A.d.L.e.R: Aus dem Leben einer Rikschafahrerin – Nr. 5
Es war Ende September 2003 und nasskaltes Wetter, als mich am Dom ein alter, vornehmer Herr ansprach. Der alte Herr war groß, hielt sich aufrecht und hatte einen jungen Herrn bei sich, nämlich seinen Enkelsohn. Beim Einsteigen tat er sich furchtbar schwer, duldete aber keinerlei Hilfestellung, sondern bezwang seine Knochen mit eisernem Willen. Er sei sehr lange nicht in Berlin gewesen, sagte er, und wolle nun die Orte von damals aufsuchen, und ich fragte: »Wann waren Sie denn zum letzten Mal hier?« Bevor er antwortete, ließ er seine Augen über Schloßbrücke, Kommandantur und Zeughaus gleiten wie über Eigentum: »58 Jahre ist es her, auf den Tag vor 58 Jahren und zwei Monaten bin ich nach Argentinien emigriert und seit dem nicht mehr in Deutschland gewesen.« Ich sah diesen alten Herren vor meinem inneren Auge als einen jungen im Liegestuhl auf dem Deck eines Schiffs, hinter sich Europa in Trümmern, wo in Deutschland die Vorbereitungen für die Nürnberger Prozesse auf Hochtouren liefen, vor sich Argentinien, wo ihn sehr gute Kontakte erwarteten, in den Taschen einwandfreie, von der katholischen Kirche und dem Roten Kreuz ausgestellte Papiere, wollte es aber nicht glauben und fuhr wie geheißen zunächst zum Werderschen Markt hinüber und dann einen südlich ausholenden Bogen zum Potsdamer Platz.
Unterwegs bat mich der Alte mehrmals, anzuhalten und zu warten. Der Junge hatte sitzen zu bleiben, und er quälte sich aus dem Fahrzeug heraus, wankte ein paar Schritte weg von uns, sog die Luft ein und kniff die Augen zusammen. Erkannte nichts wieder. Stand reglos im Nieselregen. Ich schwitzte und fror gleichzeitig. Der Junge schwieg. Der Alte kam zurück und quälte sich wieder ins Fahrzeug hinein. Ich fuhr weiter. Ich ließ vereinzelte Stadtführungssätzchen ins Leere fallen.
In der Zimmerstraße, auf Höhe der Nummern 88 bis 91, von wo die letzten berliner Jüdinnen und Juden im März 1943 in die Vernichtung deportiert worden waren, begann der Alte, sich merklich zu entspannen. An der nächsten Kreuzung schob sich von der rechten Seite her das granitgraue Reichsluftfahrtministerium (heute Finanzamt) ins Blickfeld und wurde, je näher wir kamen, desto größer. Der Alte atmete auf. Endlich stimmte das Bild seiner Erinnerung überein mit dem was er sah: »Hier habe ich damals gearbeitet.«, sagte er und zeigte aufs Ministerium. Ich sah den Alten vor meinem inneren Auge als einen Jungen, diesmal in Uniform, wie er bei einer Lagebesprechung mit Hermann Göring schweigsam beredte, verständnisinnige Blicke tauscht, wie er danach, auf dem Weg zurück in sein Büro, einen langen Flur durchschreitet und im Geiste an den Angelegenheiten der Besprechung weiterarbeitet. Heil Hitler. »Halten Sie bitte vorne an der Kreuzung an.«
»Selbstverständlich«, beeilte ich mich zu sagen und redete extra geschwätzig weiter, »Das Ministerium ist übrigens, Sie werden das sicherlich wissen, in Bezug auf die Dachkonstruktion eines von denjenigen berliner Nazi-Amtsgebäuden, bei denen ...« Und an dieser Stelle wars aus. Ausgerechnet jetzt, im ergreifendsten, erhebendsten Augenblick, in dem die ganze Reise von Argentinien bis hierher hätte kulminieren sollen, ausgerechnet jetzt das. Er explodierte. Er ging hoch wie eine Bombe: »Niemals hat es in Deutschland ›Nazis‹ gegeben!!!«, brüllte er und schnappte nach Luft, »Korrekt ist, dass es die Nationalsozialistische! Deutsche! Arbeiterpartei! gegeben hat, die angetreten ist, Deutschland zu retten!!!«
Nachdem er ausgestiegen und außer Hörweite war, wandte ich mich an den Enkelsohn: »Man hats nicht leicht mit den Großeltern, was?« Der Junge lächelte mich harmlos an: »Ach nein, wissen Sie, ich habe ein sehr gutes Verhältnis mit meinem Großvater.«
Eine sehr klar erzählte Geschichte, die das Unheimliche die ganze Zeit mit sich trägt und es am Ende, wie es deutlicher nicht geht, zur Sprache bringt. Gesinnung und Semantik gehen eben Hand in Hand. Wenn es ein Wein wäre, würde ich sagen, der Enkel gibt dem Ganzen dann noch einen ’schönen’ Abgang.
Schön erzählt.
Aber der Ausbruch kommt zu plakativ daher und zerstört die Imagination der Rickschafahrerin. Das hätte ich lieber unaufgelöst gesehen.
Und das sondern bezwang seine Knochen mit eisernem Willen fügt sich nicht recht in ein stimmiges Bild.
Geschichte in eine Erzählung von heute zu verpacken, ist Ihnen wieder gut gelungen. Ich habe das beschriebene Bild sehr gut vor meinem inneren Auge aufbauen können.
Die Aussage: »Die Knochen mit eisernem Willen zu bezwingen« finde ich gerade gut, weil sie für mich eine Metapher zur damaligen politischen Zeit darstellt.
Der Ausbruch und die nachfolgende Enkelfeststellung sind für mich stimmig. Der Enkel ist die ganze Zeit über still und fügt sich, während der dominante Großvater seine Rolle lebt.
Ich frage mich nur: Was wird mal aus dem Enkel?
Knochen
Ich bezwinge einen Gegner, meine Angst oder meine Schmerzen. Ich zwinge meine Knochen oder Gelenke zu einer Bewegung (zu etwas). Aber »ich bezwinge meine Knochen« ergibt kein rundes Bild, zumindest nicht, wenn etwas wie Schmerzen, Schwierigkeiten oder Widerstände gemeint sind (ich wüsste aber nicht was sonst in Frage käme).
ich finde das Bild stimmig: Die »Knochen bezwingen« im Sinne von dem Schmerz bzw. den »widerspenstigen« Knochen seinen Willen (= Bewegung) entgegensetzen. Tatsächlich ist wohl durch das »eiserne« eine Assoziation zur Geschichte beabsichtigt (das »Eiserne Kreuz« als Kriegsauszeichnung ist allerdings keine Nazi-Erfindung; das gab es schon seit 1813 in Preußen).
Habe ich mir fast gedacht. Vielleicht bin ich etwas kleinlich, aber was spräche gegen »zwingen«? Das passt m.E. einfach besser (und ist logischer).
Das Eiserne Kreuz findet ja auch noch in der Bundeswehr als Hoheitszeichen Verwendung...
[EDIT: 2010-11-05 00:10]
@metepsilonema
»die Knochen zwingen« ist m. E. »schief«; macht keinen Sinn. »Zwingen« – worin? In eine Schraubzwinge?
»Bezwingen« bekommt hier die Konnotation des Menschen gegenüber der eigenen Physis; der Sieg des Willens über den erodierenden Körper. Dies wäre mit »zwingen« nicht ausgedrückt; dies wäre ein eher passiver Akt.
[EDIT: 2010-11-05 08:04]
Witzig
Ich empfinde es genau andersherum als verkehrt. Die Stelle:
Beim Einsteigen tat er sich furchtbar schwer, duldete aber keinerlei Hilfestellung, sondern [be]zwang seine Knochen mit eisernem Willen.
Wenn ich den Satz mit »zwingen« lese, dann ergibt er für mich mehr Sinn, denn das Zwingen bezieht sich auf das Einsteigen, das ihm schwer fällt und zu dem er sich zwingen muss, wegen der Schmerzen, die es ihm bereitet. Vielleicht ist das ein regionaler Unterschied: Bei uns sagt man, dass ich mich zu etwas zwingen muss, wenn es mir widerstrebt, aber erledigt werden muss oder sollte, um z.B. ein Ziel zu erreichen. Also: Ich stelle meine Knochen unter Zwang, damit sie, trotz der Schmerzen, das tun, was ich will (und obwohl ich es einfacher haben könnte). Man sagte auch: Warum zwingst du dich dazu dies oder jenes zu tun, es ist doch gar nicht notwendig? Noch deutlicher ist erzwingen, aber es ist m.E. nicht dasselbe.
Bezwingen klingt für mich, als wäre der Knochen ein Gegner, den es zu überwinden gälte. Das geht zwar auch, aber nur dann wenn ich den Knochen als nicht physisch verstehe. Dann stellt sich aber die Frage warum man überhaupt Knochen schreibt, wenn ich mir Schmerzen anstelle der Knochen vorstellen muss. Zwingen lässt mir mehr Raum: Das physische Bild der Knochen bleibt gültig, zugleich kann ich sie aber auch als Schmerz lesen (für mich als Leser wäre es widerspruchsfreier).
Im Grunde verstehen wir beide die Stelle auf die gleiche Art und Weise, allerdings unter Verwendung des jeweils anderen Worts.
[EDIT: 2010-11-05 10:36]
Zum Glück gibt es die verschiedenen Blickwinkel und die unterschiedlichen Interpretationen zu Texten. Das macht das ganze ja interessant und spannend.
Letztendlich könnte die Autorin, der Autor aufklären, aber ist das gewollt?
Mir hat es gefallen, wie Sie ( metepsilonema) »Das Gestern im Heute« kommentiert haben. Für mich war das ‘bezwingen’ irgendwie klar und erst nach Ihrem Beitrag habe ich mir diese Szene erneut aufgerufen und nochmal angeschaut, ein wenig versucht, durch Ihre Augen darauf zu schauen. :)
Wie Sie sagen: Es macht den Reiz der Sache aus, dass es verschiedene Blickwinkel gibt (ist geklaut aber gut: Die Wahrheit ist die Interpretation).
Nein, Autor oder Autorin sollten nicht aufklären, zumindest nicht prinzipiell (ab und an können ein paar Worte schon hilfreich sein).
Autoren sind zumeist schlechte »Interpreten« Ihres eigenen Werks. Mir fällt da Handke ein, der irgendwann mal einem Interviewer angesprochen auf eine Deutung zu seiner Erzählung sagte, das Interpretieren sollten jetzt andere übernehmen, das könne er nicht auch noch tun (um es dann doch zu versuchen).
Vielen Dank für Ihre Kommentare. Es ist für mich interessant zu sehen, wie LeserInnen reagieren. Einmal entsteht ein Bild im Kopf und einmal nicht, weil man etwas als unstimmig empfindet. Ich halte das für etwas ganz Natürliches und Schönes in der Literatur. Aufzuklären gibt es von meiner Seite aus nichts. Das Erklären ist Sache der Wissenschaft, nicht des Erzählens. Und ein und derselbe Text entsteht nicht nur wenn er geschrieben wird, sondern erneut, wenn er gelesen wird.
Das Erklären ist Sache der Wissenschaft, nicht des Erzählens.
Wie wahr.
Aufzuklären gibt es von meiner Seite aus nichts. Das Erklären ist Sache der Wissenschaft, nicht des Erzählens.
Ist das nicht doch eine Spur zu demütig, zumindest aus der Sicht des Lesers?
Ich habe in meinem Text alles gesagt, was ich sagen möchte. Ich habe dem nichts hinzuzufügen. Nimm das, Leser, mehr gibts nicht.
1. muss ich als Leser nichts nehmen und 2. habe ich nicht gesagt, dass ich eine Erklärung von außerhalb des Textes haben will; 3. behaupte ich, dass Texte, Erzählungen oder Romane Erklärungen (Bedeutungen) liefern (oder besser kreieren). Aber das bleibt hoffentlich dem Leser überlassen.
Ein Beispiel, weil von Gregor unlängst verlinkt: Thomas Hummitzsch sieht das Werk von Roberto Bolaño als [...] die Vermessung des Bösen, die Suche nach einer Antwort auf die Frage, wo das Böse anfängt und wo es seine Grenzen findet[.] Und wenn dann ein Leser in eben diesem Werk eine Antwort entdecken kann, dann hat er für sich eben eine Erklärung. So einfach ist das.
Was wäre das für eine Welt, in der die Wissenschaft als einzige Anrecht hätte Erklärungen zu finden?
Wunderbar, da sind wir d’accord. Ich meine mit »Wissenschaft« nicht den akademischen Club, sondern diejenigen, die sich mit einer Sache auseinandersetzen, nachdenken über etwas, etc., was außerhalb dieses Clubs genauso gut, nicht selten ertragreicher vor sich geht. Und ja, dass das Liefern, Kreieren, und warum nicht Hineinprojizieren von Erklärungen und Bedeutungen über einen Text oder in einen Text den LeserInnen überlassen bleibt, genau das meinte ich, als ich schrieb, dass ein Text dann erneut entsteht, wenn er gelesen wird. Auch wenn ich Demut für eine erstrebenswerte Tugend halte, muss ich gestehen, dass meine kategorische Weigerung, meine Texte zu erklären, keineswegs der Demut entspringt. Demütig, Metepsilomena, bin ich hier nur insofern, als ich drauf verzichte, Ihre Haltung zu bewerten, und füge undemütig hinzu, dass das Spekulieren über überschüssige Demutspuren in den Haltungen von AutorInnen dem Nachdenken über Texte noch nie geholfen hat.
Mit dem Mut verhält es sich ganz ähnlich, wie mit der Demut: Beide sind keine Tugenden »an sich«, sondern werden es erst in Bezug auf eine Handlung. Das Resultat der Handlung entscheidet, und die Wendung die ihr Mut oder Demut geben: Der Mut macht blind, wo er klein oder tollkühn ist, und mit der Demut verhält es sich ganz ähnlich. Insofern sind »die Spuren« von Bedeutung.
Ansonsten d’accord.