Irgendwann Ende der 1980er nahm ich das Jahre zuvor geschenkte Exemplar von »Der Name der Rose« zur Hand. Bestsellern stand (und stehe) ich immer skeptisch gegenüber, aber es war ein stürmischer und regnerischer Karfreitag und ich bemerkte in mir einen Überdruss an der sogenannten hohen Literatur, der dazu führte, dass ich mir eine Auszeit verordnete, so zäh waren mir einige hochgelobte Prosabrocken vorgekommen. So begann ich mit der Lektüre und binnen kurzer Zeit war parallel zur Zeitreise ins 14. Jahrhundert auch meine Zeitreise in die Kindheit gestartet worden. Während des Fests der Verwandlung verwandelte ich mich ebenfalls und studierte auf der im Buch abgedruckten Karte der Abtei Bruder Williams Wege wie ich als Kind Stevensons Karte der Schatzinsel mit den Umrissen von Inseln im Atlas verglichen hatte. Ich konnte nicht einschlafen ohne die nächsten 20 oder 30 Seiten gelesen zu haben, lag dann wieder wach und las noch weitere Seiten.
Hatte ich mich vorher wie in einem im Schlamm steckengebliebenen Auto gefühlt, so war »Der Name der Rose« der Traktor, der mich wieder auf die Straße setzte. Ein Luxuskreuzer hätte das so nicht geschafft. Nein, ganz große Literatur war das nicht, aber es löste bei mir eine Initiation aus. Um mir dieses Gefühl zu konservieren, habe ich das Buch nie mehr gelesen. (Den Film hatte ich nur aus dem Augenwinkel als Kostümtheater wahrgenommen.)
Natürlich war dann die Neugier auf »Das Foucaultsche Pendel« 1989 groß. Und umso größer die Enttäuschung über diese wirre Geschichte, einen »unverdauten Romanbrei« (Willi Winkler) mitsamt dem fast manischen Zurschaustellen des Wissens des Autors; es gab sogar ein Lesezeichen, auf dem »Passworte« erklärt waren, damit der Leser nicht dauernd Lexika wälzen und/oder im Anmerkungsapparat nachschlagen musste (es gab noch kein Internet). »Kabala«, »Rosenkreuzer«, »Templer« wurden dort griffig erklärt. Eco spielte mit den Begriffen, knüpfte Analogien, verwob (oft unentwirrbar) Wirklichkeit mit Fiktion. Auch später waren Ecos Romane durchdrungen von geheimnisvollen Vexierspielen, Verschwörungtheorien und deren Entdeckungen, die dann wieder neue eigenartige Ereignisse zu Tage führten und lustvoll-ornamental kolportiert wurden. Eco war so etwas wie der Erfinder einer neuen, postmodernen Form der literarischen Doku-Fiktion, die er mit Mystery-Elementen würzte. Ohne Eco hätten Dan Brown et. al. nicht derart reüssieren können. Als sich Eco mit »Der Friedhof von Prag« an die Destruktion der sogenannten »Protokolle der Weisen von Zion« heranwagte, scheiterte er, weil er eben auch immer ein Stück der Faszination der Verschwörungen und ihrer Wirkungsmacht erlag. Ecos Mischung aus Fiktion und historischer Realität stieß an ihre ästhetischen Grenzen.
Eco betonte noch im letzten Jahr, dass er »Das Foucaultsche Pendel« für sein bestes Buch hält. Und ja, bei aller Kritik über die »Story« gibt es dort, gut versteckt, einen kleinen, wunderbaren Nebenstrang, der sich zunächst nur in kleinen Erwähnungen andeutet und am Schluß, im vorletzten Kapitel, dann anhebt zu einer kleinen großen Erzählung. Es ist die Geschichte des Helden des Buches als Kind, der auf einer Beerdigung von zwei Partisanen Ende April 1945 feierlich die Trompete zu spielen hat und dem dies wider jede Erwartung mit Inbrunst gelingt und der diesen Augenblick vermutlich als den schönsten seines Lebens für immer in Erinnerung behalten wird: »Er setze ab, setzte neu an und blies einen einzigen hohen Ton, den er in einem sanften Decrescendo abschwellen ließ, um die Welt an die Melancholie zu gewöhnen, die auf sie wartete«. Die Beerdigung war zu Ende, die Trauergesellschaft zerstreute sich, die Totengräber gingen, nachdem sie die Gruben zugeschüttet hatten. Dann erst ging der Junge. »Er konnte sich nicht losreißen von diesem Ort des Glücks«.
Irgendwann werden alle losgerissen, vom Ort ihres Glücks. Wie jetzt Umberto Eco mit 84. Wenn es in unserer Zeit so etwas wie einen Universalgelehrten überhaupt noch geben kann, dann war er einer davon.
Eine schöne Würdigung, die Eco nicht verklärt und sich nicht schnöde über ihn erhebt. Eco war ein Techniker des Erzählens und ein Theoretiker dieser Technik. Dass nicht alle seine Romane funktionieren, kann nicht verwundern. Vielleicht reicht eine solche Konstellation stets nur zu EINEM grossen Wurf.
Ecos Person kommt schön zur Geltung im Interview des Schweizer Journalisten und Philosophen Marco Meier, der Eco am Beginn seines Schriftstellerruhms an der Universität Bologna aufsuchte: https://www.journal21.ch/umberto-eco-1932–2016
Danke für den Link. Den Spruch des Anrufbeantworters kannte ich noch nicht. Sehr schön. (Aber auch bigott – denn Öffentlichkeit wollte er ja sehr wohl erreichen...)
Mit ähnlichem Vergnügen wie den »Namen der Rose« hab ich dann noch »Baudolino« gelesen – ebenfalls ein schönes Spiel mit historischer Wirklichkeit und Fiktion ...
»Baudolino« hatte ich irgendwann abgebrochen. Und nie mehr fortgesetzt.