Cle­mens Mey­er: Ge­wal­ten


Ei­ne wil­de, alp­traum­haf­te Er­zäh­lung von ei­nem Mann, der an ein Bett ge­fes­selt, fi­xiert ist und ge­ra­de des­halb schier unge­ahnte Kräf­te be­kommt, be­ginnt mit dem Bett zu rei­ten, es be­wegt sich so­gar und er schreit. »Ge­wal­ten«. Da­bei Ge­dankenflut, Ga­lopp­ren­nen, Bars, be­son­ders das »Brick’s«, die ewi­gen 89er, die zur Ni­ko­lai­kir­che pil­gern. Leip­zig al­so. Hilf­lo­sig­keit, Ver­zweif­lung ge­paart mit Trotz und Auf­leh­nung. Ei­ne Schwe­ster kommt, er spuckt ihr ins Ge­sicht (ei­ne Kunst aus die­ser Ent­fer­nung und die­sem Win­kel) und sie kom­men mit ei­nem Kis­sen, wel­ches sie ganz lang­sam auf sein Ge­sicht le­gen und et­was War­mes schießt in sei­nen Arm, Er­in­ne­rung an New York, den Ma­ler Pau­le Ham­mer (sein Bild »AUA« ist das Co­ver des Bu­ches) und spä­ter dann ein Ich bin noch da, ihr Schwei­ne.

Ei­ne neue Ge­schich­te, ei­ni­ge Mo­na­te spä­ter. Der Le­ser er­fährt über die Zwi­schen­zeit nichts. Der Er­zäh­ler will sich mit ei­nem Mann am Leip­zi­ger Bahn­hof tref­fen, ei­nem In­ter­es­sen­ten für Film­dreh­bü­cher. Die gan­ze Sze­ne­rie im Bahn­hof ist na­he­zu kaf­ka­esk, der Agent sucht das schlech­te­ste Ca­fé aus, spricht lei­se, man fach­sim­pelt über Fil­me, Regiss­eure, Peckin­pah, Bog­d­a­no­vich, Sze­nen, bei­de sind Ken­ner, der Frem­de ver­lässt das Ca­fé für zehn Mi­nu­ten und kommt plötz­lich mit ei­ner Map­pe wie­der. Dann ein Schnitt. Plötz­lich in sei­nem ver­dun­kel­ten Zim­mer, so­zu­sa­gen ver­gra­ben, Bil­der an der Wand, die grin­sen, Abu Ghraib, Gu­an­tá­na­mo und die Ge­schich­te von K. Ein mo­der­ner K. und der Er­zäh­ler er­lei­det mit, die De­mü­ti­gun­gen. Re­mi­nis­zenz an Char­lie Chap­lin in »Mo­dern Times« in den rie­si­gen Zahn­rä­dern und dann die Rea­li­tä­ten der Woh­nung, die Zi­ga­ret­ten, die er weg­spült und dann kurz da­nach sucht, ob er nicht ei­ne da­ne­ben ge­wor­fen hat. Der Fall K. als »M.A.S.H.«-Film? Ge­dan­ken zum Is­lam, zum Glau­ben (ich kann das näm­lich nicht mehr), Goe­the und sein Re­spekt vor dem Ko­ran (gro­ße Dich­tung!). »My film is Gu­an­tá­na­mo« wird Cop­po­la pa­ra­phra­siert. Und dann ver­schmel­zen al­le Fi­gu­ren, die pri­va­ten, die Leu­te auf den Fo­to­gra­fien, die Frau, die ei­nen Häft­ling aus Abu Ghraib an der Lei­ne führt und plötz­lich ist er K., sieht sich Ver­hör­leu­ten ge­gen­über; de­li­riert. Die Ent­span­nung dann: das Ge­fühl, in sei­nem Zim­mer be­ob­ach­tet zu wer­den, wie in ei­nem »Bern­stein« ein­ge­schlos­sen.


Se­cond Life für Amok­läu­fer und leuch­ten­de Sät­ze

»Ger­man Amok« be­ginnt wie ein Amok­lauf. Ein Ich-Er­zäh­ler in ei­nem gu­ten, schwar­zen Le­der­man­tel be­geg­net ei­nem Klein­dea­ler. Ein paar Se­kun­den spä­ter reißt es ihn von den Bei­nen, der Typ fliegt re­gel­recht durch die Luft. Wei­ter in Rich­tung ei­nes Ge­bäu­des, ei­ne mas­si­ve Holz­tür macht das Ein­tre­ten bzw. Ein­schie­ßen schwer. Der Le­ser stutzt, weil das Ge­bäu­de mei­nem al­ten Gym­na­si­um ähn­lich sieht. Durch den Hin­ter­ein­gang nun end­lich mit Pump­gun und Glock. Jetzt wird ab­ge­rech­net, die Wich­ser schrei­en vor Angst, aber da kom­men… schon die Bul­len. Na­tür­lich: Die Er­mor­dung des Dea­lers hat die Po­li­zei ange­lockt. Schuss­wech­sel, er wird ge­trof­fen, der stil­le Hil­fe­ruf ich bin doch noch fast ein Kind; ein zwei­tes Mal, paar nehm’ ich noch mit. Man denkt schon, wie flach ist das denn, ei­ne Schil­de­rung ei­nes Amok­lau­fes an ei­ner un­be­kann­ten Schu­le und dann plötz­lich GAME OVER. Al­les nur ein Spiel.

Nur?

Ja, »Ger­man Amok« ist ein Spiel und der Er­zäh­ler ist fas­zi­niert von die­sem Spiel, sitzt seit Wo­chen vorm Rech­ner. Das ist na­tür­lich kei­nes die­ser pri­mi­ti­ven Bal­ler­spie­le, in de­nen die Köp­fe flie­gen und die In­ne­rei­en nur so quel­len. Hier dau­ert es ei­ne Wei­le, bis es rich­tig zur Sa­che geht, bis die Vor­be­rei­tun­gen ent­spre­chend ge­trof­fen, die nö­ti­ge Wut und das dump­fe Ge­fühl der Aus­weg­lo­sig­keit end­lich er­reicht sind und das Ag­gres­si­ons­ba­ro­me­ter nach oben schnellt. »Ger­man Amok« ist ei­ne Art Se­cond Life für po­ten­ti­el­le Amok­läu­fer, für die zor­ni­ge Ju­gend, die sich be­tro­gen fühlt. Die Pseud­ony­me mit ROBERT oder Eric und Dy­lan sind be­son­ders be­liebt. Es gibt ein klei­nes In­ter­net in die­ser Par­al­lel­welt, in dem Ab­schieds­vi­de­os ge­dreht wer­den und we­he, man stellt das Vi­deo zu früh rein oder man schlägt Pa­pis Waf­fen­schrank zu laut ein oder bringt gar un­mo­ti­viert die El­tern um – dann ist wie­der GAME OVER.

Mey­er er­zählt die­ses vir­tu­el­le »Ter­ror­d­rom« (Tim Staf­fel) ei­ner­seits la­ko­nisch, an­der­seits sehr stark as­so­zia­tiv. Nur schein­bar ein Wi­der­spruch. Die Fi­gur er­in­nert in sei­ner aus­weg­lo­sen Zärt­lich­keit an Mar­tin von Arndts Ko­vács aus »ego shoo­ter«. Die Intellek­tualität der Xa­ver-Bay­er-Haupt­fi­gur aus der Er­zäh­lung »En­ga­gier­te Li­te­ra­tur«, in der ein Au­tor über die Mög­lich­keit ei­nes Amok­lau­fes re­flek­tiert, Re­ak­tio­nen hier­auf an­ti­zi­piert und den gan­zen Vor­gang kühl und in­tel­lek­tu­ell durch­rech­net (die Quint­essenz für ihn lau­tet: »Ich wer­de ge­tan ha­ben, was ich nicht nicht ge­tan ge­durft ha­ben wer­de«), be­sitzt er nicht, was die Er­zäh­lung dich­ter, fast auf­dring­lich macht. Es bleibt im Dun­keln, ob die Sub­li­mie­rung des vir­tu­el­len Kamp­fes, der im­mer nur nach wei­te­rer Per­fek­ti­on strebt und nie­mals an ihr Ziel ge­kom­men sein wird, die rea­le Tat ver­zö­gert, auf­hält oder gar über­flüs­sig macht. Selbst wenn am En­de der Er­zäh­lung ei­ne ko­mi­sche Poin­te ge­setzt wird, bleibt ein va­ges Ge­fühl ei­ner Be­dro­hung, ein un­woh­li­ger Schau­er beim Le­ser zu­rück und die­se Er­zäh­lung ist et­was Be­son­de­res, fällt ein we­nig aus dem Rah­men, steht her­aus.

»an, aus, an an, aus«

»Der Fall M« ist ei­ne An­spra­che, ein Mo­no­log, ge­rich­tet an ei­nen als Kinds­mör­der ange­klagten pä­do­phi­len Ju­gend­li­chen. Der Red­ner ver­sucht ei­ner­seits, sich in die Si­tua­ti­on des An­ge­klag­ten hin­ein­zu­ver­set­zen, er­in­nert sich an die er­sten ei­ge­nen se­xu­el­len Be­gierden und Er­fah­run­gen, stellt Par­al­le­len fest, er­zählt von sei­nem Voy­eu­ris­mus, als er mit dem Fern­glas ei­nen Sport­platz be­ob­ach­te­te, auf dem jun­ge Mäd­chen mit wip­pen­den Brü­sten Leicht­ath­le­tik be­trie­ben, und gleich­zei­tig grenzt er sich mit sei­ner ei­ge­nen Sexu­alität deut­lich von dem Ju­gend­li­chen ab; er sei kein ver­damm­ter Pä­do heißt es ein­mal. Er gibt sei­ne Ein­drücke vom Pro­zess wie­der, stellt Mut­ma­ßun­gen über die Unter­suchungshaft an, die iso­liert zu er­fol­gen ha­be, um Über­grif­fe der an­de­ren Ge­fan­ge­nen zu ver­hin­dern. Deut­lich ist zu spü­ren, wie ein Ver­ständ­nis mit dem Ange­klagten ge­heu­chelt wird. Am En­de outet sich der Er­zäh­ler als Voy­eur was den Mord be­trifft, der schein­bar mit ziem­li­cher Bru­ta­li­tät aus­ge­führt wur­de (ein Trich­ter spielt ei­ne wich­ti­ge Rol­le), will wis­sen, ob er ei­nen ei­nen hoch­ge­kriegt ha­be und plötz­lich ist dann doch so et­was wie Mit­ge­fühl da, wenn der An­ge­klag­te Ei­sen um die Hand­ge­len­ke be­kommt und so­fort die Fi­xie­rung in der An­stalt as­so­zi­iert wird, nur ei­ni­ge Mo­na­te ist das her.

Ele­gisch und sur­re­al wird in »Auf der Su­che nach dem säch­si­schen Berg­land« das Ster­ben ei­nes BB er­zählt, der ab­ge­ma­gert und bett­lä­ge­rig, tod­ge­weiht im Kran­ken­haus liegt und ge­pflegt wird. Nur noch Aus­flü­ge auf den Bal­kon zum Rau­chen und Trin­ken sind mög­lich; die Schwe­stern hei­ßen Kran­ken­schwe­stern, auch wenn die Krank­heit das Ster­ben ist. Der Er­zäh­ler re­ka­pi­tu­liert dies auf dem Weg zum säch­si­schen Berg­land, zu ei­nem Punkt V, an des­sen Schei­tel­punkt der idea­le Stand­punkt sein soll. Auf dem Weg dort­hin steht auch ein Haus, ich bin als Kind mehr­mals in die­sem Haus ge­we­sen, das ist al­les, was ich noch weiß, ein heu­te ver­fal­le­nes Haus. Und wie­der be­ginnt es auf dem Leip­zi­ger Haupt­bahn­hof, denn es muss erst die Aus­gangs­sta­ti­on mit der Bahn er­reicht wer­den. Er ver­sucht, ei­ne Fahr­kar­te am Au­to­mat mit lau­ter 10 und 20 Cent-Stücken zu er­hal­ten, was miss­lingt. Und so schlen­dert er durch den Bahn­hof, sieht all die­se Lä­den, die Zü­ge rol­len durch Al­di und Plus, be­ob­ach­tet Kund­schaft in ei­nem Fri­seur­la­den und setzt sich schließ­lich in die klei­ne Bar wo die To­ten sit­zen. Dort be­geg­net er dem ver­stor­be­nen Freund BB und es be­ginnt nun ei­ne Er­zäh­lung von ab­grund­tie­fer Trau­rig­keit, von Bu­kow­ski, vom Win­ken, von Freund­schaft, vor al­lem vom Ab­schied (und von der ei­ge­nen Feig­heit da­vor), dem letz­ten Hän­de­druck, er spürt noch ein­mal sein L e b e n , aber selt­sa­mer­wei­se ist das über­haupt nicht weh­lei­dig oder sen­ti­men­tal, so klar leuch­ten die Sät­ze.

Ty­pisch hier wie in fast al­len Er­zäh­lun­gen die­ses Ban­des: Der Le­ser kann am An­fang nicht vor­her­sa­gen, wo und wie die Ge­schich­ten en­den, zu hef­tig die­se Gra­vi­ta­ti­ons­stru­del, die zu Hand­lungs­stru­deln wer­den. Den­noch ist die­ses mä­an­dern­de Er­zäh­len kein ge­schwät­zi­ges oder gar lang­wie­ri­ges Ab­schwei­fen. Mey­er ge­lingt es, ei­nen fes­seln­den Sog zu er­zeu­gen, der die Hand­lung wie von selbst trägt (das äs­the­ti­sche Ide­al des ge­plan­ten Gu­an­taná­mo-Films), den Le­ser mit­nimmt in die­ses Par­al­lel­uni­ver­sum, wenn die To­re oder die Por­ta­le sich öff­nen, die­se Se­kun­den-Stun­den. Es ent­ste­hen Mo­men­te der ge­such­ten Stil­le, Klar­heit. Und es ent­ste­hen für Au­gen­blicke so­gar Idyl­len, die be­schwo­ren wer­den: Ich will mein (er­dach­tes? ge­träum­tes? NEIN) Idyll zu­rück. Aber wie so oft wer­den die­se Idyl­len fast nur im Feh­len prä­sent, im­mer wie­der treibt ihn die Su­che nach der ver­lo­re­nen Sehn­sucht. Und so rat­tert es im Au­tor im­mer wei­ter, wie fast ex­em­pla­risch an ei­nem Licht­schal­ter ge­zeigt wird, mit an, aus, an an, aus und wenn der Schal­ter auf dem Grat zwi­schen an und aus ver­harrt summt und briz­zelt es.

Spiel mit dem Ich

Zwar han­delt es sich je­weils um elf ab­ge­schlos­se­ne, aus sich her­aus ver­ständ­li­che Er­zäh­lun­gen, aber schon der Un­ter­ti­tel »Ein Ta­ge­buch« legt die Ver­bin­dung na­he. Tat­säch­lich wird fast chro­no­lo­gisch er­zählt (von Sil­ve­ster 2008 in der psych­ia­tri­schen An­stalt bis No­vem­ber 2009); nur der er­ste Teil der letz­ten Er­zäh­lung greift noch ein­mal in den Au­gust zu­rück. Der Er­zäh­ler wird mehr­mals »Cle­mens« oder »Mey­er« ge­nannt oder nennt sich sel­ber so. Es wird al­so be­reit­wil­lig die In­ter­pre­ta­ti­on der Ver­schmel­zung zwi­schen Cle­mens Mey­er und dem Ich-Er­zäh­ler an­ge­bo­ten, was na­tur­ge­mäss nicht ganz un­pro­ble­ma­tisch ist, weil die Gren­zen zwi­schen Er­leb­nis­be­richt und Fik­tio­na­li­sie­rung ver­schwim­men; ei­ne oft be­täu­ben­de, manch­mal so­gar ver­gif­te­te Ga­be, die von Kri­tik und Pu­bli­kum aber im­mer wie­der ger­ne an­ge­nom­men wird. Mey­er ver­sucht of­fen­sicht­lich aus der Not ei­ne Tu­gend zu ma­chen, will mit Fik­ti­on und Rea­li­tät spie­len, sich nicht mit über­mä­ßi­ger Ver­frem­dung ab­mü­hen, wahrt je­doch sehr wohl auch Di­stanz. Denn wer ge­nau liest mag fest­stel­len, dass nicht al­le Ge­schich­ten den of­fen­ba­ren Schluss »Ich = C. M.« na­he­le­gen.

Der Zu­sam­men­halt der ein­zel­nen Er­zäh­lun­gen hin zu ei­ner Art Epi­so­den­ro­man (man soll­te die ne­ga­ti­ve Kon­no­ta­ti­on die­ser Ka­te­go­rie end­lich auf­he­ben) wird durch die Set­zung be­stimmter Mo­ti­ve noch ver­stärkt. Ei­ni­ge Ne­ben­mo­ti­ve (bei­lei­be nicht al­le) schaf­fen es da­bei ein­mal zum Haupt­mo­tiv, be­vor sie dann, in ei­ner an­de­ren Er­zäh­lung, wie­der in den Hin­ter­grund tre­ten. Bei­spiels­wei­se das in ei­nem Ga­lopp­ren­nen am Start rei­ter­los ge­wordene Pferd (ver­lo­ren auf ihn ge­setz­tes Geld, und, schlim­mer: die Hoff­nung) – zu­nächst in »Der Fall M«, dann im er­sten Teil der Er­zäh­lung »Tri­bü­ne«, die auf der Leip­zi­ger Ga­lopp­renn­bahn spielt und die Ver­strickun­gen des Er­zäh­lers in die Pferdewett­szene schil­dert (wo­bei »Sze­ne« viel­leicht über­trie­ben ist; ab und zu taucht noch ei­ne an­de­re Fi­gur – UKG – auf).

Renn­bahn­be­su­cher ken­nen die­se Ge­schich­ten, aber eben nicht der­art er­zählt. Sie han­deln von ver­gan­ge­nen Ver­lu­sten, ent­gan­ge­nen Ge­win­nen, Beine[n] wie Gum­mi, be­gan­ge­nen (Wett-)Fehlern, von den Un­wäg­bar­kei­ten ei­nes Pfer­de­ren­nens, ei­nem un­plan­mä­ßi­gen Flag­gen­start, weil die Start­ma­schi­ne aus­ge­fal­len war, von der »Sport­welt« (der Renn­zeitung, die dem Wet­ter die ent­spre­chen­den In­for­ma­tio­nen lie­fert), die mit ih­ren gro­ßen Sei­ten wie Segel…ausgefaltet wird (ein wun­der­bar tref­fen­des Bild). Die Rand­geschichten von Lot­to­sy­ste­men, weil Pfer­de­ren­nen rei­chen den Zockern nicht; von »Tipp mit«, ei­ner Po­stil­le, die akri­bisch al­le Zie­hun­gen auf­li­stet und auch aus­wer­tet, Zah­len­my­stik (Zah­len, das ge­fähr­lich­ste al­ler Gif­te), vom Rou­lette (spä­ter ein Haupt­mo­tiv wer­dend) und na­tür­lich vom Klein­ge­winn ver­spre­chen­den, aber si­che­ren Black-Jack-Sy­stem, wel­ches die Spiel­ban­ken durch ei­ne Re­gel­än­de­rung un­ter­ban­den.

Un­ter­schätz­te Städ­te

Und dann, im zwei­ten Teil von »Tri­bü­ne«, ist man auf den Leip­zi­ger Mar­mor­klip­pen, Sach­sen-Che­mie Leip­zig ge­gen Lok Leip­zig, 5.Liga, das Spiel nach dem Spiel, da, wo es nicht nur um Fuß­ball geht und Leip­zig zur ge­teil­ten Stadt wird. Die Stadt mit ei­ner Mau­er durch Vier­tel, Stra­ßen, Woh­nun­gen, Fa­bri­ken, Stra­ßen­bah­nen, Fa­mi­li­en, Grün­an­la­gen, Eis­die­len, Ge­sprä­che, Knei­pen, Schu­len, Köp­fe. Ei­ne Mau­er, die sprung­haft be­weg­lich und doch ver­wit­tert und gra­nit­hart ist und Hass, Hass, Hass mit­bringt. Er, »Chemie«-Fan, mit­ten­drin, fährt auf dem Fahr­rad nach Hau­se, As­so­zia­tio­nen mit Zu­sam­men­stö­ssen mit der Po­li­zei, selbst­er­leb­te, ge­hör­te und ge­se­he­ne; die Bul­len auf Pfer­den (er wet­tet mit sich, wel­ches Pferd zu­erst an­kommt beim An­griff; er wet­tet sehr oft mit sich, und wenn es nur um zwei Re­gen­trop­fen geht).

In der Er­zäh­lung »In den Strö­men« er­scheint auch BB wie­der. Be­zie­hungs­wei­se die Er­in­ne­rung an sei­ne SMS, die schon da­mals, als er noch leb­te, Brie­fe ei­nes To­ten wa­ren. Er er­scheint in Ge­stalt sei­nes Bru­ders, LB, ei­nem Klein­kri­mi­nel­len, der zu Be­such kommt, just be­vor man zu ei­ner Ru­der- oder Ka­nu­par­tie auf­bre­chen will (hier wird das Ka­nu oft Boot, das Pad­del manch­mal Ru­der ge­nannt). LB er­zählt von sei­nem Bruch, er wird Va­ter, will aber nach Mau­ri­ti­us oder auf die Ma­le­di­ven aus­wan­dern, auch hier dann Er­in­ne­run­gen an ver­gan­ge­ne Er­leb­nis­se mit dem Er­zäh­ler, über ge­mein­sa­me Be­kann­te, wie die les­bi­sche Ta­xi­fah­re­rin, die von ih­rem Ex er­mor­det wur­de. Aber­mals Por­ta­le, die sich öff­nen und zum Ab­schied die­se Ver­spre­chun­gen und Bit­ten in Kon­takt zu blei­ben und man weiß, oh­ne dass man es je er­fah­ren wird, es wird kei­ne Kon­tak­te mehr ge­ben und es wird nie die Rei­se nach den Ma­le­di­ven oder Mau­ri­ti­us ge­ben wird und der Er­zäh­ler ent­flieht nun für kur­ze Zeit sei­ner Schreibas­ke­se, sei­ne Frau ist zu Be­such, und plötz­lich sind sie auf die­ser Kanu­partie, be­ob­ach­ten die Schmet­ter­lings­me­cha­nik beim Pad­deln und auch dort las­sen ihn die Bil­der nicht los. Ab­len­kung: Ei­ne Spin­ne im Mund, Pa­nik (Arach­no­pho­bie!), Ti­gersch­ne­gel und plötz­lich ei­ne dra­ma­ti­sche Si­tua­ti­on, Kin­der, die auf dem Fluss trei­ben sol­len, pa­ni­sche Ru­fe vom Ufer las­sen Schlim­mes er­ah­nen, aber sie ver­hal­len auch wie­der, man kann nichts ma­chen, kommt an der Klein­mes­se vor­bei, ei­ner Art Kir­mes; Mey­ers Rum­mel­platz-Lie­be. Phan­ta­sien von Ab­was­ser­ka­nä­len, Un­ter­grund­sied­lun­gen, das Le­ben in ei­nem B‑Movie der Ex­tra­klas­se.

Oder der Be­such in der »Stadt M« (schnell er­kenn­bar als Mag­de­burg), eher ein Streu­nen. Erst die Renn­bahn, eher aus der Ent­fer­nung, ein Renn­bahn­fern­se­her, der vom Re­gen zer­stört wird und dann wie­der den Rum­mel­platz su­chend und da­bei an Bie­le­feld den­kend, auch so ei­ne Stadt, die un­ter­schätzt, die ge­hasst wird, ei­ne ver­ges­se­ne Stadt, die er neu­lich be­such­te und just in die­sem Mo­ment, in M, kommt ihm das Schild der Wahr­sa­ge­rin von Bie­le­feld in den Sinn, die Schieß­bu­den, sei­ne ho­he Tref­fer­quo­te, sieb­zig von fünf­und­sieb­zig, die na­tür­lich rich­ti­gen Aus­sa­gen der Wahr­sa­ge­rin, min­de­stens die­se, die man über­prü­fen konn­te, und im­mer muss er wei­ter, zum Mag­de­bur­ger Dom, wie im­mer die­se atem­lo­se Ei­le und hier, im Dom, be­son­ders hef­tig die­se stark ob­ses­si­ven, Jo­sef-Wink­ler-ähn­li­chen, aus­la­den­den, hier so geist­voll-re­spekt­los mit re­li­giö­sen Sym­bo­len spie­len­den Sät­ze (die im Ge­gen­satz zu de­nen der er­sten Er­zäh­lung »Ge­wal­ten«, hei­ter und schräg klin­gen; auch das, die­ses Wech­sel­spiel zwi­schen Ver­zweif­lung und skur­ri­lem Hu­mor er­in­nert zu­wei­len an Wink­ler). Be­son­ders der, als er sich mit dem Weih­was­ser ei­nen Dö­ner­so­ßen­fleck aus dem Hemd wi­schen will und ir­gend­wann plötz­lich vor ei­ner ver­schlos­se­nen Tür im Dom steht, die sich dann aber – o Wun­der – auf Klop­fen öff­net. Und am En­de des Abends, in der Nacht in Wol­mir­stedt, weil es in M kei­ne Hu­ren gibt, ei­ne Bar, ein Club, ver­schwim­men­de Wör­ter, ei­ne rus­si­sche Pro­sti­tu­ier­te und die Er­in­ne­rung an ein tsche­chi­sches Mäd­chen mit ei­ner Kai­ser­schnitt­nar­be.

Le­bens­angst und ba­by­lo­ni­sche Pla­stik­tür­me

Sät­ze, die manch­mal lang sind, so ex­pres­siv und doch un­ge­heu­er leicht, rhyth­misch, ja, sehr rhyth­misch, nie den Le­ser zu ir­gend­et­was über­re­dend. Man hat nach je­der Ge­schich­te mehr das Ge­fühl, die­sen Mann dort zu ken­nen, sei­ne Trau­rig­keit, die kei­ne Me­lan­cho­lie ist, we­nig­stens nicht nur, son­dern auch im­mer ein we­nig exi­sten­ti­el­le Le­bens­angst of­fen­bart. »Ken­nen« be­deu­tet hier nicht ein kum­pel­haf­tes Zu­stim­men, son­dern ein Schät­zen, ihm »gut« sein, oh­ne sei­ne Ma­rot­ten und Al­lü­ren zu gou­tie­ren. Und man hebt sich die näch­ste Er­zäh­lung auf, will nicht zu viel auf ein­mal le­sen viel­leicht weil es sonst gif­tig wird und viel­leicht er­fährt man noch, wie es mit sei­nem al­ten, manch­mal kurz vor dem Tod ste­hen­den Hund wei­ter­geht oder mit LB oder sei­ner Wett‑, sei­ner Nikotin­sucht.

»Im Kes­sel« – auf nach Han­no­ver, auch so ei­ne Stadt wie Bie­le­feld oder M. Dort hat­te vor mehr als drei­ßig Jah­ren der Groß­va­ter in der Spiel­bank bei Rou­lette ge­won­nen. Aber­mals ein wie­der­keh­ren­des Mo­tiv. In ei­ner Mi­schung aus Nai­vi­tät und Trotz will er nun das Fa­mi­li­en­glück ber­gen und dass die Spiel­bank in­zwi­schen an ei­nem ganz an­de­ren Ort steht, hält ihn nicht ab. Das Trei­ben der Spie­ler dort ge­schil­dert wie ein Wim­mel­bild (ei­ne Kra­wat­te ist nicht nö­tig, was über­rascht), ver­zagt, bes­ser­wis­se­risch, er­regt, auf­ge­regt. Ein Crou­pier, dem er al­les er­zäh­len möch­te und von dem er möch­te, dass er ihn auch sofort…sympathisch fin­det. Die Brün­stig­keit des Glücks­spiels. In­si­der-Rou­lette, »Or­phe­lins«, al­so »Wai­sen­kin­der« oder die »klei­ne Se­rie«. Chips (er meint Je­tons, sagt aber Chips), die in Pla­stik­tür­men mit Ba­by­lon as­so­zi­iert wer­den. Und am En­de hört er auf der Toi­let­te wie sich je­mand die See­le aus dem Leib kotzt. Aber ge­trun­ken wird dort nichts. Sel­ten ein solch’ scho­nungs­lo­ser, des­il­lu­sio­nie­ren­der Blick; al­les längst kein »Rou­letten­burg« mehr (viel nä­her bei Ste­fan Zweig, aber oh­ne des­sen mo­ra­li­sie­ren­de Me­lo­dra­ma­tik), dar­über kann auch der Witz, die Is­la­mi­sten ein­fach spiel­süch­tig zu ma­chen, nicht hin­weg­täu­schen, eher im Ge­gen­teil.

Die letz­ten bei­den Er­zäh­lun­gen er­rei­chen (zu­nächst) nicht mehr ganz die­se flir­ren­de In­ten­si­tät. »Un­der­co­ver und der Kopf« ist ei­ne Art Ber­lin-Tau­mel zu Fuß, mit S- und U‑Bahn, mit dem »Mit­ter­nachts­fleisch­zug« am Nach­mit­tag, frü­hen Abend, vom Güter­bahnhof Wil­mers­dorf über Bahn­hof Süd­kreuz, Bun­des­al­lee und ir­gend­wann irgend­wie zu­rück. Der Film­ken­ner Mey­er per­si­fliert das als 2009 – Odys­see durch den Stahl­be­ton. Und erst auf der letz­ten Sei­te, dem zwei­ten Teil von »Drau­ßen vor der Tür« (nein, hier hat sich nur je­mand aus­ge­sperrt und bricht mit sei­nem ur­alten Hund zwi­schen 2.15 Uhr und 3.17 Uhr bei sich sel­ber ein), wenn er mit sei­nem Hund beim Tier­arzt ist, die Hand auf des­sen Schnau­ze legt, der Arzt die an­de­re Sprit­ze mit lan­ger, dün­ner Na­del holt, dann folgt die­ser Satz, der ei­nem den Bo­den un­ter den Fü­ssen weg­zieht, ein Satz, der den Le­ser er­greift und die­se Sze­ne wird man so schnell nicht mehr ver­ges­sen. Und nicht zu­letzt, weil man das Buch in der Oster­zeit ge­le­sen hat, kommt ei­nem der Schluss­chor von Bachs Mat­thä­us­pas­si­on in den Sinn (und Scor­se­ses Film »Ca­si­no«, als Ro­bert de Ni­ro zu Be­ginn in sein Au­to steigt und das Au­to ex­plo­diert und de Ni­ro durch ei­ne Feu­er­welt tau­melt; Ima­gi­na­ti­on von Höl­le oder, noch schlim­mer, Fe­ge­feu­er) und be­vor man nun ein­wen­det, ob das nicht al­les ein biss­chen arg pa­the­tisch sei, hat Cle­mens Mey­er auch hier schon ei­ne Ant­wort: Was bleibt dir manch­mal mehr als Pa­thos? Recht hat er.


Die kur­siv ge­setz­ten Stel­len sind Zi­ta­te aus dem be­spro­che­nen Buch.