Ob diese Diagnose verfrüht ist oder nicht, wird sich zeigen, lesenswert ist Shelby Steeles kurzer Essay auf jeden Fall; einige seiner Aussagen über die Wahl von Donald Trump und den amerikanischen Linksliberalismus lassen sich auch auf seine europäische Spielart und den sich gegen ihn wendenden Rechtspopulismus übertragen: Nicht reale Schuldgefühle, so Shelby Steel, sondern die Furcht vor einem Stigma (Rassismus, Sexismus, Homophobie und Xenophobie) sei der Antrieb zu zeigen, dass man auf der richtigen Seite stehe. In den 60igern begann der Wandel: Nicht Freiheit [sei] Hauptanliegen [des Linksliberalismus’], sondern moralische Autorität. Markenzeichen seien etwa politische Korrektheit, Identitätspolitik, Orthodoxie in Umweltfragen, der Kult der Diversität. Wahlen wurden zu einer Möglichkeit sich von »seiner« (Amerikas) Vergangenheit loszukaufen, der Höhepunkt des Ganzen war (vielleicht) Obamas Präsidentschaft, aber die Waffen beginnen stumpf zu werden. Steel charakterisiert den amerikanischen Linksliberalismus als eine Art erlösende »Knechtschaft«, als anachronistisch, als von der Realität entkoppelt. — Ohne seine Gegner kann der Linksliberalismus nicht bestehen, er ist ausgelaugt, weil er korrupt geworden ist.
Der Text ist interessant und geht noch in der Diagnose von Mark Lilla, die einige Wochen zuvor schon die Gemüter erregte, hinaus. Das, was Steele für den amerikanischen Linksliberalismus schreibt, kann man auch auf entsprechende Denkrichtungen in Europa richten.
Vielleicht hätte Steele einige Male statt »Linksliberalismus« einfach »die amerikanischen Demokraten« schreiben sollen. Ich glaube nämlich nicht, dass der »Linksliberalismus« ausgedient hat, sondern nur die von Steele beschriebene Variante davon. Die ist womöglich »korrupt« geworden und zwar dahingehend, dass er zu einer Art Ablasshandel des amerikanischen saturierten Mittelstandes mutiert ist. Daher war die Wahl von Clinton als Präsidentschaftskandidatin ein Fehler: sie mobilisierte nicht die Wähler, die sich von Obama noch angesprochen fühlten. Entweder resignierten sie und wählten nicht oder sie stürzten sich in das Abenteuer Trump.
Interessant ist Steeles Text auch dahingehend, dass er knapp 60 Tage nach Trumps offizieller Inauguration kein Wort über dessen Politik verliert. Meiner Meinung nach muss man beides zusammen denken: Das Scheitern einer Politik der »moralischen Autorität« und das Scheitern der Restauration hin zu einer Zeit, die es so, wie sie idealisiert wird, nie gegeben hat. Nicht umsonst sorgen sich viele in den Staaten, was passiert, wenn bei den Wählern Trumps die Ernüchterung einsetzt.
Ich habe den Artikel schon vor Wochen gelesen, und fand die Analyse pointiert aber stimmig.
Natürlich wird es den Linksliberalimus weiterhin geben, aber die Gegnerschaft zwischen Populisten und Linksliberalen ist richtig festgestellt.
Was ich ebenfalls merke: man selber ist ja auch »raus aus dem Spiel«, denn ich will mich von beiden Seiten nicht vereinnahmen lassen. Der Linksliberalismus vermittelt eine geteilte Welt, reklamiert das Gute für sich und denunziert (Verantwortungs-Ausschluss) das Schlechte. Mit dieser Halbheit, die ganz ausgezeichnet mit geringfügigem Wissen klar kommt, will ich nichts zu tun haben. Da gibt es nur eine »Meinungsebene«, aber kein Handeln. Das ist eine windelweiche politische Sozialisation, die einfach nur perfekt in unsere Performance-Ära passt.
Ich will aber Handeln, eine Politik die nur redet und schreibt, ist in der ständigen Gefahr präpotent und »manipulativ« zu werden. Genau das ist an den Universitäten ja passiert. Studenten »ohne Macht« sprich Befugnisse, terrorisieren ganze Institutionen.
Und nach der Uni ist vor dem Voluntariat.
Ich unterschreibe den Satz von Shelbey Steele. Sieht so aus, als wäre die schönste Moral von allen desavouiert. Ein häßlicher Gegner nimmt ihr den ästhetischen Mehrwert.
@Gregor
Die Frage ist, ob Trump nur wegen dieser Restauration gewählt wurde oder auch bloß deswegen, weil man den status quo satt hatte (s.u.). Zu Lilla noch: Man muss wohl viele der heute regierenden Politiker (zumindest in Europa) als Verwalter des Bestehenden oder dessen was sie selbst nur mehr leidlich glauben, sehen: Weiter wie bisher! Augen zu und durch! Das Wegwollen scheint abgemacht zu sein.
@die_kalte_Sophie
»Die ganz ausgezeichnet mit geringfügigem Wissen klar kommt«, eine richtige und wichtige Anmerkung (genauso wie man kein Argument mehr formulieren muss, die moralische Autorität genügt). Es stimmt, dass das Aufkommen des Rechtspopulismus’ mit diesen Entwicklungen zusammenhängt, sprich, dass das Verlangen auf der richtigen Seite zu stehen, dass also die Wähler die Richtigen zu wählen haben, auf Grund der soziökonomischen Entwicklungen und Realitäten von einem Teil ebendieser Wähler nicht mehr mitgetragen wird. Man wählt dann die anderen, die Bösen und sei es nur, damit man es den (angeblich) Guten zeigt. Frust und Enttäuschung dieses Teils der Wähler, die rechtspopulistisch wählen, machen ebendiese Parteien stark und genau das wird übersehen, absichtlich oder unabsichtlich. — Klar, es schmerzt zugeben zu müssen, dass man etwas falsch gemacht hat, aber es scheint auf beiden Seiten des Atlantiks ähnlich zu sein (diese Regung ist mir in einer Hinsicht nicht unsympathisch, denn sie möchte Veränderung und nicht dem Bestehenden die Mauer machen).
@metepsilonema
Vermutlich ist beides nicht voneinander zu trennen. Ein ehemaliger Arbeitskollege von mir, der in den 1990er Jahren in New York bearbeitet hat, war erstaunt, wieviele Unterstützer Trump auch dort hat. Und dies sowohl von der keinesfalls abgehängten Mittelschicht als auch bei den Migranten, die es in de Mittelschicht »geschafft« haben. Für sie war Clinton nie eine Alternative, weil sie als unnahbar galt. Mit einem anderen Kandidaten hätten es die Demokraten womöglich dennoch geschafft. (Wobei ich nicht Sanders meine.)
der Text von Steele ist voll von psychologischer Klugheit. Ich möchte einen Baustein genauer kommentieren. Es heißt:
»Dieser Linksliberalismus bildete sich nicht als Ideologie heraus, sondern als Identität. Er bot den Amerikanern die Möglichkeit moralischer Wertschätzung anstelle des Schreckgespensts amerikanischer Schande – aber damit machte sich der Linksliberalismus selbst diesem Schreckgespenst untertan. Ohne einen «hässlichen Amerikaner», den man verabscheuen kann, fällt auch der Wertschätzungsbonus weg. Daher rührt die antiamerikanische Unterströmung, die dem Linksliberalismus eigen ist.«
Hier versammelt Steele wesentliche Axiome, die zur linksliberalen Gruppenidentität zählen. Ja vorneweg nennt er es sogar eine Identität, keine Ideologie.
Eine hochinteressante Unterscheidung. Ich vermute umgekehrt, dass in jeder Ideologie eine virulenter affektiver Kern steckt. Darüber kann man trefflich streiten. Politik ist ohne Affekte ja kaum zu haben (möglich aber selten).
Besonders schön: die Unterworfenheit der Gruppe. Das erinnert mich an Deleuze/Guattari und ihre »unterworfenen Gruppen«, damals auf Ödipus gemünzt.
Hier aber viel besser, denn es leuchtet psychologisch sofort ein, dass man nicht einem Schuldgefühl hausieren gehen kann, ohne ihm selbst »zum Opfer zu fallen«.
Diese Struktur zwischen subjektiver Unterworfenheit und objektivistischen Freiheitsgetöse scheint mir typisch für den LL.
@ Gregor, man müsste natürlich zwischen einem Reflektierten und einem Affekt-gebundenen LL unterscheiden. Natürlich wird man auch Intellektuelle und Denker finden, die nicht sofort auf dem Boden knien, wenn jemand seine Schuldgefühle auskippt. Aber in der Breite trifft das zu 100% zu. Jede politische Bewegung ist doch daran zu messen, was »auf der Straße davon ankommt«, und nicht an ihrer Idealform.
@die_kalte_Sophie
Ich fand den Hinweis auf die Identität auch sehr aufschlussreich, da diese ansonsten ausnahmslos mit der politisch rechten Seite in Verbindung gebracht wird. — Das Freiheitsgetöse ist eher ein ökonomisches und kein politisches oder gesellschaftliches; wahrscheinlich bleibt der Linksliberalismus deshalb ein Mittel- und Oberschichtenphänomen. Mir fiel gerade Brecht ein.
Vor allem @die_kalte_Sophie
„Was ich ebenfalls merke: man selber ist ja auch »raus aus dem Spiel«, denn ich will mich von beiden Seiten nicht vereinnahmen lassen.“
Schon lange muss ich das so denken. Ich glaube, dass ist deshalb so, weil beide in der Denkform kulturalistisch argumentieren und sich in dieser zueinander wie Spiegelbilder verhalten ohne diesen Denkrahmen zu sprengen. Etwas verkürzt und grobgespachtelt: wer bei den Grünen das Vorzeichen wechselt, landet im Großenganzen bei der AFD und umgekehrt. Das macht natürlich politisch einen großen Unterschied, dieser wird aber mit der parolenhaften Deklamationsorgie erkauft, deren Kern völlige intellektuelle Wehrlosigkeit ist. Ein Zeichen dafür ist, dass in öffentlichen Diskussionen in Massenmedien selten eine zweite Frage gestellt und beantwortet wird. Was man als „Linksliberalismus“ bezeichnet ist eine Sekundärideologie und ganz eng an eine neoliberale Gesellschaftsordnung und ihre Machverhältnisse gebunden, während man sich selbst als zu Gänze jenseits aller Ideologie wahrnimmt und behauptet, quasi ort- und zeitlos, die historische Endstufe des Humanitären. Das erklärt vielleicht auch die typische „Struktur zwischen subjektiver Unterworfenheit und objektivistischen Freiheitsgetöse“. Sie hat damit möglicherweise das gleiche Schicksal wie die bürgerlichen Freiheiten, deren Realisierung ja auch nicht gelang, ohne dass sich das Bürgertum in seinem im Kern oligarchischen Modell abschaffte oder aber seine Werte aufgab. Beides zusammen war nicht zu haben. Es hat m.E. mit Selbstabschaffung als gesellschaftlich bestimmender Gruppe reagiert.
Viele politischen Selbstbezeichnungen sind allenfalls noch als polemische Zitate zu verstehen, die eine intellektuelle Ordnung schaffen sollen in politischem Feld und Parteienlandschaft, historisch aber gar nicht mehr durch sie zu rechtfertigen sind. Merkel und Schäuble sind nicht konservativ, auch nicht klassische Liberale, sondern Wirtschaftsliberale ganz neuen Typs. Das erklärt auch ganz gut den Phantomschmerz in der CDU. Die SPD hat, anders, aber noch entschiedener, einen ähnlichen Prozess hinter sich. Was sie in den letzten 10 Jahren vertreten hat, hat mit klassischer Sozialdemokratie außer Rhetorik (jetzt gerade von Schulz aufgewärmt) nichts mehr gemein. Und beide stehen sozialpolitisch eher weiter links als die Demokraten in den USA. Beide haben diesen Prozess auch mit empfindlichen Wählereinbußen bezahlt.
Steele trifft sicherlich einen Punkt, kommt aber im Kern über den Vorwurf der Verlogenheit und Selbstbeweihräucherung nicht wirklich hinaus. Die Ideale teilt er, verharrt aber überwiegend im Aufrechtigkeitsgedöns. Extrem polemisch gesagt: Wenn die Eliten doch nur mal so heilig wären wie sie reden, dann wär´s schon ok.
Was hieße denn korrupt? Etwas radikaler als Steele es sagt könnte es heißen: Die Korrumpierbarkeit der Werte war die Voraussetzung ihrer Durchsetzung. In ihrer Absolutsetzung spiegelt sich eine von Beginn an skotomisierte Weltsicht. Es hat in der Glut ihrer Verfechter in der Politik (nicht zwingend bei allen Intellektuellen, an Warnungen hat es auch hier nicht gefehlt) immer gegolten, dass man sich für die liberalen Werte einsetzt, solange man bestimmen kann, was ihr Inhalt ist und wann sie denn für wen gelten – und wann eben nicht. Dieses Interpretationsmonopol wurde immer gehütet, machtgeschützt und weitestgehend auch durchgesetzt mit zum Teil verheerenden Folgen. Man hat ja sogar bis weit in den „Linksliberalismus“ einen humanitären Interventionismus vertreten, an dem man nicht nur den Interventionismus kritisieren kann sondern auch den verengten Begriff der Humanität. Die schärfsten Äußerungen zum Ukrainekonflikt kamen und kommen oft von Grünen.
Insgesamt haben Brexit und Trumpwahl offenbart, dass es sich um eine tiefe intellektuelle und politische Krise handelt, die weit mehr ist als ein Aufrichtigkeitsdefizit. Dieses Defizit ist übrigens in der Politik nicht neu sondern chronisch. Ich finde das oft lästig, aber nicht übermäßig schlimm. Viel schlimmer ist der Realitätsverlust eines nicht stimmigen Weltbildes, dass durch parolenhaften Trotz und die moralische Regulierung des Sagbaren in immer engere Kreise kompensiert und behauptet werden soll. Darüber muss es zwangsläufig irgendwann zum Konflikt kommen, spätestens dann, wenn die Diskrepanz dessen, was die Leut´ mehrheitlich an überwiegend einheitlichen Interpretationen so hören und lesen mit dem, was sie in ihrem Leben, an der frischen Luft draußen und an Meldungen in den Medien erleben, zunehmend weniger zu tun hat. Vielleicht wird es zu lang, wenn ich zu viele Beispiele nenne, aber die aktuelle Flüchtlingsdiskussion ist sicher bei uns das prominenteste Beispiel. Hier wurden Politik und Realitätssinn durch Moral und Sentimentalität zu ersetzen versucht. Das Ergebnis ist verheerend, und wird es voraussichtlich auch in diesen Sommer bleiben – möglicherweise sich zuspitzend. Dieses Politikbeispiel hat übrigens beide Wahlen durchaus beeinflußt, in Großbritannien mehr als in den USA. Andererseits war das Lob für diese Politik international je größer, je weiter man geographisch entfernt war, bestes Beispiel ist Obama.
Was all dieses über unsere Weltbilder und ihre Verankerung auch in Interessen (ohne die sie in der Luft hängen und unverbindlich bleiben) aussagt, wäre eine spannende Diskussion.
Ihre Einrahmung ist sehr gut, kann ich komplett nachvollziehen.
–Ihr Ansatz, den Linksliberalismus (LL) historisch einzuordnen, gefällt mir sehr. Man kann den LL in der Tat als eine Variante der Bürgerlichkeit begreifen, die den Anfängen des oligarchen Bürgertums in einer bestimmten historischen Phase (Jetzt-Zeit) nachfolgt. Steele berücksichtigt das, in dem er eine Zäsur beschreibt, bzw. einen Zenit. Ein unverschämter Rivale ist nun auf den Plan getreten, der Populismus, der die Kühnheit des Regierens nicht so eitel vertuscht, sondern mit Konfrontation und Brüchen arbeitet. Das eine hätte das andere sozusagen »herbeigerufen«, da man eine zeitliche Versetzung beobachtet.
–Dazu passt eine ältere Idee von mir, nämlich dass die Form der Bürgerlichkeit nicht endgültig vorliegt, wie einige Staatstheoretiker (auch Habermas) behaupten, sondern ein Holismus besteht, genau wie Sie sagen: nämlich dass die Gesellschaftsverhältnisse eine bestimmte FORM jeweils wahrscheinlich machen, sodass man sich jeweils wundert, wie eine abgespannte Liberalität und ein wirres Zugeständnis ans Soziale doch grobschlächtig SINN machen können.
–Sehr schön fand ich auch ihre Beschreibung von der Korruption der Werte. Man kann den Adepten der Vereinfachung und flächendeckenden Suggestion viele Vorwürfe machen, aber irgendwann kommt der Punkt, wo man an allem zweifelt, auch den Werten selbst, die rhetorisch so leicht dienstbar zu machen sind. Das ist ein zeitloses »nihilistisches Erlebnis«, frei nach Nietzsche. Wie schon lange nicht, musste ich den Idealisten in mir erkennen.
Interessante Kommentare. In der Tat ist Steele natürlich ein »enttäuschter« Linksliberaler, der im Kern deren »Werte« gar nicht abgeschworen hat, sondern nur die Abgehobenheit kritisiert. Leider ist es in unserem Diskursklima fast schon zwingend vorgeschrieben, dass die Kritiker eines politischen Richtung selber Adepten eben dieser Richtung sein müssen. CDU-Kritiker sind nur (medial) interessant, wenn sie aus der CDU kommen. Lafontaine hatte in den 2000er Jahren mit seiner Abspaltung nur deshalb Erfolg, weil er ständig auf seine Vergangenheit in der SPD rekurrierte. Wenn nicht Steele den Text geschrieben hätte sondern irgendein Tea-Party-Republikaner, würde er gar nicht Ernst genommen.
Politische Richtungszuweisungen wie »rechts«, »links«, »Bürgerum«, »linksliberal« sind natürlich immer Hilfskonstrukte, die im Zweifel zu definieren sind. Am ehesten könnte man das amerikanische »linksliberal« mit »rot-grün« (oder »grün-rot«) ins Deutsche übersetzen. Das Spannende und Gefährliche zugleich in den letzten Jahren der Merkel-Kanzlerschaft ist, dass auch diese Koordinaten verschwimmen. Atomausstieg mit der Brechstange und die Flüchtlingspolitik hätten auch von rot-grün durchgezogen werden können. Der Union hat der Schwenk nach grün 2013 (vor der Flüchtlingspolitik) einen enormen Aufschwung beschert. Man konnte CDU wählen, ohne sich verstecken zu müssen. Die Toskana-Fraktion war plötzlich parteiübergreifend. Dies hatte und hat natürlich auch Auswirkungen auf die sozialen Schichten. Das »Bürgertum« ist ökologisch gesinnt – aber nur solange, bis es nichts kostet. Der Kretschmann-Pragmatismus ist mit Händen zu greifen.
Schon jetzt sind sich die etablierten Parteien derart ähnlich, dass man in Wahlkämpfen verzweifelt nach Differenzen suchen muss. Die Koalitionslogiken bedingen auch, dass diese meist unter den Teppich gekehrt werden. Populistische Strömungen (sowohl aus dem nationalistisch-konservativen Lager als auch links von der Universalmitte) mischen diese Stimmung auf; sie stören die politische Friedhofsruhe. In Präsidialsystemen wie den USA und Frankreich ist das gravierender als in repräsentativen Demokratien. Eine Wahl zwischen Trump und Sanders wäre hochinteressant geworden, weil sich beide in den Diagnosen über den Zustand der amerikanischen Gesellschaft ähnlicher sind, als man gemeinhin denkt.
Jaja der Kretschmann. Ein Forumsteilnehmer auf ZEITonline, hat neulich den neoliberalen Beamten als das Zentrum der deutschen Politik-Landschaft ausgemacht. Die natürliche Distanz des Beamten zu den Härten des Wettbewerb lässt diese typische Nähe, »Nachsicht« den Verteilungskämpfen gegenüber aufkommen.
Und neben der Nachsicht sind die Fortschritte in der Produktivität nach einer makroökonomischen Nabelschau doch letztlich ein Fortschritt »für uns alle«.
Man muss die Ökonomie, sofern sie prosperiert eigentlich nur mit einem kollektiven Diskurs interpretierend begleiten, ein richtiges politisches Vorhaben ist nicht nötig. Längst haben die Parteien das bemerkt.
Wenn’s nicht klappt (siehe Süd-Europa), explodieren die Auseinanderetzungen, in Schattengefechten, in reiner Polemik, aber die »intellektuelle Wehrlosigkeit« bleibt auch in Krisenzeiten voll erhalten.
Der LL bleibt dennoch interessant, weil er eine Vorform des Politischen, also einen Prot-Agonismus darstellt. Man findet ihn in Parteien, aber man findet ihn noch mehr in Teilen der Presse und im intellektuellen Proletariat.
Ich fand daher den Begriff der »Sekundär-Ideologie« von Jumid ganz gut, der den Anpassungsvorgang zwischen einem plastischen »Urwillen zur Politik« und den Gesellschaftsverhältnissen beschreibt.
N.b. ist der Linksliberalismus solange eine Dummheit, wie er die Interessengegensätze hinsichtlich der Kapitalverhältnisse unterschlägt, durch Gesinnugnsethik, durch Maximen der Freundschaft und Kollegialität, etc. Und jede Dummheit ist auch ein bisschen spannend.
Mit Sekundärideologie meine ich die nahezu rückstandslose Anpassung der „Linken“ an das kapitalistische Wirtschaftsmodell nach dem Untergang des Sozialismus. Wer war damals schon gerne auf der Seite der Verlierer? Man fühlte sich vom Weltgericht der Geschichte in Auffassungen bestätigt, die man, wäre man etwas ehrlicher, so nicht bruchlos vertreten hatte. Man könnte das auch in Anklang an Benda den „Verrat der Intellektuellen“ nennen. Es ereignet sich ein nahezu geschlossenes Überlaufen in die neoliberale Ideologie unter dem Vorzeichen des Pragmatismus. Für sich hätte eine solche polemische Bezichtigung, dass es diesem intellektuellen Kapitulationsprozess die Harmlosigkeit nähme. Ich glaube es war Camus, der sagte, sinngemäß paraphrasiert, unter Erhalt seines durchaus angemessenen Pathos: Wer unscharf und schlampig denkt, macht sich mitschuldig am Elend der Welt. Deshalb besteht eine gewisse Zerknirschtheit bei den LL, bei denen die Botschaft der letzten zwei Jahre angekommen ist, zu Recht. Ich glaube, es ehrt diesen Teil der LL.
Die helleren, freilich minoritären Köpfe ahnten, dass nach dem Ende des Sozialismus auch der liberale Westen untergehen werde und sich, zwar nicht in so rasendem Tempo, aber prozesshaft ebenso revolutionär verändern werde, dass also auf den Untergang des Konservatismus im 19-ten Jhrdt und den Untergang des Sozialismus im 20-ten der Untergang des Liberalismus im 21-ten Jhrdt folgen könnte. Dass ist etwas schematisch, zugegeben, aber ich glaube wir sind Zeuge dieses Prozesses. Sowie dem Konservativen das naturgegebene und hierarchische Gesellschaftsbild der Societas civilis und der alles dominierende Agrarsektor abhanden kamen, verloren Arbeiter und Bürgertum im 20. Jhrdt die Industriegesellschaft als politisch-antagonistische Struktur. Dem Sozialismus gingen die Arbeiter aus und dem Liberalismus die Bürger in ihrer klassischen Form. Damit meine ich nicht, dass es diese Sozialfiguren, Adel und Bauern und Handwerker, Arbeiter und Bürger, nicht mehr gäbe und auch nicht, dass es sie nicht noch lange geben wird. Nur strukturieren ihre Interessen, Werte und Ideologien nicht mehr die Parteien in hochentwickelten kapitalistischen Gesellschaften. Sie sind nicht mehr Motor der gesellschaftlichen Dynamik, derentwegen man das bürgerliche Zeitalter zu Recht das bürgerliche: der bürgerlichen Dynamik wegen, nicht weil das Bürgertum irgendwann einmal in der Geschichte die Mehrheit gehabt hätte. Diese hatte sie niemals. Der Kapitalismus kommt in gewisser Weise ohne die ihn lange tragenden Gruppen aus, eventuell sogar dynamischer und profitabler als mit ihnen, weil die ihnen anhaftenden bremsenden Schranken ihrer Allverfügbarkeit doch deutlich im Wege steht: Ein Familienbild, das auf Stabilität beruht; Traditionen, die immobil machen; Ansprüche an Gerechtigkeit, die die Funktionslogik stören, religiöse Glaubensinhalte, die als letztes Kriterium des gelingenden Lebens alles Mögliche beinhalten können, bloß nicht schrankenlosen Erwerb, Demokratie, die ökonomisch dysfunktional ist etc etc. Hier auch eine Verlustbilanz aufzumachen, ist nicht zwangsläufig nur rückwärtsgewandt und nostalgisch. Ich möchte hier eine Grundtendenz beschreiben, die ich für revolutionär halte, für die es aber viele ungleichzeitige Gegenbeispiele sicher gibt.
Daraus folgt etwas, dass wir als Nivellierung der Parteien wahrnehmen. Alle drängeln in einer vermeintlichen Mitte, ein Plastikwort. Ebenso ein Plastikwort wie Populismus, eine Begriffsvariable oder ein Gedankenjoker, der eine emotionale Aufladung ohne Inhalt bequem gestattet. Wer so mit der allgemeinen Stange im allgemeinen Nebel herumstochert, für den sind alle Katzen grau. Trump ist Putin ist Erdogan ist Petri ist Chavez – herrje! Gibt es eigentlich auch einen intellektuellen Slum?
Vor nicht allzu langer Zeit gab es hier eine schöne und sehr ernsthafte Diskussion über das Populismusbuch von Müller. Ich hatte leider zu wenig Zeit, mich daran zu beteiligen. Deshalb nur eine kurze Bemerkung dazu. Ich halte den Versuch Müllers, hier populistische Idealtypen analytisch aufzufinden, für vergebens. Das zeigt nicht nur die aktuelle politische Diskussion, sondern schon sein Buch, dass von Lateinamerika über die USA und Europa jeweils Beispiele als Beleg heranzuzieht, die sich stärker unterscheiden als dass sie etwas gemeinsam hätten. Wenn sie etwas gemeinsam haben, dann in der Negation. Alle sind originär und ganz existentiell konfrontiert mit den Herausforderungen einer transnationalen Formation, zu der sie sich bis ins letzte Dorf zu positionieren haben. Darüber hinaus sehe ich wenige Gemeinsamkeiten, die übers Akzidentielle hinausgehen. Die Ressourcen, die sich dazu verwenden lassen, sind begrenzt und lokal, im Wesentlichen sind es machtlose und hohl gewordene Traditionen, die sich wie eine einmal verlorene Naivität nicht künstlich wieder aufrichten lassen. Fast könnte man hier an Benjamins Bild vom Engel denken, der mit dem Rücken zur Zukunft hilflos in dieselbe geweht wird. Diese Bewegungen haben auch bei aller Ruppigkeit und häufig Gewalttätigkeit etwas Tragisches, sie erinnern an die Indianer, die für Kleingeld ihre Tänze für Touristen aufführen, damit es für den Schnaps reicht. Insofern befällt mich manchmal, neben eruptiven Wutattacken über einen Dumpfbatz wie Höcke, auch eine große Trauer. Überwiegend werden die Menschen, die rappelköpfig und aus krummem Holze wie sie sind, so aggressiv und roh es daher kommt, um das Berechtigte ihres Anliegens in aller Regel betrogen. Mir ist einfach im Kern dieser häufig von LL´s gepflegte, nicht erst neuerdings erhobene vornehme Ton, der sich oft von Verachtung kaum unterscheiden lässt, zutiefst zuwider. Deshalb habe ich auch manchmal zu diesen Bewegungen (nicht zu ihren Repräsentanten!!!) eine Herzenssympathie, die mir der Kopf verbieten sollte. Sympathie für einige Intentionen, Abscheu gegenüber den von ihnen hervorgebrachten Abscheulichkeiten und Schamlosigkeiten. Ich vermisse deshalb eine konsistente Opposition, und Steele kann ich leider nur bedingt ihr zurechnen. Ebenso denke ich, dass Demonstrationen wie der Woman´s March in NY nur für die ein echter Freudentag ist, die ihre bürgerlichen Freiheitswerte statt bei Trump bei Zuckerberg und Bezos besser aufgehoben sehen. Eine Bewegung, die meint, sich auch durch Madonna repräsentiert zu sehen, ist Teil des Problems, nicht der Lösung. Wenn sie mit ihrem dünnen Stimmchen doch wenigstens mal Steuererhöhungen für sich selbst gefordert hätte, hätte sie meinen Respekt. Aber so? In dieser Reihe bin ich einfach ungern Nachbar.
@ die_kalte_Sophie
Ich wollte auch nicht gegen Idealismus polemisieren, allenfalls dagegen, ihn selbst schon für prima Politik zu halten. Menschenrechte und die Idee der Aufklärung sollte man hochhalten. Aber auch da sind ja die LL in Teilen höchst unzuverlässige Bundesgenossen, wenn ich mir manches relativistische Geschwiemel so anhöre und durchlese. Etwa die umstandslose Diffamierung von Menschenrechten als europäische Eigenart, die woanders nicht gelte. Obwohl ich sie nicht solcherart für Folklore halte, stimmt doch der Satz: es gibt keine Menschenrechte. Er stimmt dann, wenn man in keiner Weise herausliest, es solle sie nicht geben oder es werde sie nicht eines Tages geben. Nur als Rechte im präzisen, nämlich einklagbaren Sinne gibt es nahezu nicht. Und dass es sie nicht gibt, realisieren unreflektiert auch ihre glühendsten Verfechter, wenn sie in Kamerun oder Thailand in Schwierigkeiten geraten. Sie wenden sich konsequenterweise natürlich nicht an die UNO oder Amnesty oder einen internationalen Gerichtshof der Menschheit, sondern greifen reflexartig zu ihrem Pass und laufen zur Botschaft. Nichts anderes würde ich ihnen auch raten. Und wenn die Menschen, die zu uns kommen, die Wahl hätten zwischen Menschen- und deutschen Staatsbürgerrechten, werden sie ganz überwiegend für die Staatsbürgerschaft plädieren. Das ist auch rational. Mancher mag ihnen diese Rationalität übelnehmen, weil er zwischen den idealistischen Homunkuli seiner Wunschträume und realen Menschen nicht so recht unterscheiden mag. Das ist etwas sehr zugespitzt, aber nicht ganz ohne wahren Kern, denn nur so kann ich mir den enthusiastischen Pastoral über die Phantasiegestalten erklären, die zu uns kommen. Ihnen enteignet dieser Diskurs jeden Subjektstatus: lauter Ingenieure, die endlich mal frei sprechen wollen und SPD oder Grün wählen, und soweit sie sich nicht in dieses Bild fügen wollen: humanoide Tabula rasa auf zwei Beinen, die unendlich erziehbar und grenzenlos lernfähig ist. Da beginnt man am besten dann ganz von vorne und hält ihnen einen Orbus pictus vor die Nase, dem sie entnehmen können, dass man den Mädels im Schwimmbad nicht den Hintern tätschelt. Also für welches Alter waren diese Belehrungen gleich? Es gibt auch den idealistischen Kitsch, der angelegentlich sehr autoritär auftritt und ein nicht unerhebliches Aggressionspotential hat.
Aber etwas ernster: ich bin nicht geneigt, die Geltung universeller Werte durch ihre Genesis zu relativieren. Menschenrechte sind universal oder nicht denkbar. Aber ihre Entstehung als Rechte hat Ort und Zeit: sie haben ihren Ursprung in der europäischen Geschichte – und nur dort. Sie sind nahezu gleichursprünglich mit der europäischen Expansion, die der Kern der Globalisierung ist – bis heute. Nun haben Ideologien oft einen subversiven Kern, man kann eine ideologische Selbstidealisierung auch so beim Wort nehmen, dass sie entgegen den Ideologen eine Eigendynamik entfaltet, sie enthält ihre eigene Opposition. Man beobachtet ja ganz häufig, dass Machthaber nichts mehr hassen, als dass man sie in ihrer schönen Selbstbeschreibung zu ernst nimmt und daraus Ansprüche ableitet. So geschah es dem Bürgertum. Dass Arbeiter und Frauen Teil der Veranstaltung wurden, war nicht vorgesehen und sprengte die im Kern oligarchische Veranstaltung. Schon aus diesem Mechanismus heraus mag ich zwar heftige Kritik an den LL üben, mich an der hämischen Diffamierung eines Einforderns von mehr Freiheit und Gleichheit aber nicht beteiligen. Insofern bin auch ich Idealist, da weiß ich mich mit Ihnen sehr einig. Ich werfe den LL auch nicht ihre Ideale vor, die ich oft teile, sondern ihren Mangel an Reflexion.
Hier sind wir bei der Zwiespältigkeit der Kritik von Steele: die 60-er Jahre als „ein Zeitalter der weissen Schuldgefühle“? Stimmt das denn? Je öfter ich das lese, desto weniger verstehe ich im Detail, was er eigentlich meint. Er kritisiert die Identitätspolitik, spielt aber genau diese Karte. Und er separiert die moralischen Gefühle ganz offenbar von den realen Möglichkeiten der Schwarzen, zu denen er schreibt: „Ich wuchs als Schwarzer in einem segregierten Amerika auf, wo es für meinesgleichen kaum offene Türen gab. Heute dürfte es für junge Schwarze eher schwierig sein, noch verschlossene Türen zu finden.“ Was ist das anderes als ein strahlender Erfolg? Er scheint aber für ihn nicht zu zählen. Aber auch hier: Stimmt das? Stehen alle Tür so weit offen? Und weiter: „Er (der LL) hat keinen wirklichen Begriff davon, was Armut ist und wie sie zu überwinden wäre.“ Was meint er in diesem Zusammenhang, in dem es um Scham und Rassismus geht? Ist die Armut vor allem schwarz? Und dann beruft er sich auf die amerikanische Bürgerreligion, auf die USA als Offenbarung im Westen: „Er (wieder der LL) hat kein Verständnis für die Einzigartigkeit Amerikas und dafür, was sie für die Amerikaner und mehr noch im Ausland bedeutet“ So? Was bedeutet sie denn, diese Einzigartigkeit? Ist das nicht der Klassiker des Identitären? Man übersetze diesen Satz mal nach Deutschland: kein Verständnis für die Einzigartigkeit Deutschlands, was sie für Deutsche und mehr noch im Ausland bedeutet? Brrrh – geht nicht, schauderhaft. Bedient diesen Narrativ, anders und auf seine verschwurbelte Art, nicht auch Trump? Hey, make America great again! Und dann: „Dieser Linksliberalismus bildete sich nicht als Ideologie heraus, sondern als Identität.“ Was er nun kritisch meint, aber er kritisiert nicht Identität, sondern lediglich die angeblich falsche, während er die wahre Identität vermisst. Eine aber sozial durchaus für ihn, dem alle Türen offen stehen, recht erfolgreiche Identität. Und vollends widersprüchlich: Es gehe „eher um weisses Selbstwertgefühl …. als um die Förderung von Minderheiten“ – wo er gerade noch das Gegenteil beschrieb. Die letzten Sätze, in denen es um Chicago als Hauptstadt der Schießereien geht mit ihren 4000 Toten und dem Widerspruch zur Ausrufung von Chicago als „Zufluchtsstadt“ durch den Bürgermeister kann ich nicht einmal in eigenen Worten wiedergeben, das finde ich schlicht unverständlich. Müssen wir nicht (ich weiß es nicht) auf Grundlage dieses Artikels annehmen, dieser Bürgermeister kann nur weiß sein, ohne dass Steele es noch sagen muss, und schon dies, so die Suggestion, sei dann schon ein politisches Bekenntnis? Auf welche Abwege im Geiste der Pseudokritik geraten wir hier eigentlich? Mal ganz böse gefragt, aber kaum glaublich: meint er in diesen letzten Sätzen, es schießen sich ohnehin schon Schwarze und Latinos gegenseitig über den Haufen und jetzt will der weiße Bürgermeister noch mehr holen? Ich traue es mich kaum zu schreiben! Oder stehe ich komplett auf dem Schlauch? (Das ist, bitte, eine tatsächlich ernstgemeinte Frage! Ich verstehe es nicht.) Haben wir hier nicht, im Gewande der Kritik, ein trauriges Dokument, wie tief ein Denken entlang von Rassengrenzen in den USA reicht? Für die Abwege eines unreflektierten Idealismus? Denn an den ganz positiven Absichten des Verfassers kann eigentlich gar kein Zweifel sein. Ich habe ihn jedenfalls nicht. Ich bitte: widerlegen Sie mich, liebe Foristen, und sagen Sie mir, dass meine Interpretation Unsinn ist.
@Jumid
Ich vermag nicht zu beurteilen, ob das von Steele beschriebene »Zeitalter der Schuldgefühle« ein derartiges Massenphänomen war wie er glaubt. Die Emanzipation der Schwarzen, das Einsetzen für Minderheiten – das waren eben nicht nur Ansinnen der Demokraten, sondern eben auch getragen von großen Teilen der Republikaner (die Republikaner der 1980er Jahre waren »nur« Wirtschaftsideologen). Steele interpretiert die politischen Korrektheiten, die zu einem als exzessive empfundenen institutionalisierten Minderheitenschutz führten, als Ergebnis einer gesamtgesellschaftlichen Aufarbeitung von (weißer) Schuld. Natürlich gab es immer auch rassistische Übergriffe, aber der Unterschied ist die Ächtung, mit der in Medien dies inzwischen aufgegriffen wird.
In dieser stetig ausgebauten künstlichen Minoritäten-Schutzblase liegen die Ursachen für den Unmut auch bürgerlich-liberaler Kreise. Auf Deutschland transformiert könnte womöglich man von einer Art »Schlußstrich«-Debatte sprechen. Wie mich überhaupt Steeles Schuldgefühl-These an derartige Diskussionen in Deutschland um die Holocaust-Bewältigung erinnert (Historikerstreit 1986, Walser 1998, diverse AfD-Hansel).
Die »Einzigartigkeit« Amerikas interpretiere ich als Floskel, die dort wie selbstverständlich geäußert wird. Tea-Party Ideologen nebst Trump-Adepten formulieren daraus inzwischen wieder offen einen ethnologischen Überlegenheitsanspruch. Bei dieser Gelegenheit kommt mir Johannes Raus Spruch in den Sinn: Patrioten lieben ihr Land – Nationalisten hassen alle anderen Länder. Der »normale« Amerikaner wäre demzufolge ein Patriot – Trump et. al. hingegen Nationalisten.
Dass die Rassengrenzen in den USA (und nicht nur dort) immer noch bestehen, kann man eben nicht nur an den zahlreichen Übergriffen festmachen, sondern eben auch in den diversen politischen »Korrektheiten«, die glauben, solche Auswüchse durch institutionelle Regeln ausgleichen zu können. Genau diese Politik ist, so interpretiere ich den Essay, gescheitert. Die »Weißen«, so die etwas plakative Fortschreibung, schlagen jetzt wieder zurück. Einige nennen es konservative Revolution; in Wirklichkeit ist es nur ein letztes Aufbäumen, eine Restauration.
Ich gebe Ihnen in einem Recht: Weitgehend ungeschoren von all den gesellschaftlichen Diskussionen bleibt der Kapitalismus. Er ist praktisch sakrosankt. Es gibt kein seriöses gesellschaftliches Modell, dass ihm die Stirn bietet. Der LL hat sich damit arrangiert und findet es inzwischen gut, wenn Madonna Millionen Dollar verdient.
@Gregor Keuschnig
Ja, das habe ich schon ungefähr verstanden, nur schien mir Steele etwas konfus. Und irgendwie bei besten Absichten hinterm Mond. Um es nicht noch einmal mit meinen Worten sagen, will ich ein Beispiel geben, was ich damit meine. Ich zitiere eine längere Passagen von einem amerikanischen Linksintellektuellen, der sehr bekannt war: Richard Rorty, aus seinem Buck „Archieving Our Country“, auf Deutsch erschienen als: „Stolz auf unser Land“. Und mehr linksliberales Establishment geht nicht, Rorty saß quasi schon als Kind auf dem Schoss von Lionel Trilling. Er schrieb also 1998!, 1998!!, vor fast 20 Jahren, folgendes:
„Im Laufe der siebziger Jahre erstarb der Idealismus der amerikanischen Mittelklasse. Unter den Präsidenten Carter und Clinton hat sich die demokratische Partei über Wasser gehalten, indem sie sich von den Gewerkschaften und jedem Gedanken an Umverteilung lossagte und in ein steriles Vakuum begab, das sich die „Mitte“ nannte. Die Partei hatte keinen sichtbaren und vernehmlichen linken Flügel mehr – mit dem sich die Intellektuellen identifizieren und auf den sich die Gewerkschaften verlassen konnten. Es ist, als wären Einkommens- und Vermögensverteilung für alle amtierenden Politiker – nicht zu reden von einem amtierenden Präsidenten – ein so heißes Eisen geworden, daß man darüber nie ein Wort verliert. Die Politiker fürchten, bei den einzigen Amerikanern Stimmen zu verlieren, die fleißig zur Wahl gehen: den Bessergestellten. Daher ist die Entscheidung zwischen den beiden großen Parteien heruntergekommen zu einer zwischen zynischen Lügen und erschrockenem Schweigen.
Wenn die Bildung erblicher Kasten unbehindert weitergeht und der Globalisierungsdruck solche Kasten nicht nur in den Vereinigten Staaten, sondern auch in den anderen alten Demokratien erzeugt, landen wir bei einer Orwellschen Welt. Vielleicht gibt es dort keinen übernationalen Großen Bruder und keine offizielle Ideologie wie Ingsoc. Aber es wird eine Parallele zur „inneren Partei“ geben – nämlich die internationalen, kosmopolitischen Superreichen. Sie werden alle wichtigen Entscheidungen treffen. Die Parallele zu Orwells „äußerer Partei“ sind dann die gut ausgebildeten und gut gestellten kosmopolitischen Fachleute – Linds „Überklasse“, Leute wie Sie und ich.
Diese werden dafür sorgen, daß die Entscheidungen der inneren Partei glatt und effektiv umgesetzt werden. Es wird im Interesse der internationalen Superreichen liegen, daß diese unsere Klasse verhältnismäßig gut gestellt und zufrieden ist. Denn sie brauchen Leute, die sich als die politische Klasse der nationalen Staaten ausgeben können. Damit die Proletarier stillhalten, müssen die Superreichen den Anschein aufrechterhalten, daß die nationale Politik eines Tages etwas ändern könnte. Da die wirtschaftlichen Entscheidungen ihre eigene Sache sind, werden sie den Politikern der Linken wie der Rechten nahelegen, sich auf kulturelle Fragen zu spezialisieren (Anmerkung Rorty: Daniel Bell hat recht, wenn er in einem Artikel mit dem Untertitel „Die Ängste der Mittelschicht lassen Klassenkämpfe in Kulturkämpfe umschlagen“ schreibt, es gebe „eine Verschiebung von der Wirtschaft auf die Kultur bei der Bestimmung der gesellschaftlichen Trennungslinien“. Die akademische Linke und die „konservativen Intellektuellen“ – zum Beispiel die Leitartikler des Wall Street Journal – haben dabei zusammen gewirkt. Anmerkung Ende). Die Proletarier sollen an etwas anderes denken – die unteren drei Viertel der Amerikaner und die unteren 95 Prozent der Weltbevölkerung sollen sich über ethnische und religiöse Fragen streiten und über Sexualmoral diskutieren. Wenn sie von ihrer Hoffnungslosigkeit durch mediale Pseudoereignisse abgelenkt werden können, zu denen gelegentlich auch ein kurzer und blutiger Krieg gehört, dann haben die Superreichen wenig zu befürchten.
Die Vorstellung einer solchen Welt legt zwei Reaktionen der Linken nahe. Die eine ist das Beharren auf der Forderung, daß die Ungleichheiten zwischen den Nationen gemildert werden müssen – daß insbesondere der Norden seinen Reichtum mit dem Süden teilen muß. Die andere lautet, daß jeder demokratische Nationalstaat zuerst gegenüber seinen eigenen benachteiligten Bürgern Verantwortung trägt. Diese beiden Reaktionen bilden offensichtlich einen Gegensatz. Insbesondere läuft ja die erste darauf hinaus, daß die alten Demokratien ihre Grenzen öffnen, und die zweite, daß sie sie schließen sollten (Anmerkung Rorty: Der Gegensatz zwischen den beiden Reaktionen zeigte sich anschaulich bei einem „Sit-In For Labour“ am 3. Und 4.10.1996 an der Columbia University. Orlando Patterson, der hervorragende Historiker der Sklaverei, meinte, die Grenze zu Mexiko müsse früher oder später geschlossen werden, um die amerikanischen Arbeiter zu schützen. Es gab Zwischenrufe „Was ist mit den Arbeitern in der dritten Welt?“ Schwarze Wissenschaftler werden von einem vorwiegend weißen und linken Publikum selten ausgebuht, doch hier geschah es. Ich fürchte, daß das von Patterson aufgeworfene Problem zu den schärfsten Kontroversen innerhalb der amerikanischen Linken des 21. Jahrhunderts führen wird. Ich wünschte, ich hätte ein paar gute Ideen, aber ich habe keine – Anmerkung Ende.)
Die erste Reaktion liegt der akademischen Linke nahe, die schon immer international gesinnt war. Die zweite liegt den Mitgliedern der Gewerkschaften nahe und den Unterbeschäftigten, die am anfälligsten für rechte populistische Bewegungen sind. Die Gewerkschaftsmitglieder in den Vereinigten Staaten mußten dabei zusehen, wie ein Betrieb nach dem anderen geschlossen – und nach Slovenien, Thailand oder Mexiko verlegt wurde. Es ist kein Wunder, wenn das Ergebnis des internationalen Freihandels für sie so aussieht: Wohlstand für Manager und Aktionäre, Verbesserung des Lebensstandards für Arbeiter in den Entwicklungsländern und starke Verschlechterung für die amerikanischen Arbeiter. Es wäre kein Wunder, wenn in ihren Augen die amerikanische Intelligenz auf der Seite der Manager und Aktionäre stünde – mit den gleichen Klasseninteressen. Denn wir Intellektuellen, zumeist Hochschulleute, sind mindestens kurzfristig von den Auswirkungen der Globalisierung gut geschützt. Und noch schlimmer, wir scheinen oft stärker an den Arbeitern in den Entwicklungsländern als am Schicksal unserer eigenen Mitbürger interessiert zu sein.
Viele Autoren der Sozial- und Wirtschaftspolitik haben davor gewarnt, daß die alten industrialisierten Demokratien auf eine Periode ähnlich der Weimarer Republik zusteuern, in der populistische Bewegungen die verfassungsmäßige Gewalt stürzen könnten. So meint Edward Luttwak, daß der Faschismus Amerikas Zukunft sein könnte. Die Quintessenz seines Buches „The Endangered American Dream“ geht dahin, daß Gewerkschaftsmitglieder und nichtorganisierte ungelernte Arbeiter früher oder später erkennen werden, daß ihre Regierung nicht einmal versucht, etwas gegen sinkende Löhne und Export von Arbeitsplätzen zu tun. Etwa gleichzeitig würden sie erkennen, daß die bessergestellten Angestellten – die selbst die größte Angst vor dem Abstieg haben – keine höheren Steuern für Sozialleistungen an andere akzeptieren werden.
An diesem Punkt werde es einen Bruch geben. Die ärmeren Wähler würden zu dem Schluß kommen, daß das System versagt habe, und einen starken Mann wählen wollen, der ihnen verspricht, daß unter ihm die feinen Bürokraten, raffinierten Anwälte, überbezahlte Anlageberater und postmodernistischen Professoren nicht mehr das Sagen haben werden. Dann könnte es zu einem Verlauf kommen wie in Sinclair Lewis Roman „It Can´t Happen Here“. Denn wenn einmal ein solcher starker Mann im Sattel sitzt, könnte niemand voraussehen, was passiert. 1932 waren die meisten Voraussagen darüber, was geschehen würde, wenn Hitler zum Kanzler ernannt würde, maßlos überoptimistisch.
Eines dürfte sehr wahrscheinlich geschehen: Die Fortschritte der schwarzen und braunen Amerikaner und der Homosexuellen in den letzten vierzig Jahren würden weggefegt. Man würde wieder witzelnd verächtlich über Frauen reden. Die Wörter „Nigger“ und „Itzig“ würden wieder am Arbeitsplatz zu hören sein. Der ganze Sadismus, den die akademische Linke für ihre Studenten unannehmbar machen wollte, würde zurückfluten. Die ganzen Ressentiments, die Amerikaner mit schlechter Schulbildung dagegen haben, daß ihnen die Akademiker gute Sitten vorschreiben wollen, würde ein Ventil finden.
Doch eine solche Wiederkehr des Sadismus würde die Auswirkungen des Egoismus nicht ändern. Denn mein hypothetischer starker Mann würde sich rasch mit den internationalen Superreichen arrangieren, genau wie Hitler mit den deutschen Industriellen. Er würde im ruhmreichen Gedenken an den Golfkrieg militärische Abenteuer vom Zaun brechen, die eine kurzzeitige Wirtschaftsblüte nach sich ziehen. Es wäre eine Katastrophe für das Land und die Welt. Die Menschen würden sich fragen, warum sein vermeidbarer Aufstieg auf so wenig Widerstand gestoßen war. Wo, so würden sie fragen, war die amerikanische Linke? Warum haben nur rechte wie Buchanan zu den Arbeitern über die Folgen der Globalisierung gesprochen? Warum konnte die Linke die wachsende Empörung der neuerlich verarmten nicht kanalisieren?
Es heißt oft, wir Amerikaner am Ende des 20. Jahrhunderts hätten keine Linke mehr. Da niemand das Vorhandensein der, wie ich es nenne, kulturellen Linke bezweifelt, läuft es auf das Eingeständnis hinaus, daß die Linke unfähig ist, sich in die nationale Politik einzuschalten. Es ist keine Linke, von der man verlangen kann, sich mit den Folgen der Globalisierung auseinander zu setzen. Wenn die heutige kulturelle Linke das Land darauf vorbereiten soll, müßte sie sich wandeln und mit den Resten der alten reformistischen Linken und insbesondere mit den Gewerkschaften Verbindungen aufnehmen. Sie würde wesentlich mehr über Geld reden müssen und weniger über Stigmata.“
Zu #7 (später, Richtung Wochenende, mehr):
Nun, die Vorzeichenumkehr funktioniert doch gerade nicht, wenn der Linksliberalismus eine Sekundärideologie darstellt, eine Sichtweise die ich teile, es sei denn die AFD wäre ein vergleichbares Konstrukt. Der Linksliberalismus ist eine hybride Konstruktion, eine Aporie, links und bürgerlich, das geht im Grundsatz eigentlich nicht zusammen (mir sind da halbwegs gemäßigte Ideologen egal welcher Seite allemal lieber, die vertreten wenigstens einen Standpunkt über den man streiten kann).
Ich kenne die amerikanischen Diskussionen zu wenig, aber die Korruption ist doch der Kern oder nicht? Korruption bedeutet doch, seine Ideale – wissentlich oder unwissentlich – aufgegeben zu haben. Und bedeutet es nicht auch, dass die Welt so einfach eben nicht ist, wie man behauptet, dass gut und böse sich mehr und mehr als die berühmten Grautöne, von denen eher selten gesprochen wird, herausstellen. Man hat also nicht nur das wofür man steht aufgegeben, sondern auch jede auch nur halbwegs akkurate Beschreibung politischer und gesellschaftlicher Realität. Was ist das anderes, als ein umfassendes Versagen?
zu Jumid, und »Ich bitte: widerlegen Sie mich, liebe Foristen, und sagen Sie mir, dass meine Interpretation Unsinn ist.«.
Da Sie es schon selbst ahnen, deute ich die Sache nur leicht an: Sie haben Steele ganz klassisch dekonstruiert. Sie geben die Denkbewegung in ihrer Fragwürdigkeit wieder, rekurrieren auf alle möglichen Schwächen, verpassen aber das was @Gregor sagte: es handelt sich um eine »selbstbezogene Abrechnung«, also eine Renegaten-Interpretation. Kein Republikaner hätte sich derart viel Mühe gemacht. In dieser selbstkritischen Bewegung wechseln sich die Aussagen welche das Subjekt betreffen, und die Aussagen, welche die Verhältnisse betreffen, einigermaßen sinnvoll ab.
Wenn Sie alles in Zweifel ziehen (Wie war das mit dem weißen Schuldgefühl in den Sechziger Jahren, wo sind die Augen- und Herzenszeugen...), dann bleibt natürlich nichts mehr übrig. Steele füllt selbstverständlich alle Subjekt-Positionen still und heimlich selbst aus. Das nennt man auktoriales Subjekt.
Ich kann Sie dennoch verstehen in ihrer epistemischen Wüterei. Gesellschaftspolitisch ist der Diskurs manchmal ganz schön abgefahren, da fehlt nicht viel, und der gute Wille ist erschöpft. Auch so ein ZEIT-Zeichen, die Erschöpfung vor den welthaltigen Analysen.
Ich kann mir vorstellen, dass Sie auf der Suche nach der »absoluten Kritik« sind, also eine Analyse herbeiwünschen die weniger selbstbezogen als möglichst objektiv wäre. Ich fürchte aber so etwas gibt es nicht. Die kritische Bewegung hat immer ihre Selbstsetzungen gehabt, das macht sie freilich enorm zweideutig. Aber das ist ein echt philosophisches Problem. Dazu kann vielleicht @mete etwas sagen.
zu Rorty: Gratuliere zum Zitat, das nenne ich die Kunst des Hellsehens. Kern der kulturalistischen Wende ist ein einziger kleiner Entschluss:
»Die Proletarier sollen an etwas anderes denken – die unteren drei Viertel der Amerikaner und die unteren 95 Prozent der Weltbevölkerung sollen sich über ethnische und religiöse Fragen streiten und über Sexualmoral diskutieren.«
Damit wird das Bündnis mit den Gewerkschaften aufgegeben, und die Unsicherheit der Existenz thematisch ausgeklammert. Typisch bürgerlich, wage ich zu behaupten: Es geht immer darum, das Geld beiseite zu lassen, um Beziehungen entweder zu pflegen oder in die Krise zu treiben (Kritik der Sexualmoral o.ä.). Geld und seine Implikationen sind ein Konfliktstoff, den man polit-strategisch zu ersetzen sucht.
Ich finde das Zitat zu ausführlich, aber Klasse!
@Jumid
Danke für den Rorty-Auszug, der sehr interessant ist. Mit einer gewissen Portion Überpointierung würde ich siogar weiter gehen: Amerika hat nicht nur keine Linke mehr (und das 1998), sondern es gab noch nie eine dezidiert linke politische Kraft (bzw.: wenn es sie gab, war sie nie bedeutend und einflussreich). Dabei ist die Unterscheidung einer »kulturellen Linke« und der wirtschaftspolitschen Linke sehr hilfreich. Das, was wir also hier als Linksliberalismus subsumieren ist demzufolge eine kulturelle, weltanschauliche Linke, die sich für gesellschaftliche Gleichstellung einsetzt. Aber dies soll in einem global-kapitalistischen System erfolgen, dass nicht hinterfragt wird. Daher können die Hollywood-Millionäre ihre Billigmütchen bei Charity-Veranstaltungen kühlen und großherzig Anti-Trump-Reden schwingen, ohne dass man sie von Herzen auslacht.
Aber ist auch bei Rorty nicht eine Spur Nostalgie zu spüren? Die Nostalgie nach den früheren Zeiten, als es die Linke noch gab? Das erinnert mich an Packers Doku-Fiction, in der der Erzähler auch immer suggeriert, dass es in den 60ern, 70ern irgendwie besser war, und zwar nicht gesellschaftlich und kulturell (Rassismus! Vietnam!), sondern ökonomisch (Gewerkschaften! Jobs!). Diesen Spagat zwischen gesellschaftlichem Progressivsein und ökonomischer »Vernunft« (die muss nicht direkt antikapitalistisch sein), bekommen die Demokraten nicht mehr hin. Daher wechselt auch der Präsident ständig zwischen diesen beiden Polen. Ich glaube nach dem Krieg steht es nach Amtsjahren 36:36 (ohne Trump). Je länger ich mich damit beschäftige, umso interessanter erscheint mir das Phänomen Sanders bei den Vorwahlen. Der war praktisch aus dem Nichts erschienen und konnte viele Demokraten begeistern. Durch seine wirtschaftpolitische Agenda war er aber für die potentiellen Wechselwähler (mal REP, mal DEM) viel zu »links«.
Das Gerede von der »Einzigartigkeit Amerikas« ist der letzte Faden, der die divergierenden politischen Lager noch irgendwie zusammenhält. Er basiert auf den Gründungymythen einer Einwanderergesellschaft, in der jeder mit gleichen Bedingungen »von vorne« anfangen kann. Das war und ist natürlich ein Ideal, dass es in der Praxis eher nicht gab, aber es gibt und gab immer genug Beispiele, wie es auch funktioniert hat. Dabei wurde »Erfolg« immer ökonomisch konnotiert – und sei es, dass die schwarze Arbeitertochter einen Studienabschluss hat und in einer guter Position beschäftigt ist. In den USA wird mehr als in Europa alles eingepreist und monetaristisch bewertet.
@die_kalte_Sophie
Danke für die Kritik, da treffen Sie einen Punkt mit der epistemischen Wüterei, das ist sicher treffend ausgedrückt. Da kommt der Aspekt, den Steele anspricht, etwas unter die Räder. Und vielleicht hätte ich das Zitat nicht einleiten sollen mit der Bemerkung (@ Gregor Keuschnig), daß ich das schon so ungefähr verstanden habe, sondern damit, daß ich aus den Anmerkungen entnehme, daß ich die Perspektive des Autors vielleicht durch meine Kritik auch verzeichne. Das sei zugestanden.
Daß das Zitat, nicht nur etwas, zu lang ist, sei auch zugestanden, fiel mir schon vor dem Posting auf, und ich habe versucht, es zu kürzen. Aber mir kam es bei dem Zitat auf die Gedankenbewegung an. Ich fand keine Kürzung, ohne diese zu zerstören. Es klingt sehr einfach, was er schreibt, ist aber sehr klug auf den Punkt gebracht. Und in dieser etwas unpassenden Länge kommt so schön heraus, daß Rorty, was er wahrnimmt und registriert, zunächst einmal ernst nimmt. Und das ist überzeugend. Auf den ersten Blick zählt er einfach mal Einsundeins zusammen, und siehe da –Überraschung! – es ist Zwei! Und auf den zweiten Blick? Ist es haargenau so, es bleibt Zwei! Man denkt sich, kann doch nicht so schwer sein. Das ist große Kunst. Er kritisiert ja auch die Phänomene heutiger LL´s ohne sie zu diffamieren, ganz im Gegenteil. Und er sieht das Verdienst, die klassische linke Perspektive aus guten Gründen erweitert zu haben, weil sich in einer eher ökonomistischen Perspekte nicht quasi als Nebenprodukt eine Gleichberechtigung von Minderheiten ergibt. Das ist, bei aller heutigen berechtigten Kritik, das bleibende Verdienst der LL. Insofern war das Beispiel als eines zitiert, wie man es auch machen könnte, ohne auf widersprüchliche und scheinradikale Art sich in den Aporien der eigenen Position zu verheddern wie das m.E. Steele unterläuft. Und die Frage, ob der Text wirklich in Teilen so wirr ist, wie ich ihn schlussendlich wahrnahm, oder ob er bei mir bedauerlicherweise ein intellektuelles Schleudertrauma induziert hat, war schon durchaus ernst gemeint und nicht nur rhetorisch. Und da danke ich doch für den feuchten Umschlag, das schien nötig.
Weil ich selbst bemerkt habe, daß das Zitat zu lang war, habe ich mir das Verdienst erworben, mir ein in eine ähnliche Richtung gehendes Zitat von Dahrendorf von 2001 zu verkneifen (unter Schmerzen, weil es ähnlich treffend ist!). Dort spricht er über das, was er die globale Klasse nennt mit Präzision und Ironie. Illustrieren könnte man das mit einer alten – ich glaube es war Wella? – Werbung für einen Haarfestiger, viele werden sie noch kennen. Da steigt in drei Szenen eine schöne Frau aus einem Flugzeug: Rom, Sonne – die Frisur sitzt, London, Regen – die Frisur sitzt; Oslo, Wind – die Frisur sitzt! Er beschreibt gut das kulturelle Ideal, daß hier von dieser Klasse in weite Teile der Gesellschaft diffundiert, ohne etwas mit ihren Lebensmöglichkeiten zu tun haben. In ihrem Leben geht es nicht ums Flugzeug, eher um die U‑Bahn, nicht um Rom, London, Paris sondern um Wedding, Reinickendorf und Hellersdorf, und auch nicht um die ständig gepflegte, schicke Langhaarfrisur sondern den klassischen, selbstgestutzten Meckischnitt. Die Antwort eines lange eingerissenen Diskurses darauf ist eigentlich nur: Wo ist das Problem, können doch alle ihr Haar offen tragen? Es geht letztlich in einer ganz fundamentalen Weise um eine zynische Politik der Beschämung. Scham ist etwas ganz Elementares, ein korrespondierendes Gefühl ist Wut.
Dahrendorfs Bemerkungen hatte ich im Hinterkopf, als ich oben Madonna und Steuererhöhungen anführte: „Madonna lebt lieber in England als in den USA, aber um ihre Kinder zur Welt zu bringen, geht sie nach Amerika, weil ihr die englischen Krankenhäuser nicht gefallen. Sie hat ganz bestimmt kein Interesse an der politischen Debatte über die öffentliche Finanzierung des Gesundheitswesens in Großbritannien.“ Da geht es nicht bloß um die Höhe des Einkommens, das ihr herzlich gegönnt sei, sondern um eine Form der Macht und der Herrschaft. Das hat sehr weit reichende Folgen, dieses zeigt auch Rorty. Mir schien, auch deswegen mein eventuell etwas verzerrender Furor, Texte, die diesen Punkt verfehlen, sind nicht auf der Höhe des Problems.
@Gregor Keuschnig
Ja, diese säkulare amerikanische Bürgertheologie hat so ihre Zweischneidigkeiten, weshalb ich die Berufung darauf im Text von Steele – obwohl häufig und oft nebenbei getan – nicht nur für eine Nebenbemerkung hielt und aufspießte. Liest man das ganze Buch (leider auf Deutsch lange vergriffen) von Rorty, bekommt man das solidarische, pragmatisch-menschenfreundliche dieser – tja, man muß sagen – fast mythischen Weltanschauung sehr deutlich beschrieben. Er rekurriert auf Jefferson, Whitman, Dewey – und ich las das gerne, obwohl ich darin keine europäische Möglichkeit sehe. Das ist eben sehr amerikanisch. Gleichzeitig hat dieses daraus abgeleitete Sendungsbewußtsein des neuen Jerusalem, des Auserwähltseins, des Gottesbundes auch eine extrem gewalttätige Seite. Bush und Trump haben dieses Sendungsbewußtsein auf ihre Art eben auch. Einen Rorty hätte ich – trotz aller Differenzen – gern an meiner Seite, die anderen beiden eher nicht. Nur ist beider Grundlage so verschieden gar nicht.
Eine Spur Nostalgie hat Rorty ohne Zweifel, nach 20 Jahren ist das vielleicht sogar deutlicher als mir das bei der ersten Lektüre erschien. Aber diese Nostalgie macht doch immerhin ihn sehend, sogar voraussehend, wo andere einfach nur bass erstaunt sind, was sich denn da neuerdings und plötzlich so alles zuträgt. Beeindruckend fand ich die Wahlnacht, in der ich vor der Glotze saß, Phoenix übertrug einen amerikanischen Sender live, ich weiß nicht mehr welchen, ein großes Network. Da standen die gesammelten Chefkommentatoren der großen Zeitungen, Washington Post, NY Times, LA Times und stammelten. Die wussten sichtlich nicht, wie ihnen geschah. Das war ein großer Fernsehmoment, einer, in dem die Dinge flüssig sind, einer jener Momente, bevor sich alle wieder mit einer Placebofloskel immunisieren, bevor die neueste Diagnose in ihrer erhabensten, nichtssagenden Allgemeinheit wieder auf die kollektive Rückenmarksebene abgesunken ist. Das war großartig. Ein Text wie der von Rorty erinnert daran, das Neuigkeiten oft auf Vergesslichkeit beruhen.
Und dann stellt sich Meryl Streep bei einer der großen Hollywood Selbstfeiern hin und ruft, wir lassen uns doch nicht unsere schöne Welt kaputt machen. Tosender Beifall! Das ist ein weiterer Madonnamoment. Wo lebt die eigentlich? Welcher Grad an interessierter Naivität ist eigentlich noch erträglich? Da haben Sie Recht mit dem „Billigmütchen“ der Hollywoodprominenz.
zu Jumid: Rorty boxt eine Gewichtsklasse höher als Steele, deshalb hat er mehr (Achtung Kalauer!) Treffer.
Wie alle Philosophen hat er Angst vor dem Kulturverlust, aber auch das ist zuletzt ja nur ein Statement. Man weiß ja, dass es die schlimmen Ecken gibt, es darf nur niemals in der Mitte der Gesellschaft ankommen.
Ich habe Rorty gelobt, aber auch seine seherischen Kräfte sind beschränkt. Die Wiederkehr des Rüpels ist nicht die Wiederkehr des Diktators. An dieser Stelle begeht Rorty den üblichen historistischen Fehlschluss: »Eines dürfte sehr wahrscheinlich geschehen: Die Fortschritte der schwarzen und braunen Amerikaner und der Homosexuellen in den letzten vierzig Jahren würden weggefegt. Man würde wieder witzelnd verächtlich über Frauen reden. Die Wörter „Nigger“ und „Itzig“ würden wieder am Arbeitsplatz zu hören sein. «
Man beachte die Einleitung, er sagt tatsächlich SEHR WAHRSCHEINLICH.
Das ist natürlich falsch, er vermutet ja lediglich, von den schlechten Manierern bis zu einem gleichgeschalteten Faschismus (der übrigens gar nicht mal so schlechte Manieren hatte), sei es nur ein kurzer Schritt. Erst fällt die Etikette, dann brechen die staatlichen Strukturen weg.
Ich persönlich sehe keine Grund, den Brutalo-Charme eines Donald Trump, der seine fiktive Sympathiefiguren in Blockbuster-Filmen findet, bis hin zur Zweideutigkeit von Taratinos Helden, als das sozialpsychologische Problem des Abendlandes zu behandeln. Das ist doch nur eine Milieu-beschränkte Reflexion von Rorty.
Frei nach Deleuze: Verlieb’ Dich nicht in einen Cowboy, du würdest völlig vergessen, wo Du herkommst und was man Dir dort beigebracht hat.
Das Problem des Westens: Empathie ist eine feine Sache, aber wehe die Leidenschaften kommen ins Spiel. Da fängt die Welt erst richtig an sich zu drehen...
Ein sozusagen editorischer Hinweis @Jumid und auch andere Mitdiskutanten:
Das Rorty-Zitat ist lang, aber es ist eben einer der Vorzüge einer solchen Seite wie Begleitschreiben, dass man (1.) den Raum dafür hat und es auch (2.) den Lesern und potentiellen Kommentatoren so etwas auch noch ohne »schlechtes Gewissen«
zumuten kann (eben weil es zum Thema gehört). Wenn es also nicht zu viel Mühe macht dann würde ich um den Dahrendorf-Auszug bitten.
@Gregor Keuschnig
Das tue ich gerne. Hier ein Auszug aus dem Gesprächsbuch „Die Krisen der Demokratie“ von 2001. Gekürzt habe ich nur Füllsel und Beispiele, erste Frage paraphrasiert.
(Frage an Dahrendorf nach der globalen Klasse und der Demokratie – kürzende Paraphrase JM)
Dahrendorf: (….) Bei der Beschreibung dieses Phänomens habe ich eine marxianische, wenn auch nicht marxistische Figur der Analyse verwendet. Bisweilen sehen wir uns in der Geschichte neuen Produktivkräften gegenüber. Im Falle der „New Economy“ ist allerdings „produktiv“ das falsche Wort, weil es sich hier nicht um Produktion handelt. … Wie schon öfter in der Vergangenheit entstand auch im Zuge dieser Entwicklung eine neue soziale Klasse, die zu Geld kam und das, was Rosabelle Moss Kanter die unantastbaren Güter nannte, über die diese Klasse verfügte – die drei „C“: concepts, competence, connections -, in Macht ummünzte. Es wundert nicht, dass diese neue Klasse die traditionellen Institutionen als hinderlich für ihre Entfaltung betrachtet und der Meinung ist, sie müssten entweder zerschlagen oder ignoriert werden. Dasselbe geschah nämlich, als sich inmitten der Feudalgesellschaft die Stadt als der Ort neuer wirtschaftlicher Möglichkeiten für Kaufleute und Handwerker herausbildete. (…. Auslassung, kurze Bemerkung zum damaligen Platzen der Internetblase … Jumid) Aber auch nach den Zusammenbrüchen an der Börse bleibt eins bestehen: eine neue Kategorie von Personen, die eine neue Welt schaffen wollen und dabei sehr reich werden.
Ich finde diese Gruppe äußerst interessant. Diese Leute reisen viel, überqueren ständig Grenzen, auch wenn sie in der Businesslounge eines Flughafens festsitzen und unaufhörlich per Handy telefonieren: „Wo bist du? In Honolulu? Du Glücklicher, ich sitze in Frankfurt fest. Aber der Vertrag ist abgeschlossen …. „ Diese Klasse ist zwar zahlenmäßig relativ klein, aber das besagt nicht viel. Ich glaube nicht, dass zu der Zeit, als Marx das „Kommunistische Manifest“ schrieb, mehr als ein Prozent der Bevölkerung Europas als Kapitalisten bezeichnet werden konnte. Und dennoch war dies damals unbestreitbar die dynamische Kraft der Welt. Ebenso wenig glaube ich, dass heute mehr als ein Prozent der Bevölkerung dieser globalen Klasse angehört. Es gibt jedoch eine große Anzahl von Personen, die um diese globale Klasse kreist, in ihren wirtschaftlichen und kulturellen Verhaltensweisen von dieser Klasse beeinflusst wird und ihre Moden, Vorlieben und Verhaltensweisen nachahmt. Ich halte es nicht für übertrieben zu sagen, dass heute zwanzig Prozent der Bevölkerung in den wirtschaftlich hoch entwickelten Ländern im Schatten dieser Klasse leben. Ich meine nicht nur das Personal auf ihren Jachten im Mittelmeer oder die Bediensteten in ihren Villen in Acapulco, sondern all jene, die von ihren Tätigkeiten abhängig sind – von den „dot.coms“ über die Medien bis hin zu Theater, Film und Sport – und die danach streben, früher oder später ebenfalls Teil der globalen Klasse zu werden. Denn diese bestimmt die Trends, weist die Richtung, übt kulturelle Hegemonie aus. …..
Frage: In welchem Sinne stellen sie eine Gefahr für die Demokratie dar?
Dahrendorf: In dem Sinne, dass sie die natürliche Tendenz haben, sich den traditionellen Institutionen der Demokratie zu entziehen. Bereits die Möglichkeit, sich in der Welt schrankenlos zu bewegen, ist eine tägliche Bestätigung sämtlicher Vorurteile, die sich aus dem Überschreiten aller von demokratischer, nationaler Politik gesetzten Grenzen ergeben.
Damit will ich beileibe nicht sagen, dass das Verhalten dieser Leute einzig und allein die Folge eines zynischen Strebens nach persönlicher Bereicherung ist. Es gibt sozusagen ein Klassenbewusstsein. Zu ihren Werten zählen die Meritokratie und ein Denken in langen Fristen einschließlich der Nachhaltigkeit von Entwicklung. Ich bin beispielsweise überzeugt, dass die „Klasse“ ein starkes ökologisches Bewusstsein besitzt und bestrebt ist, die globale Umwelt zu schützen. Alles, was „global“ ist, erscheint ihr als gut. Mit der „lokalen“ Dimension dagegen scheint sie in Frieden zu leben, nicht in Widerstreit (…. Auslassung, ein paar Beispiele dafür ….. JM) Was sie dagegen als eine schlimme und anachronistische Behinderung ansieht, sind nationale Regierungen und ihre Gesetze. In diesem Sinne hat sie die natürliche Tendenz, sich über Entscheidungen hinweg zu setzen, die auf der Ebene der traditionellen Institutionen der Demokratie getroffen werden.
Die andere Gefahr, die sich aus der Etablierung dieser globalen Klasse für die Demokratie ergibt, ist die zwangsläufige Zerstörung der traditionellen sozialen Solidarität, was neue Ungleichheiten zur Folge hat ( … dann Beispiel aus Universität Oxford …. JM)
Das Problem der globalen Klasse besteht darin, dass eine Menge Leute nicht dazu gehört. Also ausgeschlossen ist. Die Schaffung neuer Ungleichheiten ist freilich ein Charakteristikum jeder kapitalistischen Entwicklung. Dasselbe geschah in den Anfängen der Industriegesellschaft. Mit einem Unterschied: Damals wurden die Armen von den Kapitalisten als Arbeitskräfte gebraucht. Die armen von heute dagegen werden von der globalen Klasse nicht gebraucht.
In diesem Sinne handelt es sich hier um ein neues Phänomen und ein politisches Risiko. Nicht in dem Sinne, dass sich diese Klasse als Partei organisieren und in den Prozess der politischen Wahlen eingreifen würden. Es stimmt – und ich konstatiere das im Oberhaus, wo manche dieser Herren inzwischen sitzen, immer wieder mit großem Vergnügen – dass politische Führer wie Tony Blair sich gern mit den Millionären der neuen globalen Klasse umgeben. Ich würde sogar sagen, dass dies die soziale Gruppe ist, von der vor allem die Idee eines dritten Weges angeregt wurde. Ihre Mitglieder geben den Parteien oft großzügige finanzielle Unterstützung, was sie allerdings keineswegs in den demokratischen Prozess einfügt. Was die globale Klasse auf der Ebene der nationalen Politik tatsächlich erreichen möchte, sind der Abbau von Reglementierungen und die Senkung von Steuern. Allein die Zugehörigkeit zu einem Land wird als lästig empfunden. Madonna lebt lieber in England als in den USA, aber um ihre Kinder zur Welt zu bringen, geht sie nach Amerika, weil ihr die englischen Krankenhäuser nicht gefallen. Sie hat ganz bestimmt kein Interesse an der politischen Debatte über die öffentliche Finanzierung des Gesundheitswesens in Großbritannien.
@die_kalte_Sophie
Nein, das glaube ich nicht, dass Rorty Angst hat vor Kulturverlust. Der Ausdruck Manieren wirkt – in der unerträglichen Kürze des Ausschnitts (Hah, Jumid strikes vergnügt back!!) – nicht um den Enui pikierter Oberschichten, nicht darum, wie´s Fingerchen bei der Tasse Tee abzuspreizen ist und auch nicht um die Frage, warum man das Cabriolet so schlecht ohne fingerlose Wildlederhandschuhe eingeparkt bekommt. Diese Hunderteuroscheinwinkerallüren sind dem Manne bis in die Haarwurzeln fremd. Familiär ist er kommunistischer Herkunft, Verwandte von ihm zudem als Beamte am New Deal von Roosevelt beteiligt. Das hat überhaupt nicht dieses Niveau, beim Lesen des Buches denkt man das keine Sekunde.
Das Wort Manieren in diesem Zusammenhang ist etwas unglücklich, das muss ich einräumen, etwas überhöflich, wo er doch nicht Manieren meint sondern Rassismus und Frauenfeindlichkeit. Ich las das im Sinne kultureller Errungenschaften, an denen die akademische Linke eine großen Anteil hat.
Dennoch ist hier ein Verfall einer bestimmten Kultur, einer Arbeiterkultur, mit Bedauern (zumindest von mir) zu konstatieren. Inzwischen ist aber ein Ton der Verachtung und des Abscheus eingerissen, den man mal probehalber, für sich im stillen Kämmerlein bei der Übertragung auf Flüchtlinge oder Frauen ausprobieren kann und sich dann die Frage beantworten, ob das in der Öffentlichkeit ohne die invektive Form der Rezeption durchginge. Ich glaube kaum. Aber da ist eine Gruppe von Menschen symbolisch zum Abschuss frei gegeben. Da sind manchmal Kabarettisten sehr nützlich, wenn man hören möchte, über was man gerne laut lacht wenn es über andere Gruppen ohne Statusverlust nicht so viel zu lachen gibt. Im Ansatz gehört das im Zusammenhang eher in den Bereich der Zweiteilung der Solidarität, die Rorty beklagt. Durch den Dorftrottel aus der Ferne fühlt man sich bereichert und beschenkt, der Dorftrottel hier nervt einfach nur und gehört ins Proletenreservat. Materialreich für Großbritannien beschrieben, wie aus dem “Salz der Erde“ der „Abschaum der Menschheit“ werden konnte, in: Owen Jones – Prolls. Die Dämonisierung der Arbeiterklasse
Und ganz und gar nicht teile ich die öffentlich sich durchsetzende Meinung, der neue rauhe Ton von rechts sei ein Unterschichtenphänomen. Das glaube ich nicht, zumindest nicht hier in Berlin. Zwar gab es in Marzahn eine Wählerhochburg, aber in allen, auch in den besten Bezirken, lag die AFD um die zehn Prozent. Auch in Bezirken, die inzwischen verschwabingt sind wie Mitte und Prenzlberg. Was man allerdings deutlich sieht, ist eine zunehmende Segregation, hinter die Wahlergebnisse kann man fast Mietpreise schreiben, das war bis vor nicht allzu langer Zeit bei weitem nicht so ausgeprägt.
Recht gebe ich Ihnen, dass inzwischen ungehobelte Widerlichkeiten öffentlich ohne Scham pommesbudenfähig geworden sind. Wer salonfähig bleiben möchte, täte das nie, sondern erstrebt das gleiche Ergebnis lieber übers Baurecht, die Bürgerinitiative, den Bezirksabgeordneten und Spenden. Das Ergebnis ist in vielen Punkten häufig das Gleiche. Oder nein: es ist viel effektiver. Zu den einen kommen Polizei und Fernsehen und publizieren gern das Negativbeispiel, die anderen bekommens wie sie´s gern hätten und empören sich über diese ungehobelte Xenophobie an der Pommesbude. Also mit dieser Linie von den Manieren auf´s Politische wäre ich sehr vorsichtig: „Wie kann man in einer so reichen Gegend ein Asylantenheim bauen!“ (Originalzitat in meine Ohren – Zehlendorf, 2014)
Mein Begriff »Manieren« war bewusst irreführend, Sie haben natürlich recht. Der wesentliche Unterschied liegt im Fokus, und verschwimmt manchmal. Geht es um Gewohnheiten auf der Verhaltensebene, das Vorkommen in der gesellschaftlichen Wirklichkeit (die verschiedenen Schichten), oder geht es um den Mechanismus einer ganzen Gesellschaft.
Ich selbst unterscheide das nur gelegentlich, in Regel springt man doch zwischen einer subjekthaften Beschreibung und einem mechanistischen Wirkungsschema hin und her.
Folgendes zur »Mechanik«: wir haben über den Populismus bei dem Buch von J.W. Müller gesprochen, und ein Schwerpunkt dabei war die Repräsentationskrise.
Das ist ein ebenso flotter Begriff, bearbeitet aber das gleiche Problem: Wie reagiert der Wähler (und nur seine Reaktion zählt, es sei denn man begreift »Unruhen« als politische Reaktion) auf die Tatsache, dass seine Lebenswelt in den Ausführungen der Politiker nicht vorkommt?! Ein Teil davon wird auf die ganz und gar nicht egalitäre politische Klasse mit einem Ressentiment reagieren, und eine Partei mit seinen Interessen suchen. Ein anderer Teil wird seine Satisfaktion in einem rechtspopulistischen Rahmen finden, und das ist der SPANNENDE Punkt: Es wird wieder GEGEN die eigenen Interessen gewählt!
Während nämlich die Repräsentationskrise andauert (siehe Eribon), ändert sich die politische Landschaft. Das PROBLEM wird eben nicht 1:1 nach Angebot und Nachfrage gelöst, sondern es kommt zu NEBENWIRKUNGEN.
Der Autoritarismus ist für die Unterschicht interessant, obwohl es sich nicht um Leute ihres Schlages handelt.
Wenn die Repräsentation nach Interessen, Rhetorik und Habitus fehlschlägt, verabschiedet sich nicht jeder gleich zivilverträglich ins Lager der Nicht-Wähler. Es wäre hier die Demokratie-Theorie zu bemühen, denn manchmal heißt Wählen Gehen einfach nur Schaden anrichten.
Wenn sich diese aggressive Tendenz verfestigt, dann müssen wir schon von einer kulturellen Krise reden. Dann sind die Institutionen noch immer nicht in Gefahr, aber der Diskurs und die Themen haben sich geändert.
Mir ist es angesichts der Flüchtlingskrise aufgefallen: Wie soll man denn freundlich und einvernehmlich über die Begrenzung der Zuwanderung reden?!
Das ist sehr unwahrscheinlich nicht wahr?! Und folgerichtig wurde NICHT darüber geredet. Aber schließlich doch, weil eine relativ zum Bürgertum aggressivere politische Partei schon in den Startlöchern stand, die ihr Thema gerade erst entdecken durfte (bis dahin KEIN Programm!!).
Nur mal bis dahin, um von Kausalitäten zu sprechen, und nicht nur von Verhaltensweisen.
Das Zitat von Dahrendorf steht etwas quer zum Thema LL. Die Verknüpfung (Oh, Gehirn!) liegt in der o.a. Bemerkung zu den merkwürdigen Orchideen des LL, also auf den Punkt: Madonna, Sean Penn und George Clooney, samt Menschenrechtsgemahlin. Hier besteht offenbar eine Geistesverwandtschaft, und alles trifft sich irgendwo im Foyer am Frankfurter Flughafen oder in Laguardia New York.
Wie weit reicht diese Geistesverwandtschaft, liegt hier wirklich eine Gesinnungsgemeinschaft vor?! Dahrendorf macht auf das Vorbild einer »internationalen Klasse« aufmerksam, der nachzueifern ein demokratisches Verhängnis darstellt, da sie sich ort- und zeitlos auf den Wogen der Kulturindustrie oder der globalen Dienstleistungs-Unternehmen bewegt.
Aber er zieht (anders als Rorty) daraus keine perspektivische Folgerung, erklärt nur den Dritten Weg des Tony »Lanzelot« Blair, der als erster die linke Tafelrunde der Europäischen Sozialdemokraten verraten hat, und dem wie man weiß, Ritter Gerhard Schröder folgte.
Ich meine, dass man die »internationale Klasse« im Allgemeinen von einem Internationalismus des LL trennen muss, d.h. eine Engführung oder gar eine Personalunion wie ausgerechnet bei Clooney’s Gattin verspricht kaum Erkenntnismehrwert. Die Frage, die Dahrendorf aufwirft, ist ja eher elementar, wenn auch zeitlos: WAS WILL DIE ARBEITERKLASSE?! Will Sie regieren oder Champagner aus ökologisch zertifizierten Anbau schlürfen?!
N.B. Dahrendorf kommt mir etwas seicht vor, an dieser Schnittstelle von Universalismus oder Internationalismus... Rorty ist da eher ernst zu nehmen. Nein, die Antwort liegt im Universalismus selbst, und der Frage, wie nötig dieser Programm-Bestandteil des LL wirklich ist. Will man Politik machen, oder doch lieber wieder Philosophie à la Marx fabrizieren, vorgebend die Welt zu verändern. Da hat die schreibende Zunft mit Sicherheit eine andere Antwort als die Kofferträger vor dem HILTON.
[Kommentar auf Wunsch des Autors korrigiert – G. K.]
Die Diskussion um Populismus kam ja auf nachdem es einige »unpassende« Wahlergebnisse gab, in denen »populistische« Parteien nicht nur im 10% oder 12%-Segment verharrten, sondern an die Macht kamen bzw. drohten, an die Macht zu kommen. Nach dem Brexit und der Wahl Trumps brachen dann alle Dämme. Wobei ich den Eindruck habe, dass die Dämonisierung und die Skandalisierung der populistischen Parteien oft genug das Gegenteil bewirkt. Das kommt daher, dass die Gefahren einer schleichenden Entdemokratisierung, wie sie sich zum Beispiel in Ungarn oder Polen tatsächlich zeigen, bis weit in die politische Mittelklasse hinein für Deutschland als nicht möglich betrachtet werden. Da sind eben die Institutionen vor (die ja auch, wenn man das so sieh, in den USA »den Laden« noch zusammenhalten). Das setzt allerdings voraus, dass die Institutionen nicht einem schleichenden »Übernahmeprozess« ausgesetzt sind. In Deutschland kennt man ja den »Marsch durch die Institutionen«, der vom deutschen LL in den 1970er-Jahren begonnen wurde und inzwischen zum Mainstream geworden ist.
Aus lauter Verzweiflung vor den unpassenden Wahlresultaten nehmen die Vorschläge zu, das Wahlrecht beispielsweise an den Bildungsgrad zu koppeln oder Quoten für Altersgruppen einzuführen. Das zeigt eine gewisse Verzweiflung an.
@Gregor Keuschnig
Jaja, die Neigung, aus Angst vor dem Tode Selbstmord zu begehen, steigt deutlich. Ich muss Ideen solcher Art auch lesen (zum Teil in Kommentaren der TAZ, die ich nicht gespeichert habe, kann ich also nicht zitieren) und in öffentlich-rechtlichen Kulturjournalen mir anhören. Wird sogar ernsthaft diskutiert. Das in der Tat erinnert an die zwanziger Jahre, den Diskus über die „Kreatur“, als nach dem Kriege man feststellen musste, daß in den Schützengräben die Manieren empfindlich gelitten hatten. Ähnliches, aber nicht auf Bildung, sondern auf´s Alter bezogen, las ich nach dem Brexit. Ich karikiere: Während ich nicht aus dem Bett kam, um zu wählen, haben uns die Alten mit ihrer Stimmabgabe die Zukunft gestohlen. In diesem ersten Diskurs: kein politischer Gedanke nirgends. Eine so argumentierende Jugend ist hoffentlich nicht die Zukunft, hoffentlich nicht einmal ihre eigene.
@die_kalte_Sophie
Das berührt auch ihren Punkt, dass man wieder gegen die eigenen Interessen wählt. Das sehe ich auch so. Ich glaube, Trumps Wähler werden letztlich mehr vom Gleichen bekommen, möglicherweise beschleunigt. Viele, die ihn jetzt zu Recht kritisieren, beruhigt das, mich nicht.
Die Krise der Repräsentation ist aber nicht nur Zufall, sondern auch politisches Programm, es ist ein partielles Interesse in den Zusammenhängen, die Dahrendorf in lockerem Gesprächston andeutet. Die Institutionen sind durch diese Interessen viel stärker gefährdet als durch rüpelhafte populistische Diskurse, der Beitrag Ruttes steht in meinen Augen den von Wilders nicht wirklich nach. Jemand linker Neigungen eher Unverdächtiger, aber doch Kritiker dieser Tendenzen wie Warren Buffet sagt: „Das ist ein Klassenkampf, und meine Klasse gewinnt.“
Dahrendorf meint nicht eine verschworene Gesinnungsgemeinschaft, sondern eine Interessengemeinschaft, die man bis zum extrem verleugnen kann, so wie man nicht bemerken muss, daß postmaterielle Werte ein Reichtumsphänomen sind. Da lässt es sich prima schwafeln und Nase rümpfen, solange die Kasse stimmt. In diesem Sinne sagt er nicht, wenn er von den 20 Prozent im Schatten dieser Klasse spricht, diese verfolgten intelligent ihre eigenen Interessen. Ich glaube er meint eher, dass diese, zum Teil gegen ihre Interessen, der Faszination dieses kulturell hegemonialen Diskurses erliegen. Auch hier herrscht natürlich eine Art Statusangst, zumindest subkutan weiß man sehr genau, wie unsicher und prekär diese Existenz ist, und dass man schnell hart aufschlagen kann wie ein Dachdecker. Ulrike Herrmann hat das für die Mittelschicht in Teilen journalistisch gut beschrieben in: „Hurra, wir dürfen zahlen“. Damit gemeint sind nicht nur reale Steuerlasten, sondern auch, dass sich ein Mittelschichtsbewußtsein sehr viel näher am wirklichen Reichtum wähnt und sich auch kulturell zugehörig fühlt als am Hartzler der Unterschicht, obwohl man im Zweifel viel schneller dort landet als zu dieser Klasse aufzuschließen. Das ist ein tragischer Irrtum. Das, was wir Bildungspanik nennen, spiegelt diese halbbewußte Prekarität glaube ich sehr gut. Und auch der öffentliche Diskurs, beim Rechtspopulismus handele es sich um ein Unterschichten- und Bildungsphänomen, gehört meines Erachtens in diesen Zusammenhang. Das ist reine autosuggestive Selbstberuhigung. Es ist m.E. gleichzeitig widersprechend so, daß die Tatsache der eigenen Gefährdung, gebündelt in Zweifel etwa daran, daß es die Kinder einmal besser haben, mehr nach vorne rückt. Erst dieses Gefühl macht den Populismus mehrheitsfähig wie in den USA, die Unterschicht alleine nicht. Das ist ein Bündnis zwischen Unterschichtsverlierern und ängstlichen Besitzstandsbewahrern, ein ganz fragiles Bündnis. Zweitere sind auch für die Grünen hochinteressant und elementar wichtig, hier ist eine Schnittmenge zur AFD. Das ist eine Klientel, die sehr zuverlässig demokratisch und solidarisch ist, solange es um Brot für die Welt geht, keinesfalls aber um die Wurst. Dann wird der Autoritarismus auch für die Mittelschicht interessant. Und da ich meine Pappenheimer kenne wie Wallenstein die seinen, werden sie Mittel und Wege finden, ihn keinesfalls so zu nennen.
Ich glaube die Schnittmenge zwischen dem, was Rorty und Dahrendorf (indirekter) zur LL sagen, sind die Lebenslügen, die Ignoranz, und der daraus sich teils ergebende Ton, der von vielen dann als zynisch empfunden wird. Ich glaube der Bildungsdiskurs gehört in Teilen inzwischen leider dazu. Wie muss es in den Ohren eines ehemaligen 50-jährigen Arbeiters klingen, wenn er hört, wärest Du Softwareingenieur, hättest Du diese Probleme jetzt nicht. Wie fühlt es sich an, wenn zwar die zu knappe Ausstattung mit Geld für Bildung im Agendapaket anerkannt wird, man dann aber zur Ausgabe von Gutscheinen schreitet, damit die Eltern nicht das Geld für ihre Kinder verrauchen und versaufen. Das tut doch weh, eine tiefe Beschämung. Der pseudoanalytische Populismusdiskurs schlägt häufig in die gleiche Kerbe.
So glaube ich auch nicht, dass Dahrendorfs Frage ist, was die Arbeiterklasse will. Sondern eher die Frage nach den Existenzbedingungen von Demokratie und Liberalität, nach ihren historischen Voraussetzungen, und ein Nachdenken darüber, dass diese durch die neue Klasse auf revolutionäre Art in Frage gestellt wird. Zukunftsprognosen entwirft er in diesem Anschnitt ja nicht. Kommt in diesem Abschnitt nicht vor, aber je später in seinem Leben desto dringlicher hat er die Frage gestellt, in wie weit eigentlich kapitalistische Reichtumsproduktion und Demokratie so eng zusammen gehören wie wir das gewohnt waren zu sehen. Er sah eine mächtige Herausforderung durch einen autoritären Kapitalismus, der funktional durchaus überlegen sein könnte (er hielt das für möglich). Bis heute sind Demokratie und Reichtum fast, bis auf wenige Ausnahmen, nahezu kongruent. So wird ja auch das Demokratieversprechen in der Dritten Welt und bei Migranten gehört. Was aber, wenn dieser Konnex nicht mehr gilt? Insofern sind seine zeitlos, sondern er wittert hier, noch vage, einen Epochenbruch ganz grundsätzlicher Art, so wie die historischen Beispiele, die er bringt Beispiele revolutionärer Umwälzungen sind, großer Bewegungen. Diese Frage wiederum stellt sich Rorty nicht in dieser Schärfe, obwohl er manches prägnanter formuliert (ist aber auch ein gearbeiteter Text, kein Gespräch)
Der alte Universalismus der LL und die Globalisierungseuphorie der von ihm beschriebenen Klasse sind falsche Freunde, sie bedeuten das Gegenteil. Die einen sprachen von mehr Verantwortung, die anderen von weniger. Die einen forderten von sich, sich produktiv irritieren zu lassen von dem, was nicht sein sollte, die anderen fordern von anderen, dass man sie damit doch bitte nicht belästige (von ein paar Spenden mal abgesehen). Das ist ein Unterschied ums Ganze. Ihre Verwechslung ist schon fatal. Hier, wie an vielen Stellen des Globalisierungsdiskurses, gilt, teils auch für Clooney et al und den oben beschriebenen Mittelschichtsdiskurs: was den Interessierten nützt, propagieren die Naiven. Dazu gehören auch geistesgeschichtliche Diskurse der LL, etwa die Ästhetisierung der Welt, oder, wie im Rorty gleichen Buch kritisiert, etwa ein bei Foucault so tief gelegter Machtbegriff, daß man seine Allgegenwart schon fast einen teuflischen theologischen nennen muß, ungreifbar und allgegenwärtig wie sie ist, die Macht.
Insgeheim wird immer mehr »Schichten« der Bevölkerung klar, dass der vielfach ausgerufene Epochenbruch kein Blitzeinschlag ist wie das Fallen der Berliner Mauer symbolisch suggerierte sondern ein Prozess ist, der sich immer mehr in die Arbeits- und Außenwelt einfräst. Da konnte ein Ulrich Beck von den Vorzügen der Globalisierung so lange schwärmen wie er wollte: Die global agierenden Spieler scheren sich nicht um seine Utopien. Wer vor 30 Jahren eine »sichere« kaufmännische Lehre machte und mit 50 heute arbeitslos wird, kann einpacken. Den Job, den er machen könnte, wird entweder auf eine niedrige Sachbearbeiterebene mit womöglich nur angelernten Kräften übernommen oder, wenn es anspruchsvoll ist, mit jüngeren Hochschulabsolventen, die für 60% des Einstiegsgehalts arbeiten. Wer nicht mindestens mit Abitur abschließt, kommt in automatisierten Bewerbungsprozessen nicht mal mehr auf den Bildschirm des Personalchefs. Was einst sicher war, ist heute prekär. Das begann schon in den 1980er Jahren und eskalierte mit dem sogenannten Neoliberalismus, der alles einpreiste in Deutschland spätetens ab 2000. Es war die Regierung Kohl, die 1998 abgewählt wurde, die diesen Prozess noch etwas verzögerte. Schröder meinte dann, erst einmal weitermachen zu können. Daher die Rede vom »kranken Mann Europas« in Bezug auf Deutschland, was dann zur Agenda-Politik führte.
Hochschulabsolventen und Leute, die eine abgeschlossene Ausbildung haben müssen sich längst auf Teilzeitkontrakte einstellen. Die Sicherheiten, die sie bei ihren Eltern noch vorfanden, gibt es nicht mehr (Ausnahmen bestätigen hier die Regel). Die Unternehmen können aus dem Vollen schöpfen – die Formalqualifikation Abitur ist längst Selbstverständlichkeit geworden (s.o.). Ähnliches steht bei Hochschulabschlüssen bevor. Auch das ist nicht neu: In den 1980er Jahren suchten Banken und Versicherungen in Testorgien ihre »Lehrlinge« aus – von 500 Personen, die sich vorstellten, nahm man drei oder vier. Der Unterschied: die anderen 496 kamen noch anderswo unter. Das hat sich geändert.
Es ist dieses Gefühl des diffusen Unbehagens, dass die Menschen nicht nur verunsichert, sondern auch hellhörig werden lässt. Auch für radikale Parolen – sei es von rechts oder von links. Die vermutlich richtige Pauschalaussage, den Deutschen ginge es noch gut, hilft ja dem- oder derjenigen nichts, der/sie sich mit 1000 Euro netto knapp über Hartz-IV-Niveau über Wasser hält. Da wirkt der paternalistische LL mit seinen diversen Ausdruckscodes und Verhaltensimperativen wie die Arroganz des einstigen Adels gegen das primitive Volk.
Ich bin mir nicht sicher, ob der LL nicht schon seinen ganzen Charme, die eine »klassenlose Klasse« bilden zu können, eingebüßt hat. Ich will mich da auch nicht zynisch positionieren, ich bin wie gesagt »aus dem Spiel raus«.
Es kommt heute zurecht noch einmal unser politisches System, die Trinität aus Demokratie, Liberalität und Marktwirtschaft, auf den Prüfstand, denn es lässt sich nicht mehr länger leugnen: eine Verwestlichung nach diesem engen Verständnis findet NICHT MEHR statt. Es war eine Illusion. Die autoritären Demokratien behaupten sich durchaus als eine systemischen Alternative, von den Mullahs ganz zu schweigen. Die Abweichung gilt also im wesentlichen der Liberalität, dem Internationalismus und einem Gemeinsschaftssinn nach unserem Verständnis.
Das sind erst mal schlechte Nachrichten, in dieser Pauschalität.
Was uns anbelangt, also die Westeuropäer, bin ich noch nicht bereit, von Verfall zu sprechen. Da sind Wolken am Horizont, aber die Gewitter gehen woanders runter.
Natürlich gibt es neben der »internationalen Ernüchterung« auch bei uns aufkommende Rohheiten. Aber ich bin nicht sicher, was den LL mehr kränkt: die Aussetzung der Verwestlichung, oder die Quittung aufgrund mangelhafter Repräsentation.
Ich muss vielleicht dazu sagen, dass ich den LL eher medial und universitär verorte, also festzustellen wäre, dass die Parteien in D. sich nicht auffallend verändert haben. Die Alternative streckt sich mühsam ins Zweistellige. D.h. der Kulturschock liegt dann eher auf den Kulturbewussten als im Bewusstsein der Gesamtbevölkerung.
Aber ansonsten bin ich d’accord, was die halbseidende Identifkation der (eigentlich prekären) Mittelschicht mit dem Jet-Set angeht... Der Weg nach oben ist wohl doch länger als der Weg nach unten.
Wir kommen immer wieder an der derselben Hausnummer vorbei: Demokratie und Marktwirtschaft passen nicht ideal zusammen. Aber: Bis jetzt hat’s noch immer geklappt. Der Extremismus wird nicht wie die 68er den Marsch durch die Institutionen schaffen. Sogesehen birgt das Scheitern der 68er ja auch eine Lebensweisheit: nach dem erfolgreichen Wirken kommt das Ende der »historischen Attraktivität«, man hat gewonnen, aber es ist keine zeitlose und ewige »Sekundärideologie« entstanden, die jeden Tag neu zu feiern wäre. Dafür war der LL dann doch zu sektiererisch und ökonomisch einfach zu ungebildet. Verabschieden wir uns davon...
Schöne Diskussion. Ich bin leider nicht früher dazu gekommen, anbei noch ein paar Gedanken, die mir beim Lesen gekommen sind. Ich habe auch eine nicht mehr ganz taufrische Textstelle in Erinnerung, die ich noch nachreiche, sie ist vom Duktus vergleichbar mit Steele, berührte allerdings andere Aspekte und macht die Enttäuschung, die man bei Steele vermuten darf, eventuell besser verständlich.
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Ich meine mich zu erinnern, dass innerhalb der Linken einmal sinngemäß galt, dass der Geschlechterwiderspruch ein Nebenwiderspruch sei und der soziale (oder jener der Klasse) der Hauptwiderspruch. Das hat sich geändert, vor allem wenn man, das hier Geschlecht genannte – s.o. – in den Begriff »Kultur« erweitert (ich bin mit dem Kulturbegriff da nicht ganz glücklich, aber das ist jetzt nicht wichtig). Mir scheint es, dass die Linke, so sie dieser Idee gefolgt ist, all das aufgegeben hat, was sie eigentlich ausgemacht hat und nennen wir diese Linke einmal linksliberal (folglich sehe ich kaum Errungenschaften dieser Kulturalisierung): Sie tritt nicht mehr für Wahrheit oder Argumente ein, sondern für Korrektheit und Moral; ihre einstmals religionskritische Position, wird nach genau dieser Logik verwässert (den einen die Höflichkeit, den anderen die Kritik); der Mainstreamfeminismus macht die soziale zu einer Seilschaftsfrage für die Mittelstands- und Oberschichtenfrau (diejenigen, die die ökonomische Macht in Händen halten, zerkugeln sich wohl über so viel nützliche Idiotie); und es spricht Bände, wie schwer sich die Linke mit den Aktionen der Identitären tut, die nach genau demselben Schema ablaufen, das sie selbst angewandt haben...wenn der Linksliberalismus eine Art Kombination von Bürgerlichkeit und Linkssein ist, dann ist er vor allem eine Aporie.
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Zur sogenannten us-amerikanischen, säkularen Bürgertheologie: Ist das nicht eine Kehrseite des us-amerikanischen Exzeptionalismus’ und wären beide nicht zusammenzudenken, bzw. historisch mit der Emanzipation von Europa (Kolonialmächte) in Verbindung zu bringen und von daher besser zu verstehen?
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Trump scheint mir nicht der klassischen amerikanischen Oberschicht anzugehören, er ist doch eher ein Emporkömmling mit schlechten Manieren und in diesen »klassischen« Schichten wenig angesehen. Er wird sich mit ihnen arrangieren müssen, ja, aber schuldig ist er ihnen nichts.
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Die Globalisierung ist u.a. eine Folge der sogenannten liberalen Weltordnung, die eine Machtlogik in sich trägt: Mehr Gestaltung und mehr Möglichkeiten für diejenigen, die damit bereits gesegnet sind; klarerweise haben diese Damen und Herren natürlich etwas gegen »nationale Verwirrungen«, die sich in Grenzen und gesetzlichen Regelmentierungen äußern (da fällt mir auch Dahrendorf ein, der, es wird wohl 30 oder 40 Jahre her sein, einmal meinte, dass es der Nationalstaat und nur der Nationalstaat ist, der unsere Bürgerrechte sicherstellt; das wäre auch wieder ein Beispiel, dafür, dass diejenigen, die für seine Abschaffung schreien, gegen ihre eigenen Interessen, die Propagandaarbeit für andere erledigen). — Die unteren Schichten braucht man nicht, aber sie baden die natürlich die Folgen aus, die, wenn ich Frau Clinton da mithineinnehme, ja bis zum Krieg gehen können.
@ mete. Der LL ist eine »Aporie«, vielen Dank. Manchmal dachte ich, ich sei der einzige der das so wahrnimmt. Ich meine vor 40 Jahren war die Welt wenigstens noch »ordentlich zerstritten«, es gab rechts und links, gleichbedeutend mit der Dichotomie von Kapital und Arbeit, und die Liberalität äußerte sich darin, dass man sich nur angiftete aber nicht über den Haufen schoss.
Dann kam die Globalisierung, die Erfolge der EU, die Agenda 2010, und plötzlich sollten links und bürgerlich sind schlussendlich reimen, was in sofern stimmt, als niemand mehr groß auf die Nation und ihre Interessen Bezug nehmen wollte. Die ideologische Linke revoltierte gegen den Neoliberalismus, aber die Edelfedern kokettierten nur noch mit dem Begriff, eine durchgehalten linke Position verschwand aus der Mainstream-Öffentlichkeit. Die Neue Schlampigkeit hatte Einzug gehalten, um nicht zu sagen: der Flachsinn wurde zeitgeistige Methode.
Ich bin kein durchgestählter Marxist, aber ich fühlte mich von diesem Einerlei und Allerlei trotzdem irgendwie provoziert.
Steele hat doch insofern recht, als man die politische Ideologie dieser Jahre im wesentlichen auf ein Schuldgefühl gegenüber Minderheiten und Ausgebeuteten in der dritten Welt verkürzen konnte. Das sind gruppenspezifische Mechanismen, die insofern anspruchslos sind, als die virtuelle Gruppe keinerlei Programme, keinerlei Organisation und keine realisitischen politischen Ziele verfolgt. Ein ideologisch schwach unterfüttertes Irrenhaus, so würde ich das politische Denken der Nullerjahre beschreiben.
Ich meine, die freie Presse stellt genau die Niveaulosigkeit zur Verfügung, die Gender-Geisteszwerge und Rassismus-Trüffelschweine benötigen. Man kennt sich.
Im Moment scheint es mir, als ob die heutige Bürgerlichkeit mehr denn je die »französische Variante« benutzt, nämlich die Widersprüche und Unterschiede zu verschweigen.
Es gibt letztlich nur zwei (!) Modi des Politischen, die gemeinsame »Verdrängung« der Widersprüche bzw. die Betonung der gemeinsamen Interessen, Kultur, Christentum, etc., oder eine entschlossene durchgehaltene Kritik, also die Anstrengung der Einseitigkeit.
Wenn ich mich nicht irre, dann fungiert das große Thema »Europa« heute als Ersatzthema im Modus 1. Es ist DAS gemeinsame Interesse, jenseits der Ökonomie, jenseits von Marx. Ich habe den Eindruck, dass Europa die maximale einvernehmliche Verdummung bedeutet. Ähnlich wie das Schuldgefühl von Steele. Man kann Politik so einfach gestalten, dass jede Wirklichkeit verschwindet.
Die Kenndaten des Linksliberalismus haben sich verändert; womöglich in D mehr als in den USA. Die Grünen waren je vom Ansatz her immer eine eher bürgerliche Partei (Bewahrung der Schöpfung; fortschrittskritisch). Ihr Gestus à la Bürgerschreck war zwar anders, aber man musste nur hinter die Fassade schauen. Spätestens als die Ditfurth-Fraktion der Grünen weggebissen wurde, war das klar. Die Verbürgerlichung schreitet nun dahingehend voran, dass man zwar progressiv denkt, aber dies ohne jede Konsequenz. Man ist »für die Umwelt«, fährt aber mit dem Zweitwagen nach Aldi.
Das ist natürlich eine Entideologisierung der Gesellschaft. Zunächst ist das bekömmlich, aber man traut sich damit vor lauter Furcht, irgendwem weh zu tun, nicht an die substanziellen Fragen. Inzwischen gilt jede noch so kleine Abweichung vom common sense als Apostasie und wird – je nach Schwere – mit ein bis drei Shitstürmen bestraft.
Die »Verdrängung der Widersprüche«, d. h. die Leugnung von Differenz, ist das große Manko des LL. Statt kulturelle Unterschiede fruchtbar herauszuarbeiten und gerade in ihrer Differenz multiperspektivisch zu gestalten, werden sie nivelliert. Hinzu kommt, dass die eigenen sozial- und gesellschaftspolitischen Errungenschaften zu Gunsten eines idealisierten Multikulturalismus relativiert werden. Wo einst in den 1970ern jeder Mann mit Krawatte als potentieller Reaktionär oder gar Faschist angegriffen wurde, wird heutzutage inflationär der »Rassimus«-Vorwurf nahezu kultiviert. Dieses Vorgehen entlastet von intellektuellen Disputen; die Gesinnung reicht. Aber da man keine Synthese zwischen den eigenen und den fremden Lebens- und Politikentwürfen gefunden hat, beginnen die repressiven Kräfte (von rechts) an Boden zu gewinnen.
Zu Europa sag ich mal nichts, aber es ist klar, dass die quasireligiöse Europa-Verehrung (die ja in Wahrheit eine der Institutionen ist), ein deutsches Phänomen darstellt, dass ich aus der Geschichte heraus speist (dem aber ein fataler Geschichtsbegriff zugrunde liegt).
»Leugnung von Differenz« ist schön formuliert: Wäre es anders, müsste man sich nicht nur mit sekundärideologischen Fragen beschäftigen, sondern auch mit den sich auftuenden Widersprüchen hinsichtlich der eigenen Prinzipien (Umweltschutz, Toleranz).
Mehr gefühlt als dass ich es wüsste, sind die Grünen am Anfang durchaus unbürgerlich gewesen, Hausbesetzungen etwa, aber auch hinsichtlich einiger Protagonisten; bei uns spricht man zumindest immer wieder von »Fundis« und »Realos« (natürlich: Umweltschutz und Technikkritik sind wesensmäßig konservative Unterfangen).
Ginge die Entideologisierung einher mit analytischem Denken, wäre dagegen wenig zu sagen (außer, dass Politik natürlich immer eine Angelegenheit von Ideen und Entwürfen ist und damit auch maßvoll ideologisch sein sollte). Was passiert, ist allerdings, dass kaum einer mehr einen klaren Gedanken formuliert (ich übertreibe etwas); von daher ist mir ein Ideologe immer noch lieber als diese Prinzipienlosigkeit des »Ich-möchte-nirgends-anecken« (da ist dann wenigstens eine Position vorhanden, die mich fordert).
Jein. Die Grenzen zwischen Hausbesetzern und AKW-Gegnern waren natürlich fließend. Aber der link(sextrem)e Flügel der Grünen, die »Fundis«, waren ja irgendwann raus. Danach schritt der Pragmatismus ein, was nicht schlimm sein muss, aber zu einer Anpassung führte, die im Gegensatz zu vielen Idealen auch der Realo-Gründerszene steht. (Mein persönliches Fanal war Jugoslawien 1999.) Das aktuelle Dilemma der deutschen Grünen besteht darin, dass etliche ihrer Themen längst Allgemeingut geworden sind – eben Gesinnungspflöcke, die den common sense der Gesellschaft stark nach »grün« (»links«) verschoben haben. Alle Welt unterhält sich über »gesundes Essen«, will Vorreiter beim Klimawandel sein (an deutschem Wesen...) und progressive gesellschaftspolitischen Themen besetzen, die eben nur Minoritäten interessieren.
Das geht solange gut, bis sich breite Bevölkerungsschichten ökonomisch sicher fühlen. Der Knackpunkt waren die diversen Finanz- und Griechenlandkrisen von 2008–2015, die dem Mittelstand signalisiert haben, dass ihr Fundament nicht unbedingt so fest steht, wie er dachte. Die Politik versteifte sich darauf, ihre Entscheidungen nicht mehr diskursiv zu legitimieren, sondern durch Drohungen zu unterfüttern (das setzte sich 2015f in der Flüchtlingskrise fort). Kernsatz ist »Scheitert der Euro, dann scheitert Europa«. Der Satz war aus zwei Gründen Unsinn. Zum einen ist eine Aussetzung eines Staates nicht gleichbedeutend mit dem »Scheitern« der Währung. Zum anderen wird suggeriert, dass die europäische Einigung erst mit der Währung gekommen sei. Statt also die Bevölkerung nüchtern aufzuklären, wurden Drohgebilde konstruiert, die aber für weite Teile gar keine Drohungen beinhalteten. Jeder, der von nun an Kritik an den Institutionen der EU übt, unterliegt dem Verdacht des Revanchismus. Mit solchen Mitteln kann man eine zeitlang unliebsame Diskussionen unterdrücken – aber irgendwann wird man eingeholt von der Hohlheit der eigenen Phrasen.
Richtig, Politik muss heutzutage nichts mehr leisten. Diskussionen unterdrücken reicht.
Sagt neulich doch der Steinmeier in gedehntem Pathos (ich glaube) im EU-Parlament: »Ich vermag mir ein Europa ohne Griechenland nicht vorzustellen«.
Solche Halbheiten, die ganz klar den Diskurs über die Kredite und die Währung totschlagen, müssen wir uns im 21. jahrhundert gefallen lassen, weil die Journaille nicht mehr dagegen vorgeht. Es wird nichts mehr verlangt von den Funktionären. Wenn die Geschichte vom Niedergang des LL zutrifft (mein Wunschdenken gibt zuletzt ja nicht den Ausschlag) dann müsste die GRÜNE Partei demnächst unter die Räder kommen. Aber wer weiß...
Die Grünen liegen ja derzeit bei den Umfragen im Bund zwischen 7% und 8%. Da aber Journalisten überproportional grüne Sympathien hegen, wird sicherlich noch einiges geschehen, um spezifisch »grüne Themen« noch einmal auf die Agenda zu bringen. Warten wir’s mal ab.
Hier das versprochene Zitat (Bassam Tibi, Europa ohne Identität, aktualisierte Auflage 2002 [ein Teil der Einleitung]):
»Von den aufklärerischen zu den Maulkorb-Linken
Eigentlich ist der Multikulturalismus eine politische Gesinnung, hinter der die Linke in ihrer heutigen Verfassung steht, so daß die Gegner in die rechte Ecke gestellt werden, auch wenn sie – wie dieser Verfasser [gemeint ist BT, mete] – alles andere als »Rechte« sind. Als ein Linker der 68er-Generation schmerzt es mich zu beobachten, daß von der 68er-Generation nur noch ein Scherbenhaufen zurückgeblieben ist. Weder das Proletariat noch Randgruppen der 68er-Studenten, zu denen ich einst gehörte, haben die ersehnte Revolution gegen das verhaßte System herbeiführen können. Wie schon oben ausgeführt, ist auch die erhoffte Revolution in der »Dritten Welt« ausgeblieben. Nun sollen wir Ausländer zu Handlangern ihrer nicht verwirklichten Träume gemacht werden und das von ihnen verabscheute System erschüttern (vgl. Anm. 15). Doch warum sollten wir dies tun? Wir Migranten wollen Integration und inneren Frieden und kein Multi-Kulti-Pulverfaß, keine Revolution und auch keinen Klassenkampf unter veränderten Vorzeichen.
Die Linke meiner Zeit war der kritischen Theorie von Adorno, Horkheimer und Habermas, das heißt der kulturellen Moderne verpflichtet. In Deutschland besteht die Linke heute vorwiegend aus Anhängern des Feminismus und des Multikulturalismus. Als ein arabischer Muslim aus Damaskus war ich in den 60er Jahren ein Linker der vordersten Front; ich war SDS-Aktivist, habe bei Adorno und Horkheimer studiert und wichtige linke Zeitschriften – wie das Argument – mitgetragen. Das sind entscheidende Jahre meines Lebens, zu denen ich weiterhin stehe. Damals waren wir als gegen alle Tabus, wollten diese abbauen und für die Denkfreiheit sowie Transparenz kämpfen. Anders die Linken von heute: Sie sind von einem anderen Schlag, sie führen im Namen der Political Correctness nur Restriktionen und Denkverbote ein, schränken somit bestehende Freiheiten ein.
[...]
Trotz aller Kritik muß ich anführen: Unter den Linken der sechziger Jahre habe ich mich vor Beginn jener Eskapaden und meinem anschließenden Riickzug nicht fremd gefühlt; ich bin von ihnen nie als Ausländer behandelt worden. Bei den Linken der neunziger Jahre nehme ich dagegen eine Mischung aus deutschem Nationalismus und Autoritarismus sowie eine Belehrungsmentalitat wahr. Als Opfer orientalischer Geheimdienst—Schnüffeleien habe ich eine besondere Sensibilität gegeniiber jeder Denunziation Andersdenkender. In diesem Sinne nenne ich die PC-Sittenwächter eine postmoderne Spielart der Mukhabarat/orientalischen Nachrichtendienste; sie foltern nicht physisch, sondern seelisch. Ich habe es bereits deutlich erklart: Die subtile Euro-Arroganz trifft einen Fremden tiefer als die primitiven Anpöbeleien von Rechtsradikalen.
Das Bedenkliche in unserer Gegenwart ist, daß sich linke Multi-Kulti-Ideologen anmaßen, für uns Ausländer zu sprechen, ja sich – wie einst 68er Anti-Autoritäre als »Sprachrohr des Proletariats« – zu unserem Vormund nach Leninscher Manier (Kader als Sprecher der Arbeiterklasse) zu erheben, um ihre Gegner als »Rassisten« diffamieren zu können. Dabei denkt dieser Kreis aus meiner Perspektive eines betroffenen Ausländers selbst rassistisch. Der unermüdlich erhobene Rassismus-Vorwurf gegenüber Gegnern einer Multi-Kulti-Ideologie ist nur instrumentell. [...]«
Kursivsetzungen habe ich nicht übertragen. Tibi verteidigt die kulturelle Moderne gegen Wertebeliebigkeit (Multikulturalismus). Menschen wie Tibi oder Steele werden von den Verwirrungen des Linksliberalismus u.U. härter, jedenfalls wohl anders, getroffen.
Fundstück, eine Buchannonce von Suhrkamp. Das Debatten-Büchlein nennt sich die Große Regression. Es geht um den Nationalismus und einen eruierten Kulturverfall. Hier kann man die politische Event-Sphäre des LL noch einmal sehr gut begreifen, in wenigen betont »mainstream-bekannten« Worten:
»Die Welt scheint aus den Fugen. Seit einiger Zeit sehen wir uns mit Entwicklungen konfrontiert, die viele für Phänomene einer längst vergangenen Epoche gehalten haben: mit dem Aufstieg nationalistischer Parteien, einer Verrohung des öffentlichen Diskurses, einer Verbreitung fremdenfeindlicher Einstellungen usw. Die Geschwindigkeit, in der wir hinter für gesichert gehaltene Standards zurückfallen, ist beängstigend.«
–Deutlich wird in dieser Passage die leichte Verbindbarkeit der internationalen »Maximen« zu einem flotten historisierenden Marketing-Getexte. Das schreibt sich in 5 Minuten für Profis, bzw. 15 min für Praktikanten.
Genau wie schon diskutiert, diese Politik hat ein konformistisches Gesellschaftsverständnis entwickelt, und sucht keine Kritik, die nicht wiederum Markt- und Massen-tauglich wäre. Diese Adaption treibt ein leichtfüßiges Spiel mit Wahrnehmungs- und Urteilsschablonen, um ihre ganz besondere »Konsistenz« oder Selbst-Ähnlichkeit zu finden.
Nur in den Anfängen der 70er Jahre hat man auch einen »formalen« Protest gesucht, man erinnere sich an Foucault’sche Versuche einer Gegenöffentlichkeit, oder Aleander Kluge. Von einer »Gegenöffentlichkeit« mit am Ende sinkenden Verkaufszahlen will ein Renommée-Verlag wie Suhrkamp bestimmt nichts wissen.
Ist das Politik oder ein Selbst-Marketing im Sinne der sog. »Sekundärideologie«, das Verlage, Journalisten oder Anhänger gleichgeschaltet verfolgen können?! Kann man diese Warenform überhaupt kritisieren, oder ist die Gewöhnung an diese schablonierten Schreibweisen längst selbst schon zur Kulturvoraussetzung mutiert?!
Ein anschauliches Beispiel und vor allem anschlussfähig für diejenigen, die nicht explizit politisch interessiert sind oder denen das Wasser nicht bis zum Hals steht: Genusspolitik oder: Sich nicht viel kümmern müssen und auf der richtigen Seite stehen (Ja, Konformismus, Warenform). — Ich erinnere mich an eine Bemerkung eines Bekannten nach der österreichischen Bundespräsidentenwahl: Das Ergebnis sei ein Zeichen gewesen, meinte er (Was für ein Missverständnis! Als ob das eine Aufgabe der Politik wäre...).
Es ist, um auf den letzten Absatz Bezug zu nehmen, schwierig zu begreifen, wie sich dieses Selbstverständnis ausgebreitet hat, gerade fast überall dort, wo man Qualität zu finden meint (vielleicht eine Art Sozialisation).
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