Zunächst war der in den 1970er Jahren aufkommende Begriff der »Neuen Innerlichkeit« für die damals neu entstehende deutschsprachige Literatur gar nicht als Schimpfwort gedacht. Ausgedrückt werden sollte damit die Abgrenzung von einer politisch motivierten und moralisierenden Literatur, die insbesondere in den 1960er Jahren dominierte. So wurden die ersten Texte, die das Subjekt mit ihren persönlichen, existentiellen Deformationen in das Zentrum rückten, zunächst vorsichtig begrüßt. Aber es dauerte nicht lange, bis das Rubrum »Innerlichkeit« pejorativ verwendet wurde: Eitle Selbstbespiegelung, Seelenstriptease, unpolitisch, restaurativ – oder knapp formuliert: langweilig und narzisstisch. Dabei ist es eigentlich bis heute geblieben. Immer noch gilt Innerlichkeitsprosa als verdächtig, wenn sie fast ohne Plot daherkommt oder sich nicht notdürftig mindestens als Entwicklungsroman tarnt. Merkwürdigerweise keine Probleme gibt es mit den Innerlichkeiten der Hauptfiguren im Kriminalgenre, wie beispielsweise in den inzwischen längst als Literatur kanonisierten Kriminalromanen des kürzlich verstorbenen Henning Mankell. Die Lebensprobleme seiner Hauptfigur Wallander werden gleichrangig mit dem zu lösenden Kriminalfall behandelt. Dabei käme niemand auf die Idee, Mankells Wallander-Romane als Innerlichkeitsprosa zu verorten. Tatsächlich gelten sie als »authentisch« und damit wird einer der aktuellen Feuilletongötzen gehuldigt: Literatur hat sich einem Realismus zu verpflichten. Nur das Fantasy-Genre und literarische Dystopien sind von diesem Gesetz befreit (was deren Erscheinungsmenge erklärt).
Der mediale Erfolg von Clemens J. Setz’ »Die Stunde zwischen Frau und Gitarre« liegt womöglich darin, dass er eine Innerlichkeitsprosa anbietet, die im Tempo und Zeitgeist der Gegenwart daherkommt und zusätzlich noch eine Suspense-Handlung eingebaut hat. Die Hauptfigur ist die 21jährige Psychiatrie-Betreuerin Natalie Reinegger. Erzählt werden (bis auf die wenigen Seiten Epilog, der zwei Jahre später spielt) sieben oder acht Monate im Leben dieser jungen Frau, die in einer psychiatrischen Anstalt (Euphemismus: »Betreutes Wohnen«) eine neue Stelle beginnt. Das Setting kommt daher wie ein Kammerspiel; vier Betreuerinnen, ein, zwei »Zivildiener«, eine Handvoll Bewohner.
Die »Neulingin«
So wie der »Neulingin« werden auch dem Leser zunächst die zu betreuenden Personen vorgestellt. Setz unterminiert dabei lustvoll das offizielle korrekte Berufssprech. Zunächst wird der zu befolgende Imperativ gezeigt, wenn zum Beispiel das Wort »Stalker« ausgiebig diskutiert und zu Gunsten von »CAD« (was wohl »compulsive affective discorder« bedeuten soll; so genau wissen die Betreuerinnen das aber auch nicht mehr; Setz verballhornt hier Fachtermini) als unerwünscht ausgesondert wird. Die Bewohner nennt man ordnungsgemäß »Klienten« (nicht Patienten oder Insassen). Mit einem (nicht existierenden) Adamski-Schreber-Grad werden dann Quantifizierungen des Wahnsinns vorgenommen. Erst später, als Natalie im Kreis der Betreuerinnen sozusagen aufgenommen wurde, genießt sie dann den sich im Laufe der Besprechungen einstellenden »raue[n] Ton«, der sich unter anderem darin zeigt, dass munter über »Todesarten schwerstbehinderter Kinder« gefrotzelt wird. Natalie bemerkt früh, welche Wichtigkeit die (informellen) »Arrangements« des Heims mit Angehörigen und Besuchern haben. Sie wird »Bezugsbetreuerin« von Mike, einem Mann, der durch einen Verkehrsunfall unrettbar geistig behindert ist. Und sie muss sich um Alexander Dorm kümmern.
Dorm ist Anfang 30 und sitzt im Rollstuhl. Sukzessive wird Natalie (und damit der Leser) in seine Geschichte eingeführt. Dorm richtet sich jede Woche mit besonderer Akribie für seinen Besucher, Dr. Christopher Hollberg, her. Dorm hatte vor einigen Jahren Hollberg massiv (auch sexuell) gestalkt (das wahre Ausmaß wird erst im Laufe des Buches sichtbar). Gleichzeitig schmähte und verunglimpfte Dorm Hollbergs Frau, die daraufhin Suizid beging. Hollberg besucht nun den jähzornigen, frauenhassenden Dorm mindestens einmal wöchentlich. Dorm verfällt Hollberg vollkommen. Die oberflächlich kumpelhaften, häufig platonisch-diabolischen Dialoge, die hier entstehen, illustrieren ein nur mühsam unterdrücktes Spannungsfeld von Macht und Verachtung zwischen den beiden. So bemerkt Natalie früh, wie Hollberg Dorm am Nacken packt und ihn bei Gelegenheit rhetorisch demütigt. Natalie, die die beiden auf ihren kleinen Spaziergängen begleitet, gerät dabei immer mehr in den Sog dieses seltsamen Verhältnisses. Sie muss nicht nur Dorms Attacken ertragen, was sie jedoch mit großer Professionalität erledigt (auch was sie sich dabei denkt, erfährt der Leser). Auch Hollberg beginnt sie irgendwann zu belästigen, wobei Faszination wie Abstoßung beidseitig ist.
Natalies Kolleginnen sind ebenfalls bisweilen seltsam, zeigen Schrullen (»Die Physiker« lassen grüßen). Eine ritzt sich; eine andere scheint in Natalie verliebt zu sein. Astrid, die Chefin, erzählt Natalie vom letzten Atemzug eines Sterbenden, den sie früher manchmal in sich aufgenommen und aus der Luft abgeschöpft hatte. Und Astrid scheint Hollberg zu verehren, übernimmt seine absurde Erzählung von seiner heiligen Wunde.
Die Dorm-Hollberg-Geschichte ist nur ein Teil des Buches. Die moderne Innerlichkeitsprosa, die Setz mit Natalie konstituiert, gewährt dem Leser umfassende Einblicke in den Wahrnehmungsapparat der Protagonistin, den man oberflächlich (und ein bisschen verniedlichend) als synästhetisch bezeichnen könnte. Wörter haben Farben und nehmen Gegenstandsform an, alles geschieht simultan und wird auch so aufgenommen. Kausalität wird dort, wo es möglich ist, zweitrangig (was ihr gelegentlich Probleme an ihrer Arbeitsstelle schafft). Natalie hatte epileptische Anfälle als Kind (der letzte »Grand-Mal-Anfall« war 11 Jahre her). Seit dieser Zeit greift sie immer wenn ein »auriger«, »vorgewitterlicher Zustand ihrer Nerven« droht zur Dämpfung ihrer Stimmungs- und Sinnesgewitter wie selbstverständlich zu Beruhigungsmitteln. Xanor schon als Jugendliche im Zahnputzbecher, jetzt Lexotanil oder Sirdalud 4mg bzw. 8 mg (verhängnisvoll die Wirkungen in Verbindung mit Alkohol).
Natalie glaubt, je nach Lage einen guten Engel oder eine weiße Maus auf ihrer Schulter sitzen zu haben. Sie erlaubt sich »kleine Vergnügungen« auf der Straße wie etwa »Paare teilen« (Hand in Hand gehende Paare mit gewollt ungeschickter Körpersprache dazu bringen, dass sie links und rechts an einem vorbeigehen), »Verfolgen«, in dem man Leute synchron zu ihren Schritten folgt (und die Zeit stoppt, bis sie sich umsehen) oder »Anbetung« (sich einem fremden Menschen ehrfürchtig nähern). Ihre Stimmungen schwanken zwischen unbändiger Lebensfreude, hypochondrischen Anfällen und veritablem Selbsthass (dann bezeichnet sie sich als »dummes« oder »nutzloses Vieh«). Letzterem geht fast immer ein drohender (aber nicht eintretender) Kontrollverlust voraus.
Streunen, Chats und Kneipe
Zu Beginn des Romans – es ist Frühsommer – wird der Leser zum Zeugen von Natalies »Streunen«. Im Gegensatz zu Jelineks Klavierspielerin Erika Kohout, die schüchtern und heimlich ein spermabenetztes Taschentuch aufklaubte, wird Natalie aktiv, in dem sie Männer auf der Straße oral befriedigt. Wenn sie das Ejakulat nicht schluckt, dann sammelt sie es im Kondom, das sie sorgsam verschließt und zu Hause wie kleine Bojen in der Badewanne schwimmen lässt, bevor sie es trinkt. Wie es zu dieser »Ekel-Zärtlichkeit« aufgrund eines Erlebnisses in der Pubertät kam, erfährt man recht bald.
Nicht nur während des Streunens durch die dunklen Gassen von Graz, dieser ansonsten »dumme[n], mittelgrosse[n] Zwischendingstadt«, kommt ihr eine Fähigkeit, die im Laufe des Romans eine wichtige Rolle spielen wird, zu Gute: Sie kann sogenannte »karleske« Sätze bilden (benannt nach ihrem Bruder Karl, der in Dänemark lebt). Dies sind Sätze und Formulierungen, die »am richtigen Schräubchen« drehen, Konfliktsituationen je nach Lage forcieren oder entschärfen können, so dass sie, Natalie, am Ende als rhetorische Siegerin übrig bleibt. Trainiert wird dies vor allem mit Markus, ihrem Ex-Freund in sogenannten non-sequitur-Chats (»nonseq«). Man kann Menschen mit dem richtigen Satz umbringen«, so heißt es einmal. Aber man kann auch Menschen mit einer Fülle falscher Sätze zur Verzweiflung bringen (so gelegentlich das Los des Lesers).
Das weitere soziale Leben Natalies spielt sich im »Souterrain« ab, einer »openSource«-Kneipe (die zu Zeiten der »Neuen Innerlichkeit« womöglich »alternativ« genannt worden wäre). Hier begegnet sie Mario, einem schüchternen Jungen, in den sie sich sofort verliebt, der aber fast immer ihre Annäherungsversuche abblockt. Natalies Zuneigung gegenüber Mario drückt sich in kindlich-pubertärem Habitus aus, der nicht zu ihr zu passen scheint. Denjenigen, der sie anhimmelt, Frank, der Besitzer oder Hausmeister dieser Kneipe, hält sie selber auf Distanz. Es entstehen hier schräge Szenen von gewolltem wie gespieltem Nichtverstehen, von der Konfrontation mit den Kneipengästen mit einer Natalie, die mit spermagetrockneter Kleidung die Wirkung ihrer Tabletten abwartet.
»Niemand wartete« auf Natalie zu Hause. Außer ab und zu ein Kater, den sie Chat nennt (ein gelungenes Wortspiel) und um dessen Zuneigung sie zuweilen kämpfen muss, denn Chat hat mehrere Domizile. Ansonsten schaut Natalie mit Begeisterung fern, wobei es unbedingt Live-Sendungen sein müssen. Ob »Wetten, dass…?«, einen Live-Stream zu einem gerade beendeten Amoklauf oder eine Sportübertragung – mit Livesendungen fühlt sich Natalie in der Welt aufgehoben; ein Teil des Universums. Wenn sie liest (was eher selten geschieht) dann Stephen King. Mit John Updike, der Schriftstellerheld ihres Ex-Freunds Markus, kann sie nichts anfangen. Salingers »Fänger im Roggen« war ihr »zu laut«.
Der Innerlichkeitsverstärker
Natalies wichtigster Gegenstand ist das iPhone. Es dient ihr nicht nur als Fotoalbum, Tonbandgerät (sie nimmt damit unter anderem Gespräche und Geräusche vom Streunen auf, die sie auf ihrem Rechner später kompiliert), Fernseher (CNN-Livestream), Personenspeicher, Spielgerät (Computerspiele und auch »Unangenehmes Gespräch« – eines ihrer »Vergnügungen« – ein für den Zuhörer peinliches, fiktives Gespräch führen), Stoppuhr (»Verfolgen«) und Musikbox (Underworld mit »Bird 1«, Pick a Bale of Cotton"> und auch überraschend unspektakulär wie »Inner City Blues«, »People Have The Power« und vor allem »You Are The Wind Beneath My Wings«). Es ist ihr Innerlichkeitsverstärker, ein unverzichtbares Lebens-Mittel. Einmal leckt sie es sogar ab. Nicht auszudenken, wie die Innerlichkeitsprosa der 1970er/1980er Jahre mit iPhone ausgesehen hätte. Es gibt kaum eine Handlung Natalies, in der nicht das iPhone eine Rolle spielt. (Interessant, dass ein äquivalentes Smartphone für sie unbrauchbare Ergebnisse liefert, wie in einer Szene mit einem Zivildiener sichtbar wird.)
Sie nimmt mit dem iPhone auch ihre eigenen Essgeräusche auf, als »Allradantrieb« und, interessant, »Ohrwurm-Cleaner« und hört sie unter anderem beim Joggen und Einkaufen. Setz inszeniert geradezu Natalies Paradoxien der Wahrnehmung, was beim Leser zunächst eine Mischung aus Neugier und Erstaunen hervorruft. Von Ferne fällt einem Arno Schmidts Diktum vom »porösem Erzählen« ein: »Die Ereignisse unseres Lebens springen vielmehr. Auf dem Bindfaden der Bedeutungslosigkeit, der allgegenwärtigen langen Weile, ist die Perlenkette kleiner Erlebniseinheiten, innerer und äußerer, aufgereiht.«
Setz beruft sich allerdings mit seinen »luminous details« (leuchtende Einzelheiten) explizit auf Ezra Pound. Und so entwickeln die scheinbar unzusammenhängenden Kontraste der Wahrnehmungen Natalies ein Ziel, ein Programm. Es gibt Tötungs- und Quälphantasien an der Supermarktkasse oder im Wohnheim, der Wunsch einem Engel die Augenlider abzureißen, das Faszinosum von Orten mit Obdachlosenurin-Gestank oder Natalies Moment-Bedürfnis an einen Hundekothaufen zu lecken. »Sekundenlange Halbzwangvorstellungen« und »Pingpong von Bildern im luftleeren Raum«. Eben noch (scheinbar) »normal«, zeigt sich in Natalie plötzlich das Absurde, das Komische. Beispielsweise ein Traum, dass ein Tischtuch kein Tischtuch sondern ein Dienstag ist. Bauarbeiter mit ihren Helmen werden zu »Raumschiffbesatzungen«. Einmal das Empfinden einer »weltallhaltigen Zeitlupe«. In einem Treppenhaus riecht nach Reinigungsmitteln »statt nach Zinsertrag«. Bleistifte werden nicht nach Grösse sondern Geruch sortiert. Der Husten von Natalies Vater »kam über ihn wie eine Landschaft«. Eine Frau riecht »schießpulverig« und »straßenrandig«. Schnecken sind »langsam wie Kometen«. Wörter sind »irgendwie gewellt und lockig«.
Im besten Fall strahlen diese Wahrnehmungen in einem »seltsamem Licht« (auch dies ein Zitat), irritieren den Leser nachhaltig und fruchtbar. Etwa wenn in einer kurzen Episode über den vermeintlichen Krebs von Natalies Mutter erzählt wird. Sie schien von der Erwartung des nahenden Todes seltsam beruhigt, empfand eine Art Erlösungsstimmung und als schließlich die negativen Testergebnisse vorlagen, ging das »Bangen« (das Leben) dann wieder weiter. Grandios dieses Bild als ein Klient mit einem Zivi eine Art Schachspiel auf einer defekten Dartscheibe spielt: »Die beiden Männer blickten konzentriert auf die Scheibe und steckten, im Takt undurchsichtiger Spielregeln, abwechselnd Pfeile in die winzigen Löcher der Scheibe«, »jeder in seiner eigenen Blase«. Sehr hübsch, wenn über die Besonderheiten von Oktopussen berichtet wird und dann etliche Seiten später jemand versucht eine Bananenschale in der Toilette abzuspülen, was jedoch nicht geling und diese nun wie ein Oktopus aussieht.
Wie eine Rummelplatzfigur
Aber leider wirkt es doch in der Fülle zuweilen arg bemüht, beiläufig hingeworfen, wie gut geölte Pointen, die eher schon wieder Interpretationen sind, was die Lektüre so sehr erleichtert, denn irgendwann ist es eigentlich egal, was Natalie gerade gesehen oder gedacht hat, weil es nichts zum Roman beiträgt, sie nur immer wieder auf Neue ausstellt wie eine Rummelplatzfigur im Kuriositätenkabinett. Die »Witzelsucht«, sie Natalie bei Hollberg einmal manifest macht, befällt den Autor Setz in Bezug auf Natalie leider zu oft.
Da nahezu ausschließlich personal aus Natalies Sicht erzählt wird, verfällt auch der Leser zuweilen Fehlkalkulationen und Missinterpretationen der Protagonistin. Dabei bleibt er allerdings einmal vom Erkenntnisprozess Natalies ausgeklammert: Als es um die voluminösen Zeichnungen Mikes geht, die er mit Kajalstiften oder ähnlichen Maluntensilien in den Wohneinheiten des Heimes an den Wänden fast überfallartig entstehen lässt. Ihre (sexuelle) Monstrosität wird dezent angedeutet, aber was zu sehen ist, bleibt offen. Andere Geheimnisse bleiben auch Natalie verborgen. So erfährt sie niemals, wem das gefundene iPhone gehört, auf dem ihr Bild als Bildschirmschoner gespeichert ist.
Vollkommen geheimnislos bleibt hingegen Natalie, was sich im Roman daran zeigt, dass von den ihren Wahrnehmungsbildern sanft aber stetig immer mehr auf die Geschichte um Dorm und Hollberg gezoomt wird. Hier übertreibt es Setz, etwa wenn er die Übergriffigkeit Hollbergs gegenüber Natalie mit deren Faszination der Geschichte gegenüber entschuldigt. Oder wenn Natalie schließlich in Hollbergs Haus einbricht. Gänzlich misslungen ist der fast klamaukhafte Schluss (der nicht verraten wird).
Der Titel des Buches ist doppeldeutig. Zum einen spielt er auf Dorms Misogynie an, die durch Natalies androgyne Figur noch verstärkt wird. Dorm verglich Frauen mit Gitarren. Zum anderen gibt es die schönste Stelle im Buch als Natalie in einer Winternacht durch die ausgestorbene Straße geht und zum ersten Mal fast zur Ruhe zu kommen und mit der Welt im Einklang zu sein scheint: »Es war diese menschentwöhnte Stunde der Nacht, wo man auf der Straße stehen bleiben und an einer Häuserfassade hinaufblicken konnte, ohne etwas zu begreifen. Als hätte man als einziger Mensch Weihnachten und die Mondlandung verpasst. Lichter, Jalousien, Fensterkreuze. Die Stunde zwischen Frau und Gitarre«.
Die 1019 Seiten lesen sich leicht, fast unterhaltsam. Naturgemäß enthält das Buch eine Fülle von gewollt oder ungewollten Anspielungen und (literarischen) Vexierspielen. Ein hübsches Spielfeld für Social-Reading-Mitmacher, aber am Ende wohl eher für Leser und später dann Germanisten. Ein bisschen Exzentrik der Hauptfigur hier, ein bisschen Splatter und Suspense dort und dann doch der »Veschrobenheitsfaktor« (faz.net-»Quartett«) – insgesamt hat man das Gefühl, dass der Autor mit diesem Roman hinter seinen Möglichkeiten zurückbleibt. Immerhin gibt es Passagen, die dem braven Realismus der heutigen Schreibschulautoren wohltuend diametral entgegenstehen. Und es ist vollkommen unpolitisch (übrigens ein Kennzeichen von Innerlichkeitsprosa). Beides ist sehr angenehm.
(PS: Ich weiss. dass es »Setzs« statt »Setz’ « heissen müsste.)
Ich hab den Duden jetzt nicht extra bemüht, vielleicht sind mir da einige neue Regeln entgangen, aber meines Erachtens ist »Setz’ « tatsächlich der korrekte Genitiv, »Setzs« hingegen wäre genau falsch. Alternativ ginge höchstens noch »Setzens«, was aber auch bescheuert klingt.
Zwei Quellen hatten mir mit dem Brustton der Überzeugung versichert, dass »Setz’ « falsch sei. Jetzt hab’ ich mal nachgeschlagen, und es scheint tatsächlich richtig zu sein: Regel 16. (Der seltene Fall, wenn Sprachgefühl und Regel übereinstimmen.)
Mich hat von der ersten Seite an einiges an dem Roman gestört. Einmal diese ganzen Suspense-Momente auf dem Niveau eines Jerry-Cotton-Heftchens, dann die Superlative, aber nicht die bernhardschen, liebenswerten, sondern die effekthaschenden, die singulären Idiosynkrasien. Und trotzdem hat mich das Buch sofort in einen Sog gezogen, lebte praktisch für einige Tage in Natalies Welt. Sagt mir das jetzt, dass Setz ein guter Autor ist, der seine Mittel (noch) nicht masshaltig einsetzen kann? So erschien es mir auf jeden Fall. Beim Epilog sind ihm dann völlig die Pferde durchgegangen. Trotzdem ist das Buch aufgrund seiner vielen kleinen Miniaturen unbedingt lesenswert. Von dem etwas gereiften Autor könnte man noch Großes erwarten.
Tatsächlich ist der Mittelpunkt Natalies Welt das iPhone. Aber trotz der allgegenwärtigen Kommunikationszentrale erscheint Natalie unendlich einsam, nur durch ihre Überdrehungen kaschiert. Ihr geliebter Bruder in Dänemark hat gerade ein paar Minuten beim Zahnarzt für sie (Telefon-)Zeit, Vater und Mutter sind mit sich selbst beschäftigt. Die Nachbarn tauchen bis auf einen kurzen Gruß im Treppenhaus nicht auf, machen beim Schellen nicht auf. Nur das (sich ständig ändernde) Spielzeug der Kinder vor der Tür zeugt von ihnen. Sie trennt Paare auf der Straße, findet selbst nur beim »Streunen« kommunikationslose Kontakte. Sie vermutet fälschlicherweise, dass B sie liebt, Astrid gibt sich verständig, will sich aber, als es ernst wird, sofort von ihr trennen. Davon ausgenommen sind die Figuren Markus, Mario und Frank. Der den sie möchte, hält sie auf Distanz, der der sie möchte hält sie auf Distanz (Deutsch als Fremdsprache) und nur der schluffige Markus hat noch eine lose Beziehung zu ihr. Selbst um die Zuneigung der Katze muss sie buhlen. Und so ist sie ständig mit sich beschäftigt, wer nicht schnell genug reagiert, ist langweilig. Kommunikation als Zweck zur Selbstvergewisserung. So sollte man den Epilog dann wohl verstehen.
Ja, sehr gut zusammengefasst. Die Frage bleibt, ob Setz gleichzeitig auch ein Generationen- oder sogar Zeitgeistportrait verfassen wollte. Dann käme es unter Umständen auf die letzte literarische Qualität nicht an – der Roman wäre sozusagen irgendwann zeitgeschichtlich, exemplarisch relevant.
Gibt es eigentlich sowas wie das deutschsprachige Gegenstück zur Great American Novel (Franzen, pah!) ? Die Buddenbrocks ja wohl nicht. Oder vielleicht hat Setz sogar, fällt mir gerade (apropos Updike) erst beim Schreiben ein, sowas wie einen Rabbit-Zyklus vor? Das wäre wirklich interessant (mit updikescher literarischen Qualität).
Schwierig zu sagen, vor allem wenn man an die Gegenwart denkt. Bei der Great American Novel fällt mir ja Franzen eher als Nummer drei oder vier ein. Vorher kommen Roth, Updike und vor allem Richard Ford, die in ihren Zyklen die jeweilige Zeitströmung mit einfliessen liessen. In der deutschen Gegenwartsliteratur fällt mir spontan nur Michael Kleeberg mit seinen beiden »Karlmann«-Romanen ein (»Karlmann« 2007, »Vaterjahre« 2014). Da ist sicherlich noch nicht Schluß (»Vaterjahre« endete im September 2001). Wenn man kühn wäre, könnte man auch Sven Regeners Lehmann-Zyklus erwähnen.
»Den« Epochenroman in deutscher Sprache – das ist schwierig. Wenn ich ehrlich bin, habe ich Peltzers »Das bessere Leben« als einen solchen Versuch gelesen: ein Mittelschicht-Babyboomer-Roman, eine Art Zwischenbilanz. Was hierfür vielleicht notwendig ist, ist ein gewisser zeitlicher Abstand. Peltzers Roman spielt 2006, also vor der Weltwirtschafts- und Finanzkrise. Und doch ist ein gewisses Unbehagen spürbar. Was nicht in diese Epochendarstellung passt, ist die Sylvester-Figur (es sei denn, er dient als eine Art Mephisto).