Wenn man historische Begebenheiten literarisch bearbeitet, so gibt es mehrere Fallstricke, in die sich der Autor verfangen kann: Er kann mit seiner These der Ereignisse in einen Furor der Unbelehrbarkeit verfallen – die Geburt der Verschwörungstheorie. Er kann in Einseitigkeit versinken und den notwendigen Abstand vergessen – blinde Parteinahme. Der schlimmste Fall ist aber das Verschwimmen von Fiktion und Dokumentarischem. Indem reale Ereignisse, die mindestens ausschnittweise in einer bestimmten Zeit öffentlich gemacht wurden, als Grundlage literarischer Bearbeitung dienen, ist dem Leser ab einem gewissen Zeitpunkt nicht mehr klar, wann die Freiheit des Dichterdenkens beginnt und die Fakten zu diesen Gunsten aufgegeben werden.
Bereits auf den ersten Seiten wird klar: Christoph Hein be-(oder ver-?)arbeitet den Tod des mutmasslichen Terroristen Wolfgang Grams vom Juni 1993 auf dem Bahnhof von Bad Kleinen. Der Ort wird namentlich nicht verfremdet – die Protagonisten sehr wohl. Wolfgang Grams heisst Oliver Zurek; die Hauptprotagonisten dieses Kammerspiels, die Eltern, Richard und Friederike.
Heins Stärke liegt in der unpathetischen, unaufgeregten Sprache mit der er die Haltung der Eltern – insbesondere des Vaters (dem pensionierten Direktor des Gymnasiums) – erzählt (nicht beschreibt). Der Mann, zum Zeitpunkt des Todes des Sohnes um die 70 Jahre, verliert über die Jahre der Beschäftigung mit den Ungenauigkeiten der staatlichen Ermittlungsbehörden und deren rigides Abwehrverhalten das von ihm über Jahrzehnte seinen Schülern vermittelte – emphatische – Bild des freiheitlichen Rechtsstaates. In der Demokratie dienen die Beamten und Politiker dem Volk. Zurek erkennt erst an der persönlichen Auseinandersetzung mit den Organen des Staates den Unterschied zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Die Staatsräson ist wichtiger als die Wahrheit, die im Einzelfall unangenehm für die staatlichen Organe sein könnte.
Die Pointe am Ende (sie sei hier verraten – wer sich eine gewisse Spannung bei der eigenen Lektüre erhalten möchte, lese nicht weiter): In einer Rede in der Aula seines ehemaligen Gymnasiums (sein Nachfolger legt den Termin auf einen Freitag Nachmittag, so dass nur sehr wenige Schüler anwesend sind) sagt sich Zurek von seinem Amtseid los. Ich habe einen Eid geleistet [...,] den Amtseid eines Staatsangestellten. Ich habe geschworen, das Grundgesetz und alle Gesetze des Landes gewissenhaft zu wahren. Da der Staat aber seine eigenen Gesetze nicht wahrt, bin ich von meinem Amtseid entbunden...Vor Ihnen allen als meinen Zeugen: Ich widerrufe hiermit meinen Eid. Gewissenhaft wie es sich für einen ehemaligen Schuldirektor gehört, ergänzt er: Herr Direktor, bitte machen Sie der Schulbehörde Meldung. Ich weiss nicht, was der Schulrat unternehmen wird. Möglicherweise wird mir die Pension entzogen, damit müsste ich zurechtkommen. Ich bin nicht wortbrüchig, denn den Eid habe nicht ich gebrochen, sondern der Staat. Und ich will mich nicht zu seinem Schurken machen lassen.
Dieser »kantische« Rigorismus zeichnet sich im Laufe des fein ziselierten Buchs durchaus ab. Zurek sieht nach Ausschöpfung aller rechtlichen Möglichkeiten (die der Staat mit seiner Justizmaschinerie souverän und mächtig abgeblockt hatte) keine andere Wahl mehr. Bei allem Willen zur Gerechtigkeit, die er für seinen (wie er glaubt ermordeten) Sohn möchte, wird Zurek niemals Parteigänger der »revolutionären Sache« seines Sohnes – er vermeidet sehr akribisch, sich vor deren Karren sperren zu lassen (wie es ihm übrigens auch gut gelingt, sich den Störungen und Anbiederungen durch sensationslüsterne Journalisten souverän zu erwehren [unweigerlich übelegt man, ob dies heute noch möglich wäre und denkt an den Fall Kampusch]). Zurek sieht seinen Sohn eben auch als (mutmasslicher) Terrorist mit den elementaren Menschenrechten eines Staatsbürgers. Dabei kann – ja: muss! – sehr wohl zwischen den verqueren Ansichten eines gewaltbereiten »Kämpfers« und den unveräusserlichen Rechten eines Menschen in einer demokratischen Gesellschaft differenziert werden.
Schön, wie erzählt wird, wie Zureks andere Kinder (die Lehrerin Christin und der Angestellte Heiner [lt. Wikipedia-Artikel gibt es die Tochter in der Realität nicht]) auf die Interventionen der Eltern reagieren: Die Tochter, deren Mann als Unternehmensberater Nachteile ob dieser »Verwandtschaft« befürchtet und vehement für ein Nachgeben und Vergessen eintritt – und der Sohn, der irgendwann sehr gerne einmal mit seinem Bruder in den Untergrund gegangen wäre und mitgemacht hätte, von Oliver jedoch gezwungen wurde, ein »bürgerliches Leben« mit Rücksicht auf die Eltern zu führen (übrigens auch hier durch einen Schwur).
Indem Christoph Hein den Fokus niemals von den Eltern abwendet (insbesondere auf Richard Zurek) und deren redliches Gerechtigkeitsdenken schildert, welches an der immer arroganteren Staatsräson mediokrer politischer Dilettanten abprallt, entsteht ein sanfter Sog, in den der Leser hineingezogen wird. Wer dabei tiefsschürfende philosophische Mono- oder Dialoge erwartet, wird freilich enttäuscht – Hein lässt dem Leser genug Spielraum für die eigenen Reflexionen. Zurek wird auch nicht zum Kohlhaas, der staatliche Willkür mit blinder Gewalt beantwortet.
Natürlich wüsste man gerne, ob sich die Details in der Familie auch tatsächlich so abgespielt haben – aber dies spielt ab einem gewissen Zeitpunkt keine Rolle mehr, da die Figuren, die ja realen Personen entsprechen, durchaus ihre eigene literarische Dynamik bekommen. Hein gelingt es dabei, diese real existierenden (bzw. real existiert habenden) Personen nicht nur nicht zu denunzieren, sondern zu erhöhen (ohne sie dabei zu heroisieren).
Interessant ist, dass dieses Buch (im Gegensatz zu den anderen Hein-Büchern, die regelmässig in den Feuilletons prominent und ausführlich besprochen werden) kaum Berücksichtigung in der Literaturkritik fand – und wenn, dann fast nur erbärmliche Besprechungen zu finden waren (mit Ausnahme der von Martin Lüdke – siehe hier). 2005, als Heins Buch erschien, wurde auch gelegentlich auf eine »Wiederbelebung« des damaligen Innenministers Rudolf Seiters (CDU) spekuliert, der nach seinem Rücktritt ausgerechnet auf den Posten des Präsidenten des Deutschen Roten Kreuzes abgeschoben wurde. Manchmal schreibt das Leben die besten Pointen.
Ich bin da völlig anderer Meinung!
Dass dieses Buch kaum besprochen wurde, liegt an dem sonderbaren Artenschutz, unter dem Hein im deutschen Feuilleton steht. Jeder Rezensent hätte nämlich darauf hinweisen müssen, dass dieses Buch grottenschlecht geschrieben ist, unglaubwürdig in der Motivführung, und im Gegensatz zu den realen Personen eindimensional und langweilig. Da schweigt man dann lieber. Was in diesem Fall kein Totschweigen bedeutet, sondern Liebedienerei!
Wer das Dokudrama »Black Box BRD« gesehen hat, die Eltern von Grams dort kennenlernte, ihre Hilflosigkeit und Zerissenheit miterlitt, der wendet sich mit Schaudern von diesem Heinschen Machwerk ab. Das Buch ist in Wahrheit ein Skandal.
Artenschutz
Der Artenschutz existiert sicherlich. Ich habe nämlich nach der Lektüre von »Willenbrock« auf die entsprechenden Rezensionen gewartet – dieses Buch empfand ich als ziemlich langweilig und enorm betulich (es ist übrigens neulich sogar verfilmt worden – was ich überhaupt nicht verstehen kann).
Merkwürdigerweise stört mich das hier nicht – gerade die Unaufgeregtheit verschafft diesem Kammerspiel einen besonderen Ton.
Eindimensional? Hein schildert die schleichende Infiltration des Gerechtigkeitsfurors der beiden Protagonisten (es gibt sehr wohl ablenkende Episoden, etwa wenn Zureks Arbeit im Kirchenbeirat akzentuiert wird oder die Begegnung mit seiner ehemaligen Liaison). Und wenn das Leben durch die Umstände eindimensional ausgerichtet wird – dann darf man das nicht erzählen?
Ihr Hinweis auf »Black Box BRD« ist sehr gut. Ich hatte nämlich vergessen, diesen Film gesehen zu haben; ich fand ihn damals arg konstruiert. Der Regisseur versucht nämlich in der Gegenüberstellung des Herrhausen-Attentats und der Grams-Geschichte einen Kontrast zu erzeugen, der m. E. ins Leere führt. Ich kann mich nicht erinnern, die Eltern von Wolfgang Grams gesehen zu haben. Normalerweise würde ich sowas nicht vergessen (es sei denn, eine Demenzerkrankung beginnt bei mir schleichend). Der Film hat mich nicht berührt. Das Buch schafft das. Die Zerrissenheit und Hilflosigkeit der Grams-Eltern sehe ich hier viel deutlicher.
Heins Buch ist natürlich kein Meisterwerk der Literatur. Aber ein Skandal?