Tausendseitige Romane haben etwas von Expeditionen oder Bergbesteigungen. Man geht los, voller Vorfreude und schwungvoll, sammelt sorgsam Eindrücke und gerät in Stimmung. Hier und da bleibt man stehen und bewundert ein schönes Panorama oder eine besondere Stelle. Irgendwann wird die Kondition gefordert. Man unterbricht die Tour, ist erschöpft; noch überwiegt die Neugier auf den weiteren Weg. In weiterem Verlauf wird man verzagt, schleppt sich über die Strecke, genießt die ein oder andere schöne Aussicht, die zum Weitermachen animiert. Die Etappenziele werden kürzer, aber schließlich erreicht man das Ziel, ist ein wenig stolz aber auch gleich wieder in Sorge um den Rückweg. Jetzt zeigt sich, ob die Orientierung ausreicht.
Orientierung braucht man in dem Konvolut der Notizen, die sich der Leser während der Lektüre von Clemens Meyers Die Projektoren gemacht hat. Zumal es nicht einen durchgängigen Plot gibt, sondern mehrere, verschachtelte und häufig in skurriler Art ineinander verwobene Handlungsebenen. Dennoch versucht man am Ende eine Gliederung zu finden. Ja, da ist die Geschichte des wegen seines John-Wayne-Halstuchs allgemein »Cowboy« genannten Mannes, 1929 geboren, der als Kind den Einmarsch der Deutschen in Jugoslawien und das Massaker von Novi Sad mit den in der Donau schwimmenden Toten hautnah miterlebt. Auf einen Schlag – es ist datierbar – bricht die heile Welt des schönen »Sonntagslichts« zusammen, die Spaziergänge und Kinobesuche mit dem Vater, der ein Experte der amerikanischen Stummfilmdarsteller war. Der Junge, derart »mutterlos und vatersuchend« geworden, schließt sich den Partisanen an, wird Meldegänger aber der Sieg des Marschalls bringt keine Besserung. Er eckt an, gilt als abtrünnig, wird auf Titos »Insel« deportiert, ein Lager für politische Gefangene, wird gefoltert, aber er lernt, zu überleben. Dieser Cowboy kommt nun mit einem »Landarrest« 1957 an den Tulove grede, ins Velebit-Gebirge, quartiert sich bei einem Schäfer ein und will einfach nur seine Ruhe haben. Ein paar Jahre später kommen die Deutschen wieder, drehen genau an diesem Ort zwischen 1963 und 1968 neun Westernfilme nach Dr. May, den der Cowboy schon aus der Bibliothek des Vaters kannte.
Er fungiert als Statist, Übersetzer (deutsch und englisch), Faktotum am Set, lernt sie kennen, die Helden, den Winnetou, Pierre Brice und vor allem Old Shatterhand, Lex Barker, der Mann mit der Silberplatte im Kopf und Nachfolger von Johnny Weissmüller, hier nur »LEX« genannt. Schließlich strandet der Cowboy in den Siebzigern in Deutschland, schreibt Western-Groschenromane unter dem Pseudonym D. R. Fallmer (nach dem Orientalisten Fallmerayer) und wir bekommen einen Einblick in diese Schreiberwelt vor dem Hintergrund der Fußball-Dominanz von Borussia Mönchengladbach. Viele Jahre und hunderte Seiten später ist dieser Cowboy in Osijek, kämpft kurze Zeit im zerfallenden Jugoslawien auf der serbischen Seite, um dann abermals viele Jahre und etliche Seiten weiter mit einem Wanderkino mit Karl-May-Filmen und Stummfilmklassikern über die Balkanroute in den Orient zu fahren, um die Tochter seiner Schwester, die einst auf Seiten der Kroaten gekämpft hatte, zu suchen und zu seiner Schwester zurückzubringen. Da ist der Cowboy, dessen Namen der Leser auf Seite 1009 erfährt, 86 Jahre alt.
Eine weitere Hauptfigur ist der ständig als »Dr. May« apostrophierte Karl May, der »Märchenerzähler«, wie ihn die Groschenromanautoren abfällig nennen, mit seinen Werken und vor allem Verfilmungen präsent und eine stetige Verbindung zwischen einzelnen Figuren. Besonders plastisch werden die diversen Aufenthalte in der »Irren-Hilfs-Heil- und Pflegeanstalt des Dr. Güntz zu Leipzig-Thonberg« ausgeführt; die Klinik wird im Roman zu einer Art Schaltzentrale, von der einige Ereignisse ausgehen oder enden. Man erhält einen Einblick in die Neonazi-Szene in Deutschland, insbesondere auch der DDR, die Mitte der 1980er Jahre in und um Leipzig herum entsteht und nach der Wende vor allem in Übergriffen in Hoyerswerda und Rostock kumulieren, was dem Leser nach den Schilderungen der Vorgeschichten jetzt weniger mysteriös erscheint als zuvor. In Person eines Doktor Sterner, der mal an Götz Kubitschek, mal an Jürgen Elsässer erinnert, wird der Bogen in die Gegenwart weitergesponnen, während zwischendurch ein ominöser Hadschi mit grünem Turban durch Zwickau taumelt und schließlich einen China-Imbiss in »Amerika/Sachsen« findet.
Vielleicht ist der wichtigste Protagonist in diesem Roman das Land Jugoslawien. Immer wieder werden Figuren aus diesem Land mit ihrer Volkszugehörigkeit vorgestellt. Nein, in Die Projektoren gibt es weder Tito- noch Jugo-Seligkeit, aber in diesen teilweise verästelten Herkunftsnachweisen zeigt sich der Grad der Vermischung, der politisch immer wieder instrumentalisiert wurde – mal in diese, mal in jene Richtung. Meyers Blick ist ungeschönt, desillusioniert (wobei er vermutlich nie »illusionär« war), dringt in die mafiösen Strukturen Postjugoslawiens ein, wobei er für real existierende Personen Decknamen, teilweise aus dem Karl-May-Kosmos, verwendet, so ist etwa der »Schut« der Gangster, Warlord und Kriegsverbrecher Željko Ražnatović, der, so legt es der Roman nahe, über seinen Tod 2000 hinaus noch für die Ermordung von »Z«, dem serbischen Ministerpräsidenten Zoran Đinđić, beteiligt gewesen sein soll. Und es gibt einen »stillen Hahn«, und wer das ist, hat sich mir nicht erschlossen, aber das liegt an mir.
Da sind auch diese Zeitachsen. Bisweilen lässt der unzuverlässige, allwissende Erzähler die Protagonisten Augenblicke erleben, die in einer Zukunft spielen. Etwa als der Cowboy Mitte der 1950er Jahre bei einem zerfetzten Wolf eine Mine entdeckt, die erst vierzig Jahre später im Bürgerkrieg eingesetzt wurde. Oder es hört jemand plötzlich Ausschnitte aus der Amselfeld-Rede von Slobodan Milošević von 1989. Einem Journalisten gelingt es 2015 ein Exemplar eines rechtsradikalen Magazins mit einem Winnetou-Cover aus dem Jahr 2022 durchzublättern. Ist das mit »Projektoren«, die dem Roman den Titel gaben, gemeint? Sind es Filmprojektoren, jene »Zeitmaschinen, die aus der Wirklichkeit führen,« die nicht nur in der Vergangenheit aufgenommene Filme abspulen, sondern eben auch in bestimmten psychedelischen oder sonstigen Augenblicken Ausblicke in die Zukunft erlauben? Blicke, die selten hoffnungsfroh stimmen.
Spät im Roman bietet sich eine andere Lösung an. Der mysteriöse Dr. Sterner, der ständig Preßburg statt Bratislava, Neusatz statt Novi Sad sagt, hat auf seiner Visitenkarte »Verleger, Historiker, Projektor« vermerkt und erklärt, ein Projektor sei jemand, der »das Licht« lenke. Sind damit demzufolge konspirativ agierende, umstürzlerische Weltenlenker gemeint? Sind dies die »Projektoren«? Ein Umberto-Eco-haftes Gespinst?
Am Ende des Buches nennt Meyer einige zitierte Stellen von anderer Literatur, die im Roman kursiv gesetzt sind. Da taucht kurz Ernst Jünger auf. Oder Mathias Enards Zone. Unabhängig davon verwendet er auch die Motivik. So sind die Schilderungen der Kriegs- und Massakerwirren von Novi Sad aus Aleksandar Tišmas Buch Blam verarbeitet. Die Schilderungen sind expressiv und dröhnend, dann wieder mystisch oder, ein, zwei Gänge zurückgeschaltet, getragen. Man folgt danach seitenlangen Schilderungen über den Cowboy und der Hütte, die er zusammen mit dem Schäfer bewohnt, den er anfangs lächerlich macht und später verehrt. Und dann die Liebe des Cowboys zu Negosava, die Frau des Widerstandskämpfers Jaro, die ihn gefunden hatte und pflegte. Etwas Gossip und einige ausführliche, lexikonähnliche Eintragungen zu den Karl-May-Filmen liefern kurzzeitige Erholung (die allerdings trügerisch ist). Einmal wird eine Bibliothek aus kleinen Heftchen aus einem Verlag in Leipzig um 1900 zu einer anderen Weltbibliothek à la Borges phantasiert. Mit diesen scheinbar zusammenhanglos-ruckartigen Perspektivwechseln erinnert Die Projektoren zuweilen an Roberto Bolaños 2666.
Allerdings lässt die rasch einsetzende Suche nach Parallelen in der Weltliteratur den Leser ähnlich sphärisch abschweifen wie es der Autor in seinem Roman macht. Er führt in die Irre und hemmt die Aufnahmefähigkeit. Sicher ist, dass Clemens Meyer kein poetisches Buch geschrieben hat. Die Projektoren ist ein »Echo aus Bildern und Erinnerungen und Wiedererlebtem« (Selbstbeschreibung im Roman; gut versteckt), aber kein filigranes Wortkunstwerk. Auch vermisst man die so häufig in der Gegenwartsliteratur auftretenden Idiosynkrasien der Protagonisten. Meyer verweigert sich diesem literarischen Zeitgeist. Dieser Roman ist wie seine Figuren sperrig, bietet dem Leser wenig Identifikationspotential. Es gibt keine Botschaft, keine These, keine Moralpredigt, kein Nature-Writing. Hier malt niemand einen Cézanne oder Van Gogh nach. Meyers Prosa, die, wie es einmal in anderem Bezug heißt, »aus den Worten hervortretend, aus den Bildern fallend« und »wie schwarzer Hagel« auf den Leser niederprasselt – das erinnert an die Gemälde von George Grosz. Sonnenfinsternis etwa, The Stick Man oder Metropolis, um nur einige zu nennen. Man sollte die Lektüre mit einer Dia-Show dieses Künstlers untermalen.
Die Projektoren ist Augenblicksprosa, die fortlaufend Stimmungsmonumente produziert. Die Protagonisten sind dabei in fast griechischer Art dem Schicksal ausgeliefert. Etwa wenn sich zwei Kämpfer, Tronka und Franko, die miteinander verwandt sind, was sie allerdings nicht wissen (und der Leser auch erst gegen Ende erfährt), in der Bibliothek von Osijek während des Beschusses durch serbische Artillerie fast gegenseitig umbringen, bevor sie miteinander ins Reden kommen und sich dann ihre Wunden versorgen ohne zu wissen, wie es weitergeht. Selbst dann, wenn sie sich scheinbar frei für etwas entscheiden, erliegen die Meyer-Figuren häufig Täuschungen, ob diese nun Nationalismus, Faschismus, Okkultismus oder Sozialismus heißen. Sie zappeln an unsichtbaren Fäden (von »Projektoren«?), werden in Abgründe geführt oder, manchmal, gestossen, mit Rätseln konfrontiert, die man nur als Irrer bewältigen kann, in dem man zum Beispiel auf die Anstaltswänden verrückte Zukunftsprognosen kritzelt, wie es der »Fragmentarist« macht. Oder in dem man Märchengeschichten von der Versöhnung schreibt, wie jener Dr. May und sich diese im »Bioskop«, dem Kino, mit kindlicher Naivität hingibt.
Hätte man den Roman besser verstanden, wenn man eine Art Figuren-Stammbaum entwickelt hätte? Mit einer entsprechenden Zeitachse? Oder liegt die Faszination von Die Projektoren gerade darin, dass sich die Geheimnisse und Mysterien auch beim wiederholten Stellenlesen nicht vollständig erschließen? Meyers Buch ist bei aller ostentativen Expressivität und Wildheit präzise gebaut; wie auch die Bilder von Grosz, die niemals im Überschwang entstanden sind. Nichts ist hier dem Zufall überlassen. Der magische Realismus lebt, aber es ist eine andere Magie, die Magie einer einsichtsvollen Trostlosigkeit. Im jugoslawischen Bürgerkrieg lässt der Cowboy seinen Holzquirl, den er in Kindertagen für seine Mutter zu schnitzen begonnen hatte und der ihm dann mehr als 50 Jahre als Talisman dient, absichtsvoll in die Donau fallen. Dieses Bild, wie beiläufig erzählt und fast überlesen, lässt einem nicht mehr los.