TAGEBUCHEINTRAG, 7. APRIL 1984
Über Gloggnitz + Schottwien in die Adlitzgräben hinauf – Richtung Breitenstein1, den Schildern zur »Speckbacherhütte« folgend. Der Bahnhof Breitenstein: renoviertes Gebäude, hier die zahllosen Ankünfte und Abreisen FW’s.2 Vorbei am Orthof (früher das Gasthaus von TOST, wie ich später erfahre, Tost wird von FW oft erwähnt, in den Briefen an Alma.) Ca. 1 km weiter, dann ein Schild Haus Milota, und eine Einfahrt führt zum Haus Mahler – keine Ähnlichkeit mit dem Haus von einst. Umbauten und Dazubauten haben das ganze äußere Erscheinungsbild grundsätzlich verändert, auch das schöne Dach ist nun Eternit-verscheußlicht. Herr Koçian begrüßt uns, in seinem dunkelblauen, sehr verschmutzten Arbeitsgewand, K. ist hier Hausmeister und –verwalter; der Daumen seiner rechten Hand ist bei einem Unfall abgetrennt worden, nur ein dicker Stumpf ist da noch übrig. K. führt uns durch die Küche hindurch, überall Abfall + Gerümpel + Zeug im Weg, die K.’s putzen das Haus, denn ab nächster Woche werden Werft-Arbeiter erwartet. Ein sehr dickes, sehr häßliches Kind mit Locken steht im Korridor, begrüßt uns kreischend. Wir sitzen in einem Anbau, ganz Resopal-Halle, Aufenthaltsraum für die Werft-Arbeiter – hier war einst der Eingang ins Haus, hier waren die schönen rosenumrankten Säulen.
(…)
Gespräch mit Herrn und Frau K., während Barbara, so heißt die Tochter, ganz laut die Platte »Adalbert im Land der Schlümpfe« spielt, auf kleinem Record-Player, und dazu Tanzverrenkungen vorführt. Mit Mühe und Not stoppt man sie nach einer Weile. / K.’s erwähnen, daß öfters Leute kommen, Gäste vom Semmering, die etw. über FW wüßten – und vor ca. 2 Jahren ein TV-Team, das suchte nach d. Wendeltreppe, die von d. Küche hinauf zum Köchinnenzimmer führe, denn diese Wendeltreppe sei in einem FW-Werk beschrieben, auch d. Zimmer der Köchin wollten sie sehen. D.h., FW beschrieb also im »Veruntreuten Himmel»3 das Haus der Argans als das Haus in Breitenstein, und Teta Linek wohnte also auch in Wirklichkeit direkt über »ihrer« Küche. Ich zücke das dicke Photoalbum4, während Barbara sich einen Teller voll Speck herbeigeholt hat, den sie nun mit den Fingern ißt. Auch reißt sie wild an einer alten Semmel. Will unbedingt die Photos sehen, blättert mit ihren Fettfingern in Almas Album. »Wer is’n des Nackapatzi do?«, kreischt sie, Barb. sieht übrigens aus, wie in Kind, das in einem C‑Horror-Picture d. Hauptrolle, das teufelsbesessene Mädchen spielt. Zeigt auf ein Photo von Manon5 ( = »Nackapatzi«), ich sage ihr, das sei die eine Tochter der Frau, die hier gelebt hat. Als Frau K. nun d. Bild sehen möchte, kreischt B., will das Album nicht aus der Hand geben. Nachdem ihre Mutter sich durchgesetzt hat, spielt B. protestierend + sehr laut + falsch Flöte. Endlich gelingt es, B. in ein anderes Zimmer zu bewegen, das ehemalige Kaminzimmer, wo Kokoschkas6 Bild prangte, bis ein evangelischer Pastor, zugleich Prokurist der Firma Korneuburger Schiffswerft, dieses Fresko herunterhämmern ließ. Barbara liest sich dort nun laut aus einem Buch vor, Frau K. sagt: »Jo, de liest an gonzn Tog, von früh bis spät!« Als B. erst seit einem halben Jahr zur Schule ging, da habe sie »z’Weihnochtn de gonze Zeidung scho ausglesn, von da eastn bis zua letztn Seitn, a des, wos in die Klammern steht!« Frau K. blättert im Alma-Album. Stößt aus: »Jö, schau, Koarl: des is des Fünferzimmer! Do: des Siebnerzimmer! Schau wie die Lindn gwochsn is, a Wansinn!« Dann sagt sie: »Und do is da Stein.« Ich frage: »Welcher Stein?« »Na do, sehnsas eh – « Schaue mir d. Bild an, stelle fest: der oberste Teil einer Säule, im Garten der Casa Mahler, in Venedig. Sage zu Frau K.: »Das ist der Garten in Venedig.« »Oba na, schauns außa do!« Und vor den Fenstern der Resopalhalle, tatsächlich: derselbe Stein! Mit denselben Insignien! »Jo, des hot scho a Ehepaar dazöht, de hom gsogt, der Stein, der woar an Werfel sehr wichtig – den homs woascheinlich aus Venedig hertransportiert, net?« Ja, so muß es sein. Unerwartetes Detail. Aber warum hing FW so sehr an dies. Stein? Oder hing Alma an ihm? Oder war das »Manons Stein«? Muß Anna fragen, vielleicht weiß sie’s. L.7 erzählte mir später, ich sei kreidebleich geworden, als ich die Geschichte vom Stein erfuhr, vor allem, als ich nach jenem Paar fragte, das d. Geschichte erzählt hatte – die Erkenntnis, keine Spur zu diesen Leuten finden zu können. Nach längerem Hin + Her führt uns Herr K. schließlich durchs Haus, Frau K. blättert im Album -. Die Treppe unverändert, aber oben wir dann sofort klar: nichts mehr von früher ist da – alles vollgestopft, jedes Zimmer, mit so vielen Betten wie nur möglich, zum Teil auch Stockbetten, alles absolut grauenhaft, und alle Wände mit den scheußlichsten Tapeten zugeklebt. Diese schönen, holzgetäfelten Wände! Nur ein Steinbrunnen, den Alma + FW wohl aus Italien mitbrachten, ist im 1. Stock noch erhalten, von den Horror-Tapeten umgeben. Und FW’s Arbeitszimmer, heute »das Siebnerzimmer« natürlich genauso trostlos wie der Rest. Nur der Holzbalkon noch unverändert. Aber FW’s freie Sicht, damals, auf Rax + Schneeberg + Semmering, mittlerweile von hohen Bäumen zugewachsen, daher auch kein Ausblick mehr, von dies. Zimmer aus – also fällt mein Traum, das Buch hier zu schreiben, sekundenschnell in sich zusammen‑, nicht, weil’s d. Aussicht nicht mehr gibt, sondern weil dieses Haus in einer Art und Weise geschunden, getreten, vergewaltigt worden ist, ihm alle Atmosphäre geraubt wurde, wie es katastrophaler nicht denkbar wäre. Das Siebnerzimmer! Und an allen Wänden die grauenhafteste »Hausordnung«, lasse mir eine Kopie von Herrn K. geben – Naziton…widerlich…in dem Haus, in dem »Mörder»8, »Spiegelmensch«, »Bocksgesang«, »Verdi«, etc., etc. entstanden sind!
(…)
Im Duschraum, dem ehemaligen Dachboden, weiß ich dann, woran mich das Haus erinnert: an eine Nervenheilanstalt, oder Besserungsanstalt für Zuchthäusler. Der einzige halb-gemütliche Raum: jener der »Teta Linek«, dort, wo die Wendeltreppe endet, die in der Küche unten beginnt. Und hier hat sich Familie K. niedergelassen. / Bin sehr deprimiert – L. versucht, mich zu trösten, aber das gelingt kaum. Unten sitzt Frau K., immer noch über das Album gebeugt.
(…)
Nochmals im Raum, wo der Kamin stand – der Kamin nicht nur tapetenverklebt, sondern überdies zugemauert. An der Wand hängt ein Farbphoto von Präsident Kirchschläger9. Darunter ein Plastikschild mit den farbigen Abbildungen verschiedener Eissorten. Bücher gibt’s im Hause, aber kein einziges von FW. Krimis, Heimatromane, Bücher von und über Kirchschläger -. / Frau K. vermittelt uns noch Frau Baumgartner, das sei die Tochter des Probst, der kürzlich als 91-Jähriger verstarb, der habe der Alma das Grundstück verkauft, auf dem d. Haus nun stehe. Und die würde uns sicherlich einiges erzählen können, die spreche viel + gern + lasse sich kaum stoppen, wenn sie aus ihrem Leben erzähle. Abschied von Frau K., auch von Barbara, die in einem großen Buch liest, leise liest, inzwischen. / Und Fahrt zur Baumgartner Hütte. / Frau B. beim Essen, höchst verlegen, als wir kommen, sitzt mit älteren Männern, wir bestellen eine Kleinigkeit, warten auf Frau B. Als sie fertig gegessen hat, kommt sie aber nicht zu uns, sondern verschwindet irgendwo. Erst, als wir zahlen wollen, um aufbrechen zu können, steht sie plötzlich vor uns. / Ist höchst wortkarg, erzählt uns eigentlich garnichts, und was sie sagt, flüstert sie nur. L. sagt später: eine Hexe. Und die böstesten Augen – total unehrlich + gemein. Jedenfalls dreht sie sich dann um, zu jenem Tisch, wo die alten Männer sitzen, sagt: »Heast, Sigi, du müßast doch vüh wiss’n, net, über an Werfel, host eahm doch guat kennt?!« Da dreht sich ein Mensch zu ihr um, der aussieht wie die leibhaftige Inkarnation Adolf Hitlers. Dieselbe Frisur, derselbe Bart, der Gesichtsschnitt höchst ähnlich, ca. Ende 70…lange Lederhosen, Bauernjacke – er zuckt mit den Schultern, verzeiht den Mund abfällig nach unten. Als ich dann insistiere + ihn bitte, mir etwas zu erzählen, läßt er sich zu den Worten: »Na kloar hob i eahm kennt!« herab. Und als dann die Hexe B. nachhakt, macht er nur nochmals diese Schulter- und Mundbewegung wie zuvor – . Eindeutig haßerfüllt gegen d. »Judensau« Werfel, denke ich – und froh, daß dieser fortmußte. L. und ich hören, wie er dann an seinem Tisch sehr wohl Erinnerungssplitter preisgibt, irgend etwas über einen Hund, der in einer Tür eingeklemmt wurde, aber das erzählt er denen + nicht uns. Frau B. bringt auch nichts heraus, danach, nur, daß sie mit den Kindern der Alma im Garten gespielt habe – bin eigentlich sicher, daß sie vor dem »Hitler« nichts erzählen durfte, es nicht wagte, mit uns zu sprechen, solange er da im Hintergrund zuhörte. Fort von diesem Alptraum-Ort. Sehen uns noch kurz den Gedenkstein für FW an, der sieht exakt wie ein GRABSTEIN aus – und eine schwarze Tafel überdies. Links und rechts ein Bankerl. Und davor ein Plastikkübel, wahrscheinlich zum Speiben. Danach meine Depression enorm, fahren zurück nach Wien; auch dieses ganze Semmering-Gebiet hatte mich so traurig gestimmt, wir sahen uns Zimmer an, in einem Gasthaus – aber das kommt auch nicht in Frage – viel zu traurig macht es mich. / Auf der Rückfahrt meine beinahe krankhafte Müdigkeit, sicher der »Schock«, aus d. letzten Stunden zusammengesetzt – kann die Augen nicht offen halten…
© Peter Stephan Jungk
In Breitenstein am Semmering, zwei Stunden Bahnfahrt von Wien entfernt, befand sich Alma Mahlers Ferienvilla, das 'Haus Mahler'. Gustav Mahler hatte das Grundstück 1910, ein Jahr vor seinem Tod, erworben. Zwei Jahre nach seinem Ableben begannen die Bauarbeiten. Franz Werfel (1890 – 1945) schrieb im 'Haus Mahler' in den Jahren 1919 bis 1938 die meisten seiner Werke. Siehe auch hier ↩
Ich recherchierte damals die Biografie des Dichters Franz Werfel, siehe "Franz Werfel – Eine Lebensgeschichte", S. Fischer Verlag, 1987 ↩
"Der veruntreute Himmel – die Geschichte einer Magd", erschien 1939 im Verlag Bermann-Fischer ↩
Almas und Gustav Mahlers Tochter Anna Mahler (siehe "Auf der Wellencouch") hatte mir für die Dauer meiner Arbeit an der Biografie ihres Stiefvaters die Fotoalben ihrer Mutter anvertraut. ↩
Manon Gropius, Tochter von Alma Mahler und dem Architekten Walter Gropius, 1916 - 1935 ↩
Oskar Kokoschka (1886 – 1980), österreichischer Maler und Schriftsteller, der mit Alma Mahler zwischen 1912 und 1914 eine stürmische Liebesbeziehung einging, vgl. Wikipedia: "Kokoschka schuf gegen Ende 1913 und zu Anfang 1914 ein vier Meter breites Fresko, das den Kamin in ihrem großzügig angelegten Sommerhaus in der kleinen österreichischen Gemeinde Breitenstein im Semmeringgebiet schmückte. Wie in einigen Gemälden zuvor machte Kokoschka seine Beziehung zu Alma zum Thema des Freskos." ↩
Gemeint ist Lillian Birnbaum ↩
Die Erzählung "Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig", 1920 im Verlag Kurt Wolff, die Theaterstücke "Spiegelmensch" (1920), "Bocksgesang" (1921), sowie das Werk "Verdi – Roman der Oper", 1924 im Zsolnay Verlag erschienen. Darüber hinaus entstanden zahlreiche weitere Stücke, Novellen und Romane großteils in Breitenstein. ↩
Dr. Rudolf Kirchschläger, 1915 – 2000, von 1974 bis 1986 österreichischer Bundespräsident. ↩