A.d.L.e.R: Aus dem Leben einer Rikschafahrerin – Nr. 2
Wir haben 28 Grad, eine hauchfeine Brise und ein paar Zierwölkchen im Himmel. Ich habe zwei Damen die Linden heraufgebracht, fahre durchs Brandenburger Tor hindurch und finde den Platz auf der anderen Seite, namentlich: den »Platz des 18. März«, (an dem die »Straße des 17. Juni« beginnt), abgesperrt mit rotweißen Gittern, hinter denen alle fünf Meter Polizisten und Polizistinnen in schusssicheren Westen stehen, um die Absperrung zu sichern. Unter den Bäumen auf der nordwestlichen Seite Einsatzfahrzeuge der Polizei, eins neben dem anderen, eine Wagenburg ums Gelöbnis herum. Öffentliches Gelöbnis der Rekruten unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Weiträumige Absperrungen, Sicherheitszonen, Zufahrten. Von der Ecke Behrenstraße/Ebertstraße, über die nördliche Tiergartenhälfte bis zum Bahnof rauf: Alles dicht. Der Aufbau der Absperrungen und der Tribüne vor dem Reichstag ist seit einer Woche im Gange gewesen. Seit einer Woche wimmelte es von Polizei und Feldjägern und Soldaten, die alle so taten, als wäre überhaupt nichts los bei ihrem nervösen Hin und Her.
Ein Hubschrauber zieht auf, die beiden Damen ziehen ab, ich verzieh mich in den Schatten. Dort steht ein Kollege, der sich beim besten Willen nicht erklären kann, wieso eigentlich das Gelöbnis nicht in einen nächtlichen Fackelzug eingebunden, und wieso Wehrkunde noch nicht wieder als Pflichtfach an Schulen eingeführt ist.
»Du sach mal«, frag ich, denn er muss es wissen, er hat gedient, »glaubst Du, dass man mit einer Armee, die sich im eigenen Lande von der Polizei vor den Bürgern schützen lassen muss, dass man mit so einer Armee noch einen Krieg gewinnen kann?«
»Vergiss die Armee, ich weiß was Besseres.«
Ich versuche die Armee zu vergessen und denke daran, wie vorhin, kurz bevor ich mit den zwei Damen losgefahren bin, unser Oberpolitisierer vom Dienst im Tonfall nüchternster Sachlichkeit erklärte, er könne sich diese Welt ohne Armeen und Waffen nicht vorstellen, er sei sicher, dass das nicht funktioniere, und wie daraufhin ein anderer Kollege, von dem genau dies zu erwarten gewesen war, den Tonfall des Oberpolitisierers imitierte: »Daran kann man sehr gut sehen, wie erfolgreich die kapitalistische Propaganda ist: Sie arbeitet so effizient, dass man sich etwas so Naheliegendes, Einfaches und Schönes nicht einmal mehr vorstellen kann.«
Ich widersetze mich der kapitalistischen Propaganda und stelle mir diese Welt ohne Armeen und Waffen vor, in der Tat ein naheliegender, einfacher und schöner Gedanke, währenddessen mein Kollege sich aufrichtet. Er lümmelt nämlich, wenn er auf Kunden wartet, immer so hingeflegelt in seiner Rikscha herum, die Füße auf den Sattel gelegt, den Arsch auf der Kante, aber jetzt setzt er sich aufrecht hin und strahlt übers ganze Gesicht: «Gestern hab ich Prominenz gefahren!«
Er erzählt mir, dass gestern am Reichstag unter all den anderen ein Tourist um die Sechzig so herumgestanden habe, auf jemand gewartet, dem sei wohl langweilig gewesen, und da habe er, der Tourist, ihn, meinen Kollegen, angesprochen. Der Tourist habe auf die fertig aufgebaute Tribüne fürs Gelöbnis gezeigt und gefragt, was das für eine Veranstaltung sei.
»Gar nicht so einfach, die Armee zu vergessen«, werfe ich ein, und er:
»Deshalb machen die das ja.«
Jedenfalls habe er dem Tourist geantwortet: »Da müssen die Rekruten schwören, dass sie bereit sind, ihr Leben für Vaterland und Öl zu geben.« So sei man ins Gespräch gekommen, und zwar auf Englisch, Schmalspur-Englisch, der Tourist sei aus Holland gewesen, und er, mein Kollege, habe seine Ansichten übers Militär und die Schrift über dem Eingang des Reichstagsgebäudes nicht hinterm Berg gehalten. Der niederländische Tourist habe mit ihm und seinen Ansichten sympathisiert und eher beiläufig angemerkt, dass sein Großonkel in diesem Gebäude mal Feuer gelegt habe, und dass dessen Name auf dem Schild falsch geschrieben sei. Dann sei die Frau herangekommen, auf die er gewartet hatte, und sie seien ein Stück mit ihm gefahren.
»Määänsch, daschanding!«
»Jau, das war der Großneffe von Marinus van der Lubbe!«
»Da kann ich natürlich nicht mithalten, mit meinem ollen Zwiebel-Günter.«
Wir unterhalten uns über den Reichstagsbrand und bedauern, dass es damals nicht hingehauen hat, und vor allem, dass sie Marinus van der Lubbe erwischt und ermordet und vier andere gleich mitverhaftet haben. Von den Folgen gar nicht zu reden. Außerdem stellen wir fest, dass heute viele Kollegen und Kolleginnen nur des Gelöbnisses wegen gar nicht rausgekommen sind. Und da wir uns nicht in der Lage sehen, etwas Ähnliches wie seinerzeit Marinus van der Lubbe aufzuführen, machen wir Feierabend und haun ab.