Lukas Zbinden ist 87 Jahre alt und geht mit dem neuen Zivildienstleistenden Kâzim einen Tag durch das Betagtenheim. Er stellt ihm die ehrbaren Damen und exzentrischen Herren, die gesprächigen Witwen und die schweigsamen Junggesellen, die routinierten Gehrockbenützer, schlurfenden Stubenhocker mit dörrfleischigen Gesichtern vor, weist dezent auf die Verwirrten, deren Gedanken durcheinanderrollen wie Erbsen auf einem Teller hin und begegnet medizinisch Betreuten mit einem Cocktail in den Adern, bei dem Blut eine nebensächliche Zutat ist. Dieser Ort beherbergt ausgediente Ingenieure, Gewerbetreibende, Büroangestellte, Hausfrauen, Beamte, Armeeangehörige, Feuerlöschgerätekontrolleure, Busfahrer, Übersollarbeiter, Service, Papeterie und Leute, die sich Urlaub erst gönnten, als Ferien gesetzlich vorgeschrieben wurden.
Schon dieser Beginn zeigt die Stimmung dieses Romans an, der ein einziger Monolog des ehemaligen Lehrers Lukas Zbinden ist. Die Entgegnungen der anderen Personen bleiben dem Leser verborgen; er entnimmt sie allenfalls Zbindens Reaktionen. Dieser klettert die Treppenstufen hinab und hinauf als sei er auf einer Expedition (wie eloquent die Benutzung des Fahrstuhls trotz der Mühsal des Treppensteigens abgelehnt wird, obwohl: während der Liftfahrt baut man draußen in wenigen Sekunden die Welt um), nimmt am Alltag der ihm begegnenden Bewohner und Pfleger regen Anteil, lästert vereinzelt ein wenig, amüsiert und ärgert sich über die übertriebene Geschäftigkeit des Heimleiters und stellt Kâzim dabei wie einen persönlichen Pfleger vor.
Neben all dem Tadel wider Dumpfheit und Produktivitätszwang einer Gesellschaft, die mit ihrem Herumgewirtschafte nur Einsame und Verstörte erzeuge (ein moderates aber nicht weniger deutliches Schimpfen) entwickelt Lukas Zbinden mit Inbrunst seine Lebensphilosophie des Spazierengehens. Das gelingt derart gut, dass man beim Lesen dieses Enthusiasmus irgendwann unweigerlich auf seinem Stühlchen hin und her rutscht – überlegend zwischen der großen Lust, weiter zu lesen, diesem sanftmütigen, redseligen (endlich weiss man, was dieses Wort bedeutet!) Fabulierer Satz für Satz zu folgen oder die Lektüre sofort zu unterbrechen, seine Jacke anzuziehen und einfach los zu gehen.
Wie Curt Bois weiland im »Himmel über Berlin« als »Homer« (!) das Erzählen preist, so huldigt Lukas Zbinden dem Spazieren (und man bekommt eine Ahnung, dass das vielleicht mehr miteinander zu tun hat, als man bisher dachte). Natürlich ist spazieren kein Sport. Es ist weder auf ein Ziel fixiert noch ein bloßes Sich-Aussetzen von Reizen. Aber auch eine gequält ziellose Geh- oder Flanierseligkeit wird nicht akzeptiert und Spaziergänger, die die Sensationen, die ihnen widerfahren, nicht bemerken sind ein Greuel. Denn Spazieren heisst: Aneignen der Welt. Den Zufall preisen. Unheil durch Abwesenheit verhindern. Mit den Bienen sprechen, obwohl man dafür schon etwas zu reif ist. Keine sonderliche Eile pflegen auf einer Strasse, die von der Nachmittagssonne geheizt ist wie ein Backofen. Das Tram verpassen … Das eigene Tempo gehen. Spazieren heisst: Mehr Leute grüssen, als man kennt. Und Spazieren heisst: Herauszufinden, wer man ist, und zu mögen, was man dabei entdeckt.
Ja, sogar das Pathos wird bemüht: Die Tür ist offen, wer hinaustritt, wird selig heisst es da und spätestens jetzt kommen einem andere Spaziergänger in den Sinn. Natürlich Robert Walser und Carl Seelig (sic!) und Hermann Lenz’ Alter Ego Eugen Rapp. Auch Peter Handke – sowohl die Journale als auch die fiktionalen Figuren und aus der »Geschichte des Bleistifts« fällt einem das Notat über Till Eulenspiegel ein, der bergauf nur »guter Dinge« sei, weil es danach bergab weiterging, während er, Handke, sich »bergauf darüber freuen« würde, »bergauf zu gehen« (das hätte Zbinden auch sagen können). Und auch die plötzliche Frage an Kâzim »Sind Sie zufrieden mit Ihren Schnürsenkeln?« könnte in einem Handke-Stück stehen.
Aber es gibt einen Unterschied: Lukas Zbinden ist ein geselliger Spaziergänger, ein Gemeinschaftstier; jemand, der Menschen und den Kontakt sucht und gerne Eindrücke mitteilt und damit teilt. Etwas, was er durchaus als Spannungsverhältnis wahrnimmt: Ich sehne mich nach Ruhe, aber ertrage sie nicht. Nicht kontemplative Versenkung in der Natur, sondern ein Entdecken von Kultur und sei es ein Pferd, aber [f]ür ein Pferd, das auf einer Weide grast, habe ich keinen Blick. Erst aufgezäumt und geschmückt und in einem Festzug findet es meine ganze Bewunderung.
Er erzählt, nein zelebriert seine Erlebnisse, diese Weltreise zu den Orten, die beileibe nicht nur Idyllen sind: Das Surren der elektrischen Heckenschere des Hauswarts. Die Wolke, die aussieht wie Italien. Bobby an der Tramhaltestelle auf der Suche nach der Mehrfahrtenkarte in seiner Jackeninnentasche. Das Dörrlaub vom letzten Herbst, das sich hartnäckig am Strauch hält. Die Wolkendecke, nun wie Vorderasien. … Die Spatzen, die sich in die feuchte Luft wagen. … Die sterbende Topfpalme beim Kornhaus. Die junge Frau, die, während sie den Kragen ihrer Bluse glättet, die Haare zurechtzupft, an ihren Ringen dreht, im engen Raum zwischen Hotdog-Ausgabe und Getränkeautomat bei der Migros-Gourmessa in der Marktgasse alle Sprechrollen der kleinen Tragödie spielt, in dem sie an ihrem Arbeitsplatz verwickelt war. Der Kaffeebecher, der einer Frau aus der Hand fällt und verkehrt auf dem Trottoir liegen bleibt. Und natürlich der Nieselregel, der beweist, dass Kinderspielplätze auch ohne Sonne bespielt werden. Man möchte immer weiterzitieren.
Einen Spazierkurs hatte der alte Mann anfangs im Heim angeboten, einen Ausweg aus der eigenen Dumpfheit – aber schon mit der theoretischen Preisung dessen, was er mit den Greisen und Narren (er nimmt sich da nicht aus) vorhat, stieß er auf Unverständnis und freundliche, aber bestimmte Ablehnung. Ein paar Übriggebliebene finden zu einer Seniorenexpedition zusammen (besonders hier Handkes »Spiel vom Fragen« paraphrasierend, wobei Zbinden ab und an die Rolle des »Mauerschauers« übernimmt), aber das bleibt einmalig.
Aber erzählt wird auch von seinem Leben, dem frühen Tod des Bruders, den glücklichen Momenten der Kindheit mit dem Großvater (wieder einmal der Großvater!) und vor allem von seiner großen Liebe, seiner Frau Emilie. Er erzählt von den Briefen während des Militärdienstes (im restlichen Europa wütete der Zweite Weltkrieg), den Nebenbuhlern, der Heirat, dem Zusammenleben. Dann erneut ein Rivale in den 60er Jahren, der offen um Emilie wirbt, Zbindens Schwur vom 12. August 1967 und sein gelegentlich übertriebener Selbsthass. »Mag dich trotzdem« schreibt er auf einen Zettel, den er am Badezimmerschrank anbringt und eine Art Selbstermahnung sein soll. Fast wie nebenbei erfährt der Leser von seinen Lehreranstellungen, den Stellenwechseln und den Ängsten vor den Ferien. Früh desillusioniert (Für die meisten Leute sind Lehrer und ist Wissen vollkommen nutzlos, es sei denn zur Unterhaltung), aber nie nachlässig; manchmal ein bisschen eigenartig bis hin zur Schrulligkeit (ein Schüler steigt – seinen Lehrer hinsichtlich des Plädoyers für die Erfahrung beim Wort nehmend – eines Tages auf das Dach der Schule). Und lange denkt man über Nicht die Worte sind wichtig, sondern das Erlebnis selber nach.
Und immer wieder diese Zärtlichkeit im Erzählen über die lebendige und tätige Emilie mit dem freundlichen Lächeln, dem heiteren Blick und einer lebenstüchtigen Sorglosigkeit (das Gegenteil einer naiven Vertrauensseligkeit). Emilie und ihre vielen Ehrenämter, der Garten, später der Sohn Markus, ihren Nachtspaziergängen und dem dazu manchmal stolpernden Ehemann – was dann (aber nicht nur dann) manchmal ein wenig an Lenz’ Eugen Rapp und seiner Hanne oder den Maler Robert Roß (aus »Jung und Alt«) erinnert, wenngleich Zbinden viel extrovertierter und heiterer ist.
Mit ihr war jeder Tag ein Geschenk »gesteht« der alte Mann und das klingt hier so schön unprätentiös. Anrührend, wenn er dann von Emilies Krankheit erzählt, dem zähen, langen Sterben, dem Tod, dem großen Schmerz und der sich lange nicht einstellenden Tröstung (religiös ist er eben nicht). Irgendwann ein Arrangement: das Reden mit Emilie (als Pro- und Epilog in kursiv im Buch) und natürlich das Fortsetzen des Spazierens. Vor drei Jahren ging er dann zähneknirschend in das Heim.
Lukas Zbindens Antipode ist sein Sohn Markus. Er ist kein Spaziergänger, sondern Fahrzeuglenker, ein Automobilist aus Leidenschaft. Oder nur aus Trotz, weil die Erziehung zum Spazieren das Gegenteil bewirken musste? Wunderbar, dieser Kampf um Markus’ Tochter Angela – die Lehre der Großeltern und, was für ein Nebeneffekt, deren Rückkehr ins Fragealter durch die Enkelin. Hier die Namen der Pflanzen, das Zuhören und Anschauen einer Singdrossel und dort das Aufsagen der Namen der vorbeifahrenden Automobile (zu Markus’ Gefallen). Gegen Ende des Buches ruft Zbinden seinen Sohn von einer Telefonzelle aus an, will sich endlich mit ihm »aussprechen«, und er sagt dann nur einen Satz; DEN einen Satz. Ja, so einfach geht das in diesem Buch und die Kunst ist, es so leicht zu erzählen.
Das spielt nicht in (und um) einer Villa zum Abendstern oder dem Institut Benjamenta, vielleicht eher eine Art gerontologischer Zauberberg. Christoph Simons Tonlage ist heiter, emphatisch, eine Spur ironisch, lebhaft und, ja, liebevoll. Ein zutiefst menschenfreundliches Buch. Dabei geht er nie in die Falle des Kitsches oder einer falschen Sentimentalität. Dieser Lukas Zbinden ist natürlich nicht nur ein Mauerschauer, trotz dieser Sehnsucht nach Leben, nach Welt, nach Menschen (wie schnell verwickelt er Passanten oder Mitfahrer in einem Bus in ein Gespräch). Weil er trotz ungeachtet Demut und Zufriedenheit auch Angst hat. Angst vor dem Hinfallen aber vor allem: vor dem »Verlieren der Vergangenheit«, wie der Beginn der Demenz einer Bewohnerin umschrieben wird, was den nochmaligen, endgültigen »Verlust« von Emilie bedeuten würde.
Aber das gibt es nicht bleischwer, nicht einmal melancholisch (oder höchstens in der Reflexion beim Leser). Eher ein bisschen spitzbübisch. Auf der Welt, um Spaziergänger zu werden – und Neugier zu erzeugen. Das ist durchaus rebellisch, wenn auch auf eine freundliche Art. So fragt er einmal über die Zukunftschancen der Enkelin nachdenkend: Wieso soll Angela ihre Jugend opfern, um zu Wohlstand zu gelangen, und anschließend ihren Wohlstand aufbrauchen, um jung zu bleiben? und rät Angelas Mutter einmal einen entschleunigten Spaziergang [zu] riskieren. (wobei der Leser auf das »entschleunigt« liebend gern verzichtet hätte).
Spaziergänger Zbinden ist ein Wegweiser, ein Spaziergänger, der vom Spazieren erzählt. Und bei einem Wegweiser stört es nicht, wenn er krumm und schief ist oder vom Regen verwaschen.. Wohl wahr. Dieser Lukas Zbinden hat seinen Beruf als Mensch (vielleicht eher eine Berufung?) nicht verfehlt. Christoph Simon ist sein kongenialer Erzähler. Man legt das Buch zur Seite. Und ist für einen Moment glücklich.
Die kursiv gesetzten Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Buch.
Und wieder eine Rezension die auf mich Wirkung hat und ich habe diese Zeilen regelrecht aufgezoomt. :)
Herzlichen Dank für diese schöne Buchvorstellung!
Ich habe kleine Parallelen zu einer kleinen Kurzgeschichte entdeckt, die ich vor einiger Zeit geschrieben habe. Nach dem Lesen obiger Zeilen, habe ich mich entschieden, sie auf meinem Blog zu veröffentlichen. Ich versuche es einfach mal.
LG lou-salome
Überfüllung der Leseliste
Da ist es ja unmöglich hinterherzukommen. Vielleicht nehm’ ich doch erstmal einen Perutz.
Ihre Kurzgeschichte, lou-salome, hat mich wünschen lassen, sie wäre Teil eines Romans, damit sie fortdauere und man noch mehr über die Personen erführe, ob die eigenen Assoziationen richtig sind...
@ phorkyas
Mit dem Bücher lesen geht es mir seit Jahren so, ständig finde ich neue Titel, neue Namen und immer zu wenig Zeit, um alles zu verinnerlichen. Allein für das Lesevergnügen, aber auch für das Erarbeiten von Texten müsste der Tag sechs Stunden mehr haben.
Und der Perutz lohnt sich wirklich!
Und ganz herzlichen Dank für das Interesse meines Blogeintrages »Emilie«. Ich habe es mir schon einige Mal sagen lassen müssen, das ich weiter schreiben sollte, doch gerade die offenen Enden gefallen mir. Weil jede‑r Leser-in ein eigenes Bild beim Lesen vor Augen aufbaut und dieses dann individuell weiter entwickeln kann. LG l‑s :)
ein herrliches buch! völlig gegen den gängigen mainstream angelgt:
stilistisch perfekt, eine expedition durch ein seniorenheim,
durch den kopf eines alten mannes, seine biographie, seine
große liebe emilie, seine familie, sein beruf. ein gesang gegen die dumpfheit und ein hohelied auf das spazierengehen: einfallsreich, ruhig, leise, einfühlsam erzählt, ein tiefgehendes blues, dessen melodie einem durch die stadt begleitet, auf dem weg zur arbeit, auf dem weg nach hause.