Eine wilde, alptraumhafte Erzählung von einem Mann, der an ein Bett gefesselt, fixiert ist und gerade deshalb schier ungeahnte Kräfte bekommt, beginnt mit dem Bett zu reiten, es bewegt sich sogar und er schreit. »Gewalten«. Dabei Gedankenflut, Galopprennen, Bars, besonders das »Brick’s«, die ewigen 89er, die zur Nikolaikirche pilgern. Leipzig also. Hilflosigkeit, Verzweiflung gepaart mit Trotz und Auflehnung. Eine Schwester kommt, er spuckt ihr ins Gesicht (eine Kunst aus dieser Entfernung und diesem Winkel) und sie kommen mit einem Kissen, welches sie ganz langsam auf sein Gesicht legen und etwas Warmes schießt in seinen Arm, Erinnerung an New York, den Maler Paule Hammer (sein Bild »AUA« ist das Cover des Buches) und später dann ein Ich bin noch da, ihr Schweine.
Eine neue Geschichte, einige Monate später. Der Leser erfährt über die Zwischenzeit nichts. Der Erzähler will sich mit einem Mann am Leipziger Bahnhof treffen, einem Interessenten für Filmdrehbücher. Die ganze Szenerie im Bahnhof ist nahezu kafkaesk, der Agent sucht das schlechteste Café aus, spricht leise, man fachsimpelt über Filme, Regisseure, Peckinpah, Bogdanovich, Szenen, beide sind Kenner, der Fremde verlässt das Café für zehn Minuten und kommt plötzlich mit einer Mappe wieder. Dann ein Schnitt. Plötzlich in seinem verdunkelten Zimmer, sozusagen vergraben, Bilder an der Wand, die grinsen, Abu Ghraib, Guantánamo und die Geschichte von K. Ein moderner K. und der Erzähler erleidet mit, die Demütigungen. Reminiszenz an Charlie Chaplin in »Modern Times« in den riesigen Zahnrädern und dann die Realitäten der Wohnung, die Zigaretten, die er wegspült und dann kurz danach sucht, ob er nicht eine daneben geworfen hat. Der Fall K. als »M.A.S.H.«-Film? Gedanken zum Islam, zum Glauben (ich kann das nämlich nicht mehr), Goethe und sein Respekt vor dem Koran (große Dichtung!). »My film is Guantánamo« wird Coppola paraphrasiert. Und dann verschmelzen alle Figuren, die privaten, die Leute auf den Fotografien, die Frau, die einen Häftling aus Abu Ghraib an der Leine führt und plötzlich ist er K., sieht sich Verhörleuten gegenüber; deliriert. Die Entspannung dann: das Gefühl, in seinem Zimmer beobachtet zu werden, wie in einem »Bernstein« eingeschlossen.
Second Life für Amokläufer und leuchtende Sätze
»German Amok« beginnt wie ein Amoklauf. Ein Ich-Erzähler in einem guten, schwarzen Ledermantel begegnet einem Kleindealer. Ein paar Sekunden später reißt es ihn von den Beinen, der Typ fliegt regelrecht durch die Luft. Weiter in Richtung eines Gebäudes, eine massive Holztür macht das Eintreten bzw. Einschießen schwer. Der Leser stutzt, weil das Gebäude meinem alten Gymnasium ähnlich sieht. Durch den Hintereingang nun endlich mit Pumpgun und Glock. Jetzt wird abgerechnet, die Wichser schreien vor Angst, aber da kommen… schon die Bullen. Natürlich: Die Ermordung des Dealers hat die Polizei angelockt. Schusswechsel, er wird getroffen, der stille Hilferuf ich bin doch noch fast ein Kind; ein zweites Mal, paar nehm’ ich noch mit. Man denkt schon, wie flach ist das denn, eine Schilderung eines Amoklaufes an einer unbekannten Schule und dann plötzlich GAME OVER. Alles nur ein Spiel.
Nur?
Ja, »German Amok« ist ein Spiel und der Erzähler ist fasziniert von diesem Spiel, sitzt seit Wochen vorm Rechner. Das ist natürlich keines dieser primitiven Ballerspiele, in denen die Köpfe fliegen und die Innereien nur so quellen. Hier dauert es eine Weile, bis es richtig zur Sache geht, bis die Vorbereitungen entsprechend getroffen, die nötige Wut und das dumpfe Gefühl der Ausweglosigkeit endlich erreicht sind und das Aggressionsbarometer nach oben schnellt. »German Amok« ist eine Art Second Life für potentielle Amokläufer, für die zornige Jugend, die sich betrogen fühlt. Die Pseudonyme mit ROBERT oder Eric und Dylan sind besonders beliebt. Es gibt ein kleines Internet in dieser Parallelwelt, in dem Abschiedsvideos gedreht werden und wehe, man stellt das Video zu früh rein oder man schlägt Papis Waffenschrank zu laut ein oder bringt gar unmotiviert die Eltern um – dann ist wieder GAME OVER.
Meyer erzählt dieses virtuelle »Terrordrom« (Tim Staffel) einerseits lakonisch, anderseits sehr stark assoziativ. Nur scheinbar ein Widerspruch. Die Figur erinnert in seiner ausweglosen Zärtlichkeit an Martin von Arndts Kovács aus »ego shooter«. Die Intellektualität der Xaver-Bayer-Hauptfigur aus der Erzählung »Engagierte Literatur«, in der ein Autor über die Möglichkeit eines Amoklaufes reflektiert, Reaktionen hierauf antizipiert und den ganzen Vorgang kühl und intellektuell durchrechnet (die Quintessenz für ihn lautet: »Ich werde getan haben, was ich nicht nicht getan gedurft haben werde«), besitzt er nicht, was die Erzählung dichter, fast aufdringlich macht. Es bleibt im Dunkeln, ob die Sublimierung des virtuellen Kampfes, der immer nur nach weiterer Perfektion strebt und niemals an ihr Ziel gekommen sein wird, die reale Tat verzögert, aufhält oder gar überflüssig macht. Selbst wenn am Ende der Erzählung eine komische Pointe gesetzt wird, bleibt ein vages Gefühl einer Bedrohung, ein unwohliger Schauer beim Leser zurück und diese Erzählung ist etwas Besonderes, fällt ein wenig aus dem Rahmen, steht heraus.
»an, aus, an an, aus«
»Der Fall M« ist eine Ansprache, ein Monolog, gerichtet an einen als Kindsmörder angeklagten pädophilen Jugendlichen. Der Redner versucht einerseits, sich in die Situation des Angeklagten hineinzuversetzen, erinnert sich an die ersten eigenen sexuellen Begierden und Erfahrungen, stellt Parallelen fest, erzählt von seinem Voyeurismus, als er mit dem Fernglas einen Sportplatz beobachtete, auf dem junge Mädchen mit wippenden Brüsten Leichtathletik betrieben, und gleichzeitig grenzt er sich mit seiner eigenen Sexualität deutlich von dem Jugendlichen ab; er sei kein verdammter Pädo heißt es einmal. Er gibt seine Eindrücke vom Prozess wieder, stellt Mutmaßungen über die Untersuchungshaft an, die isoliert zu erfolgen habe, um Übergriffe der anderen Gefangenen zu verhindern. Deutlich ist zu spüren, wie ein Verständnis mit dem Angeklagten geheuchelt wird. Am Ende outet sich der Erzähler als Voyeur was den Mord betrifft, der scheinbar mit ziemlicher Brutalität ausgeführt wurde (ein Trichter spielt eine wichtige Rolle), will wissen, ob er einen einen hochgekriegt habe und plötzlich ist dann doch so etwas wie Mitgefühl da, wenn der Angeklagte Eisen um die Handgelenke bekommt und sofort die Fixierung in der Anstalt assoziiert wird, nur einige Monate ist das her.
Elegisch und surreal wird in »Auf der Suche nach dem sächsischen Bergland« das Sterben eines BB erzählt, der abgemagert und bettlägerig, todgeweiht im Krankenhaus liegt und gepflegt wird. Nur noch Ausflüge auf den Balkon zum Rauchen und Trinken sind möglich; die Schwestern heißen Krankenschwestern, auch wenn die Krankheit das Sterben ist. Der Erzähler rekapituliert dies auf dem Weg zum sächsischen Bergland, zu einem Punkt V, an dessen Scheitelpunkt der ideale Standpunkt sein soll. Auf dem Weg dorthin steht auch ein Haus, ich bin als Kind mehrmals in diesem Haus gewesen, das ist alles, was ich noch weiß, ein heute verfallenes Haus. Und wieder beginnt es auf dem Leipziger Hauptbahnhof, denn es muss erst die Ausgangsstation mit der Bahn erreicht werden. Er versucht, eine Fahrkarte am Automat mit lauter 10 und 20 Cent-Stücken zu erhalten, was misslingt. Und so schlendert er durch den Bahnhof, sieht all diese Läden, die Züge rollen durch Aldi und Plus, beobachtet Kundschaft in einem Friseurladen und setzt sich schließlich in die kleine Bar wo die Toten sitzen. Dort begegnet er dem verstorbenen Freund BB und es beginnt nun eine Erzählung von abgrundtiefer Traurigkeit, von Bukowski, vom Winken, von Freundschaft, vor allem vom Abschied (und von der eigenen Feigheit davor), dem letzten Händedruck, er spürt noch einmal sein L e b e n , aber seltsamerweise ist das überhaupt nicht wehleidig oder sentimental, so klar leuchten die Sätze.
Typisch hier wie in fast allen Erzählungen dieses Bandes: Der Leser kann am Anfang nicht vorhersagen, wo und wie die Geschichten enden, zu heftig diese Gravitationsstrudel, die zu Handlungsstrudeln werden. Dennoch ist dieses mäandernde Erzählen kein geschwätziges oder gar langwieriges Abschweifen. Meyer gelingt es, einen fesselnden Sog zu erzeugen, der die Handlung wie von selbst trägt (das ästhetische Ideal des geplanten Guantanámo-Films), den Leser mitnimmt in dieses Paralleluniversum, wenn die Tore oder die Portale sich öffnen, diese Sekunden-Stunden. Es entstehen Momente der gesuchten Stille, Klarheit. Und es entstehen für Augenblicke sogar Idyllen, die beschworen werden: Ich will mein (erdachtes? geträumtes? NEIN) Idyll zurück. Aber wie so oft werden diese Idyllen fast nur im Fehlen präsent, immer wieder treibt ihn die Suche nach der verlorenen Sehnsucht. Und so rattert es im Autor immer weiter, wie fast exemplarisch an einem Lichtschalter gezeigt wird, mit an, aus, an an, aus und wenn der Schalter auf dem Grat zwischen an und aus verharrt summt und brizzelt es.
Spiel mit dem Ich
Zwar handelt es sich jeweils um elf abgeschlossene, aus sich heraus verständliche Erzählungen, aber schon der Untertitel »Ein Tagebuch« legt die Verbindung nahe. Tatsächlich wird fast chronologisch erzählt (von Silvester 2008 in der psychiatrischen Anstalt bis November 2009); nur der erste Teil der letzten Erzählung greift noch einmal in den August zurück. Der Erzähler wird mehrmals »Clemens« oder »Meyer« genannt oder nennt sich selber so. Es wird also bereitwillig die Interpretation der Verschmelzung zwischen Clemens Meyer und dem Ich-Erzähler angeboten, was naturgemäss nicht ganz unproblematisch ist, weil die Grenzen zwischen Erlebnisbericht und Fiktionalisierung verschwimmen; eine oft betäubende, manchmal sogar vergiftete Gabe, die von Kritik und Publikum aber immer wieder gerne angenommen wird. Meyer versucht offensichtlich aus der Not eine Tugend zu machen, will mit Fiktion und Realität spielen, sich nicht mit übermäßiger Verfremdung abmühen, wahrt jedoch sehr wohl auch Distanz. Denn wer genau liest mag feststellen, dass nicht alle Geschichten den offenbaren Schluss »Ich = C. M.« nahelegen.
Der Zusammenhalt der einzelnen Erzählungen hin zu einer Art Episodenroman (man sollte die negative Konnotation dieser Kategorie endlich aufheben) wird durch die Setzung bestimmter Motive noch verstärkt. Einige Nebenmotive (beileibe nicht alle) schaffen es dabei einmal zum Hauptmotiv, bevor sie dann, in einer anderen Erzählung, wieder in den Hintergrund treten. Beispielsweise das in einem Galopprennen am Start reiterlos gewordene Pferd (verloren auf ihn gesetztes Geld, und, schlimmer: die Hoffnung) – zunächst in »Der Fall M«, dann im ersten Teil der Erzählung »Tribüne«, die auf der Leipziger Galopprennbahn spielt und die Verstrickungen des Erzählers in die Pferdewettszene schildert (wobei »Szene« vielleicht übertrieben ist; ab und zu taucht noch eine andere Figur – UKG – auf).
Rennbahnbesucher kennen diese Geschichten, aber eben nicht derart erzählt. Sie handeln von vergangenen Verlusten, entgangenen Gewinnen, Beine[n] wie Gummi, begangenen (Wett-)Fehlern, von den Unwägbarkeiten eines Pferderennens, einem unplanmäßigen Flaggenstart, weil die Startmaschine ausgefallen war, von der »Sportwelt« (der Rennzeitung, die dem Wetter die entsprechenden Informationen liefert), die mit ihren großen Seiten wie Segel…ausgefaltet wird (ein wunderbar treffendes Bild). Die Randgeschichten von Lottosystemen, weil Pferderennen reichen den Zockern nicht; von »Tipp mit«, einer Postille, die akribisch alle Ziehungen auflistet und auch auswertet, Zahlenmystik (Zahlen, das gefährlichste aller Gifte), vom Roulette (später ein Hauptmotiv werdend) und natürlich vom Kleingewinn versprechenden, aber sicheren Black-Jack-System, welches die Spielbanken durch eine Regeländerung unterbanden.
Unterschätzte Städte
Und dann, im zweiten Teil von »Tribüne«, ist man auf den Leipziger Marmorklippen, Sachsen-Chemie Leipzig gegen Lok Leipzig, 5.Liga, das Spiel nach dem Spiel, da, wo es nicht nur um Fußball geht und Leipzig zur geteilten Stadt wird. Die Stadt mit einer Mauer durch Viertel, Straßen, Wohnungen, Fabriken, Straßenbahnen, Familien, Grünanlagen, Eisdielen, Gespräche, Kneipen, Schulen, Köpfe. Eine Mauer, die sprunghaft beweglich und doch verwittert und granithart ist und Hass, Hass, Hass mitbringt. Er, »Chemie«-Fan, mittendrin, fährt auf dem Fahrrad nach Hause, Assoziationen mit Zusammenstössen mit der Polizei, selbsterlebte, gehörte und gesehene; die Bullen auf Pferden (er wettet mit sich, welches Pferd zuerst ankommt beim Angriff; er wettet sehr oft mit sich, und wenn es nur um zwei Regentropfen geht).
In der Erzählung »In den Strömen« erscheint auch BB wieder. Beziehungsweise die Erinnerung an seine SMS, die schon damals, als er noch lebte, Briefe eines Toten waren. Er erscheint in Gestalt seines Bruders, LB, einem Kleinkriminellen, der zu Besuch kommt, just bevor man zu einer Ruder- oder Kanupartie aufbrechen will (hier wird das Kanu oft Boot, das Paddel manchmal Ruder genannt). LB erzählt von seinem Bruch, er wird Vater, will aber nach Mauritius oder auf die Malediven auswandern, auch hier dann Erinnerungen an vergangene Erlebnisse mit dem Erzähler, über gemeinsame Bekannte, wie die lesbische Taxifahrerin, die von ihrem Ex ermordet wurde. Abermals Portale, die sich öffnen und zum Abschied diese Versprechungen und Bitten in Kontakt zu bleiben und man weiß, ohne dass man es je erfahren wird, es wird keine Kontakte mehr geben und es wird nie die Reise nach den Malediven oder Mauritius geben wird und der Erzähler entflieht nun für kurze Zeit seiner Schreibaskese, seine Frau ist zu Besuch, und plötzlich sind sie auf dieser Kanupartie, beobachten die Schmetterlingsmechanik beim Paddeln und auch dort lassen ihn die Bilder nicht los. Ablenkung: Eine Spinne im Mund, Panik (Arachnophobie!), Tigerschnegel und plötzlich eine dramatische Situation, Kinder, die auf dem Fluss treiben sollen, panische Rufe vom Ufer lassen Schlimmes erahnen, aber sie verhallen auch wieder, man kann nichts machen, kommt an der Kleinmesse vorbei, einer Art Kirmes; Meyers Rummelplatz-Liebe. Phantasien von Abwasserkanälen, Untergrundsiedlungen, das Leben in einem B‑Movie der Extraklasse.
Oder der Besuch in der »Stadt M« (schnell erkennbar als Magdeburg), eher ein Streunen. Erst die Rennbahn, eher aus der Entfernung, ein Rennbahnfernseher, der vom Regen zerstört wird und dann wieder den Rummelplatz suchend und dabei an Bielefeld denkend, auch so eine Stadt, die unterschätzt, die gehasst wird, eine vergessene Stadt, die er neulich besuchte und just in diesem Moment, in M, kommt ihm das Schild der Wahrsagerin von Bielefeld in den Sinn, die Schießbuden, seine hohe Trefferquote, siebzig von fünfundsiebzig, die natürlich richtigen Aussagen der Wahrsagerin, mindestens diese, die man überprüfen konnte, und immer muss er weiter, zum Magdeburger Dom, wie immer diese atemlose Eile und hier, im Dom, besonders heftig diese stark obsessiven, Josef-Winkler-ähnlichen, ausladenden, hier so geistvoll-respektlos mit religiösen Symbolen spielenden Sätze (die im Gegensatz zu denen der ersten Erzählung »Gewalten«, heiter und schräg klingen; auch das, dieses Wechselspiel zwischen Verzweiflung und skurrilem Humor erinnert zuweilen an Winkler). Besonders der, als er sich mit dem Weihwasser einen Dönersoßenfleck aus dem Hemd wischen will und irgendwann plötzlich vor einer verschlossenen Tür im Dom steht, die sich dann aber – o Wunder – auf Klopfen öffnet. Und am Ende des Abends, in der Nacht in Wolmirstedt, weil es in M keine Huren gibt, eine Bar, ein Club, verschwimmende Wörter, eine russische Prostituierte und die Erinnerung an ein tschechisches Mädchen mit einer Kaiserschnittnarbe.
Lebensangst und babylonische Plastiktürme
Sätze, die manchmal lang sind, so expressiv und doch ungeheuer leicht, rhythmisch, ja, sehr rhythmisch, nie den Leser zu irgendetwas überredend. Man hat nach jeder Geschichte mehr das Gefühl, diesen Mann dort zu kennen, seine Traurigkeit, die keine Melancholie ist, wenigstens nicht nur, sondern auch immer ein wenig existentielle Lebensangst offenbart. »Kennen« bedeutet hier nicht ein kumpelhaftes Zustimmen, sondern ein Schätzen, ihm »gut« sein, ohne seine Marotten und Allüren zu goutieren. Und man hebt sich die nächste Erzählung auf, will nicht zu viel auf einmal lesen vielleicht weil es sonst giftig wird und vielleicht erfährt man noch, wie es mit seinem alten, manchmal kurz vor dem Tod stehenden Hund weitergeht oder mit LB oder seiner Wett‑, seiner Nikotinsucht.
»Im Kessel« – auf nach Hannover, auch so eine Stadt wie Bielefeld oder M. Dort hatte vor mehr als dreißig Jahren der Großvater in der Spielbank bei Roulette gewonnen. Abermals ein wiederkehrendes Motiv. In einer Mischung aus Naivität und Trotz will er nun das Familienglück bergen und dass die Spielbank inzwischen an einem ganz anderen Ort steht, hält ihn nicht ab. Das Treiben der Spieler dort geschildert wie ein Wimmelbild (eine Krawatte ist nicht nötig, was überrascht), verzagt, besserwisserisch, erregt, aufgeregt. Ein Croupier, dem er alles erzählen möchte und von dem er möchte, dass er ihn auch sofort…sympathisch findet. Die Brünstigkeit des Glücksspiels. Insider-Roulette, »Orphelins«, also »Waisenkinder« oder die »kleine Serie«. Chips (er meint Jetons, sagt aber Chips), die in Plastiktürmen mit Babylon assoziiert werden. Und am Ende hört er auf der Toilette wie sich jemand die Seele aus dem Leib kotzt. Aber getrunken wird dort nichts. Selten ein solch’ schonungsloser, desillusionierender Blick; alles längst kein »Roulettenburg« mehr (viel näher bei Stefan Zweig, aber ohne dessen moralisierende Melodramatik), darüber kann auch der Witz, die Islamisten einfach spielsüchtig zu machen, nicht hinwegtäuschen, eher im Gegenteil.
Die letzten beiden Erzählungen erreichen (zunächst) nicht mehr ganz diese flirrende Intensität. »Undercover und der Kopf« ist eine Art Berlin-Taumel zu Fuß, mit S- und U‑Bahn, mit dem »Mitternachtsfleischzug« am Nachmittag, frühen Abend, vom Güterbahnhof Wilmersdorf über Bahnhof Südkreuz, Bundesallee und irgendwann irgendwie zurück. Der Filmkenner Meyer persifliert das als 2009 – Odyssee durch den Stahlbeton. Und erst auf der letzten Seite, dem zweiten Teil von »Draußen vor der Tür« (nein, hier hat sich nur jemand ausgesperrt und bricht mit seinem uralten Hund zwischen 2.15 Uhr und 3.17 Uhr bei sich selber ein), wenn er mit seinem Hund beim Tierarzt ist, die Hand auf dessen Schnauze legt, der Arzt die andere Spritze mit langer, dünner Nadel holt, dann folgt dieser Satz, der einem den Boden unter den Füssen wegzieht, ein Satz, der den Leser ergreift und diese Szene wird man so schnell nicht mehr vergessen. Und nicht zuletzt, weil man das Buch in der Osterzeit gelesen hat, kommt einem der Schlusschor von Bachs Matthäuspassion in den Sinn (und Scorseses Film »Casino«, als Robert de Niro zu Beginn in sein Auto steigt und das Auto explodiert und de Niro durch eine Feuerwelt taumelt; Imagination von Hölle oder, noch schlimmer, Fegefeuer) und bevor man nun einwendet, ob das nicht alles ein bisschen arg pathetisch sei, hat Clemens Meyer auch hier schon eine Antwort: Was bleibt dir manchmal mehr als Pathos? Recht hat er.
Die kursiv gesetzten Stellen sind Zitate aus dem besprochenen Buch.