A.d.L.e.R: Aus dem Leben einer Rikschafahrerin – Nr. 7
Ich stehe am Reichstag, es ist heiß, ich bin auf der Schattenseite unter den Bäumen, und neben mir ist ein ganz frischer Kollege, ein Lehramtstudent mit einem entsetzlichen Redebedürfnis. Es ist sein fünfter Arbeitstag, er hat das berühmte Anfängerglück und ist der Poesie dieses dreckigen Jobs restlos verfallen. Aus dem Reichstag heraus wälzt sich die Rampe herunter eine Busladung butterfahrender Seniorinnen und Senioren in beige und pastell, überquert unter Lebensgefahr die Scheidemannstraße zu uns herüber und marschiert weiter in Richtung Tor. Die müssen zum Bus. Als die Gruppe vorüber ist und der Kollege mit mir bespricht, was eben geschah, kommt ein Paar heran.
Die Frau trägt eine Sacharbeiterinnenfrisur auf dem Kopf und der Mann Funktionssandalen an weiß besockten Füßen. Das Paar wendet sich an den Kollegen: »Wir würden gern mit Ihrer Rischka zum Gendarmenmarkt. Ist das zu weit für Sie?« – »Nein, überhaupt nicht«, strahlt der Kollege, doch dann zieht er die Augenbrauen zusammen und hebt den Zeigefinger: »aber eine Rischschsch-ka kriegen Sie nicht. Mit mir können Sie nur Rik-scha fahren.Das liegt nämlich daran, dass ...« Und nun fängt der Kollege an zu erklären, warum es Rikscha und nicht Rischka heißt, und der Kollege lässt nichts aus. Als ob es ohne das nicht ginge, flicht er die Geschichte von der Erfindung der Rikscha mit ein, sein erhobener Zeigefinger kommt gar nicht mehr zur Ruhe. Das Paar ist irritiert. Es wollte sich eigentlich nur ein paar Meter fahren lassen, muss aber dafür erst einmal Japanisch lernen. Als der Kollege die japanischen Silben wie zum Üben vorspricht, donnert der 100er Bus Richtung Alex vorbei, und der Kollege muss dagegen anschreien und nimmt zur Verstärkung den zweiten Zeigefinger zur Hilfe. Das Paar hat Mühe, den Gendarmenmarkt gedanklich mit Japan, Schanghai und Indien in Verbindung zu bringen, es muss sich konzentrieren, der Kollege redet auch etwas zu schnell. Er kann kein Ende finden, es ist alles gesagt, aber nun darf ja nicht unterschlagen werden, dass das R‑Wort aus dem Japanischen nicht nur ins Englische und ins Deutsche übernommen wurde, auch in andere Sprachen sei es einverleibt worden, beispielsweise ins Polnische, wo es bereits vor dem Ersten Weltkrieg ...
Die Frau erinnert sich ihres Anliegens, fasst sich ein Herz und unterbricht den Kollegen: »Also dürfen wir dann mit Ihrer Ritschka oder wie das heißt zum Gendarmenmarkt fahren? Wie teuer ...?« Das hätte Sie nicht sagen sollen. Sie hätte das R‑Wort vermeiden und sagen müssen: »Wollen Sie uns jetzt fahren oder nicht? Wir können nämlich auch laufen und wir schrecken nicht einmal vor öffentlichen Verkehrsmitteln zurück.« Denn der Kollege Lehramt lächelt, er freut sich und erklärt alles von vorne, der Reihe nach und im Detail noch ein zweites Mal. Das ist eine gute Gelegenheit für das Paar, es sich anders zu überlegen und doch nicht einzusteigen. Unterdessen kommen zwei Kollegen angefahren, zwei alte Hasen und harte Hunde. Sie lassen ihre Bremsen aufjaulen gerade als der Kollege Lehramt bei den japanischen Silben ist, so dass der Kollege Lehramt die japanischen Silben wiederholen muss, dann steigen sie ab, trinken einen Schluck, und einer holt seinen Tabak raus und dreht sich eine Zigarette. Ich werfe ihnen augenrollende Blicke zu und wende mich ab. Ich schaue in die Weite des Himmels über dem Spreebogen. Dabei bete ich, dass das Paar es sich nicht anders überlegt, sondern einsteigt und fährt, und wundere mich darüber, dass es nicht schon längst weitergegangen ist. Zur Beruhigung drehe auch ich mir eine Zigarette, zünde sie an und wende mich dann wieder dem Ort des Geschehens zu. Alter Schwede, denke ich, beim Rikschafahren kannste was erleben, denn nun steigt das Paar tatsächlich doch und offenbar ganz freiwillig bei ihm ein. Das ist tapfer. Bis die am Gendarmenmarkt sind, wird der ihnen das Blaue vom Himmel herunter erzählt haben. Und also fahren sie los unter den marktschreierischen Rufen eines der beiden anderen Kollegen: »Rittschschschka frei! Steigen Sie ein! Fahren Sie mit! Rittschschschka frei!«
Sehr amüsant wie Sie da den/die Lehrer auf’s Korn genommen haben. – Muss ich also demnächst aufpassen, sollte ich dann doch diesen Beruf ergreifen?