Das menschliche Gesicht
Was mir heute, viele Jahre später, in einem Vorüber aufgeschnappt und fortentwickelt aus einem Tonfetzen, plötzlich wieder im Ohr ist, ist die Musik einer englischen Band namens Doll by Doll. Im Stück The human face die berühmte Artaud-Zeile the human face is an empty power, it is a field of death.
(Nach etlichen Artaud-Lektüren kommt es mir vor, als wäre das – wohl durch sein durch Theater-Denken – eine der spezifischen Kräfte Artauds gewesen: Soziale Abstraktheiten kurzzuschließen in der drängenderen Physiologie. Und das um damit womöglich auch zur Gestalt seiner eigenen Erkrankungen vorzudringen, der er viele Jahre unter nervösen Körperqualen litt und deshalb in psychiatrischen Kliniken überdauerte. Aber vielleicht ist ja jegliche Idee immer auch ein bisschen Wahn.)
Diese englische Band jedenfalls hatte ich irgendwann einfach vergessen. Sie schien damals schon, Anfang der 80er, ein bisschen neben der Zeit (die für mich eine vor allem von Joy Division dominierte war). Aber dieses Stück war eine eklektisch-kluge, für die erschöpften Rock Musik-Verhältnisse seinerzeit sogar kunstvolle Nummer, eine merkwürdige Bricolage auch (statt dem heute oft bewusst unorganischen, stattdessen an die Ideen seiner jeweiligen Quellen appellierenden Samplings): Sogar ein Jesus Saves-Chor kommt darin vor – und es ist nicht peinlich!
Und noch zu diesem Satz von Artaud: Ich weiß nicht mehr, was genau ich mir dabei gedachte hatte, als ich, früher Artaud-Leser, schon vorher immer wieder die Zeilen bei mir gehabt hatte und in dem Song dann wiedererkannt hatte. Antonin Artauds Die Nervenwaage stand im Bücherregal meines Vaters, und immer wieder, seit ich mit dem ernsthaften Lesen angefangen hatte, war ich zu diesem Buch zurückgekehrt, weil eben das Unzugängliche der Texte, deren vermeintliche Verrücktheit, längst etwas in mir geöffnet hatte.
An all das muss ich denken, als mir, nach einer gewissen Enthaltsamkeit in der mir von zuviel dezemberlichen Budenzauber verleideten Stadt, die Gesichter der Menschen wieder auffallen, die stille Prozession der Passanten und Nächsten und doch oft so Unbegreiflichen, der lonely crowd. Und wie diese Gesichter, in Eile verstreichend, andauernd etwas nach außen zu kehren scheinen. Wie sie, lautere Engel des Zeitweiligen, unentwegt anderswie Mienen aufsetzen, Verdüsterungen zeigen ebenso gut wie kleine Aufhellungen, Versehrtheiten, Verhärtungen und deren Entgleisungen wiederum. Ticks, inneres Widerstreiten, unentschiedene, gewitternde, ambivalente ... unwillkürliche Züge. Masken, die sich über ein Leben hin ausgeprägt haben und, sich selber unabsehbar, in der Beiläufigkeit des Moments verlebendigen – wie sie als Gesichter sämtlich ihre Todesarbeit leisten (so Bernd Mattheus einmal im Bezug auf Artaud).
Ein Gedanke kommt mir, den ich schon seit Längerem verfolge: Wie in allen Verkörperungen jeder Einzelne von allen, von sämtlichen Möglichkeiten jedes Anderen profitiert. Sogar der Geringste, der Unauffindbarste: Der Passant. Er ist allgegenwärtig, er ist ewig, doch es gibt ihn nicht. Geht das Persönliche allzu oft im Typischen auf, scheint oft erst wieder das flüchtige Gesicht Gedicht und selbstvergessenes Sprechen. Es stellt sich ein.
Bei Physiologen – vor allem in der Nachfolge Paul Ekmans, der aus Kartierung und Studium der Gesichtsmuskeln FACS entwickelt hat, Face Action Coding System – heißen diese unwillkürlichen Bewegungen Mikroexpressionen. Aber erklären sie etwas? Auch das Gesicht gebietet zu einem gehörigen Teil über sich selber nicht.
(Interessant ist, dass es, je nach Quelle, über die Anzahl dieser Muskeln teils erheblich abweichende Angaben gibt. Und längst arbeiten unsere im Unheil Verbündete daran, dieses nicht zu verleugnende Moment des Menschlichen von Maschinen auslesen zu lassen. Erst mal natürlich nur zu unserer eigenen Sicherheit, um damit an gefährdeten Orte, etwa Flughäfen, abweichendes Verhalten aufzuspüren. Danach kommen wir anderen dran: Irgendwie wird man uns mit den über uns herausgefundenen Wahrheiten dann schon noch manipulieren können. [Vor allem mit Hilfe der nicht nachlassend rasant sich verbreitenden Schirme und Schemen, der Kameras und kinetischen Fühler und sonstigen Sensoren um uns herum – für dann: Emotionales Targeting ... und wir tragen deren Zielfernrohre gerne selber mit uns herum.] Oder sie werden, die Erkenntnisse dieser Feindaufklärung, gut kapitalistisch an uns zurückverkauft werden in der Logik des Denk an die Vorteile! Google Glass ist da sicher nur ein stümperhafter Vorschein. Notwendigerweise ist unser Fortschreiten, ist unser Vorwärtsdrang selber ein partiell blinder Fleck.)
Ebenfalls vor Jahren gab es mal in einem Spätprogramm ein Video zu sehen von einer dafür ausgezeichneten jungen Künstlerin. Dabei hatte sie nichts anderes gemacht, als eben die angedeutete Wahrnehmungsweise mittels eines technischen Mediums zu befördern, das die Illusion des Zugriffs als Lesbarkeit verstärkt: Sie hatte mit einer Videokamera in öffentlichen Verkehrsmitteln die Gesichter der Menschen aufgezeichnet. Und dann hatte sie die Bänder in extremer Verlangsamung ablaufen lassen.
Die Menschen waren gerade mit- und duldsam gegeneinander, in einer sichtlich vorbehaltlichen Gemeinschaft. Aber für mich hatte das etwas sofort Ergreifendes. Und dazu etwas Erschreckendes, wie auch etwas Obszönes. Doch war ich nicht abgestoßen, denn da war auch das Wunder. Da waren die wesentliche Einsamkeit, die Nacktheit und noch beider Ersteres. Es war sozusagen die gesamte Ethik Emmanuel Lévinas’ in Kürze, das Antlitz, die Gelöstheit und die Selbst-Beherrschung, die klassische wie die verborgene Schönheit, die entglittene, die skurrile Visage – und das alles waren keine Dichter‑, keine Leer- und Vulgärworte, sie waren lebendige Anschauung.
Ich bemerkte damals, dass ich mir diese (mit der Zeit ineinander übergehenden) Gesichter über Stunden hätte ansehen können – dort lag das eigentliche, das verschüttete Spektakuläre. (Tatsächlich habe ich später oft bedauert, das Band irgendwann gelöscht zu haben – es gab darin diese Spur.) Und was mit der Aufnahme und ihrer Verfremdung gewonnen war, war nun immerhin eben das: Die Sichtbarmachung der materiellen Basis dieser Seelen, die Unmittelbarkeit der doch nicht überschau- und also nicht endgültig bestimmbaren Expression, das ebenso subkutan bleibende wie in seiner vergrizzelten Körnigkeit flüchtig sichtbare werdende Drama des menschlichen Gesichts.
Mittlerweile weiß man, dass sich buchstäblich alles im Gesicht ausdrückt. Und damit wird man dann auch unser Innerstes tracken können, jede Lüge aufspüren, jeden Rückzugsort. (Und als erstes damit die empfängnisbereiten Tage der Frauen ablesen – sie gelten dann nämlich als kaufbereiter.)
Die Perfidie also auch unter den Engelsgleichen – sie hört niemals auf. Aber womöglich gibt es dann auch eine neue Maschinenstürmerei? Die bisherige Freiheit des Gesichts (Elias Canetti) an unsere mitleidslose Aufklärung zu verlieren, würde jedenfalls furchtbarer werden als alle anderen Verluste zuvor. Die Maske, das Theater des Sozialen, wird vielleicht unser absurder Himmel gewesen sein. Ist das Leben in Facebook schon ein reichlich seltsames, werden sich im Cyberface trotzdem einige dem umso lieber überantworten, während es für andere die biometrische Hölle sein wird. Nur Tote werden sich nicht mehr verstellen können.
Bleibt die fasziale Faszination, bleiben die furchtbare und die nackte Wahrheit, die menschliche Sucht und die Suche nach Gegenseitigkeit, nach dem Glanz im Auge der Mutter, nach dem Angesicht.
Andauernd suchen wir das wahre Gesicht auch im falschen – wir können kaum anders. Und andauernd suchen wir Eindeutigkeit – doch wenn es sie gibt, wird sie immer wieder auch zu etwas Totem (so wie jegliches Foto ein Totem von Sterblichkeit ist). Das Schema von all dem spiegelt sich immer stärker auf den uns umgebenden Schirmen. Und wir lernen gerade umso begieriger mit diesen Schemen zu leben.
Das mit dem Todesfeld mag man für die Zuspitzung eines abgeirrten Geistes halten. Doch wenn man, einmal sozusagen auf dessen Sendefrequenz, bemerkt, wie es auf den Schirmen der Gesichter unentwegt anhebt und gleich wieder auszuebben scheint, wie es, in seiner Dauer permanent um sein Quantum an Eigenleben vermindert, sich gar nicht erst zur Möglichkeit seines Ausdrucks entfaltet, leuchtet es einem schon ein bisschen ein. Der nicht zu einem Gegenüber gelangte Ausdruck – als wäre es jedesmal ein kleiner Tod, ein Akt des Ichs zur Welt, der nicht zu sich gekommen ist.
Ich ahne, Artaud hat es wohl anders gemeint. Aber mir geht es ja auch nur um den Moment, da dieser alte Song in meinem Kopf kreist und seine kleine Aufhellung bewirkt. Immerhin bringt er mich gerade dazu zu denken, es gälte beides: Die Hölle, das sind die Anderen. (J.-P. S.) Aber der Ausweg sind sie auch. (Dietmar Dath)