur­de], dass der Krieg nicht lan­ge dau­ern wür­de und es da­nach kei­nen Be­darf mehr für Auf­rü­stung [sic!] gä­be«. Schmidt macht klar, dass »Zei­ten­wen­de« kein po­li­ti­sches Pro­gramm war, son­dern le­dig­lich ei­ne Zu­stands­auf­nah­me im Fe­bru­ar 2022. Schwep­pe schließt dar­aus rich­ti­ger­wei­se: »Wenn es of­fi­zi­ell kein Pro­gramm ge­we­sen ist – dann kann spä­ter auch nie­mand kri­ti­sie­ren, dass so we­nig um­ge­setzt wur­de.« Nein, ein Russ­land­freund sei er nicht, be­tont Schmidt – wo­bei es ei­gent­lich ei­ner Di­stan­zie­rung nicht be­dür­fe, wenn es so wä­re. Und man er­fährt, dass »die Nicht-Lie­fe­rung et­wa von Tau­rus an deut­schem Ge­heim­wis­sen lie­ge.« Ein ger­ne ver­wen­de­ter Pas­sus, wenn es kei­ne stich­hal­ti­gen Ar­gu­men­te gibt.

In der Rea­li­tät des Herb­stes 2024 an­ge­kom­men zeigt sich, dass die Zei­ten­wen­de-Num­mer mit den Ver­spre­chun­gen an die Bun­des­wehr-Sol­da­ten und den So­li­da­ri­täts­be­kun­dun­gen ge­gen­über der Ukrai­ne nicht mehr als ein pri­va­ter Af­fekt des Bun­des­kanz­lers war, ein tem­po­rä­rer Fu­ror, un­durch­dacht und am En­de des­halb halb­her­zig. Das er­klärt nach­träg­lich, war­um kaum je­mand im po­li­ti­schen Ber­lin da­von ein­ge­weiht war. Ei­ne vor­he­ri­ge Aus­spra­che et­wa in der SPD-Frak­ti­on hät­te nie­mals zu ei­ner Mehr­heit ge­führt. Scholz be­merk­te wohl recht schnell, dass er die La­ge falsch ein­ge­schätzt hat­te und be­kam Angst vor sei­ner ei­ge­nen Cou­ra­ge. Scholz trat im­mer häu­fi­ger auf die Brem­se, ver­kauf­te sei­ne Ent­schluss­lo­sig­keit als »Be­son­nen­heit«. Man warf ei­nem Schiff­brü­chi­gen auf dem of­fe­nen Meer, der droh­te zu er­trin­ken, lau­fend neue Ret­tungs­rin­ge zu, ver­wei­ger­te je­doch sei­ne Ber­gung aus Angst, sich nass zu ma­chen.

Der über­ra­schen­de Er­folg der vul­gär­pa­zi­fi­sti­schen Be­we­gung von Sahra Wa­gen­knecht hat in den letz­ten Mo­na­ten zu der fi­na­len Wen­de der Zei­ten­wen­de ge­führt. Die Zu­sa­ge an die Ukrai­ne, ir­gend­wann NA­TO-Mit­glied zu wer­den, wird still­schwei­gend ein­kas­siert zu Gun­sten ei­ner Über­le­gung ei­nes neu­tra­len Sta­tus. Die gro­ßen Wor­te wer­den ein­ge­holt. Die SPD leg­te sich ei­nen neu­en Ge­ne­ral­se­kre­tär zu, der u. a. Schrö­der re­ha­bi­li­tie­ren möch­te. Und wäh­rend ich das schrei­be, ist die Am­pel-Ko­ali­ti­on zer­bro­chen, weil Scholz sei­nen Fi­nanz­mi­ni­ster vor die Tür ge­setzt hat. Aus­ge­rech­net die Ukrai­ne-Fi­nan­zie­rung wird von Scholz als Grund an­ge­führt. Das ist an Ver­lo­gen­heit kaum zu über­bie­ten.

Auf den er­sten Blick schei­nen die Er­eig­nis­se, über die in Zei­ten oh­ne Wen­de be­rich­tet wer­den, über­holt zu sein. Aber das wä­re zu kurz ge­grif­fen. Chri­sti­an Schwep­pe lie­fert ei­nen kon­zi­sen und zu­gleich er­nüch­tern­den Ein­blick in den po­li­ti­schen Be­trieb, der mit der Lö­sung fach­li­cher Pro­ble­me zu oft über­for­dert zu sein scheint und statt­des­sen lie­ber Um­fra­ge­stim­mun­gen folgt. Hin­zu kommt die über­bor­den­de Bü­ro­kra­tie, die ra­sches Han­deln nicht mehr er­mög­licht. Das lässt à la longue nichts Gu­tes hof­fen.

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  1. Ich muss es an­ek­do­tisch an­ge­hen: Nach­dem in meh­re­ren In­stan­zen sei­ner­zeit vom ‘Kreis­wehr­ersatz­amt’ ab über die Ver­wei­ge­rungs­prü­fun­gen bis zum Ent­scheid mein Na­me im­mer wie­der falsch ge­schrie­ben, zwi­schen­durch kor­ri­giert und er­neut falsch über­mit­telt wur­de ... wur­de ich, ob­wohl schließ­lich doch ein­ge­zo­gen, we­gen des bü­ro­kra­tisch-gor­di­schen Kno­tens nach 6 ruhm­lo­sen Ta­gen aus der Bun­des­wehr wie­der ent­las­sen: Am Tag, als die Waf­fen aus­ge­teilt wur­den. So ha­be ich dann doch nie ei­ne in der Hand hal­ten müs­sen.

    Ich, die klas­sisch-schmal­brü­sti­ge Schreib­stu­ben­exi­stenz (schon durch Stu­di­en­fä­cher prä­de­sti­niert) mit 1,74, lan­de­te bei den schwe­ren Pan­zer­gre­na­die­ren – al­les gro­be Ker­le ab 1,85. Ein kom­plet­ter Witz! Und zwi­schen den 6 Ta­gen lag auch noch ein Wo­chen­en­de, an dem ei­ne Hälf­te von uns gleich wie­der nach Hau­se durf­te: Es fehl­te an Klei­dung und son­sti­ger Grund­aus­rü­stung zur Aus­ga­be, die erst mit Ver­spä­tung nach­ge­lie­fert wer­den soll­te.

    Gott sei Dank gab es Mit­te der 70er Jah­re kei­ne aku­ten mi­li­tä­ri­schen Be­dro­hun­gen. Aber der Zu­stand der Ver­tei­di­gung war ja seit der SPIE­GEL-Af­fä­re schon be­kannt: Be­dingt ab­wehr­be­reit.

    ***

    Frau Strack-Zim­mer­mann wür­de ich spon­tan ver­tei­di­gen wol­len: Als ei­ne der We­ni­gen mit ei­ner zu­min­dest fe­sten, kon­si­sten­ten Über­zeu­gung und der Ein­sicht in ei­ne von mir ge­teil­te Not­wen­dig­keit: Al­le Waf­fen an die Ukrai­ne! Viel­leicht ret­ten sie uns tat­säch­lich schon den Arsch, in­dem sie dem plum­pen Go­li­ath der ‘gro­ßen va­ter­län­di­schen Ar­mee’ sei­ne gan­ze bru­ta­le Er­bärm­lich­keit auf­zei­gen! Un­fä­hig­keit hier wie dort. Wol­len die sich wirk­lich mit der NATO an­le­gen?

    Die Talk Show-Auf­trit­te der Da­me ken­ne ich nicht; ich ha­be sie ein paar Mal im Ca­fé Bitt­ner er­lebt, als de­zen­te, fast vor­nehm zu­rück­hal­ten­de Per­son. Und viel­leicht ist das Teil der schi­zo­phre­nen Ver­hält­nis­se, dass man ein me­dia­les Dou­ble braucht, um ent­spre­chend agie­ren zu kön­nen?

    (Tat­säch­lich hat­te ich sei­ner­zeit ta­ge­lang mei­nen Stimm­zet­tel für die Eu­ro­pa­wahl be­reit lie­gen, um mein Kreuz­chen für Strack-Zim­mer­mann zu ma­chen, aber mei­ne Stim­me da­mit letzt­lich der FDP zu ge­ben ... das brach­te ich dann doch nicht über mich: Da hin­der­ten mich ‘län­ger­fri­sti­ge Grund­über­zeu­gun­gen’ [ZDF-Jar­gon].)

    ***

    An­son­sten stel­le ich mir bei Bü­chern, die sol­che Dia­gno­sen na­he­le­gen im­mer zwei Fra­gen: Ist es an­ders­wo auch so?

    Was et­wa ist nur mit den Bri­ten pas­siert? Kann man das glau­ben? Und die fran­zö­si­sche Ra­tio­na­li­tät? Über­all ‘Nie­ten in Na­del­strei­fen’? Und bei ‘uns’? Oh­ne Kon­se­quen­zen ei­ne hal­be Mil­li­ar­de in den Sand set­zen (de Mai­zie­re); im­mer wie­der völ­li­ge Fehl­be­set­zung co­ram pu­bli­co bei Mi­ni­ster­äm­tern, ob mit oder oh­ne Par­tei­en­pro­porz; ein bay­ri­scher Ver­kehrs­mi­ni­ster, der den Haupt­teil sei­nes Bud­gets sei­nem schö­nen Hei­mat­bun­des­land zu­schanzt ... das sind schon fast ita­lie­ni­sche Ver­hält­nis­se.

    An­de­rer­seits scheint In­kom­pe­tenz in zu­neh­mend kom­ple­xen, in­ter­na­tio­nal-in­ter­de­pen­die­ren­den Sy­ste­men mitt­ler­wei­le eben ... sy­ste­misch. Das ist so­gar in Dik­ta­tu­ren wie Chi­na mit ih­rem Vor­teil ei­ner in­tel­li­gen­ten Ge­samt- / Lang­zeit­pla­nung nicht an­ders. Und wenn heu­te schon welt­weit die Ge­rä­te oft ’smar­ter’ als ih­re Be­nut­zer sind, und die ach so mo­der­nen Zeit­ge­nos­sen ih­re In­for­ma­tio­nen von Tik­Tok be­zie­hen ... wo kom­men wir da mit un­se­ren Kom­plex­la­gen noch hin?

    Die zwei­te Fra­ge wä­re: Wie konn­te es so weit kom­men?

    Post, Bahn ... kön­nen wir nicht mehr. Bau­en kön­nen wir nicht mehr. Me­di­ka­men­ten-Vor­sor­ge kön­nen wir nicht mehr. Über­haupt Ge­sund­heits­sy­stem. Oder das Bil­dungs­sy­stem, das ei­ne er­schreckend ho­he An­zahl an ha­bi­tu­el­len oder funk­tio­nel­len Pi­sa-Idio­ten ent­lässt. Oder ver­nünf­ti­ge Ein­wan­de­rungs­po­li­tik. Da­für teu­re Sub­ven­tio­nen für nach­weis­lich Bö­den und Was­ser schä­di­gen­de Bau­ern, oder für Leit­in­du­strien, die dann auch noch sämt­li­che Steu­er­lö­cher nut­zen bzw. doch die Pro­duk­ti­on ver­la­gern. Usw usw usw.

    Was war der We­sten? Das wa­ren die, die noch ihr Hei­lig­stes, den Fuß­ball, an die Scheichs ver­hö­ker­ten. Soll sa­gen: Es ist die Käuf­lich­keit von Al­lem und Je­dem, das dem Gu­ten schließ­lich auch noch den Geist ab­ge­hen lässt.

    Zu­letzt die Fra­ge nach ei­ner Ver­gleichs­mög­lich­keit, nach ir­gend­ei­nem Maß­stab von Klug­heit, ei­ner Ori­en­tie­rung, auch für hin­ter­her: Ne­ben der ak­tu­el­len SPD-Russ­land­po­li­tik-Schel­te ja et­wa auch Oba­ma und Mer­kel, de­nen heu­te ih­re ent­schei­den­den Feh­ler vor­ge­hal­ten wer­den. Und wie auch nicht? Aber wie­so wäh­len wei­ter­hin die Wahl­völ­ker ih­re Dümm­sten als An­füh­rer? Ak­zep­tie­ren ei­ne nutz­lo­se bis of­fen kor­rup­te Kli­ma-Po­li­tik? Die gi­gan­ti­sche Un­gleich­ver­tei­lung des Wohl­stands auf dem Pla­ne­ten? Und ver­lei­hen Weis­heit, Star­tum und Gla­mour an ein paar clow­nes­ke Che­a­po-Bil­lion­aires, die dem We­sten scham­los ih­re Ideen für ein olig­ar­chi­sches Sy­stem auch hier­zu­lan­de be­sche­ren wol­len.

    Gibt es in­tel­li­gen­tes Le­ben auf Er­den?

  2. Nun, dann auch et­was Pri­va­tes. Ich muss­te (ver­spä­tet, we­gen et­li­cher Schul-Mätz­chen) An­fang der 80er ran. Mit Platt­fü­ßen, die Frei­heit ver­spra­chen, konn­te ich nicht die­nen. Die Bun­des­re­pu­blik woll­te auf mich nicht ver­zich­ten. Die Über­ra­schung: Bis auf wirk­lich ei­nen (am En­de kri­mi­nel­len) Voll­idio­ten ging es ganz gut. An Aus­rü­stung man­gel­te es da­mals in mei­ner Er­in­ne­rung nicht. Ich kam nach der für mich schreck­li­chen, kräf­te­zeh­ren­den Grund­aus­bil­dung auf die Schreib­stu­be in ei­ner Nach­schub­ein­heit. Hier wa­ren die mei­sten Ab­itu­ri­en­ten, ei­nen hat­te es nach ei­nem ab­ge­schlos­se­nen Stu­di­um noch er­wischt. Mein un­mit­tel­ba­rer Vor­ge­setz­ter war von den 12 Mo­na­ten, die ich dort ver­brach­te, ins­ge­samt 9 Mo­na­te auf Lehr­gän­gen (zum Ober­feld­we­bel hat er es wäh­rend mei­ner Zeit nicht ge­bracht). Ich ko­or­di­nier­te Dienst­plä­ne und ver­wal­te­te die um­fang­rei­che Vor­schrif­ten­samm­lung. Ein Haupt­mann leg­te mir im­mer sei­ne FAZ ins Fach. Wir spra­chen über das ei­ne oder an­de­re. Der »Spieß«, der in Ab­we­sen­heit mei­nes Vor­ge­setz­ten mir hät­te et­was sa­gen kön­nen, war mil­de, al­ler­dings in an­de­ren Din­gen ein Drecks­kerl: Die­je­ni­gen, die ver­geb­lich ver­wei­gert hat­ten, wur­den von ihm in den Per­so­nal­ak­ten be­son­ders ge­kenn­zeich­net und zu schlech­ten Dien­sten ein­be­stellt, wenn sol­che an­stan­den. An ei­nen even­tu­el­len Sieg bei ei­ner Ag­gres­si­on, die im­mer »aus öst­li­cher Rich­tung« kam (aber nie So­wjet­uni­on ge­nannt wer­den durf­te), glaub­te nie­mand. Aber ich zog den Dienst vor, weil die Auf­ga­ben, die für mich (kein Kraft­fah­rer!) im Zi­vil­dienst hät­ten an­ste­hen kön­nen, nicht be­son­ders at­trak­tiv schie­nen.

    Er­staun­lich auch hier, dass die Schwü­re mit dem ein oder an­de­ren in Kon­takt zu blei­ben, nie er­füllt wur­den. Es fehl­te wohl das ge­mein­sa­me Dach der be­son­de­ren La­ge der Ka­ser­ne und des Le­bens dort. Von Re­ser­ve­übun­gen blieb ich ver­schont.

    Ich fand den Wehr­dienst nicht zu­letzt als so­zia­len Akt nicht schlecht. Man kam aus sei­ner Bubble raus, muss­te sich ar­ran­gie­ren, war nicht mehr Mit­tel­punkt der Welt. Ir­gend­wann wur­de er ja der­art ver­kürzt, dass es m. E. sinn­los wur­de. Zu­dem wur­de es leicht un­ge­recht. Die Aus­set­zung fand ich sinn­voll. Die Aus­lands­ein­sät­ze er­staun­ten mich, denn an das Mär­chen vom Brun­nen­bau­en in Af­gha­ni­stan ha­be ich nie ge­glaubt. Ab­ge­se­hen da­von, dass sol­che Ein­sät­ze in ra­di­kal frem­den Kul­tu­ren im­mer sinn­los sind.

    Ich glau­be, dass die Mer­kel­jah­re, in de­nen es im­mer ir­gend­wie wei­ter­ging (trotz Fi­nanz­kri­se, Flücht­lings­strö­men und Pan­de­mie) nar­ko­ti­sie­rend wirk­ten (um ei­nen Slo­ter­di­jk-Be­griff ein­zu­brin­gen). Man war zu­frie­den mit dem, was war. Im klei­nen er­in­nert es mich an ein PC-Pro­gramm, das läuft auch oh­ne Up­dates, die man wo­mög­lich be­zah­len müss­te und es des­we­gen nicht macht. Ir­gend­wann geht dann nichts mehr. Im wirk­li­chen Le­ben stür­zen dann Brücken ein und die Kennt­nis­se der Fach­kräf­te, die man in Früh­ren­te ge­schickt hat­te, um das ho­he Ge­halt ein­zu­spa­ren (mit tä­ti­ger Hil­fe des Staa­tes), feh­len. In­mit­ten die­ser brä­si­gen Selbst­zu­frie­den­heit plat­zen nun die Kon­flik­te und Kri­sen als un­ge­be­te­ne Gä­ste her­ein: Ukrai­ne, En­er­gie, Mi­gra­ti­on.

    An der Ukrai­ne – ich kom­me aufs The­ma! – kann man se­hen, wie »der We­sten« funk­tio­niert: Man re­agiert zu­nächst zö­gernd (weil über­rascht). Selbst Bi­den bot Se­lens­kij ei­ne Art frei­es Ge­leit für sei­ne Re­gie­rung nach War­schau oder Lon­don an – der lehn­te dan­kend ab. Dann zeig­te man ei­ne ge­wis­se Ent­schlos­sen­heit. Vor al­lem mit Wor­ten – Scholz’ »Zeitenwende«-Rede. Und dann pas­sier­te das, was in­zwi­schen Stan­dard ist: Man ver­hed­der­te sich in Ne­ben­säch­lich­kei­ten, zö­ger­te ei­ne kon­se­quen­te Um­set­zung des­sen, was man rhe­to­risch an­ge­kün­digt hat­te (Waf­fen, Mu­ni­ti­on, Geld) her­aus, be­kam Angst vor der ei­ge­nen Cou­ra­ge. Im­mer erst im letz­ten Mo­ment kam man zu ei­ner Ein­sicht. Wert­vol­le Zeit ver­strich; das kann man nach­träg­lich gut re­ka­pi­tu­lie­ren. Ich wer­de nie die­ses Bild vom Ju­ni 2022 ver­ges­sen, vier Mo­na­te nach dem rus­si­schen An­griff. Die Ukrai­ne bet­tel­te wie­der mal um be­stimm­te Waf­fen­sy­ste­me. Und Scholz, Macron und Draghi (der da­mals Re­gie­rungs­chef in Ita­li­en war) sa­ßen im Zug nach Kiew. Spiel­ten gu­te Lau­ne und ta­ten wich­tig. Denn was hat­ten sie da­bei? Die ge­wünsch­ten Waf­fen? Nein. Ein paar Blät­ter Pa­pier, in de­nen man der Ukrai­ne die EU- und ich glau­be auch die NA­TO-Mit­glied­schaft in Aus­sicht stell­te. Letz­te­res un­mög­li­cher als das er­ste. Es gab: Pa­pier. Be­druck­tes Pa­pier. Nutz­los. Et­wa so, als ge­be man ei­nem Ver­dur­sten­den in der Wü­ste ein Gold­stück, da­mit er sich Was­ser kau­fen kann. Aber es gibt kei­nen La­den.

    Das ist das Prin­zip, wie »der We­sten«, wie In­sti­tu­tio­nen in­zwi­schen agie­ren. Sie ha­ben den Kon­takt zur je­wei­li­gen Si­tua­ti­on ver­lo­ren und zie­hen sich aus Furcht, et­was falsch zu ma­chen, hin­ter Bü­ro­kra­tis­men zu­rück. Sie re­den groß­ar­tig, aber den Wor­ten fol­gen kei­ne Ta­ten. Mit­tel­mä­ssig­keit wird be­lohnt, Ja-Sa­ger ma­chen Kar­rie­re, wer Fra­gen stellt, ist ein »Quer­den­ker«. Wer als Bil­dungs­ma­xi­me ei­nen be­stimm­ten Pro­zent­satz von Ab­itu­ri­en­ten und Stu­den­ten aus­gibt, muss eben das Ni­veau ab­sen­ken, um die Quo­te zu er­rei­chen.

    Leu­te wie Trump wer­den ge­wählt, weil sie Han­deln sug­ge­rie­ren. Et­li­ches da­von sind und wer­den Rohr­kre­pie­rer wer­den (ich ver­mu­te stark, Trump wird vie­le sei­ner Wäh­ler in den näch­sten vier Jah­ren ent­täu­schen), aber er gibt ih­nen das Ge­fühl, sie ver­stan­den zu ha­ben. Das zeigt, wie schwach De­mo­kra­tien sind, die sich ins­ge­heim dar­auf stüt­zen, ge­ra­de sol­che Leu­te NICHT in Macht­po­si­tio­nen zu hie­ven.

  3. Nur mal so zwi­schen­durch: Was hal­ten denn Sie von jetzt auch hier­zu­lan­de auf­kom­men­den Dis­rup­ti­ons-Phan­ta­sien à la der er­fri­schen­de Trump ge­gen die deut­sche Ha­sen­her­zig­keit?

    Und der wei­te­re Ge­dan­ke al­so, wenn Russ­land ab­ser­viert wur­de, Chi­na dem­nächst aus pu­rer pro­tek­tio­ni­sti­scher Not­wen­dig­keit ein­ge­dämmt, könn­te Eu­ro­pa sich viel­leicht auch end­lich von den no­to­risch un­zu­ver­läs­si­gen USA ab­kop­peln – zu­min­dest ein biss­chen.
    Ist das mehr als ein Ver­such, sich zu­min­dest spe­ku­la­tiv nicht er­schrecken zu las­sen?

    Den Preis, den Eu­ro­pa für Ame­ri­ca first zahlt, wird si­cher ir­gend­wann auch für die USA fäl­lig. Die wer­den schon durch ir­ra­tio­na­le Trump-Po­li­tik und dem sich zu be­haup­ten su­chen­den Chi­na ir­gend­wann auch wie­der Al­li­an­zen brau­chen.

    Kön­nen Sie dem et­was ab­ge­win­nen?
    Ist das mehr als ein kom­pen­sa­to­ri­scher Ver­such, sich nicht er­schrecken zu las­sen und es spe­ku­la­tiv zu über­kom­men?

    Ich sel­ber weiß ak­tu­ell nicht, was ich da­von hal­ten soll. Ei­nen Wunsch, ir­gend­was vom Sta­tus quo zu be­wah­ren, ha­be ich ei­gent­lich nicht. Aber ob ir­gend­ei­ne Neue­rung das Cha­os wert sein wird?

    Im­mer­hin die dai­ly Trump-show wird ab Ja­nu­ar wird si­cher ... skan­da­lös, shocking, ab­wechs­lungs­reich.

  4. Ich hat­te ja sei­ner­zeit das Braml-Buch be­spro­chen, der sich da­für aus­sprach, sich von den zu­neh­mend un­zu­ver­läs­sig wer­den­den Ame­ri­ka­nern zu eman­zi­pie­ren. Er ist mi­li­tär­po­li­tisch ein Ex­per­te, mach­te Vor­schlä­ge da­zu. Der kühn­ste war, die »Nu­klea­re Teil­ha­be«, d.h. den po­ten­ti­el­len Schutz der Deut­schen durch die Atom­waf­fen der USA, die an de­ren Flug­zeu­ge und In­fra­struk­tur ge­fun­den ist, auf­zu­ge­ben und mit den Fran­zo­sen ei­ne Art Eu­ro-Ver­tei­di­gung fe­der­füh­rend zu or­ga­ni­sie­ren. (Die Bri­ten schließt er aus, weil die­se nicht in der EU sei­en.) Die Ame­ri­ka­ner, so Bramls The­se, wer­den da­durch ei­nen Rück­schlag er­lei­den, weil de­ren Rü­stungs­in­du­strie auf die NA­TO-Auf­trä­ge wenn nicht an­ge­wie­sen, so doch sehr stark aus­ge­rich­tet sei.

    Ich hal­te dies aus meh­re­ren Grün­den für schwie­rig. Las­sen wir ein­mal die zeit­li­che Kom­po­nen­te weg (ge­ra­de sind im Rah­men des Son­der­ver­mö­gens F‑35 Flug­zeu­ge ge­or­dert wor­den, die die Tor­na­dos aus den 1970ern ab­lö­sen sol­len), so er­scheint mir à la longue das fran­zö­si­sche po­li­ti­sche Sy­stem nicht eben sta­bi­ler zu sein als das der Ame­ri­ka­ner. Man stel­le sich nur vor, Le Pen wür­de 2027 Prä­si­den­tin. Selbst das weg­las­send wä­re man eben von Frank­reich an­hän­gig. Die ent­spre­chen­den Waf­fen­sy­ste­me als eu­ro­päi­sches Pro­jekt zu ver­su­chen – ich ha­be da mei­ne Zwei­fel. Im­mer­hin: Man wür­de kom­pa­ti­bel. Aber auch hier wä­re die Über­gangs­zeit sehr lan­ge. Und vie­le jet­zi­ge NA­TO-Mit­glie­der wie die Ost­eu­ro­pä­er et­wa oder die bal­ti­schen Staa­ten wür­den das nicht mit­ma­chen. Sie hal­ten das »al­te Eu­ro­pa« (Rums­feld!) nicht für en­er­gisch ge­nug.

    Ich glau­be, dass je­mand wie Trump (aber auch Oba­ma ließ das schon an­klin­gen – nur sehr viel kul­ti­vier­ter) am En­de nur das ent­spre­chen­de fi­nan­zi­el­le En­ga­ge­ment se­hen will. Das hal­te ich für le­gi­tim, ins­be­son­de­re, wenn man sich Deutsch­land an­sieht. Hier hat man sich in den letz­ten Jah­ren im­mer ei­nen schlan­ken Fuss ge­macht, die Welt be­lehrt – und hofft dann im Stil­len auf Bei­stand. Und ob­wohl der in­do-pa­zi­fi­sche Raum für die USA wich­ti­ger weil be­droh­li­cher ist, sind die USA an Eu­ro­pa aus stra­te­gi­schen Grün­den wei­ter an Eu­ro­pa in­ter­es­siert. Es gibt eben nur ein biss­chen Ge­ku­schel.

    Russ­land wird im üb­ri­gen nicht zu er­le­di­gen sein. Egal, was ge­schieht und wer dort ir­gend­wann nach­folgt – es wird für lan­ge Zeit ein Un­ru­he­herd blei­ben. Aber dass man nach ei­nem evtl. Waf­fen­still­stand in der Ukrai­ne (von Frie­den will ich nicht re­den) di­rekt wei­ter mi­li­tä­risch vor­ge­hen wird, glau­be ich nicht (mehr). Die rus­si­sche Ar­mee ist ge­schwächt; das Sze­na­rio aus Fu­ture War eher un­wahr­schein­li­cher ge­wor­den. Die Ein­flüs­se Russ­lands wer­den sich eher in ver­steck­ten Mi­kro­ag­gres­sio­nen wie in Ge­or­gi­en oder Mol­dau zei­gen oder auch in Cy­ber­an­grif­fen. Hier dür­fen wir von den USA kei­ne Hil­fe er­war­ten. Und da se­he ich schwarz, wenn die Eu­ro­pä­er das re­geln sol­len.

    Die Fra­ge der Trump-Zeit wird sein, ob Chi­na es wagt, Tai­wan an­zu­grei­fen und wie die USA zu den halb in­of­fi­zi­el­len Bei­stands­ver­pflich­tun­gen ge­gen­über dem In­sel­staat ste­hen wer­den. Dass es zu ei­nem Zwei­fron­ten­krieg (Nord- vs. Süd­ko­rea UND gleich­zei­tig China/Taiwan) kom­men wird, glau­be ich nicht.

    Ich bin weit ent­fernt, Trump per se zu dä­mo­ni­sie­ren, aber al­lei­ne sein Ver­hal­ten ge­gen­über Nord­ko­rea wäh­rend der er­sten Prä­si­dent­schaft lässt mich fas­sungs­los zu­rück. Zu­nächst be­schimpft er in der UNO Land und Füh­rer, will den »Ra­ke­ten­mann« und sein Land zer­stö­ren, wenn es sein muss, um sich an­dert­halb Jah­re spä­ter mit ihm in Ein­tracht zu tref­fen. Schließ­lich ist al­les im San­de ver­lau­fen. Ei­nen Sinn ha­be ich dar­in nicht ge­se­hen. Die­se Sprung­haf­tig­keit ist Gift.

  5. Hm. In­ter­es­sant!
    Wer­de mir gleich noch mal den Braml an­se­hen.

    Ich kämp­fe üb­ri­gens im­mer – wie jetzt auch bei Schwep­pe – mit der Be­fri­stet­heit sol­cher Dia­gno­sen und dem, was sich dann doch als any­ly­ti­scher Er­trag ab­setzt und Ein­sich­ten schafft.

    Dan­ke!

  6. Schwep­pe lie­fert eher ei­ne Re­kon­struk­ti­on des Ge­sche­he­nen mit dem heu­ti­gen Stand. Da wer­den si­cher­lich ir­gend­wann noch Er­gän­zun­gen er­fol­gen, aber im Gro­ßen und Gan­zen ist die Chro­no­lo­gie stim­mig. Bramls Buch hat eher ein »Ver­falls­da­tum«, aber auch hier könn­te man in ein paar Jah­ren mal nach­schau­en, was da­von Be­stand hat­te.

    (Kei­ne Fra­ge: Bei­de Bü­cher be­kom­men nach ein paar Jah­ren an­ti­qua­ri­schen Wert. Frü­her, als ich noch in Düs­sel­dorf wohn­te und die »Bücherbummel«-Veranstaltungen am Rhein be­such­te, fand man sol­che Sa­chen nach drei, vier Jah­ren auf den Wühl­ti­schen.)

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