In dem Film »Modern Times« (»Moderne Zeiten«) von 1936 muss der Arbeiter Charlie (gespielt von Charlie Chaplin) mit zwei Schraubenschlüsseln laufend Schrauben anziehen. Charlie verinnerlicht diese immergleichen Fliessbandbewegungen so stark, dass er irgendwann diese auch an den Brustwarzen, Nasen oder Hinterteilen seiner Kollegen, an irgendwelchen Knöpfen, an Hydranten – und schliesslich auch an vorbeiflanierenden Frauen wie der Sekretärin des Chefs und einer korpulenten Dame auf der Strasse ausüben möchte. Charlie sieht überall nur noch Schrauben. Alles muss von ihm festgeschraubt werden. Er steht vor dem Wahnsinn; die Monotonie seiner Arbeit hat seine Sinne vorübergehend deformiert.
Arbeitsverhältnisse wie 1936 gibt es kaum noch. Dennoch kann es auch heute noch passieren, dass eine einseitige Ausrichtung einer Tätigkeit zu der Ausblendung dessen, was man vielleicht ‘vollständige Wahrnehmung’ nennen könnte, führen kann. Ich habe Grund zu der Annahme, dass dies bei dem Journalisten Christopher Hitchens der Fall ist. Hitchens’ selektive Wahrnehmung dokumentiert sein Buch Der Herr ist kein Hirte.
Der Rummel
Religionskritische Bücher sind derzeit en vogue. Hitchens’ Buch stand (und steht) – wie auch Richard Dawkins’ »Der Gotteswahn« – auf diversen Bestsellerlisten, u. a. in den USA. Sie sorgen für Furore. Aus unterschiedlichen Gründen. Zunächst wegen ihrer Mischung von spätpubertärem Jargon und kalkulierter Tabuverletzung. Auf so etwas Rückständiges wie Pietät (was religiöse Gefühle von gläubigen Menschen angeht) wurde explizit keine Rücksicht mehr genommen.
Ein anderer Grund liegt darin, dass religiöse Radikalisten sowohl im Islam als auch im Christentum eine irgendwie geartete Stellungnahme des Individuums »verlangen«. Religionen zwingen uns (wieder) zu einem Standpunkt. Dies hat vor allem mit dem selbstbewussten Auftreten radikaler Religionsexegeten zu tun; sowohl in einigen islamischen Ländern als auch (und für uns besonders relevant) in den USA. Dort streben Kreationisten die Abkehr von den Lehren der Naturwissenschaften hin zu wörtlichen Auslegungen der Bibel an – und das bereits in der Schule beginnend. Jahrzehntelang eher eine private Nebensache, bekommt Religion gesellschaftspolitische Relevanz, weil sie von bestimmten Gruppen offensiv als Alternative zu bestehenden Ordnungen eingebracht wird und nicht auf der spirituellen Ebene ausgeübt werden soll, sondern bestimmend bis in die Alltäglichkeit wirken soll. Auch Agnostiker oder Atheisten in den westlichen Staaten müssen sich zu religiösen Gesellschaftsbewegungen – unter Umständen sowohl von Einheimischen als auch von Einwanderern – positionieren.
Das immer virulentere Durchdringen kreationistischen Denkens dürfte den Erfolg der beiden Bücher in den USA befördert haben. Inzwischen wird nicht nur von linksliberalen Kräften in den Vereinigten Staaten, sondern durchaus auch von gemässigten Christen vor weiterer Infiltration bis in die höchsten politischen Entscheidungsgremien gewarnt.
Koch und Kellner
Heiligt (sic!) aber der Zweck die Mittel? Hitchens’ Buch wurde in Deutschland erstaunlicherweise von vielen Rezensenten wohlwollender und milder aufgenommen als Dawkins’. Und im Gegensatz zu Dawkins, der sich inzwischen als Initiator der »Brights«-Bewegung quasi guruähnlichen Status verschafft hat (was Hitchens gleich auf den ersten Seiten seines Buches kritisiert), konzidiert er durchaus so etwas wie eine »Seele« (Dawkins lehnt dieses Konstrukt radikal ab). Hitchens hält auch Atheisten nicht per se für intelligenter. Aber während Dawkins sich ausschliesslich mit den monotheistischen Religionen beschäftigt und fernöstliche Religionen als ethische Systeme begreift und ausklammert, wütet Hitchens hemmungslos gegen alle möglichen Glaubensbekenntnisse. Religionen, so mit grossem Überschwang und Pauschalität (seine Hauptwaffe) verkündet, sind dem Rassismus nicht unähnlich.
Seine vier Einwände gegen den religiösen Glauben formuliert Hitchens gleich am Anfang:
Er stellt die Ursprünge des Menschen und des Universums völlig falsch dar, er verbindet infolge dieses Irrtums ein Höchstmass an Unterwürfigkeit mit einem Höchstmass an Solipsismus, er ist Folge und Ursache einer gefährlichen sexuellen Repression, und er fusst letzten Endes auf Wunschdenken.
Typisch für ihn dieser Nachtrag: Ich glaube, es ist nicht arrogant, wenn ich behaupte, dass ich diese vier Einwände entdeckte, ehe ich in den Stimmbruch kam. (Und ich glaube, es ist nicht arrogant, wenn ich behaupte, dass ich solche Wahrheitsminister schon vor meinem Stimmbruch nicht leiden konnte.)
Schnell kommt dann die »Erkenntnis«, dass der Mensch Gott und die Religion erschaffen habe – was vielleicht nicht so originell für ein religionskritisches Buch des 21. Jahrhunderts ist. Das wirkt im Vergleich zu Dawkins noch wesentlicher einfacher gestrickt (und man ist überrascht, dass das noch geht).
Die Wiederkehr des Immergleichen
Und dennoch sind die Gemeinsamkeiten der beiden Bücher frappierend. Wie Dawkins kritisiert Hitchens vehement das Alte Testament (insbesondere das Abraham-Opfer – Hitchens bleibt fast ausschliesslich beim Pentateuch [zusammengeschusterte Fiktion], um dann allerdings im nächsten Kapitel zu behaupten, dass das Gefasel im Neuen Testament noch viel schlimmer sei); mokiert sich über den »Cargo-Kult« südostasiatischer und pazifischer Ureinwohner; vereinnahmt Einstein als Gesinnungsgenosse (weniger akribisch als Dawkins); sieht Religionserziehung als Kindesmissbrauch und empört sich seitenlang darüber; prügelt auf Mutter Teresa ein (freilich aus anderen Gründen als Dawkins), hält Religion für unmoralisch (und postuliert Shakespeare für moralisch weitaus gewichtiger – von solcher Art sind Hitchens’ Gegenentwürfe häufig) oder sieht Religiosität für eine ernstzunehmende Bedrohung für die Volksgesundheit (mit letzterem geisselt er scharf die in der Tat fürchterliche Sexualmoal der katholischen Kirche – insbesondere was die Verhütungspraxis gegen AIDS angeht).
Fast kongruent zu den Dawkins’schen Erlebnisschilderungen beschreibt Hitchens seine Religionsschulstunden – und in ziemlicher Überheblichkeit erklärt er dem Leser, wie früh er bereits alles durchschaut und so nebenbei die Deutung eines Freud-Essays eskomptiert habe. Ein bisschen reservierter fällt bei Hitchens die »Alternative« zur Religion aus – er hält zwar die Evolution für klüger als wir und preist die Schönheit der DNS-Doppelhelix, aber so richtig vermag ihn so etwas wohl nicht zu begeistern.
Irgendwann überkommt ihn dann für einen kurzen Augenblick Mitleid für all diejenigen, die nun – aufgrund der Lektüre dieses Buches – von ihrem alten Weltbild Abschied nehmen müssen. Er macht dies daran fest, in dem er sich als ehemaliger Marxist outet und beschreibt, wie schwer es ihm gefallen sei, sich hiervon zu trennen und erzählt von seinem früheren Phantomschmerz.
Der britische Broder
Hitchens’ politisches Weltbild spielt in dem Buch zwar direkt keine Rolle, schimmert aber durchaus zwischen den Zeilen durch. Denn während Dawkins bei allem teilweise bösartigen Furor vor allem gegen kreationistische und evangelikale Kräfte in den USA stösst und so ganz »nebenbei« dezidiert keinen Hehl aus der Ablehnung der Politik der Bush-Administration (aussen- wie innenpolitisch) machte, liegt die Lage bei Hitchens anders. Zwar widmet sich Hitchens auch den Kreationisten (mehr allerdings noch den Mormonen), aber nicht mit der Verve von Dawkins.
Wichtig in diesem Zusammenhang ist schon, dass Hitchens sehr wohl ein bekennender Befürworter beispielsweise des Irakkrieges 2003 (wie er noch unlängst in einem Gespräch mit Peter Schneider in der »Zeit« sagte). Man könnte ihn hinsichtlich seiner dezidiert islamophoben Äusserungen (er bezweifelt ja sogar, ob der Islam eine eigene Religion darstellt) durchaus als britischen Henryk M. Broder bezeichnen (hierzu auch dieser recht aktuelle Artikel in der »WELT«). Im Buch stellt er zum Beispiel die These auf, Saddam Husseins Regime sei gar nicht säkular gewesen, sondern etliche seiner Krieger seien verkappte Dschihadisten gewesen.
Mit ähnlichen schlichtweg falschen Äusserungen muss sich der Leser im Verlauf des Buches oft abgeben. Das Buch strotzt geradezu vor Fehlern, einseitigen Wahrnehmungen und böswilligen Unterstellungen.
Komplexitätsreduzierung
So sind für ihn beispielsweise die Jugoslawienkriege der 90er Jahre eindeutig Religionskriege. Nicht Serben und Kroaten kämpften dort – sondern orthodoxe Christen gegen Katholiken. Und warum, so Hitchens, bezeichnet man die Muslime eigentlich als einzige Gruppe mit ihrer Religion? Stimmt zwar so gar nicht, möchte man ihm zurufen – man sagt durchaus ‘Bosnier’ – aber da ist das Thema auch schon durch. Später ist es für ihn dann ausgemacht, dass der Völkermord von 1994 in Ruanda zwischen Hutu und Tutsi von der katholisch infiltrierten Hutu-Power angestachelt wurde. Dabei gibt es zahlreiche Untersuchungen, die diese Kausalität nicht bestätigen (man lese z. B. Günther Schlee im Interview in der SZ).
Hitchens verschont südostasiatische Religionen nicht. So überzieht er den japanischen Mahayana-Buddhismus nebst »Tennokult« mit beissendem Hass (nebenbei stellt er gönnerhaft fest, dass man 1945 beschlossen hatte, den lächerlichen Tenno am Leben zu erhalten – von den Atombombenabwürfen sagt er nichts), kratzt gewaltig am tibetanischen Buddhismus (hier macht er auch Sadisten aus) und bezeichnet den Dalai Lama als mittelalterlichen Kronprinz (und suggeriert, die Verhältnisse von 1959 in Tibet wären heute noch genau so, wenn die Chinesen damals nicht Tibet überfallen hätten).
Er wettert – weitgehend kenntnislos in Details – gegen den »Hinduismus« und den angeblichen Friedensmann Gandhi, der in entscheidenden Situationen vor religiösen Gegebenheiten kapituliert hätte. Hitchens weiss allerdings schlichtweg nicht, dass es den »Hinduglauben« in diesem Sinne gar nicht gibt, sondern das es sich um eine sehr grobe Subsummierung unterschiedlichster Gläubiger handelt (als Hauptrichtungen können der Vishnuismus und der Shivaismus genannt werden; das ist aber beileibe nicht vollständig) Die Typisierung »Hinduismus« stammt aus der Kolonialzeit. Der Vorwurf, Gandhi hätte mit Indien einen antimodernistischen Kurs verfolgt (auch wirtschaftspolitisch), ist absurd begründet: Er, Gandhi, hätte das Spinnrad in die Flagge Indiens gebracht und dies sei ein Symbol für ökonomischen Rückschritt (wir reden von 1946/47). Und Hitchens glaubt allen Ernstes, dass auch heute noch in der indischen Flagge ein Spinnrad zu finden ist – ein Lesen beispielsweise des Wikipedia-Artikels über die tatsächliche Symbolik des Rades hätte Aufklärung verschafft.
Aber alles, was nicht in seine einfache Weltsicht passt, wird schlichtweg ignoriert. So stimmt er einen wütenden Exkurs über das südafrikanische Apartheid-Regime an, welches von der katholischen Kirche inspiriert, gestützt und am Leben erhalten worden sei. Aber von Desmond Tutu und dem Wirken des südafrikanischen Kirchenrates gegen die Apartheid (Tutu bekam – nur zur Erinnerung – 1984 den Friedensnobelpreis) kein einziges Wort. Dieser Mensch und dieses Wirken existiert für ihn nicht – sonst würde ja seine forsche These auch nicht mehr stimmen.
»Was ohne Beweise behauptet werden kann, lässt sich auch ohne Beweise verwerfen.«
Was soll man jemandem glauben (!), der so grob die Regeln des fairen Diskurses verletzt, der wichtige Aspekte einfach weglässt, nur weil sie nicht in seine Argumentation hineinpassen? Wie kann jemand, der in solch plumper und dummer Art und Weise die Realitäten verbiegt, überhaupt Ernst genommen werden? Und – eine Frage auch den Verlag: Wie kann man eigentlich (offensichtlich ohne Lektorat bzw. Bearbeitung) einen solchen über viele Strecken blühenden Unsinn drucken?
Was ohne Beweise behauptet werden kann, lässt sich auch ohne Beweise verwerfen. Dieses Zitat verwendet Hitchens in Bezug auf die zahlreichen religiös konnotierten »Bestrafungstheorien« zum Attentat des 11. September 2001. Wenn er diesen Satz ernst nimmt, dann könnte er den grosse Teile seines Buches verwerfen. Hitchens hat gar keine Ahnung von Religionskritik. »Nebenbei« denunziert er mit Wonne Befreiungstheologen. Er schreibt über Ethik, zitiert einen Satz von Kant (die Naturgesetzformel des kategorischen Imperativs) und folgert daraus, Kant habe gezeigt, dass es hiernach keiner übernatürlichen Macht mehr bedürfe. So einfach ist Hitchens’ Welt.
Oftmals setzt er Attribute nur noch in Bezug auf Religion. Aus der deutschen Intellektuellen Hannah Arendt wird beispielsweise eine jüdisch-säkulare Intellektuelle. Ihre Totalitarismuskritik wird von ihm zur Religionskritik vereinnahmt. Ähnlich ‘missbraucht’ er George Orwell. Seinen Satz »Der totalitäre Staat ist praktisch eine Theokratie« versteht er wörtlich. Das in »1984« konzipierte »Gedankenverbrechen« verwendet er als Ausdruck für religiös motivierte Häresie und suggeriert eine Nähe zur Inquisition. Nur am Rande dann die Bemerkung, dass Orwell auch eine Auseinandersetzung mit dem Stalinismus betrieben haben könnte.
‘Ach wie gut, dass ich nichts weiss…’
Viele seiner Ausführungen sind derart skurrile Schlussfolgerungen, dass es einem fast die Tränen in die Augen treiben. Am Beispiel des radikal antireligiös kommunistischen Albanien zur Zeit des Kalten Krieges, schlussfolgert Hitchens, dass der religiöse Impuls – das Bedürfnis nach Gottesverehrung – noch abscheulichere Formen annehmen kann, wenn er unterdrückt wird, was wiederum nicht gerade für diese Neigung spricht. Oder wenn er meint Regeln sollen so sein, dass man sie befolgen kann. Aber wie legt man denn so etwas fest? Wer ist überhaupt man? Freilich, mit solchen »Kleinigkeiten« hält sich ein Mann wie Hitchens nicht auf.
Seine Tiraden kommen manchmal wir Wirbelstürme hereingeweht. Urplötzlich ist er dann bei Mel Gibson und seinem kruden Leidensepos »Passion Christ«. Das klingt dann so: Im Jahr 2004 produzierte der australische Faschist und Schmierenkomödiant Mel Gibson eine Seifenoper über den Tod Jesu. Im weiteren Verlauf wird Gibson noch als Judenhetzer charakterisiert (in der Tat ist der Film in dieser Hinsicht umstritten – hat aber durchaus eine differenziertere Kritik verdient) und sein Film als sadomasochistische[r] Homoerotik »qualifiziert«. Ich wüsste gerne, welchen Film Hitchens wirklich gesehen hat…
Anderes ist schlichtweg falsch. So schliesst er nicht aus, dass Sokrates (der von ihm wegen seiner Standhaftigkeit wider religiöse Indoktrination hymnisch gefeiert wird) vielleicht gar nicht gelebt hat; hält Homer für eine mystische Figur; meint, Nietzsche habe mit seinem »Gott ist tot«-Ausspruch einen Denkfehler begangen, weil er dann ja von der Existenz Gottes ausgegangen sei (er versteht die Intention dieses Ausspruchs nicht); sieht das berühmt-berüchtigte »Auge um Auge, Zahn um Zahn« als Vergeltungsaufforderung (jeder Theologiestudent im ersten Semester weiss es besser), und so weiter – die Liste liesse sich noch lange fortsetzen. Wenn er gar nicht mehr weiter weiss, dann heisst es lapidar, das spielt für uns keine Rolle.
Aber einmal stimmt der Leser ihm rückhaltlos zu: Die Kollektivierung der Schuld ist unverantwortlich. Aber warum, so fragt man sich, verstösst Hitchens dann permanent gegen diesen, seinen eigenen Imperativ? Warum handelt er derart unverantwortlich? Ist es nur der Publicity wegen?
Mangelnde Selbstreflexion
Der Jargon, dessen sich Hitchens bedient, ermüdet irgendwann den Leser. Die letzten Seiten ziehen sich unendlich hin. Viel Neues weiss er dann nicht mehr zu berichten. Und der am Schluss zitierte Orakelspruch von Delphi (den er auch mißinterpretiert) »Erkenne Dich selbst« könnte als Möglichkeit zur Selbstreflexion dienen. Aber so etwas perlt an Hitchens ab, wie an einer Ente das Wasser.
Der Herr ist kein Hirte ist keine Religionskritik, sondern triviale Krawallprosa. Hitchens verwechselt ja sogar die Begriffe ’säkular’ und ‘laizistisch’. Und den Religions-Apologeten ähnlich, die mit ihren Gottesbeweisen fast immer nur bei den bereits Glaubenden reüssieren werden, sind derartige Elaborate für eine tiefe (und tatsächlich notwendige, allerdings alle grossen Religionen umfassende) Auseinandersetzung mit dem Ziel einer möglichst friedlichen Säkularisierung von Entitäten absolut untauglich (und eher kontraproduktiv).
Hitchens Buch spiegelt dahingehend den Zeitgeist wieder, da die Bereitschaft sich argumentativ und nicht mit vorgefassten Meinungen einer Sache zu nähern, stark abnimmt und eher als altmodisch bzw. – fast noch schlimmer – als langweilig betrachtet wird. Dabei werden dann allzu oft die Verhaltensweisen kopiert, die man an anderen kritisiert, weil man glaubt, mit gleicher Münze zurückzahlen zu dürfen. Ausser zur Mobilisierung der eigenen Truppen und einer kurzfristigen Entfesselung eines kalkulierten Hypes tragen Leute wie Hitchens (und auch Dawkins) nichts bei.
Ich hoffe deine Lektüreauswahl beruht nur auf dem Wunsch aktuell diskutierte Bücher parat zu haben und nicht auf einem ausgeprägten Masochismus. Fast glaubt man, du machst an einem heißen Sommertag einen Mülleimer auf und beschwerst dich dann, dass es stinkt. Ich kenne Hitchens nicht und möchte das nach deinen Ausführungen auch nicht. Hitchens und Dawkins in eine gemeinsame Ecke zu stellen, halte ich aber für nicht angemessen. Ich hatte bereits geschrieben, dass Dawkins seine Seele an einen Verlag verkauft hat, um Aufmerksamkeit zu erheischen. Schon allein die vielen Interviews, die man im Netz findet, sollten wohltuend auf diesen Umstand aufmerksam machen.
Unter anderem Vorzeichen hatte ich meine Leidensfähigkeit unter Beweis stellen wollen und »Jesus von Nazareth« von einem Autor namens Ratzinger gelesen, da mich die Litanei über den hochintellektuellen Theologen schon lange interessiert hatte. Daher war meine Neugier ebenso groß wie mein anschließendes Entsetzen. Man könnte die Quintessenz ziehen, das Überzeugungstäter von Nabelschauen ablassen sollten. Auch hier schreckt ein Vertreter einer nicht ganz kleinen Glaubensgemeinschaft vor den billigsten Methoden nicht zurück. Das lasse ich hier einfach mal als bloße Behauptung stehen.
Kein Masochismus
eher Neugier.
Es kommt vielleicht nicht richtig ‘rüber: Aber aus fast jeder Lektüre lernt man auch was. Und sei das Buch noch so schlecht. Gemeint ist damit nicht das Apercu, dass man lernt, sowas nicht mehr zu lesen. Das geht schon durchaus tiefer.
Hitchens ist ein Journalist, dessen Wort jetzt auch im deutschsprachigen Raum entdeckt wird (in der »Welt« hat er jetzt eine Kolumne). In der »Zeit« war ein Gespräch mit Peter Schneider und ihm. Der »deutsche Hitchens« ist Broder (obwohl der kein religionskritisches Buch geschrieben hat).
Dawkins und Hitchens zitieren sich gegenseitig in ihren Büchern. Ich stimmt zu, dass man die Personen nicht vergleichen kann – sehr wohl aber die beiden Bücher, die das gleiche Thema abhandeln. Deiner These, Dawkins habe seine Seele verkauft, würde er natürlich schon alleine deswegen widersprechen, weil er so etwas wie »Seele« als nicht existent ablehnt.
Ratzingers Jesus-Buch habe ich mir nicht angetan. Er erscheint wir aus vielen Gründne zu befangen. Hinzu kam, dass ein grosser Vorabdruck in der »Zeit« im Frühjahr bei mir auf einiges Unverständnis stiess. Ich hatte den Eindruck, dieses Buch ist eigentlich für den »Normalkonsumenten« nicht gedacht. Eher schon für Religionswissenschaftler.
Eine etwas ausführlichere Kritik von Dir würde mich interessieren.
Josef Ratzinger – Jesus von Nazareth
Man sollte wissen, was man sich zutrauen kann. Eine Rezension gehört bei mir leider nicht dazu. Aber ein paar Worte kann ich trotzdem darüber verlieren.
Das Buch kommt als friedliche, detailverliebte Bibelexegese eines freundlichen älteren Herrn daher. Vielfältige Querverweise dokumentieren das Gesagte, weisen eine enorme Belesenheit auf, die den Laien manchmal ratlos zurücklässt. Manch einem mag aber beim Lesen zwischen den Zeilen der Wolf begegnen, der gelegentlich hinter dem gütige Lächeln des Papstes zu stecken scheint.
So stehen die Querverweise häufig in keinerlei historischem Zusammenhang, erscheinen willkürlich nur dem Ziel geschuldet. Schon ganz am Anfang stellt Ratzinger klar, dass er nur bereit ist über einen historischen Jesus zu reden, die Bibel wörtlich auszulegen. Argumentationen beginnen mit Neuere Wissenschaft hat festgestellt oder ganz unverblümt mit einem völlig haltlosen Freilich ist/hat .... Da wird ein Axiomensystem aus dem Hut gezaubert, auf dem das wohlgebaute, aber schwankende Gebäude fußen soll.
Exkursionen außerhalb seiner Dogmatik enden üblicherweise mit Totalschaden. Muslime oder Atheisten werden schnell mal lächerlich gemacht (z.B. rituelle Waschungen) oder direkt als Terroristen beschimpft. Versucht er sich in selten Fällen an echter Naturwissenschaft, man spürt wie angeekelt er ist, wird deutlich, dass dies für ihn Terra incognita ist. Der Antichrist persönlich wird aber in Rudolf Bultmann ausgemacht. Man meint förmlich zu sehen, wie sein Mund spitzer wird, wenn es um Versuche der Entmythologisierung der Bibel geht. Da hört der Spass auf, dort bleibt der Intellekt auf der Strecke. Mit kurzem, knappen dort irrt Bultmann wird er zur Strecke gebracht, wenn auch ohne Begründung.
Eine weitere wichtige Aussage des Buches ist die klare Trennung der drei monotheistischen Religionen. Der Judaismus wird als natürliche Basis des christlichen Glaubens dargestellt (was für einen Papst nicht gerade üblich ist), der Islam praktisch nicht erwähnt. Nach der Lektüre bin ich fest davon überzeugt, dass Ratzinger die Provokation seiner berüchtigten Regensburger Rede sehr gezielt gesetzt hat.
Insgesamt ein Buch, beim dem der durch moderne Wissenschaft mit dem Rücken zu Wand stehende Gläubige vor Kopfnicken müde wird, ein Anderer durch Kopfschütteln. Beachtenswert scheint mir noch der Umstand, dass Ratzinger dass Buch als ersten Band bezeichnet, in dem er für ihn wesentliche Teile vorab veröffentlichen wollte. Möglichweise hält Ratzinger seine Exegese für unverzichtbar. Wenn dies das schärfste Schwert des Katholizismus ist, dann helfe ihm Gott.
Eine Vielfalt an Stimmen aus dem theologischen Umfeld findet man übrigens hier.
Interessant
Danke für die interessante Darstellung. Irgendwie macht das schon neugierig, obwohl ich glaube, dass man tatsächlich als Laie irgendwann mit den Details überfordert ist.
Als jahrelanger (jahrzehntelanger?) Vorsitzender der Glaubenskongregation ist er sicherlich sehr »selbstsicher«, was seine Exegese angeht. Da konnte ihm fast nichts besseres passieren, als Papst zu werden.
Dass der Islam praktisch nicht erwähnt wird, ist merkwürdig. Schliesslich erkennt der Islam Jesus als Propheten an. Im Koran ist Jesus eine Lichtgestalt. Nur die Auferstehungsgeschichte wird nicht erzählt.
@Gregor
Vielleicht gerade weil Jesus nur als Prophet anerkannt wird, die Gottessohnschafft verwirft der Koran ja.
Ansonsten scheint das rezensierte Buch gut zu dem verlinkten Welt-Artikel zu passen.
Hutu und Tutsi
Bei deiner Erwähnung der Hutu und Tutsi ist mir Jared Diamonds »Kollaps« wieder eingefallen. Bei Diamond ist dieser Konflikt zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen auf das zuvor sehr starke Bevölkerungswachstum in dieser Region zurückzuführen gewesen. Es waren schlicht und einfach nicht mehr genug Lebensmittel im erweiterten Sinn vorhanden gewesen, um alle Menschen zu versorgen.
So wird es wohl in vielen Konflikten sein: Man kann sich heraussuchen, ob man ethnische, religiöse oder sozialökonomische Ursachen sieht. Die Wahrheit wird irgendwo dazwischen liegen – von allem ein bisschen, für mich mit einer starken Präferenz für das sozialökonomische, denn ethnische und religiöse Toleranz setzen einen ausreichenden eigenen Wohlstand voraus.
Diese These
geht ja in die Richtung von Heinsohns »youth bulge«-Theorie. Demzufolge gibt es aufgrund exorbitant grossen Bevölkerungswachstums für die vielen Söhne keine Perspektive. Das führt dann entweder zu Migrationsströmen oder zu Aggressionen unterschiedlichster Art.
Meine These ist ja, dass die Jugoslawienkriege letztlich auch sozialökonomische Ursachen hatten.
Ich habe leider zu spät für dieses Posting hier gesehen, dass gestern um 0.00 Uhr in der ARD der preisgekrönte Film »Hotel Ruanda« lief. (Ich konnte ihn allerdings noch zur Aufnahme programmieren.)
Der heutige Büchermarkt im Deutschlandfunk beschäftigte sich unter der Überschrift Philosophie des Atheismus auch mit Der Herr ist kein Hirte. Die Rezension blieb recht schwammig, aber nicht ganz so kritisch wie deine.
Bemerkenswerte
Besprechung. Der Rezensent hat offensichlich viele Bücher und Schriften zum Thema gelesen (zitiert u. a. Blumenberg, der allerdings schon 1996 gestorben ist – er suggeriert jedoch, als sei das »neue« Buch Blumenbergs irgendwie mit den anderen Neuerscheinungen in einem zeitlichen Kontext), schlägt einen grossen Bogen – und am Ende nennt er zwei Bücher – u. a. auch Hitchens. Wobei ich vermute, dass das Hitchens-Buch das Schlechteste von allen ist.