„Fragment/e über ei­ni­ge po­pu­lä­re Songs“ (1)

Das mensch­li­che Ge­sicht

Was mir heu­te, vie­le Jah­re spä­ter, in ei­nem Vor­über auf­ge­schnappt und fort­ent­wickelt aus ei­nem Ton­fet­zen, plötz­lich wie­der im Ohr ist, ist die Mu­sik ei­ner eng­li­schen Band na­mens Doll by Doll. Im Stück The hu­man face die be­rühm­te Ar­taud-Zei­le the hu­man face is an emp­ty power, it is a field of de­ath.

(Nach et­li­chen Ar­taud-Lek­tü­ren kommt es mir vor, als wä­re das – wohl durch sein durch Thea­ter-Den­ken – ei­ne der spe­zi­fi­schen Kräf­te Ar­tauds ge­we­sen: So­zia­le Ab­strakt­hei­ten kurz­zu­schlie­ßen in der drän­gen­de­ren Phy­sio­lo­gie. Und das um da­mit wo­mög­lich auch zur Ge­stalt sei­ner ei­ge­nen Er­kran­kun­gen vor­zu­drin­gen, der er vie­le Jah­re un­ter ner­vö­sen Kör­per­qua­len litt und des­halb in psych­ia­tri­schen Kli­ni­ken über­dau­er­te. Aber viel­leicht ist ja jeg­li­che Idee im­mer auch ein biss­chen Wahn.)

Die­se eng­li­sche Band je­den­falls hat­te ich ir­gend­wann ein­fach ver­ges­sen. Sie schien da­mals schon, An­fang der 80er, ein biss­chen ne­ben der Zeit (die für mich ei­ne vor al­lem von Joy Di­vi­si­on do­mi­nier­te war). Aber die­ses Stück war ei­ne ek­lek­tisch-klu­ge, für die er­schöpf­ten Rock Mu­sik-Ver­hält­nis­se sei­ner­zeit so­gar kunst­vol­le Num­mer, ei­ne merk­wür­di­ge Bri­co­la­ge auch (statt dem heu­te oft be­wusst un­or­ga­ni­schen, statt­des­sen an die Ideen sei­ner je­wei­li­gen Quel­len ap­pel­lie­ren­den Sam­plings): So­gar ein Je­sus Sa­ves-Chor kommt dar­in vor – und es ist nicht pein­lich!

Und noch zu die­sem Satz von Ar­taud: Ich weiß nicht mehr, was ge­nau ich mir da­bei ge­dach­te hat­te, als ich, frü­her Ar­taud-Le­ser, schon vor­her im­mer wie­der die Zei­len bei mir ge­habt hat­te und in dem Song dann wie­der­erkannt hat­te. An­to­nin Ar­tauds Die Nerven­waage stand im Bü­cher­re­gal mei­nes Va­ters, und im­mer wie­der, seit ich mit dem ernst­haften Le­sen an­ge­fan­gen hat­te, war ich zu die­sem Buch zu­rück­ge­kehrt, weil eben das Unzugäng­liche der Tex­te, de­ren ver­meint­li­che Ver­rückt­heit, längst et­was in mir ge­öff­net hat­te.

An all das muss ich den­ken, als mir, nach ei­ner ge­wis­sen Ent­halt­sam­keit in der mir von zu­viel de­zem­ber­li­chen Bu­den­zau­ber ver­lei­de­ten Stadt, die Ge­sich­ter der Men­schen wie­der auf­fal­len, die stil­le Pro­zes­si­on der Pas­san­ten und Näch­sten und doch oft so Un­be­greif­li­chen, der lo­nely crowd. Und wie die­se Ge­sich­ter, in Ei­le ver­strei­chend, an­dau­ernd et­was nach au­ßen zu keh­ren schei­nen. Wie sie, lau­te­re En­gel des Zeit­wei­li­gen, un­ent­wegt an­ders­wie Mie­nen auf­set­zen, Ver­dü­ste­run­gen zei­gen eben­so gut wie klei­ne Auf­hel­lun­gen, Versehrt­heiten, Ver­här­tun­gen und de­ren Ent­glei­sun­gen wie­der­um. Ticks, in­ne­res Wider­streiten, un­ent­schie­de­ne, ge­wit­tern­de, am­bi­va­len­te ... un­will­kür­li­che Zü­ge. Mas­ken, die sich über ein Le­ben hin aus­ge­prägt ha­ben und, sich sel­ber un­ab­seh­bar, in der Bei­läu­fig­keit des Mo­ments ver­le­ben­di­gen – wie sie als Ge­sich­ter sämt­lich ih­re To­des­ar­beit lei­sten (so Bernd Mattheus ein­mal im Be­zug auf Ar­taud).

Ein Ge­dan­ke kommt mir, den ich schon seit Län­ge­rem ver­fol­ge: Wie in al­len Ver­körperungen je­der Ein­zel­ne von al­len, von sämt­li­chen Mög­lich­kei­ten je­des An­de­ren pro­fi­tiert. So­gar der Ge­ring­ste, der Un­auf­find­bar­ste: Der Pas­sant. Er ist all­ge­gen­wär­tig, er ist ewig, doch es gibt ihn nicht. Geht das Per­sön­li­che all­zu oft im Ty­pi­schen auf, scheint oft erst wie­der das flüch­ti­ge Ge­sicht Ge­dicht und selbst­ver­ges­se­nes Spre­chen. Es stellt sich ein.

Bei Phy­sio­lo­gen – vor al­lem in der Nach­fol­ge Paul Ek­mans, der aus Kar­tie­rung und Stu­di­um der Ge­sichts­mus­keln FACS ent­wickelt hat, Face Ac­tion Co­ding Sy­stem – hei­ßen die­se un­will­kür­li­chen Be­we­gun­gen Mi­kro­ex­pres­sio­nen. Aber er­klä­ren sie et­was? Auch das Ge­sicht ge­bie­tet zu ei­nem ge­hö­ri­gen Teil über sich sel­ber nicht.

(In­ter­es­sant ist, dass es, je nach Quel­le, über die An­zahl die­ser Mus­keln teils er­heb­lich ab­wei­chen­de An­ga­ben gibt. Und längst ar­bei­ten un­se­re im Un­heil Ver­bün­de­te dar­an, die­ses nicht zu ver­leug­nen­de Mo­ment des Mensch­li­chen von Ma­schi­nen aus­le­sen zu las­sen. Erst mal na­tür­lich nur zu un­se­rer ei­ge­nen Si­cher­heit, um da­mit an ge­fähr­de­ten Or­te, et­wa Flug­hä­fen, ab­wei­chen­des Ver­hal­ten auf­zu­spü­ren. Da­nach kom­men wir an­de­ren dran: Ir­gend­wie wird man uns mit den über uns her­aus­ge­fun­de­nen Wahr­hei­ten dann schon noch ma­ni­pu­lie­ren kön­nen. [Vor al­lem mit Hil­fe der nicht nach­las­send ra­sant sich ver­brei­ten­den Schir­me und Sche­men, der Ka­me­ras und ki­ne­ti­schen Füh­ler und son­sti­gen Sen­so­ren um uns her­um – für dann: Emo­tio­na­les Tar­ge­ting ... und wir tra­gen de­ren Ziel­fern­roh­re ger­ne sel­ber mit uns her­um.] Oder sie wer­den, die Er­kennt­nis­se die­ser Fein­d­auf­klä­rung, gut ka­pi­ta­li­stisch an uns zu­rück­ver­kauft wer­den in der Lo­gik des Denk an die Vor­tei­le! Goog­le Glass ist da si­cher nur ein stüm­per­haf­ter Vor­schein. Not­wen­di­ger­wei­se ist un­ser Fort­schreiten, ist un­ser Vor­wärts­drang sel­ber ein par­ti­ell blin­der Fleck.)

 

Eben­falls vor Jah­ren gab es mal in ei­nem Spät­pro­gramm ein Vi­deo zu se­hen von ei­ner da­für aus­ge­zeich­ne­ten jun­gen Künst­le­rin. Da­bei hat­te sie nichts an­de­res ge­macht, als eben die an­ge­deu­te­te Wahr­neh­mungs­wei­se mit­tels ei­nes tech­ni­schen Me­di­ums zu be­för­dern, das die Il­lu­si­on des Zu­griffs als Les­bar­keit ver­stärkt: Sie hat­te mit ei­ner Vi­deo­ka­me­ra in öf­fent­li­chen Ver­kehrs­mit­teln die Ge­sich­ter der Men­schen auf­ge­zeich­net. Und dann hat­te sie die Bän­der in ex­tre­mer Ver­lang­sa­mung ab­lau­fen las­sen.

Die Men­schen wa­ren ge­ra­de mit- und duld­sam ge­gen­ein­an­der, in ei­ner sicht­lich vor­be­halt­li­chen Ge­mein­schaft. Aber für mich hat­te das et­was so­fort Er­grei­fen­des. Und da­zu et­was Er­schrecken­des, wie auch et­was Ob­szö­nes. Doch war ich nicht ab­ge­sto­ßen, denn da war auch das Wun­der. Da wa­ren die we­sent­li­che Ein­sam­keit, die Nackt­heit und noch bei­der Er­ste­res. Es war so­zu­sa­gen die ge­sam­te Ethik Em­ma­nu­el Lé­vi­n­as’ in Kür­ze, das Ant­litz, die Ge­löst­heit und die Selbst-Be­herr­schung, die klas­si­sche wie die ver­bor­ge­ne Schön­heit, die ent­glit­te­ne, die skur­ri­le Vi­sa­ge – und das al­les wa­ren kei­ne Dichter‑, kei­ne Leer- und Vul­gär­wor­te, sie wa­ren le­ben­di­ge An­schau­ung.

Ich be­merk­te da­mals, dass ich mir die­se (mit der Zeit in­ein­an­der über­ge­hen­den) Ge­sich­ter über Stun­den hät­te an­se­hen kön­nen – dort lag das ei­gent­li­che, das ver­schüt­te­te Spek­ta­ku­lä­re. (Tat­säch­lich ha­be ich spä­ter oft be­dau­ert, das Band ir­gend­wann ge­löscht zu ha­ben – es gab dar­in die­se Spur.) Und was mit der Auf­nah­me und ih­rer Ver­frem­dung ge­won­nen war, war nun im­mer­hin eben das: Die Sicht­bar­ma­chung der ma­te­ri­el­len Ba­sis die­ser See­len, die Un­mit­tel­bar­keit der doch nicht über­schau- und al­so nicht end­gül­tig be­stimm­ba­ren Ex­pres­si­on, das eben­so sub­ku­tan blei­ben­de wie in sei­ner ver­griz­zel­ten Kör­nig­keit flüch­tig sicht­ba­re wer­den­de Dra­ma des mensch­li­chen Ge­sichts.

Mitt­ler­wei­le weiß man, dass sich buch­stäb­lich al­les im Ge­sicht aus­drückt. Und da­mit wird man dann auch un­ser In­ner­stes tracken kön­nen, je­de Lü­ge auf­spü­ren, je­den Rück­zugs­ort. (Und als er­stes da­mit die emp­fäng­nis­be­rei­ten Ta­ge der Frau­en ab­le­sen – sie gel­ten dann näm­lich als kauf­be­rei­ter.)

Die Per­fi­die al­so auch un­ter den En­gels­glei­chen – sie hört nie­mals auf. Aber wo­mög­lich gibt es dann auch ei­ne neue Ma­schi­nen­stür­me­rei? Die bis­he­ri­ge Frei­heit des Ge­sichts (Eli­as Ca­net­ti) an un­se­re mit­leids­lo­se Auf­klä­rung zu ver­lie­ren, wür­de je­den­falls furcht­ba­rer wer­den als al­le an­de­ren Ver­lu­ste zu­vor. Die Mas­ke, das Thea­ter des So­zia­len, wird viel­leicht un­ser ab­sur­der Him­mel ge­we­sen sein. Ist das Le­ben in Face­book schon ein reich­lich selt­sa­mes, wer­den sich im Cy­ber­face trotz­dem ei­ni­ge dem um­so lie­ber über­antworten, wäh­rend es für an­de­re die bio­me­tri­sche Höl­le sein wird. Nur To­te wer­den sich nicht mehr ver­stel­len kön­nen.

 

Bleibt die fas­zia­le Fas­zi­na­ti­on, blei­ben die furcht­ba­re und die nack­te Wahr­heit, die mensch­li­che Sucht und die Su­che nach Ge­gen­sei­tig­keit, nach dem Glanz im Au­ge der Mut­ter, nach dem An­ge­sicht.

An­dau­ernd su­chen wir das wah­re Ge­sicht auch im fal­schen – wir kön­nen kaum an­ders. Und an­dau­ernd su­chen wir Ein­deu­tig­keit – doch wenn es sie gibt, wird sie im­mer wie­der auch zu et­was To­tem (so wie jeg­li­ches Fo­to ein To­tem von Sterb­lich­keit ist). Das Sche­ma von all dem spie­gelt sich im­mer stär­ker auf den uns um­ge­ben­den Schir­men. Und wir ler­nen ge­ra­de um­so be­gie­ri­ger mit die­sen Sche­men zu le­ben.

Das mit dem To­des­feld mag man für die Zu­spit­zung ei­nes ab­ge­irr­ten Gei­stes hal­ten. Doch wenn man, ein­mal so­zu­sa­gen auf des­sen Sen­de­fre­quenz, be­merkt, wie es auf den Schir­men der Ge­sich­ter un­ent­wegt an­hebt und gleich wie­der aus­zu­eb­ben scheint, wie es, in sei­ner Dau­er per­ma­nent um sein Quan­tum an Ei­gen­le­ben ver­min­dert, sich gar nicht erst zur Mög­lich­keit sei­nes Aus­drucks ent­fal­tet, leuch­tet es ei­nem schon ein biss­chen ein. Der nicht zu ei­nem Ge­gen­über ge­lang­te Aus­druck – als wä­re es je­des­mal ein klei­ner Tod, ein Akt des Ichs zur Welt, der nicht zu sich ge­kom­men ist.

Ich ah­ne, Ar­taud hat es wohl an­ders ge­meint. Aber mir geht es ja auch nur um den Mo­ment, da die­ser al­te Song in mei­nem Kopf kreist und sei­ne klei­ne Auf­hel­lung be­wirkt. Im­mer­hin bringt er mich ge­ra­de da­zu zu den­ken, es gäl­te bei­des: Die Höl­le, das sind die An­de­ren. (J.-P. S.) Aber der Aus­weg sind sie auch. (Diet­mar Dath)