Der Auf­schnei­der

Es ist noch ei­ne der letz­ten Li­te­ra­tur­sen­dun­gen im deut­schen Fern­se­hen: »Das blaue So­fa«, »von und mit Wolf­gang Her­les«. Her­les be­fragt Schrift­stel­ler zu ih­ren Bü­chern (da­her das So­fa, das an­fangs so­gar zu al­len mög­li­chen und un­mög­li­chen Or­ten – auf Ko­sten der Ge­büh­ren­zah­ler – durch die Welt­ge­schich­te ge­flo­gen wur­de) und stellt dann noch ein oder zwei Bü­cher vor.

In der Sen­dung vom 24.10. auch Ste­pha­nie Barts »Deut­scher Mei­ster« (ab ca. 19:00). Her­les liest ei­ni­ge we­ni­ge Zei­len aus dem Buch und lobt dann et­was mehr als ei­ne Mi­nu­te das Buch in­klu­si­ve kur­zer Nach­er­zäh­lung des In­halts. Da­bei un­ter­lau­fen ihm mas­si­ve Feh­ler. So schil­dert er wie Troll­mann zu sei­nem letz­ten Kampf »mit blon­der Pe­rücke und weiß ge­pu­dert« er­schien und sich »wehr­los be­wußt­los schla­gen« ließ, was Her­les als »Pro­vo­ka­ti­on« be­zeich­net.

In die­sem Satz sind drei Din­ge falsch. Zum ei­nen färb­te sich Troll­mann die Haa­re blond und trug kei­ne Pe­rücke (»Deut­scher Mei­ster«, Sei­te 354). Zum an­de­ren ver­warf er aus­drück­lich den Ge­dan­ken, sich mit Ko­lo­pho­ni­um die Haut weiß zu pu­dern (Sei­te 352). Und die »Pro­vo­ka­ti­on« be­stand nicht dar­in, sich wehr­los zu­sam­men­schla­gen zu las­sen – das war aus­drück­lich von den Na­zis so »vor­ge­se­hen« und Troll­mann durch »spe­zi­el­le« Re­geln ok­troy­iert wor­den. Das kommt im Buch aus­führ­lich zur Spra­che. Die »Pro­vo­ka­ti­on« be­stand dar­in, dass er sich sei­ne schwar­zen Haa­re blond färb­te und da­mit ge­gen den Ras­sen­wahn der Na­zis pro­te­stier­te. Die Weiß­fär­bung der Haut – in un­end­lich vie­len An­ek­do­ten und auch Fil­men über Troll­mann stets kol­por­tiert – hat nach Re­cher­chen der Au­torin nicht statt­ge­fun­den.

So sitzt Her­les al­so Irr­tü­mern auf, die nur den ei­nen Schluß zu­las­sen: Er hat das Buch nicht zu En­de ge­le­sen. (Wie auch Fré­dé­ric Schwil­den von der Ham­bur­ger Mor­gen­post.)

* * * * *

»Ist das ei­gent­lich nicht egal?«

»Nur weil er es lobt?«

»Es ist doch gleich­gül­tig, ob er ei­ne Pe­rücke auf­hat­te oder sich die Haa­re blond ge­färbt hat.«

»Der Sach­ver­halt sel­ber ist für die brei­te Mas­se nicht wich­tig. Aber hier geht es dar­um, ob je­mand, der sich als Ge­schwo­re­ner in Sa­chen Li­te­ra­tur an her­aus­ge­ho­be­ner Stel­le be­fin­det, sein Hand­werk se­ri­ös be­treibt oder nicht.«

»Na­ja…«

»Die­se Leu­te ge­rie­ren sich als Ver­mitt­ler von Li­te­ra­tur. Li­te­ra­tur, die sie dann nur schlam­pig le­sen. Man kann ih­nen nicht trau­en; sie sind Auf­schnei­der.«

45 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. Ich bin zu dumm: der klei­ne Dia­log im Nach­wort, ‑ist das ei­ne An­re­gung für Mei­nungs­bei­trä­ge?!
    »Egal!«
    Nun, dann ge­be ich zu Be­den­ken: Li­te­ra­tur und Fern­se­hen sind sich weit­ge­hend fremd. Man kann na­tür­lich Au­toren in­ter­view­en und Be­spre­chun­gen durch­füh­ren, aber die be­ste Ex­per­ti­se kann man nicht er­war­ten. Sind Le­se­emp­feh­lun­gen für’s Volk, stimmt! Kann man sa­gen. Das­sel­be Ni­veau: Scobel’s Phi­lo­so­phie-Häpp­chen (sagt man nicht »Ka­na­pee«, was wie­der­um »So­fa« be­deu­tet?!)
    Es ist schwie­rig, das Ver­hält­nis von Li­te­ra­tur und Ge­sell­schaft kri­tisch zu deu­ten, weil die Ver­ar­bei­tung in den Re­dak­tio­nen und Wer­be-Agen­tu­ren im we­sent­li­chen die­ses Ver­hält­nis de­fi­niert. Das kann man nicht ein­fach um­stür­zen, das hat sei­ne ei­ge­ne be­harr­li­che Rea­li­tät.

  2. Ich ha­be mich mal lan­ge mit Ste­pha­nie Bart un­ter­hal­ten, Jah­re vor Ver­öf­fent­li­chung ih­res neu­en Ro­mans, und ich hat­te sehr schnell den Ein­druck, sie weiß ab­so­lut, was sie da mit ho­hem Ein­satz tut und was sie kann. Ei­ner wie Wolf­gang Her­les, ei­ner der Witz­fi­gu­ren der Kri­ti­ker­zunft, ist ihr da si­cher piep­egal. Un­qua­li­fi­zier­ter Blöd­sinn ver­sen­det sich so­wie­so. (Das ist über­haupt die Grund­la­ge des TV-Ge­schäfts, egal was man tut, letzt­lich »ver­sen­det« es sich!) Was aber nicht egal ist, ist, daß da die (we­ni­gen) Zu­schau­er für blöd ver­kauft wer­den, daß da ein viel zu gut be­zahl­ter Mo­de­ra­tor ein­fach mal mit dem Brust­ton der Über­zeu­gung so­zu­sa­gen fal­sche Wer­bung macht (wenn auch für ei­nen gu­ten Ro­man!), die ja zum ei­nen von al­len mit den TV-Ge­büh­ren be­zahlt wird und zu­dem, weil die ein­fluß­rei­chen Ver­la­ge über­all ih­re Pfo­ten dr­in­ha­ben, auch noch qua­si ei­nen ge­wis­sen Teil des Buch­prei­ses aus­macht. Lie­ße man die Leser:innen oh­ne sol­che Buch­be­spre­chun­gen »al­lein«, sie wür­den schon, da bin ich si­cher, was zu le­sen fin­den! Ech­te Buch­be­spre­chun­gen al­ler­dings, bei fix­poet­ry oder auch bei http://bersarin.wordpress.com/ weiß ich sehr zu schät­zen, die im »Ge­schäfts­be­reich Buch« an­ge­sie­del­ten soll­te man aber im­grun­de igno­rie­ren, den­ke ich.

  3. @die_kalte_Sophie
    Na­ja, der klei­ne Dia­log soll­te den üb­li­chen Ein­wand ent­kräf­ten. Ist wohl nicht so ge­lun­gen...

    Ich sehr die Sa­che an­ders: We­der in der Wer­bung noch im über­wie­gen­den Teil der Feuil­le­ton-Re­zen­sio­nen gab es die­se Feh­ler. Das ist ei­gent­lich ganz gut. Dass sich Fern­se­hen und Li­te­ra­tur nicht gut ver­ste­hen liegt wo­mög­lich nur an den In­ter­pre­ten.

    Nor­bert W. Schlin­kert hat näm­lich recht: Die Zu­schau­er wer­den für blö­de ver­kauft. Und, was viel­leicht noch schlim­mer ist: Die Li­te­ra­tur wird an sich be­schä­digt. So­lan­ge sol­che Ty­pen wie Her­les dar­über be­rich­ten.

  4. Auf Pro7 oder RTL II wür­de die grob­schläch­ti­ge Buch­vor­stel­lung kaum ins Ge­wicht fal­len, oder?! Blie­be al­so nur die Fra­ge: War­um im Ö.R.-Fernsehen...
    Die Kul­tur-The­men sind eig. Sa­che der Sen­der 3SAT, ZDF neo, Ar­te & Co. Ich hab’ mir das nicht nä­her an­ge­se­hen, aber ver­mut­lich liegt auch hier kein ernst­haf­tes In­ter­es­se auf Sei­ten der Re­dak­tio­nen vor. Scha­de. Nur noch im Deutsch­land­funk ge­stal­tet man ein hin­rei­chend an­spruchs­vol­les Pro­gramm. Ich fürch­te, die Li­te­ra­tur hat ei­nen Ni­schen­platz be­kom­men. Kann es sein, dass es gar kein brei­tes In­ter­es­se dar­an gibt?

  5. Es ist un­red­lich über ein Buch zu ur­tei­len, das man nicht (zu En­de) ge­le­sen hat, noch da­zu öf­fent­lich (wenn hier oh­ne wei­te­res ein Vor­ur­teil zu er­ken­nen wä­re, könn­te man es da­bei be­wen­den las­sen, aber es wird ja das Ge­gen­teil vor­täuscht). — Da geht es noch nicht ein­mal um Li­te­ra­tur.

  6. (Ja, ei­gent­lich »nough said’! Al­so auch von mir nur ein Ser­mon... )

    Et­was aus der Re­ser­va­ten­kam­mer?

    Dass je­mand für ein Nacht- und Ni­schen­for­mat die Stan­dards nicht mehr er­füllt, wun­dert wohl noch: Er soll­te sie ja ge­ra­de dort, wo er mut­maß­lich auf ei­ne ge­neig­te und um­so in­for­mier­te­re Zu­schau­er­schaft stößt, er­fül­len.

    Aber dann wie­der wun­dert es auch wie­der so gar nicht. Viel­leicht ist es aus sei­ner Sicht nicht ein­mal sinn­voll, ein Buch zu En­de zu le­sen, das ihn sel­ber nicht fes­selt, son­dern nur ei­ne In­fo-Hap­pen-Ein­heit in ei­nem zu fül­len­den For­mat für ih­rer­seits un­zu­ver­läs­si­ge (oder gleich als zap­pen­de Quo­ten­mas­se be­trach­te­te) Zu­schau­er dar­stellt? (Und die Ge­heim­tipp-Ma­sche, et­was ab­seits der me­dia­len Tram­pel­fa­de zu prä­sen­tie­ren, hat sich auch über­lebt: Al­les ne­ben den ein­schlä­gi­gen Li­sten ist heu­te ei­ne Min­der­hei­ten­sa­che, und die Min­der­hei­ten ha­ben längst ih­re spe­zi­el­le­ren, al­so meist bes­se­ren In­for­ma­ti­ons­ka­nä­le.)

    Al­ler­dings kommt es mir schon lan­ge we­nig sinn­voll vor, sich so et­was über­haupt an­zu­se­hen und auch noch zu kri­ti­sie­ren – der Stan­dard ist es eben ent­spre­chend nied­rig, und die Rou­ti­niert­heit un­in­spi­rier­ter Re­dak­teu­re kennt man auch. Die müss­te man ei­gent­lich al­le spä­te­stens nach zwei Jah­ren aus­tau­schen. Al­le Sen­de­an­stal­ten und –for­ma­te kran­ken mei­ner Mei­nung dar­an, dass sie sich (nach dem Mu­ster wo­mög­lich noch von Show-Ma­stern: mun­te­ren Wie­der­ken­nungs-Ge­sich­tern) auf sol­che Fest­an­ge­stell­ten-Platz­hal­ter ver­las­sen.

    Es gibt wohl For­ma­te, in de­nen Li­te­ra­tur (noch) vor­kom­men kann, aber dann auch wohl bes­ser nur, wenn sie sel­ber spricht. Das Al­ler­mei­ste se­kun­dä­re Spre­chen über Li­te­ra­tur kann ei­gent­lich nur düm­mer als sein Ge­gen­stand sein, und das ist ein Grund­pro­blem. Auch Au­toren, die zur Ab­ver­kaufs­hil­fe hier als Ge­sichts­hin­hal­ter und dort als spre­chen­de Por­gramm­punk­te auf­tre­ten, tun das fast im­mer nur un­ter­halb ih­rer Mög­lich­kei­ten – al­so soll­ten sie es ei­gent­lich gleich sein las­sen.

    Das schaff­te aber nicht nur Di­stanz zur (längst als zu ei­gen-ge­setz­lich hin­ge­nom­me­nen, und das heißt meist ver­fäl­schen­den oder den Ge­gen­stand gleich her­ab­wür­di­gen­den) Markt­schreie­rei. Das zwän­ge dann auch die Ver­mitt­ler zu ei­ner an­de­ren Ar­beit: Weg von der Per­so­na­li­ty- / Home-Sto­ry zur „Sub­stanz“ (if any), oder, pa­the­tisch ge­spro­chen, zu­rück zu ir­gend­ei­ner Art „äs­the­ti­schen Er­zie­hung“ oder dem Be­mü­hen dar­um. (Aber die kann eben bei dau­ernd und über­all als sou­ve­rän An­ge­spro­che­nen an­schei­nend nur noch als Zu­mu­tung er­leb­bar sein.)

    Al­so muss un­ter Men­schen al­les und un­ent­wegt be­spro­chen wer­den – das macht ih­nen schein­bar al­les so leicht. Al­ler­dings dann bald auch den ei­nen oder an­de­ren Ge­gen­stand ih­rer Ado­ra­ti­on so nich­tig.

    Ich den­ke wei­ter­hin, dass – au­ßer da, wo es eben ge­nu­in Fern­se­hen ist (al­so et­wa „live“ oder sonst wie als Spek­ta­kel) – In­tel­li­genz in die­sem Me­di­um flüch­tig blei­ben muss. Oder man schaut dort Tier- und Na­tur­fil­me, in de­nen im­mer­hin et­was be­wahrt wird, das es viel­leicht bald nicht mehr gibt.

    Aber viel­leicht trifft das ja auch auf Li­te­ra­tur zu. Schließ­lich steckt sie ja jetzt schon mehr oder min­der in Re­ser­va­ten.

  7. Nein, die­ses »nough said« ak­zep­tie­re ich nicht. Fast im Ge­gen­teil. Pau­schal­ur­tei­le sind mei­stens falsch. Mit Wohl­wol­len in­ter­pre­tie­re ich das »nough said« als Be­schrei­bung. Aber selbst das recht­fer­tigt nicht so et­was. Zy­ni­ker mö­gen das ach­sel­zuckend hin­neh­men. Oder man igno­riert be­stimm­te Per­so­nen, was ich nor­ma­ler­wei­se hier auch tue, aber da ich Frau Bart per­sön­lich ken­ne und ein we­nig die Ent­wick­lung die­ses Bu­ches ver­fol­gen durf­te, hat mich das »Ur­teil« von Herrn H. ein­fach in­ter­es­siert. (Et­was an­de­res ha­be ich von die­ser Sen­dung nicht ge­se­hen; dass man vor­her et­was von die­sem Bo­do Kirch­hoff mit­be­kom­men muss­te, neh­me ich als Kol­la­te­ral­scha­den.)

    Li­te­ra­tur kann im Fern­se­hen auch »wür­dig« dar­ge­stellt, von mir aus auch »ab­ge­han­delt« wer­den. Das ist nur ei­ne Fra­ge des Her­an­ge­hens. Ich se­he nicht ein, war­um es im TV nicht ge­hen soll­te, was im Ra­dio manch­mal klappt. Es mag ja schick sein, das Fern­se­hen auf der un­ter­sten in­tel­lek­tu­el­len Stu­fe an­zu­sie­deln, aber es ist eben auch oft nur aus Di­stink­ti­ons­zwecken so und dann – par­don – ein biss­chen zu ein­fach.

    Ich ha­be mir üb­ri­gens ge­stern die Sen­dung im DLF oder DLR Kul­tur über Rai­ner Stach ver­knif­fen; da ist auch so ei­ne Nicht-Le­se­rin da­bei ge­we­sen, die Bü­cher nach Wasch­zet­teln be­spricht. Das ha­be ich mir er­spart, weil mir sol­che Leu­te nicht mehr die Zeit steh­len sol­len.

  8. @herr.jedermann
    Nun ja, aber an­de­rer­seits ge­hört zu dem Grund­pro­blem auch, dass die Li­te­ra­tur ge­ra­de­zu ver­langt, dass man über sie (se­kun­där) spricht (oder schreibt). Und ab­ge­se­hen da­von, bleibt man auch bei der Wahl sei­ner Lek­tü­re auf an­de­re an­ge­wie­sen.

    [Er schreibt? Im Netz? — Ge­nug!]

  9. In der ak­tu­el­len Aus­ga­be von »Voll­text« ist ei­ne Art Be­stands­auf­nah­me der ak­tu­el­len Li­te­ra­tur­kri­tik von Fe­lix Phil­ipp In­gold zu le­sen: »Lai­en­herr­schaft – in Kla­gen­furt und an­ders­wo. Zum ak­tu­el­len Sta­tus von Li­te­ra­tur und Li­te­ra­tur­kri­tik«, Voll­text Nr. 3/2014, S. 26 ff.), der auch auf die Me­tho­dik der Buch­be­spre­chun­gen in den gro­ßen Feuil­le­tons der Zei­tun­gen ein­geht. Auch hier trifft man auf Buch­kri­ti­ken von Re­zen­sen­ten, die das Buch nicht ge­le­sen ha­ben (kön­nen): »Bei­spiel­haft da­für ist die stau­nens­wert ra­sche und po­si­ti­ve Re­zep­ti­on, die neu­er­dings den tau­send­sei­ti­gen, durch­weg schwarz­ma­le­ri­schen Groß­ro­ma­nen von Wal­lace, Lit­tel, Voll­mann oder Ná­das zu­teil­ge­wor­den ist – Wer­ke, für de­ren Lek­tü­re man vie­le Wo­chen in­ve­stie­ren müß­te und de­ren Ver­ständ­nis höch­ste kri­ti­sche An­stren­gung er­for­dert. Kei­ner der vor­ei­li­gen Re­zen­sen­ten kann die­se Bü­cher ge­le­sen ha­ben, aber je­der hat sie ge­se­hen, hat wohl die Ver­lags­wer­bung zur Kennt­nis ge­nom­men, dann den Text viel­leicht dia­go­nal durch­ge­nom­men (mehr ist in so kur­zer Zeit ganz ein­fach nicht zu lei­sten), und von die­sen Ein­drücken dürf­ten die weit­ge­hend über­ein­stim­men­den State­ments her­ge­lei­tet wor­den sein, die den un­ge­wöhn­lich sper­ri­gen, in man­cher Hin­sicht pro­vo­kan­ten Wer­ken zwar in kei­ner Wei­se ge­recht wer­den, sie aber vor­der­grün­dig in der li­te­ra­ri­schen Land­schaft ver­or­ten, will hei­ßen – sie do­me­sti­zie­ren und eben da­durch für den all­ge­mei­nen Ge­schmack ver­ein­nah­men.« (S. 29 a.a.O.)

    [Ich fin­de den Artikel,der in­halt­lich weit über die zi­tier­te Pas­sa­ge hin­aus­geht, ins­ge­samt le­sen­wert, In­gold ist mir aber ge­ra­de am En­de vor al­lem in Be­zug auf das In­ter­net doch ein we­nig zu skep­tisch. In­ter­es­san­ter­wei­se sind näm­lich z.B. die Kri­ti­ker­an­ge­bo­te im In­ter­net für ihn of­fen­bar auch kei­ne ech­te Al­ter­na­ti­ve. Er spießt bei­spiel­haft ei­ne Re­zen­si­on aus ei­nem un­ge­nann­ten Ly­rik­por­tal im In­ter­net auf: »Sol­cher Trash wird kei­nes­wegs nur via pri­va­te Blogs ver­brei­tet, son­dern ge­hört zum gän­gi­gen An­ge­bot füh­ren­der In­ter­net­platt­for­men für … ja, eben spe­zi­ell für Ly­rik und Ky­rik­kri­tik.« Zum an­de­ren will er die »trend­be­stimm­te Bel­le­tri­stik« (er hat vor­her die Ab­fas­sung von mas­sen­ge­schmack­s­taug­li­chen Bü­chern kon­sta­tiert – Stich­wort Schreib­schu­len Hil­des­heim, Leip­zig-) »voll­um­fäng­lich den elek­tro­ni­schen Me­di­en zu­schla­gen und das Buch ex­klu­siv der Kunst­li­te­ra­tur«, denn »Elek­tro­ni­sche Me­di­en sind für Tex­te mit sai­so­na­ler Halb­wert­zeit, die man be­sten­falls über­fliegt und si­cher­lich kein zwei­tes Mal le­sen wird, bes­ser ge­eig­net«.]

  10. Wolf­gang B.
    Vie­len Dank für den Hin­weis auf In­gold.

    Vor Jahr­zehn­ten wur­de mal Ka­ra­sek be­fragt, wie­vie­le Bü­cher er le­se. Ich glau­be, er be­ant­wor­te­te die Fra­ge mit um die 50. Das schien mir rea­li­stisch (al­lei­ne vom Zeit­auf­wand her); fast ein biss­chen we­nig. Das dürf­te sich wohl ge­än­dert ha­ben. Hu­bert Win­kels hat­te beim letz­ten Leip­zi­ger Buch­preis dar­auf ver­wie­sen, dass man ins­ge­samt rd. 400 Bü­cher ge­le­sen ha­be. Geht man ein­mal von ei­nem Zeit­raum von 6 Mo­na­ten aus, dann wird deut­lich, wie ober­fläch­lich min­de­stens zum Teil die Lek­tü­re ge­we­sen sein muss. Selbst wenn sich die Ju­ro­ren die je­wei­li­gen Bü­cher in ei­ner Vor­auswahl auf­ge­teilt hät­ten, ist das sehr schwer nach­voll­zieh­bar, weil sie ja im­mer noch für ih­re je­wei­li­gen Ar­beit­ge­ber ge­schrie­ben ha­ben.

    In­ter­es­sant ist, dass auch In­gold of­fen­sicht­lich auf den Re­flex »Netz = Ober­fläch­lich­keit« zu­rück­greift. Das ist na­tür­lich auch ei­ne Be­stands­auf­nah­me, die oft ge­nug stimmt, aber eben in der Pau­scha­li­sie­rung eben­falls Un­sinn. Man sieht ja, wie auch an­spruchs­vol­le Re­zen­si­ons­por­ta­le, die kei­ne Blogs sind (»Glanz und Elend«, »Literaturkritik.de«, »Literaturkritik.at«) bei­spiels­wei­se in der Be­wer­bung von Bü­chern kaum ei­ne Rol­le spie­len. Da sind »Für Sie« oder »Gos­lar­sche Zeitung»eher Re­fe­renz­me­di­en als die oben ge­nann­ten, was na­tür­lich Bän­de spricht (Bän­de?, na­ja, ei­nen Band min­de­stens). (Das Kri­te­ri­um steht zu­ge­ge­be­ner­ma­ßen auf wacke­li­gen Fü­ssen, da »Für Sie« si­cher­lich grif­fi­ge­re Schlag­zei­len lie­fert als »Glanz und Elend«. Aber es geht mir um die Re­zep­ti­on die­ser Kri­ti­ken – auch in den Ver­la­gen. Sie wer­den kaum re­zi­piert bzw. gel­ten als exo­tisch; als »Wer­be­me­di­um« tau­gen sie nicht.)

    So­lan­ge al­so die zeit­ge­nös­si­sche Li­te­ra­tur­kri­tik nicht aus ih­ren Vor­ur­teils­kä­fig her­aus­tritt und be­stimm­te Ent­wick­lun­gen zur Kennt­nis nimmt, wird es kei­ne Im­pul­se ge­ben. Aber viel­leicht will man die­se Be­le­bun­gen gar nicht, fürch­tet um die Pfrün­de, die klei­ne Par­al­lel­welt, in der es sich ei­ni­ge we­ni­ge doch ganz hei­me­lig ein­ge­rich­tet ha­ben.

  11. @ G. K.
    Doch, es ist so ein­fach – man den­ke auch an sol­che Ef­fek­te a la „sim­pli­fy your life“. Und war­um soll ich es mir nicht auch ein­fach ma­chen dür­fen, wenn prak­tisch das kom­plet­te Me­di­um ei­ne (da­mit üb­ri­gens bö­se Ef­fek­te in der an­geb­li­chen Rea­li­tät er­zeu­gen­de) Welt-Ver­ein­fa­chungs­ma­schi­ne ist? Wür­de ich wei­ter mit dem Un­sinn rin­gen kä­me es mir per­sön­lich vor, als scheu­te ich ei­ne ver­nünf­ti­ge Kon­se­quenz. (Und „schick“ ist das nicht ge­meint, ich wür­de mich auch ger­ne ab und zu mal gut un­ter­hal­ten las­sen! Drin­gend!)

    Aber wie­so spre­chen Leu­te, de­nen ich ger­ne zu­hö­ren wür­de auch in den Ni­schen in die­sem Me­di­um nicht? (Oder eben nur in den Zwei­ein­halb-Mi­nü­tern im Ru­bri­ken-Ma­ga­zi­nen, de­ren „an­mo­de­rie­ren­de La­ber-Ge­sich­ter al­lein ei­ne Zu­mu­tung sind.)

    Es läuft ir­gend­wann auf die Fra­ge hin­aus, liegt es an de­nen oder liegt es an mir? Und da ich als Ein­zel­ner die ra­di­kalst denk­ba­re Min­der­heit bin – und auch im­mer we­ni­ger „so­cial“ – neh­me ich das auf mei­ne Kap­pe.

    Und @ Me­te:
    Ich den­ke nicht, dass die Li­te­ra­tur über­haupt ir­gend­et­was Se­kun­dä­res ver­langt. An­de­re Sicht­wei­sen dar­auf kön­nen wie im­mer wei­ter­füh­rend sein – müs­sen es aber nicht. Über­spitzt ge­sagt: Mit zwei Les­ar­ten (Bi­bel / Ko­ran) ist im­mer gleich der Krieg in der Welt.

    @ Wolf­gang B.
    In­gold fand ich auch le­sen­wert, ob­wohl ich nicht in al­lem ein­ver­stan­den bin. Dass so je­mand (dem man zu­trau­en kann, dass er weiß wo­von er spricht) et­was an­hal­tend Dif­fu­ses zu durch­drin­gen ver­sucht und sein Ur­teil dann aus­spricht, er­laubt zu­min­dest so et­was wie ei­ne kurz­fri­sti­ge Ori­en­tie­rung. (Und ich glau­be, man muss nicht im­mer auf den Ge­gen­re­flex be­stehen, näm­lich aus­zu­spre­chen, dass es wie im­mer und zu al­lem auch Aus­nah­men gibt.)

    Auch „Lai­en­herr­schaft“ – als Be­schrei­bungs­term – trifft es sehr gut – und es meint da­mit auch nicht die Rück­kehr zur Ho­heit ir­gend­ei­nes Spe­zia­li­sten­tums.

    Aber über­haupt: Sind die „Vor­ur­tei­le“ denn wirk­lich al­le noch VOR-Ur­tei­le? Kann man et­was als un­ge­eig­net Er­kann­tes im Ge­gen­re­flex als ober­fläch­lich ab­tun bei Leu­ten, die doch meist zu den Ge­wis­sen­haf­te­ren ge­hö­ren, die über­haupt dau­ernd su­chen, nach ih­rer Stim­me, nach ei­nem Ak­ti­ons­um­feld für sich, nach ei­ner Lö­sung zu spre­chen und Re­le­vanz oder auch nur im pre­kä­ren Me­di­en­to­ta­li­ta­ris­mus noch vor­zu­kom­men? Sind die al­le nur be­lei­digt ob ih­res Kom­pe­tenz­ver­lusts? Ist den Kri­ti­kern den Grass zu un­ter­stel­len nicht auch et­was ein­fach?

    Ein gro­ßer Teil des Pro­blems ist, glau­be ich, die längst hin­ge­nom­me­ne oder zu we­nig be­frag­te „Al­ter­na­tiv­lo­sig­keit“ un­se­res schö­nen bun­ten Spiel­zeugs In­ter­net. Bringt nicht manch­mal ein biss­chen Di­stanz oder erst ein zeit­wei­ses Sich-Ent­zie­hen die ver­lang­ten Im­pul­se oder gar Per­spek­ti­ven?

    Üb­ri­gens neu­lich mal wie­der Bor­ges ge­le­sen:
    Nichts ar­bei­tet so sehr ge­gen Fi­xie­run­gen wie Li­te­ra­tur!

  12. @herr.jedermann
    Ei­nen Wer­be­spruch wie »sim­pli­fy your life« ist nicht re­prä­sen­ta­tiv für ein Me­di­um (höch­stens für ei­ne Hal­tung ei­ner Ge­sell­schaft). Es so »ein­fach« zu neh­men, be­deu­tet ge­nau das ma­chen, was an­ders­her­um das kri­ti­sier­te Me­di­um an­dau­ernd macht: kom­ple­xes ein­zu­damp­fen auf die schlich­te Wahl »gut« oder »bö­se«, oder, um Reich-Ra­nicki zu pa­ra­phra­sie­ren, »taugt es was oder nicht«.

    Das ma­chen ja auch die­je­ni­gen, die sa­gen, dass al­les das, was im Netz über Li­te­ra­tur ge­schrie­ben steht, Müll ist. Das ak­tu­el­le Fak­tum, dass sich Li­te­ra­tur im Fern­se­hen aus­ge­spro­chen schlecht zeigt (eu­phe­mi­stisch for­mu­liert), liegt nicht am Me­di­um, son­dern an de­nen, die es ma­chen, die es re­du­zie­ren auf ei­ne Häpp­chen- und Event­ma­schi­ne, weil sie glau­ben, dem Pu­bli­kum kön­ne man nicht ein- oder zwei­mal in der Wo­che zur be­sten Sen­de­zeit mit an­spruchs­vol­le­ren Sa­chen kom­men. Der an­spruchs­vol­le Le­ser ist schon dank­bar, wenn Herr Scheck Best­sel­ler durch die Ge­gend schmeisst; die Ra­che des In­tel­lek­tu­el­len ist eben auch nicht be­son­ders krea­tiv.

    Die Leu­te, de­nen Sie ger­ne zu­hö­ren, spre­chen im Fern­se­hen nicht, weil sie von an­de­ren Leu­ten dar­an ge­hin­dert wer­den. Neu­lich ha­be ich beim Zap­pen auf SWR3 ei­ne Sen­dung à la Li­te­ra­ri­sches Quar­tett ge­se­hen. Dort sit­zen vier Men­schen und re­den über Bü­cher. Es wa­ren Scheck und Man­gold da­bei, die man groß­zü­gig noch als Kri­ti­ker ein­ord­nen könn­te. Dann Frau von Loven­berg – da ha­be ich schon Zwei­fel. Und schließ­lich Chri­sti­ne We­ster­mann – ei­ne Frau, die Le­bens­rat­ge­ber schreibt und Bou­le­vard-Sen­dun­gen mo­de­riert hat. So­fort war mir klar, war­um Scheck bei ei­ner sei­ner Spie­gel-Best­sel­ler-Buch­weg­wer­fak­tio­nen ein Buch von Frau We­ster­mann nicht mit Ka­ra­cho ent­sorgt hat. So funk­tio­nie­ren die Hän­del. Wie weit aber ei­ne Li­te­ra­tur­kri­tik ge­fal­len ist, die Chri­sti­ne We­ster­mann als se­riö­se Kri­ti­ke­rin an­sieht – das ist wohl ein­deu­tig.

    In­so­fern ha­ben wir längst ei­ne »Lai­en­herr­schaft«: Lau­ter Dia­go­nal­leser, die aus Pro­porz- oder son­sti­gen Grün­den dort sit­zen, »be­stim­men« über die Schwer­punk­te im Be­trieb. Dort, wo es se­riö­se Li­te­ra­tur­kri­tik gibt (ich re­de nicht von Li­te­ra­turwis­sen­schaft) tum­meln sich viel­leicht 500 oder 1.000 Le­ser. Da kann man dann fast schon wie­der die Fern­seh­ma­cher ver­ste­hen, dass sie für ei­ne sol­che win­zi­ge Min­der­heit nicht ei­nen gro­ßen Ap­pa­rat auf­bie­ten. Um­ge­kehrt tra­gen sie na­tür­lich da­mit da­zu bei, dass aus den 1.000 in zehn Jah­ren 250 ge­wor­den sind, usw.

  13. @Gregor
    Der Le­ser muss zu vie­len li­te­ra­ri­schen Wer­ken »ei­nen Bei­trag« lei­sten; aus die­sem re­sul­tie­ren un­ter­schied­li­che In­ter­pre­ta­tio­nen und Ver­ständ­nis­se, u.a. auch, dass man ein Buch im­mer wie­der in die Hand nimmt, das mein­te ich.

    Na­tür­lich hat das nichts da­mit zu tun, dass man ei­nem Pu­bli­kum ein Buch vor­stel­len muss; auch die Be­wer­tung be­rührt es nicht zur Gän­ze; aber es hat da­mit zu tun, das man­che Bü­cher Jahr­hun­der­te über­dau­ern und im­mer wie­der ge­le­sen wer­den (und dis­ku­tiert).

  14. @ Me­te

    Das kann man wie je­de gu­te Wort­ver­dre­he­rei auch um­keh­ren: Dem­nach wä­re Li­te­ra­tur erst recht be­lang­los, wenn sie das no­to­risch nach Ein­deu­tig­kei­ten ver­lan­gen­de Ge­re­de über sich brauch­te.

    Aber im Ernst.

    Es gibt (und es gilt mehr oder min­der im­mer noch) seit Duch­amp die Re­gel: Der Be­trach­ter macht das Bild. Das war (und ist in sei­ner bis heu­te an­hal­ten­den Wir­kung, näm­lich als er­leich­tern­der, das Werk letzt­lich ob­so­let ma­chen­den Ge­dan­ken) ei­ne klei­ne Re­vo­lu­ti­on.

    Ana­log: Die Wer­bung ist die neue Kunst (Schirner). Je­der Mensch ist ein Künst­ler (Beu­ys). Der Hö­rer macht den Pop (Di­ede­rich­sen). Der Le­ser im Love­ly-Books-Klick-Club macht das Buch (die ein­schlä­gig in­ter­es­sier­ten Ein­flü­ste­rer). Und der Kon­su­ment ist der Sou­ve­rän (Me­dia-Markt). Und so wei­ter.

    Das stimmt zwar al­les nicht, nichts da­von, be­schreibt aber die als heu­tig und ir­gend­wie „de­mo­kra­tisch“ gel­ten­de Be­trach­tungs­wei­se, die de­nen gut in den Kram passt, die von dem an­geb­li­chen Em­power­ment des Ver­brau­chers als Agent ei­nes ubi­qui­tär zu wer­den ver­lan­gen­den Mark­tes pro­fi­tiert. (Am be­sten in Form des dem­nächst sich auf die Kühl­schrän­ke und die Zah­lungs­vor­gän­ge und die Ge­sund­heits­kar­ten aus­deh­nen­den Net­zes.)

    Nur sind lei­der die al­ler­mei­sten nach­fol­gen­den Künst­ler-Ver­brau­cher kaum auf der äs­the­tisch-in­ven­to­ri­schen / „me­ta-iro­ni­schen“ Hö­he ei­nes Mar­cel Duch­amps.

    (Ich set­ze hier Kunst, weil sie es deut­li­cher zeigt als die lang­wel­li­ge­re, noch un­ver­dros­se­ne­re Li­te­ra­tur. Aber ei­gent­lich sind bei­de schon so­zu­sa­gen in ei­nem neu­en Ag­gre­gat­zu­stand des Mark­tes – Stich­wort: „Krea­tiv-Ka­pi­ta­lis­mus“ -, in dem die­ser sich sel­ber an die Stel­le des „Wer­kes“ set­zen will. Man den­ke hier auch an die „Ge­schäfts­mo­del­le“ für den zur ei­ge­nen Er­mäch­ti­gung auf­ge­ru­fe­nen, de fac­to nur lei­der längst ent­we­der pre­ka­ri­sier­ten oder eh zu ali­men­tie­ren­den Au­tor.)

    Un­ter­stel­len Sie mir jetzt bit­te nicht, dass ich im Um­kehr­schluss für die Rück­kehr zum Ge­nie­tum bin. Ich ver­wei­se le­dig­lich (in die­sem Bei­spiel) auf die be­währ­te Ge­schich­te et­wa der (von M. D. so zu ih­rer An­schaf­fung ge­nann­ten) „Netz­haut-Ma­le­rei“. Al­ler­dings gibt es die nun mal seit Las­caux oder so­gar frü­her. Sie soll­te al­so als Kul­tur­tech­nik doch ih­ren ak­ku­mu­lier­ten Stel­len­wert für sich re­kla­mie­ren dür­fen und viel­leicht doch nicht so ein­fach auf­ge­ge­ben wer­den we­gen ein paar äs­the­ti­schen In­no­va­tio­nen, ei­nem Schub neu­er Tech­no­lo­gien oder (wo­mög­lich eben des­halb) dar­aus re­sul­tie­ren­der all­ge­mei­ner Er­schöp­fung. (So dann ana­log für die eh lä­cher­lich be­hä­bi­ge, im­mer so schreck­lich viel Zeit für ih­re Um­ständ­lich­kei­ten brau­chen­de Li­te­ra­tur: Sie kann mei­ner Mei­nung nach ei­gent­lich gar nicht an­ders, als sich sel­ber aus dem Ge­quat­sche so weit es geht raus­hal­ten.)

    Na­tür­lich will auch ich nicht mehr ernst­haft da­hin­ter zu­rück, aber ob die mit den Um­stür­zen der Mo­der­ne ein­ge­führ­te Ega­li­sie­rung von äs­the­ti­schem Aus­druck und den Kul­tur­tech­ni­ken von des­sen Be­hand­lun­gen (bös­ar­ti­ger auch schon mal „Her­un­ter­de­mo­kra­ti­sie­rung“ ge­nannt) wirk­lich ei­ne Er­run­gen­schaft ist, ist noch nicht ent­schie­den.

  15. @herr.jedermann
    Die Li­te­ra­tur braucht das Ge­re­de nicht, wie soll­te sie auch, aber sie er­zeugt es schon aus der ein­fa­chen Tat­sa­che, dass Schrift­stel­ler be­wusst Leer­stel­len (jen­seits der stets vor­han­de­nen Un­ein­deu­tig­keit von Spra­che) in ih­ren Wer­ken an­le­gen (das zeigt sich auch dar­an, dass man­che Wer­ke ganz ent­ge­gen den In­ten­tio­nen ih­rer Schöp­fer ver­stan­den wer­den). Die­se Leer­stel­len füh­ren zu an­de­ren Lek­tü­re­er­leb­nis­sen und ‑er­geb­nis­sen; er­staunt stellt man Dif­fe­ren­zen fest, selbst wenn die­ses oder je­nes Werk nur zu­fäl­lig er­wähnt wird. Das hat nichts mit De­mo­kra­ti­sie­rung, son­dern mit Werk­im­ma­nenz zu tun.

  16. @GregorKeuschnig, 27. Okt. 2014 um 8:34: Für den Ver­lag wird es bei der Wer­bung für oder viel­leicht so­gar bei den Fol­ge­auf­la­gen von ”Deut­scher Mei­ster« ver­kaufs­för­dern­der sein, wenn sie so­was wie »emp­foh­len vom blau­en So­fa« dran­schrei­ben kön­nen, auch wenn der Mo­de­ra­tor das Buch nicht oder nicht voll­stän­dig ge­le­sen hat. Das wird dann aber kei­nen mehr in­ter­es­sie­ren, wer weiß. (Was für ein tol­les Buch, möch­te ich üb­ri­gens sa­gen, mö­ge es sich gut ver­kau­fen! »Good­bye Bis­marck« steht auch noch auf mei­ner Li­ste.)

    »Gos­lar­sche Zei­tung« als Emp­feh­lung auf dem Um­schlag ist fast schon ein we­nig sub­ver­siv (und un­ter die­sem Aspekt gleich­zei­tig auch sehr lu­stig).

    @herr.jedermann, 27. Okt. 2014 um 9:48: Dass das Netz nicht al­ter­na­tiv­los ist, se­he ich ge­nau­so, nur, wenn In­gold in sei­nem Ar­ti­kel »in der al­ten Welt« der Li­te­ra­tur­kri­tik Bei­spiel um Bei­spiel für die Lai­en­herr­schaft bringt und Un­pro­fes­sio­na­li­tät bei den Kri­ti­kern fest­stellt, so­zu­sa­gen in sei­nen ‑gut be­grün­de­ten Aus­füh­run­gen- »kei­ne Ge­fan­ge­nen« macht, dann müß­te man ei­gent­lich schon er­war­ten kön­nen, dass er in der La­ge sein soll­te, die zwei­fel­los vor­han­de­nen gu­ten (Alternativ-)Angebote im Netz auf­zu­trei­ben, we­nig­stens ein paar. Aber für ihn scheint vie­les rund ums Netz qua­li­ta­tiv nicht er­wäh­nens­wert zu sein oder wenn nur in ei­nem ne­ga­ti­ven Sin­ne, was zu be­dau­ern ist.

    Nach dem Text von In­gold fin­det sich ei­ne Be­spre­chung von »Der Di­stel­fink«, die fast schon ein Pa­ra­de­bei­spiel für die von ihm be­män­gel­te Li­te­ra­tur­kri­tik sein könn­te, denn sie kommt kaum über ei­ne rei­ne In­halts­an­ga­be und ‑be­spre­chung des Bu­ches hin­aus (aber man ist ja schon froh, dass es nicht, wie bei­spiels­wei­se in der FAZ von von Loven­berg (!), als ein »Mei­ster­werk« ti­tu­liert wur­de).

  17. Ein paar un­ge­ord­ne­te Be­mer­kun­gen zum In­gold-Text...
    In­golds Text un­ter­schei­det sich in sei­ner Dia­gno­se­kraft kaum von dem, den er vor sechs Jah­ren pu­bli­ziert hat, und der auf sei­ner Web­sei­te eben­falls zu fin­den ist. Am Ran­de in­ter­es­sant ist, dass sei­ne – in na­he­zu al­len Punk­ten m. E. rich­ti­gen – Dia­gno­sen zum Zu­stand der Li­te­ra­tur­kri­tik im all­ge­mei­nen 2008 aus­ge­rech­net im »Per­len­tau­cher« er­schie­nen sind. Han­delt es sich doch um den Ag­gre­ga­tor, ja Ver­stär­ker der von In­gold ge­gei­ssel­ten »Lai­en­herr­schaft«.

    Na­tür­lich ist das al­les längst her­un­ter­ge­bro­chen auf das Ni­veau des Ge­schmacks­thea­ters. Das fällt wo­mög­lich in Kla­gen­furt stär­ker auf, weil die Ju­ry dort der­art he­te­ro­gen war, dass das ge­fäl­le be­son­ders deut­lich wird. In­golds Hieb ge­gen die »De­mo­kra­ti­sie­rung« (Bo­tho Strauß pa­ra­phra­sie­rend), die sich bspw. in sol­chen (tat­säch­lich lä­cher­li­chen) Ak­tio­nen wie dem »Pu­bli­kums­preis« zeigt, ist ein biss­chen wohl­feil.

    Sei­ne Dia­gno­se hat aber auch Schwä­chen. So steht dort: Den einst­mals do­mi­nan­ten Groß­kri­ti­ker hat ein Groß­auf­ge­bot klei­ner Re­zen­sen­ten und Re­zen­sen­tin­nen ab­ge­löst, die sich punk­tu­ell über sai­so­na­le Tex­te aus­las­sen, aber nicht mehr be­reit oder in der La­ge sind, die Ar­beit und Ent­wick­lung ei­nes Au­tors län­ger­fri­stig zu be­ob­ach­ten und ih­re Er­kennt­nis­se in den kri­ti­schen Dis­kurs ein­zu­brin­gen. – Die­ser Satz sug­ge­riert das ein­sti­ge Vor­han­den­seins ei­nes Pa­ra­die­ses. Das ist aber bei ge­nau­er Be­trach­tung mit­nich­ten so. Der ge­mein­te Groß­kri­ti­ker – es ist wohl be­wusst im Sin­gu­lar ge­schrie­ben – ist un­schwer als Mar­cel Reich-Ra­nicki er­kenn­bar. Ver­ge­gen­wär­tigt man sich aber die Kla­gen­fur­ter Auf­trit­te von MRR (und nur die), so stellt man leicht fest, dass al­les das, was In­gold am Sta­tus quo kri­ti­siert, von ihm be­reits vor­ge­macht wur­de: Die Gleich­set­zung von Au­tor-Ich und Er­zäh­ler-Ich; der Au­then­ti­zi­täts-Wahn; der Bio­gra­phis­mus; die feh­len­de Aus­ein­an­der­set­zung mit der Äs­the­tik ei­nes Tex­tes, usw. Auch ein klei­ner Re­kurs in die Ge­schich­te des Bach­mann­prei­ses hät­te die Sa­che et­was ent­spannt: MRR (und ei­ni­ge an­de­re) woll­ten hier die Jah­re zu­vor sich tot­ge­lau­fe­ne »Grup­pe 47« bzw. de­ren Me­cha­nis­men wie­der re-im­ple­men­tie­ren. Die Na­mens­pa­ten­schaft von In­ge­borg Bach­mann war seit je­her ein Eti­ket­ten­schwin­del.

    Die Even­ti­sie­rung der Li­te­ra­tur­kri­tik ist nicht die Schuld die ak­tu­el­len Prot­ago­ni­sten. Die­se re-agie­ren nur auf Me­cha­nis­men; müs­sen sich, wenn sie denn re­üs­sie­ren wol­len, den Ge­ge­ben­hei­ten an­pas­sen. Der ein­zi­ge Vor­wurf, den man ih­nen ma­chen kann, ist, dass sie es tun und zwar oh­ne nur ein Gran von Sub­ver­si­on zu zei­gen. Aber wenn man erst ein­mal fest an­ge­stellt ist, fällt es schwer, sub­ver­siv zu sein. Das war aber üb­ri­gens auch noch nie an­ders.

    Ein biss­chen fran­sig wird In­gold, wenn er auf die Ly­rik zu spre­chen kommt und sich dem Me­ra­ner Li­te­ra­tur­preis wid­met. Da­bei fällt auf, dass er al­le Na­mens­nen­nun­gen ver­mei­det, was ich als ziem­lich lä­cher­lich emp­fin­de, weil man es ganz gut her­aus­be­kommt (es geht um Tho­mas Kunst, Uwe Kol­be, Ni­ko­la Rich­ter). Der »Phra­sen­dre­scher« ist Tho­mas Da­vid, der über John Ban­ville in der NZZ schreibt. Das »Li­te­ra­tur­ma­ga­zin« ist dann ein ame­ri­ka­ni­sches, in dem über Wil­liam T. Voll­mann rä­so­niert wird; es ist al­so kein deutsch(sprachig)es Phä­no­men. Am En­de wird die »füh­ren­de Ge­dicht­platt­form« (dasgedichtblog.de) und ei­ne Kri­tik von Paul-Hen­ri Camp­bell so­zu­sa­gen ex­em­pla­risch »Trash« ge­nannt, um die elek­tro­ni­schen Me­di­en pau­schal zu dis­kre­di­tie­ren. Ein schwa­cher Schluss, der sich in den El­fen­bein­turm flüch­tet. Im­mer­hin.

  18. Viel­leicht soll­te man zu­nächst ein­mal zwi­schen Li­te­ra­tur­kri­tik und Li­te­ra­tur­jour­na­lis­mus un­ter­schei­den? Da­bei ha­ben wir es dort le­dig­lich mit ei­ner Form von Be­richt­erstat­tung (wie Sport­be­rich­te etc.) zu tun, wo die Schrei­ber als Haupt­auf­trag ha­ben, für Quo­te zu sor­gen. Im TV ist der Ver­fall ge­gen­über der einst­ma­li­gen re­dak­tio­nel­len Selb­stän­dig­keit am deut­lich­sten nach­zu­wei­sen – er­in­nert sich noch je­mand dar­an, was die 3. Pro­gram­me ein­mal wa­ren? Heu­te ent­ste­hen die Sen­dun­gen al­le nach dem gleich Ver­hal­tens­zwang: »Was in­ter­es­siert un­se­re Zu­schau­er? Was mö­gen sie gar nicht? Etc.« Ich mei­ne, vor ei­ni­ger Zeit hat Miso­ga ein­mal ge­sagt, dass die So­zio­de­mo­gra­phie der Kul­tur­sen­dun­gen im TV ge­ra­de nicht durch Aka­de­mi­ker und Kul­tur­be­flis­se­ne be­stimmt sei. Ent­spre­chend müs­sen die Mo­de­ra­to­ren re­den, die The­men aus­ge­wählt wer­den, bild­schirm­flach müs­sen die »Be­spre­chun­gen« sein. Ich mei­ne, die Leu­te muss man ma­chen las­sen. Die Kri­ti­ker sind PR-Hel­fer der Ver­la­ge, best­sel­ler­ori­en­tiert, füh­ren die Schrift­stel­ler in der Ma­ne­ge vor, ent­decken nur, was sie ent­decken sol­len.
    An­ders die Kri­ti­ker in den »be­deu­ten­den­Zei­tun­gen«. Die müs­sen ei­ner­seits dem Zei­tungs­pu­bli­kum ge­fäl­lig sein, an­de­rer­seits die ei­ge­ne Re­pu­ta­ti­on und ih­ren Rang im li­te­ra­ri­schen Be­triebs­ma­nage­ment ver­tei­di­gen. Da­her ten­die­ren die Feuil­le­ton-Schrei­ber zu For­mu­lie­rung­s­ei­tel­keit, zur Show-Kri­tik, zur Wich­tig­ma­che­rei.
    Ins­ge­samt hat die Li­te­ra­tur­kri­tik aber auch des­halb in­tel­lek­tu­ell auf­ge­ge­ben, weil die Li­te­ra­tur selbst nicht mehr die Rol­le spielt wie ehe­dem. Die »Groß­kri­ti­ker« wuch­sen in Deutsch­land her­an, als Bü­cher noch Fo­kus­punk­te für die De­bat­ten un­ter »ge­bil­de­ten Men­schen« wa­ren. Hat nicht Boh­rer neu­lich ge­fragt, wann denn zum letz­ten Mal ein Ro­man »skan­da­li­siert« hät­te? Das ist lang her, eben­so lang ist es her, dass Kri­ti­ker für wich­ti­ge Leu­te ge­hal­ten wur­den. Das war ja sei­ner­zeit epo­che­ma­chend, wie die Schrift­stel­ler­grup­pe »47« qua­si von den Kri­ti­kern über­nom­men wur­de. Das ist vor­bei — und viel­leicht ist das gar nicht schlecht?!
    Jetzt ha­ben wir das Ge­gen­teil – die »Lai­en­herr­schaft«. Auch da wür­de ich fra­gen: Muss das nur schlecht sein? Mir sind Lai­en, die vom Her­zen weg über ih­re er­leb­te Be­geg­nung mit ei­nem Buch schrei­ben, lie­ber als die pro­fes­sio­nel­len Buch­be­richt­erstat­ter, die die Zei­len oder Mi­nu­ten so ha­stig fül­len, dass sich ihr Auf­wand pro Stun­de bloß rech­net. Lie­ber ein nai­ver Le­ser, der, oh­ne recht zu ver­ste­hen, wie und war­um, im Fas­zi­no­sum ei­nes Bu­ches ver­sinkt, als das se­mi­na­ri­sti­sche Ge­wäsch von wacke­ren Dok­to­ren der Ger­ma­ni­stik. Die Li­te­ra­tur kann ja nur dann wei­ter gä­ren, wenn ihr die na­tür­lich auf­merk­sa­men Le­ser nicht aus­ge­hen. Die gu­ten Le­ser, bei de­nen ein Buch zso­zu­sa­gen in­ner­lich laut wird, die sind ja das Pen­dant, das sich die Schrift­stel­ler er­seh­nen, nicht die Kar­rie­re-Kri­ti­ker und Rou­ti­niers der ele­gan­ten Kurz­kri­tik. Die sind nur Mit­tels­män­ner – ge­ra­de in TV, Zei­tun­gen und Ma­ga­zi­nen ha­ben wir da heu­te viel ge­flis­sent­li­ches Kell­ner­tum. Man­che den­ken noch, sie näh­men gro­ße Po­si­tio­nen ein, wenn sie für FAZ, TAZ, ZEIT oder sonst was schrei­ben – sie sind aber nur noch Kell­ner. Wenn sie das In­ter­es­se an Bü­chern, die nicht ganz ver­kehrt sind, wie­der wach kit­zeln, soll­te man schon dank­bar sein. Wirk­lich be­dau­er­lich, bes­ser: be­äng­sti­gend ist nur, dass die­se Bü­cher­kell­ner ganz und gar der Mut ver­las­sen hat, et­was zu ent­decken, was nicht vor­her schon vom Ver­lag »groß an­ge­kün­digt« wur­de. Die­se Fra­ter­ni­sie­rung mit dem Best­sel­ler­be­trieb bis in die al­ler­un­ter­sten Stu­fen, ist letzt­lich ei­ne wil­de Ehe mit dem Mar­ke­ting der Ver­la­ge. Aber »Kri­ti­ker« füh­ren kaum aus dem Di­lem­ma her­aus, eher Le­ser und eher die Lai­en­schar im In­ter­net, wo ich – je­den­falls manch­mal, hier (!) und dort – eher Le­ben spü­re als bei den Be­rufs­trä­gern des ge­werb­li­chen Le­sens.

  19. Sehr schö­ner Kom­men­tar; be­son­ders die Un­ter­schei­dung zwi­schen Li­te­ra­tur­kri­tik und Li­te­ra­tur­jour­na­lis­mus ge­fällt mir. Wo­bei na­tür­lich der Jour­na­lis­mus als Kri­tik auf­tritt, sich so­zu­sa­gen mit fal­schem Zeug­nis aus­stat­tet und auf­wer­tet. Die Ca­mou­fla­ge fin­det hin­ter Wort­hül­sen und per­sön­li­chen Ge­schmacks­ur­tei­len, die qua Au­to­ri­tät da­her­kom­men, statt. So fliesst dann bei­des zu­sam­men: Jour­na­lis­mus = PR-Mensch (zum Teil wi­der Wil­len) und Kri­tik mit ei­nem Bau­ka­sten von Phra­sen, die je nach La­ge dann das Ge­schmacks­ur­teil »be­grün­den«. (Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft zeich­net sich dann da­durch aus, dass sie auf Ge­schmacks­ur­tei­le per se ver­zich­tet.)

    Na­tür­lich wur­de die Grup­pe 47 ir­gend­wann von den Kri­ti­kern »ge­ka­pert«. Je­mand wie Hand­ke hat sein gan­zes Le­ben ge­gen die­se Kas­per­le-Fi­gu­ren ge­wet­tert; oh­ne Er­folg. Wenn­gleich mir dann Boh­rer mal sa­gen soll, was »skan­da­li­siert« be­deu­tet: Die künst­lich er­zeug­ten Er­re­gun­gen über lä­cher­li­che Fi­gu­ren wie Char­lot­te Ro­che? Oder der PR-mä­ssig auf­be­rei­te­te Coup ge­gen Walsers »Tod ei­nes Kri­ti­kers«? Viel­leicht Lit­tel­ls »Wohl­ge­sinn­te«? Die Bü­cher, die »Skan­da­le« aus­lö­sten (Hand­ke; Strauß; Kracht) wur­den al­le mo­ra­li­sie­rend, nie äs­the­tisch ab­ge­straft. Ei­ne Dis­kus­si­on fand nicht statt – je­der, der »Par­tei« er­griff, wur­de so­zu­sa­gen aus dem Club der Buch­kell­ner und Po­lit­dok­to­ren aus­ge­sto­ssen (bzw., im Fall von Kracht, soll­te es). (Ich er­in­ne­re mich ei­nen Text Boh­rers zu Hand­kes Ju­go­sla­wi­en-En­ga­ge­ment, der ab­so­lut un­le­ser­lich und un­ver­ständ­lich war; so fürch­te­te sich Boh­rer vor ei­ner zu ein­deu­ti­gen Par­tei­nah­me zu Gun­sten des Schrift­stel­lers).

  20. Be­mer­kens­wer­te Bei­trä­ge, herz­li­chen Dank von mei­ner Sei­te. Die Se­zes­si­on von L‑Kritik und L‑Journalismus kann ich gut nach­voll­zie­hen. Mir scheint so­gar, Li­te­ra­tur und Kri­tik ver­än­dern sich par­al­lel. Ei­ni­ge Au­toren su­chen be­wusst Di­stanz zum Mei­nungs-In­te­gra­ti­ons­ap­pa­rat aka »freie Pres­se«, und ei­ni­ge Kri­ti­ker ge­win­nen aus ana­lo­gen Er­fah­run­gen ein neu­es Be­rufs­image. Qua­li­tät und Äs­the­tik sind die zen­tra­len Mo­ti­ve. Was mir fast über­kom­men er­scheint: der Be­griff der Kri­tik selbst wird ob­so­let, wenn päd­ago­gi­sche & re­prä­sen­ta­ti­ve Auf­ga­ben weg­fal­len. Das er­ste Er­satz­wort, das mir ein­ge­fal­len ist, lau­tet: Com­pa­gnon. Die­se Ge­folg­schaft, die man frü­her Kri­ti­ker nann­te, führt mich zu der For­mu­lie­rung »Li­te­ra­tur & Co.«.

  21. Wenn ich an Edu­ard Hanslick den­ke, ein Art Groß­kri­ti­ker der Mu­sik (spä­te­res 19. Jhd.), dann steht zu ver­mu­ten, dass in die öf­fent­li­che Kri­tik wie sie in den Zei­tun­gen ge­äu­ßert wur­de und wird, im­mer auch per­sön­li­che Ur­tei­le ein­flie­ßen (die Zu­stän­de heu­te mö­gen spe­zi­ell sein, Hanslicks Ur­tei­le über die Mu­sik Bruck­ners, Mahlers und Wag­ners [den er teil­wei­se auch wohl­wol­lend be­sprach] sind da­für Bei­spie­le [bei Wag­ner mag hin­zu­kom­men, dass Hanslick ei­ne jü­di­sche Mut­ter hat­te]; Brahms, dem er freund­schaft­lich ver­bun­den war und des­sen mu­si­ka­li­sche Rich­tung er be­vor­zug­te, hat­te ein­mal ge­meint man kön­ne sei­ne Kri­ti­ken auch um­ge­kehrt le­sen). — Recht­fer­ti­gung ist das kei­ne, aber si­cher­lich ei­ne Be­stä­ti­gung der Un­ter­schei­dung die Fritz oben ge­trof­fen hat (wo­bei Jour­na­lis­mus schon ei­nen An­spruch be­inhal­tet, aber eben kei­nen wis­sen­schaft­li­chen).

    In­ter­es­sant ist die kon­ser­va­ti­ve Wen­de am Schluss: Ob ich den Kohl­haas auf ei­nem Ebook-Rea­der le­se oder auf Pa­pier ist hin­sicht­lich der Kri­te­ri­en, die er für ei­ne zu­rück­ge­zo­ge­ne und ge­naue Lek­tü­re an­führt, egal. Und sei­ne For­de­rung nach ex­pe­ri­men­tel­ler bzw. in­no­va­ti­ver Li­te­ra­tur könn­te sich ge­ra­de auf neu­en Me­di­en er­fül­len (zu­min­dest ist frag­lich war­um neue For­men gleich in­di­rekt Ab­re­de ge­stellt wer­den soll­ten; Bei­spie­le da­für gibt es).

    Öko­no­mi­sie­rung und ver­wand­te Be­grif­fe kom­men über­haupt nicht vor, was mich ein we­nig ver­wun­dert, denn die Li­te­ra­tur und ih­re Kri­tik sind ja in ge­sell­schaft­li­che Ent­wick­lun­gen und Kon­tex­te ein­ge­bet­tet; viel­leicht rührt da­her der (im Raum schwe­ben­de) Ein­druck ei­ner »Ver­schwö­rung« von Kri­ti­kern, Lai­en und Au­toren ge­gen die Li­te­ra­tur.

    Ich möch­te gar nicht in Ab­re­de stel­len, dass das al­ler­mei­ste stimmt, was in dem Text an­ge­führt wird, aber, wie das auch Fritz schon an­spricht: Es gibt doch ei­ne Men­ge Le­ser, die Li­te­ra­tur schät­zen und ein in­tui­ti­ves Ge­fühl für Spra­che und Tex­te ha­ben und die sehr viel le­sen; das mag ein eher emo­tio­na­ler, eben: Bü­cher spre­chen las­sen­der Zu­gang sein, aber den soll­te man nicht ge­ring schät­zen (das sind Leu­te die sehr wohl über Bü­cher spre­chen und sie be­ur­tei­len kön­nen, sie ha­ben halt we­nig In­ter­es­se an for­ma­len Ana­ly­sen, aber es sind ja auch Lai­en).

  22. Ich möch­te mal »Dan­ke!« in die Run­de für die­se (wie­der ein­mal) in­ter­es­san­te Dis­kus­si­on sa­gen.

  23. Der Text ist ei­ne Dia­gno­se, kei­ne Ab­rech­nung, mit ei­nem ähn­li­chen Re­sü­mee wie schon zu­vor, ei­ner Aus­dif­fe­ren­zie­rung und Ver­stär­kung der Bin­dung der Au­toren an ihr Pu­bli­kum; an äs­the­ti­scher Neu­heit be­stün­de da­her we­nig In­ter­es­se.

    Es lässt sich kaum von der Hand wei­sen, dass die mei­sten neu er­schei­nen­den Ro­ma­ne al­ten Pfa­den fol­gen, zu­min­dest ist das ein Ein­druck, den ich sel­ber ha­be, bei ei­ner zu­ge­ge­be­ner­ma­ßen sehr ein­ge­schränk­ten Stich­pro­be. An­de­rer­seits fra­ge ich mich manch­mal, ob man ei­nem Werk mit ei­ner Er­war­tung von äs­the­ti­scher Neu­heit ge­recht wer­den kann, das so et­was gar nicht an­strebt (wo­bei Mey­er durch­aus zu Kon­zes­sio­nen be­reit ist und hand­werk­li­ches Kön­nen gou­tiert). Hin­zu kommt, dass die Son­die­rung der ge­gen­wär­tig vor­lie­gen­den Wer­ke nicht ab­ge­schlos­sen ist und der Ver­gleich mit ver­gan­ge­nen Epo­chen (oder Zeit­ab­schnit­ten) da­her schwie­rig bleibt (wo­bei die Men­ge der Neu­erschei­nun­gen kaum mehr zu über­blicken ist).

    Ein we­nig er­in­nert er mich mit sei­ner Be­to­nung for­mal-äs­the­ti­scher Neu­heit an Ador­no (hier zeigt sich, er spricht das auch an, ei­ne ge­wis­se aber kei­nes­wegs ein­deu­ti­ge Dis­kre­panz, zwi­schen der Mehr­heit der Le­ser, ih­ren Ge­wohn­hei­ten und Vor­lie­ben und eben­die­sem An­spruch; da kann ein Au­tor schon hin- und her ge­ris­sen sein; in­ter­es­sant wä­re, ob äs­the­ti­sche Er­neue­run­gen im­mer be­wusst und um ih­rer selbst Wil­len »ent­wickelt« wur­den, wie man das, der Be­to­nung die­ser For­de­rung fol­gend, an­neh­men möch­te).

  24. Noch ein paar Be­mer­kun­gen, dies­mal zu In­go Mey­ers Roman-»Sondierungen«

    Das ist ein ker­ni­ger Text, der dem Au­tor in den ent­spre­chen­den Krei­sen be­stimmt ganz viel Schul­ter­klop­fen ein­bringt. Die Ro­man­de­fi­ni­ti­on bleibt schwam­mig, wird an­hand zwei­er Ent­wür­fe vor­ge­nom­men, die von zwei zeit­ge­nös­si­gen Kri­ti­kern stam­men (wo­bei Drews ja be­reits – lei­der – ver­stor­ben) ist. Da ist von ei­ner Wirk­lich­keits­sät­ti­gung die Re­de und am En­de geht es um »To­ta­li­täts­re­prä­sen­ta­ti­on«. Zieht man die­se Kri­te­ri­en für den »Ro­man« her­an, so wä­re tat­säch­lich ein kri­sen­haf­ter Be­fund vor­pro­gram­miert, denn wer maßt sich heu­te noch an, die Welt so­zu­sa­gen »ab­zu­bil­den«? Mey­er nimmt in sei­nem Be­fund nun Tex­te auf, die de­zi­diert nicht als Ro­ma­ne ge­kenn­zeich­net wur­den (Hand­kes »Pilz­narr« und Grass’ »Im Krebs­gang«). An­de­rer­seits über­nimmt er die Ru­bri­zie­rung der Ver­la­ge, die auch 200 Sei­ten-Er­zäh­lun­gen zu Ro­ma­nen auf­plu­stern um da­mit – ja was ei­gent­lich? Dem Pu­bli­kum die To­ta­li­tät der Welt zu sug­ge­rie­ren?

    Mey­ers Ur­tei­le sind zum Teil harsch. Bei Grass wer­den die au­to­bio­gra­phi­schen »Ro­ma­ne« schlicht­weg igno­riert und Reich-Ra­nickis Dik­tum wei­ter­ge­spon­nen. Grass sei seit ei­nem hal­ben Jahr­hun­dert »kein äs­the­tisch re­le­van­ter Text mehr ge­lun­gen«. Auch Mar­tin Wal­ser be­kommt sei­ne Watschn; ne­ben dem Alt­her­ren­vor­wurf wird Walsers »Ah­nen­pfle­ge« kri­ti­siert. Über­ra­schend gut kommt Paul Ni­zon weg; die Ma­nie­ris­men, die Mey­er bei an­de­ren Au­toren ger­ne be­reit ist zu ent­decken, über­sieht er hier. Hart auch sein Ur­teil über Ju­li Zeh, de­ren all­ge­gen­wär­ti­ges Ak­ti­vi­sten­tum mit ei­nem Wunsch ver­bun­den wird: « Bleibt zu hof­fen, dass in Zu­kunft mög­lichst we­nig Zeit für fik­tio­na­len Aus­stoß bleibt.«

    Mey­ers Be­wer­tun­gen er­schei­nen eher will­kür­lich. Mal be­klagt er Zehs po­li­tisch kor­rek­te Plot-Kon­struk­tio­nen, die oh­ne Spra­che da­her­kom­men (man könn­te auch ein­mal un­ter­su­chen, war­um ei­ne sol­che Au­torin den »Tho­mas-Mann-Preis« be­kommt), dann wie­der­um lobt er Cle­mens Mey­ers’ Blick auf die »sub­pro­le­ta­ri­sche« Un­ter­welt Leip­zigs. Mal führt er die Fe­der ge­gen die »ana­chro­ni­sti­sche At­ti­tü­de des Er­zäh­lens« (»Der Turm«), dann wie­der­um ver­misst er ge­nau das und ist ver­wun­dert, »dass heu­te kaum noch der My­thos ad­ap­tiert oder er­fun­den wird«. (Ver­mut­lich hat er et­li­che Bü­cher des Ah­nen­pfle­gers [!] Pe­ter Hand­kes nicht ge­le­sen; ent­we­der weil dort die Gat­tung »Ro­man« nicht er­wählt wur­de oder weil es ein­fach zu an­stren­gend war.)

    Al­les, was nicht in Mey­ers The­se passt, wird igno­riert. Kein Ste­phan Thome, kein Ulf Erd­mann Zieg­ler, Chri­sti­an Kracht oder Mi­cha­el Klee­berg. Oder wie wä­re es mit Ger­trud Leu­ten­eg­ger, Chri­sto­pher Ecker, Rein­hard Kai­ser-Mühlecker oder Esther Kin­sky? Nein, na­tür­lich nicht. Statt­des­sen wird Char­lot­te Ro­che zur sa­tis­fak­ti­ons­fä­hi­gen (weil hier auf­ge­nom­me­nen) Schrei­be­rin und als Sym­ptom für – den »Nie­der­gang« des Ro­mans ge­nom­men? Oder viel­leicht nur zum Nie­der­gang der Li­te­ra­tur­kri­tik, die sol­ches hypt? Ach nein: »Die Re­fle­xi­on der Form bleibt Sa­che von Phi­lo­lo­gie und der ver­gleichs­wei­se be­grenz­ten Öf­fent­lich­keit pro­fes­sio­nel­ler Kri­tik«, denn, so wird non­cha­lant fest­ge­stellt, das Netz »hat kei­ne neu­en Kri­te­ri­en ge­bracht, son­dern das Ni­veau im Ge­gen­teil ab­ge­senkt.«

    Was aber, wenn die »Re­fle­xi­on der Form« durch die Kri­tik im­mer mehr aus­bleibt, wenn sie am En­de ver­schwin­det zu Gun­sten von Kri­te­ri­en, die fast nur noch im au­ßer­li­te­ra­ri­schen Be­reich lie­gen (Bio­gra­phie des Au­tors; Plot / The­ma­tik; Ge­sin­nung)? Wä­re der »Nie­der­gang des Ro­mans« nicht auch ei­ne Fol­ge von ei­nem Nie­der­gang der Kri­tik, die, statt ih­rer Auf­ga­be ge­recht zu wer­den, un­ter­schieds­los Tex­te mit­ein­an­der in Be­zug setzt – wie am En­de In­go Mey­er auch?

  25. »Die Ro­man­de­fi­ni­ti­on bleibt schwamming« war auch mein Ein­druck. Das trifft es ganz gut.
    Ich muss zu­ge­ben, dass ich bei ei­nem sol­chen Ge­ne­ral­the­ma nicht wirk­lich mit­re­den kann, weil ich nicht so vie­le neue­ste Bü­cher ge­le­sen ha­be bzw. stän­dig ver­fol­ge. Ich emp­fand den Bei­trag al­ler­dings merk­wür­dig dop­pel­zün­gig, weil Mey­er auf der ei­nen Sei­te das Re­fle­xi­ons­ni­veau hi­sto­risch ganz hoch ein­pflockt, auf der an­de­ren Sei­te dann aber vor al­lem mit Schmiss ei­ne ge­schmäck­le­ri­sche Pre­digt vor­ge­tra­gen wird, der die hi­sto­ri­sche Re­fle­xi­on eher fehlt, in­so­fern er die be­klag­te Ma­lai­se so sehr an schrei­ben­den Per­so­nen fest­macht. Denn ir­gend­wie schei­nen di­ver­se Schrift­stel­ler schuld zu sein, dass dem Mey­er die Bü­cher al­le nicht mehr ge­fal­len.
    Ein bri­ti­scher Schrift­stel­ler (Na­me ver­ges­sen) hat neu­lich ähn­lich über das »Ver­schwin­den des Ro­mans« ge­klagt – das ist um ei­ne ent­schei­den­de Nu­n­ace et­was an­de­res als ein »Nie­der­gang« – und lan­de­te dem­entspre­chend bei dem Pro­blem, ob dem an­spruchs­vol­len li­te­ra­ri­schen Ro­man die Le­ser ent­flie­hen? Wenn man so will, sprach die­ser Ro­man­schrifst­stel­ler al­so vom Nie­der­gang der Ro­man­le­ser (was mei­ner Mei­nung nach ei­ni­ges für sich hat, z.B. dass die Mas­se der Le­ser und selbst die­je­ni­gen, die zu den Kon­su­men­ten von Buch­preis­li­sten­wa­re zäh­len, zur Sprach­lich­keit der Sprach­kunst­wer­ke kaum mehr äu­ßern kön­nen, als das, was das Werk bei ih­nen an spon­ta­nem Emp­fin­den aus­ge­löst hat (»echt lu­stig«, »su­per toll ge­schrie­ben«, »mag ich gar nicht, der/die schreibt so ko­misch«, »echt gei­le For­mu­lie­run­gen« etc.)).
    Be­vor man da in Apo­ka­lyp­tik ver­fällt, müss­te man aber klä­ren, wann denn »peak no­vel« ge­we­sen wä­re? Ich weiß es nicht. Das 19. Jahr­hun­dert hat doch, je­den­falls im deut­schen Sprach­raum, kaum mehr als ein Tisch­re­gal an nen­nens­wer­ten Ro­ma­nen hin­ter­las­sen. Ge­ra­de bei Be­trach­ten der deut­schen Li­te­ra­tur­ge­schich­te mel­det sich zu dem die Fra­ge, ob ein Ro­man nur dann ein »gro­ßer« Ro­man wä­re, wenn er den Ba­tail­lo­nen von Schrei­bern äs­the­tisch vor­aus mar­schiert? Ich ha­be Zwei­fel dar­an, dass in der Äs­the­tik ei­ne Fort­schritts­lo­gik gel­ten müss­te wie in der Tech­no­lo­gie. Die Dis­rup­ti­ons­for­de­rung hat sich in der Äs­the­tik ei­gent­lich tot ge­lau­fen (wenn nur ein­mal die Ro­ma­ne sich »klang­lich« halb so breit auf­fä­chern wür­den wie die Mu­sik!). (In­so­fern war ich un­end­lich dank­bar für Mi­cha­els Fehrs Er­schei­nen beim dies­jäh­ri­gen Bach­mann-Preis, der wie lan­ge kei­ner mehr auch tat­säch­lich mit der Kunst be­fasst war, schon im Vi­deo-Por­trät »oder viel­leicht das Wun­der der Fä­hig­keit zur Ar­ti­ku­la­ti­on ... und dar­aus Re­pi­ti­ti­on, Va­ria­ti­on ... und dar­aus ei­ne exi­sten­zi­el­le Ge­schich­te mit ei­ner ge­wis­sen Mu­si­ka­li­tät ...«)
    Und die näch­ste Fra­ge wä­re, ob es denn je­mals ei­ne so gro­ße Dich­te an Mei­ster­wer­ken ge­ge­ben hät­te, dass al­le nas­lang die Buch­hand­lun­gen von bahn­bre­chen­den No­vi­tä­ten zu­ge­schüt­tet wor­den wä­ren? Si­cher­lich, im Rück­blick hat die er­ste Hälf­te des 20. Jahr­hun­derts ei­ne Men­ge zu bie­ten. Viel­leicht war das ei­ne be­son­ders reich­hal­ti­ge Zeit ... aber es war auch ei­ne Zeit, in der die Schrift­stel­ler noch nicht mit so viel Di­stink­ti­ons­wahn be­haf­tet wa­ren. Es reich­te fast, auf der Hö­he der Zeit zu sein und ent­we­der ei­nen Trick erst­ma­lig an­zu­wen­den oder ein fan­ta­sti­scher Sti­list zu sein, dann be­kam man schon ge­nug Auf­merk­sam­keit, um noch heu­te et­was zu gel­ten. Aber war nicht auch schon sei­ner­zeit vie­les epi­go­nal?
    Und noch ein Ge­dan­ke: Wel­che Bü­cher, die heu­te ge­schrie­ben wer­den, aus­er­wählt sind, noch in 50 oder 70 Jah­ren von je­man­dem zur Hand ge­nom­men zu wer­den, de­ren Au­toren und Ti­tel man dann noch kennt, das ent­schei­den eben we­der die heu­ti­gen Au­toren noch die Kri­ti­ker noch die heu­ti­gen Le­ser, son­dern vor al­lem wohl die Le­ser des Jah­res 2090. Was das wohl für Leu­te sein­wer­den! Viel­leicht ha­ben die ja wie­der so viel Mu­ße zum Le­sen wie mit­tel­al­ter­li­che Mön­che? Viel­leicht sind die nur mit selt­sam­sten, schwie­rig­sten, tief­sten Bü­chern zu­frie­den? Oder gibt es dann nur noch so vie­le Ro­man­le­ser wie heu­te Ly­rik-Le­ser? Ist die Buch­mes­se dann ei­ne Mes­se für Ent­ain­ment Me­dia & Con­tent-Bro­kera­ge, und in ei­nem Sei­ten­gang noch ein paar klei­ne Ka­buffs, in de­nen Ro­ma­ne feil­ge­bo­ten wer­den? Und im Mer­kur schreibt dann ein In­go Mey­er et­was über den Nie­der­gang des gro­ßen Com­pu­ter­spiel-Epos ...
    So­me­thing is hap­pe­ning and you don’t what it is, do you, Mr. Jo­nes?

  26. Der Text hiess »Der Ro­man ist tot« und war von Will Self. Mit ei­ner ähn­li­chen Tot­er­klä­rung hat ja schon ein­mal im 19. Jahr­hun­dert ein Phi­lo­soph be­trächt­li­chen Nach­ruhm ge­ern­tet – da kann man viel­leicht nicht wi­der­ste­hen. Self ging vom ge­gen­sei­ti­gen Aus­lö­schen aus: So­wohl der an­spruchs­vol­le Ro­man wie auch der an­spruchs­vol­le Ro­man­le­ser sind Re­lik­te ei­ner ver­gan­ge­nen Zeit (auch hier ist na­tür­lich die di­gi­ta­le Re­vo­lu­ti­on schuld).

    Der Hin­weis auf den Le­ser von 2090 fin­de ich sehr wich­tig. Denn wenn man die in­zwi­schen ka­no­ni­sier­ten Li­te­ra­ten des spä­ten 19. und frü­hen 20. Jahr­hun­derts Re­vue pas­sie­ren lässt, dann zeigt sich in sehr vie­len Fäl­len, dass es erst über den Nach­ruhm funk­tio­nier­te. Man muss nicht auf den ewi­gen Kaf­ka kom­men; die Bei­spie­le dürf­ten sich be­lie­big er­wei­tern las­sen. Um­ge­kehrt ist es schwie­ri­ger: Wel­che da­mals ar­ri­vier­ten Wer­ke sind heu­te längst ver­ges­sen?

    Ein m. E. sehr wich­ti­ger Grund für die per­ma­nen­ten Lei­chen­re­den auf die Li­te­ra­tur durch die Kri­tik und/oder Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft liegt auch in der nar­ziss­ti­schen Krän­kung der Se­kun­där­tex­ter, dass ih­re Schrei­be­rei­en in 50 Jah­ren mit al­ler­größ­ter Si­cher­heit kei­ner­lei Spu­ren mehr zei­ti­gen wer­den. Bei den Schrift­stel­lern ist die Sa­che da­ge­gen nicht aus­ge­macht, was die­se min­de­stens hof­fen lässt.

  27. Mey­er, In­gold, Self – und al­le Li­te­ra­tur­be­triebs­pro­fis, die sonst noch in das Horn des »Frü­hee war al­les viel frü­her« bla­sen, ma­chen auf mich im­mer den Ein­druck, als ge­he es wirk­lich nur um Ab­gren­zungs­ri­tua­le und Sta­tus-Pa­nik. Des­we­gen gab es ja auch zur Buch­mes­se wie­der die Ar­ti­kel, in de­nen Li­te­ra­tur­kri­ti­ker schrei­ben, auf wel­chen wich­ti­gen Par­ties sie ge­we­sen sind. Un­ser­eins wird da na­tür­lich nicht ein­ge­la­den – und das ist dann der Un­ter­schied zwi­schen Pro­fis und den Hoi­Pol­loi.
    Aber die Schlacht ist ein­fach ge­schla­gen: Ge­ra­de in der Li­te­ra­tur­kri­tik ist die Be­deu­tung des klas­si­schen Kri­ti­kers bzw. der klas­si­schen Re­zen­si­on vor­bei, statt­des­sen hat das In­ter­net, das ja ge­ra­de an pas­sio­nier­te Le­se­rIn­nen un­glaub­lich vie­le An­ge­bo­te macht, die ei­ge­nen Er­fah­run­gen und Le­se­ein­drücke zu ver­öf­fent­li­chen, so ei­ne Art »le­vel play­ing­field« eta­bliert. Es gibt Ama­zon-Re­zen­sen­ten, Blog­ger und Love­ly­Books-Mit­glie­der, de­ren Be­deu­tung für den Ver­kauf und die Ver­brei­tung ei­nes Bu­ches gleich und teil­wei­se so­gar hö­her ist als die der jour­na­li­sti­schen Re­zen­sen­ten­schar. Das In­ter­net ver­ein­facht na­tür­lich auch den Qua­li­täts­ver­gleich zwi­schen den Pro­fis und der Lai­en­kri­tik – und löst da­mit die Un­ter­schei­dung de fac­to auf. Da ste­hen wir aka der auch an der Re­flek­ti­on des ei­ge­nen Le­se­ver- und miss­ver­gnü­gens in­ter­es­sier­ten Teil der Mensch­heit ak­tu­ell. Wie das sich wei­ter­ent­wick­len wird, weiß kei­ner. Aber mei­ne Ver­mu­tung: Le­ser- und Blog­ger-Be­schimp­fung wird die klas­si­sche Kri­tik nicht ret­ten. Und das Re­flek­tie­ren wird wie­der ei­ne Tä­tig­keit von Gen­tle­men and ‑wo­men, die sich die Mu­ße neh­men, über das, was sie le­sen, zu schrei­ben. In­ner­halb von Krei­sen von Gleich­ge­sinn­ten. Or­ga­ni­siert im In­ter­net.

  28. Bei In­go Mey­er wür­de ich eben­falls die Dop­pel­zün­gig­keit kri­ti­sie­ren, denn (wie Iver­sen be­reits an­spricht) er er­hitzt da­mit nur die Kar­tof­fel, wel­che dann ha­stig her­um­ge­reicht wird. Le­ser?! Re­zen­sen­ten?! Jun­ge Au­toren?! Al­te Au­toren?! Ir­gend­wer muss ja am Nie­der­gang Schuld sein...
    Der letzt­lich nicht zu be­wei­sen ist, –und das aus ganz an­de­ren Grün­den als die An­ti-The­se (von Gre­gor) be­zeugt.
    Der Ro­man als Kunst­werk (kor­ri­giert mich!) ist schlecht de­fi­niert, da er aus der Un­ter­hal­tungs­bran­che stammt. Des­halb kann man ei­ne Über­tref­fung des Ge­wöhn­li­chen nur mit PO­SI­TIV-Bei­spie­len be­le­gen. Nach un­zäh­lig vie­len Jah­ren der Lek­tü­re, mit­tels ei­ni­ger in­tel­lek­tu­el­ler An­stren­gung, mag es dann so schei­nen, als ob auch die Um­kehr der Ar­gu­men­ta­ti­on Sinn macht, aber...
    Das ist nicht der Fall.
    Wenn man über die heu­ti­ge Zeit aber sagt: es gibt nur we­ni­ge be­acht­li­che Ro­ma­ne, dann liegt man si­cher rich­tig. Aber das ist nichts Neu­es!
    P.S.: das Na­bo­kov-Zi­tat war geil,– in der Hand zer­rei­ben, um den Duft wahr­zu­neh­men...

  29. »Der Ro­man als Kunst­werk (kor­ri­giert mich!) ist schlecht de­fi­niert, da er aus der Un­ter­hal­tungs­bran­che stammt.« – Schlecht de­fi­niert wür­de ich nicht sa­gen, son­dern eher un­glaub­lich weit de­fi­niert, weil es schon im­mer die De­fi­ni­ti­on für er­zäh­len­de Tex­te war, die man sonst schwer zu­ord­nen konn­te. (So je­den­falls der Te­nor in mei­nem Ger­ma­ni­stik-Stu­di­um). Al­le Ver­su­che, da de­fi­ni­to­ri­sche Prä­zi­si­on rein zu brin­gen, sind an der Em­pi­rie zer­schellt, so scheint es mir. Ro­man als Pa­ra­de­dis­zi­plin des bür­ger­li­chen Zeit­al­ters macht halt ge­nau so lan­ge Sinn, wie es ein bür­ger­li­ches Zeit­al­ter gibt.

  30. Wer sich noch­mal in die Kom­ple­xi­tät der Ro­man-De­fi­ni­ti­on – und über­haupt der Ge­brech­lich­keit al­ler li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­li­cher Be­griffs­bil­dung – ein­le­sen will, dem kann ich den Wi­ki­pe­dia-Ar­ti­kel zu Ro­man emp­feh­len. Der ist um­fas­send und sehr or­dent­lich: http://de.wikipedia.org/wiki/Roman

  31. Als die Zei­tung als Mas­sen­me­di­um auf­kam, wur­de aus dem Ro­man ei­ne (tri­via­le) Fort­set­zungs­ge­schich­te, zu­meist als Lie­bes­ro­man. Das hielt sich bis weit ins 20. Jahr­hun­dert (hat die FAZ noch ih­ren täg­li­chen Ro­man?). Die Be­deu­tung als li­te­ra­ri­sche Gat­tung, die so­zu­sa­gen ei­ne Welt ver­dich­tet, kam erst spä­ter, lief dann aber par­al­lel. Bis heu­te ist das nicht aus­dif­fe­ren­ziert. Der Glau­be der Ver­la­ge am Eti­kett »Ro­man« speist sich aus der Be­deu­tung als rei­nes Un­ter­hal­tungs­me­di­um: er ver­spricht kaum bis we­nig ex­pe­ri­men­tel­le Ele­men­te, al­so kon­ven­tio­nel­les Er­zäh­len und ei­nen Plot mit ei­ner am En­de ab­ge­schlos­se­nen Hand­lung. »Er­zäh­lung« als Gat­tungs­be­zeich­nung gilt als eher ab­schreckend; da­her ist al­les »Ro­man«.

    Den Ge­dan­ken, den Ro­man aus­schließ­lich an Po­si­tiv-Bei­spie­len fest­zu­ma­chen, fin­de ich sehr in­ter­es­sant. Schon aus dem Grund, weil es im­mer mehr schlech­te als gu­te Bei­spie­le ge­ben wird. Mey­er fa­vo­ri­siert ja Ni­zon und Schim­mangs »Das Be­ste, was wir hat­ten«. In­ter­es­sant ist, dass Mey­er im Zu­sam­men­hang mit Schim­mang an­deu­tet, dass ei­ne ge­wis­se Er­fah­rungs­welt beim Ro­man­schrift­stel­ler nicht falsch sein könn­te...

  32. Es gibt ei­ni­ge Re­pli­ken auf Mey­er. Im Mer­kur-Blog hat Do­mi­ni­que Syl­ve­stri ihre/sein (?) Be­den­ken sehr schön dar­ge­stellt http://web.archive.org/web/20141108005446/http://www.merkur-blog.de/2014/11/kommentar-zu-ingo-meyers-niedergang-des-romans/
    Auch die Kom­men­ta­re le­sen, die sind hier sehr gut! Mey­er ant­wor­tet.
    Dirk Knipp­hals von der TAZ schreibt in sei­nem ei­ge­nen Blatt ei­ne wei­te­re Re­plik: http://www.taz.de/!149243/

  33. Er­gän­zung: zur De­fi­ni­ti­on des Ro­mans, be­sag­ter Schwam­mig­keit und kul­tur-im­ma­nen­ter Fle­xi­bi­li­tät ver­glei­che fol­gen­de (wie ich mei­ne) hoch in­ter­es­san­te Ein­las­sung von Jörg Lau­ster,
    von der »Er­fin­dung des Ro­mans aus dem Geist der Pu­ri­ta­ner«.

    Les­bar als Le­se­pro­be bei BECK
    https://web.archive.org/web/20150606111116/http://www.chbeck.de/fachbuch/zusatzinfos/Leseprobe_die-Verzauberung-der-Welt.pdf

  34. Jes­ses – schaue ge­ra­de 3Sat, der fährt der Wolf­gang Her­les durch Los An­ge­les und »in­ter­viewt« ame­ri­ka­ni­sche Schrei­ber, so auch Ja­mes Ell­roy. Der ar­me Kerl – muss­te sich mit Wolf­gangs Fra­gen aus­ein­an­der­set­zen, die im­mer et­was Na­iv-Vor­wurf­vol­les hat­ten. Er muss­te sich recht­fer­ti­gen, war­um fik­ti­ve auf rea­le Cha­rak­te­re pral­len, war­um Bet­te Da­vies mit ei­nem Kil­ler schläft usw. und war­um er, Ja­mes Ell­roy, so­was »tut«. Ja­mes Ell­roy wird sich auch ge­dacht ha­ben, was da an fas­sa­den­haf­ter Pseu­do-Tie­fe über den gro­ßen Teich schwappt.