Judiths Hund, warum fällt er mir jetzt wieder ein? Als wäre er die heimliche Hauptfiguer jener Jahre. Ich sehe ihn vor mir, besser gesagt: neben mir, wie er still in einer Ecke des Hörsaals liegt und manchmal die Ohren bewegt, als lauschte er den mehr oder minder klugen Diskussionen im Seminar. Damals regte sich kein Mensch darüber auf, daß Hunde oder Kleinkinder an die Universität mitgenommen wurden. In manchen Seminaren war es erlaubt zu rauchen, und es war überhaupt kein Problem, die Räumlichkeiten am Wochenende für Feste zu nutzen (die Portiere feierten mit). Ich will nicht sagen, daß es damals besser war, die Luft in den Zimmern war wirklich verpestet, aber . . . Nun ja, der Hund hörte zu und dachte mit, wenigstens sah es so aus, während wir uns in endlose Gedankengefechte verstrickten. Judith hatte ihm einen typischen Hundenamen gegeben, Bello oder Waldi oder Ajax, etwas in dieser Art, einen Namen, der überhaupt nicht zu seinem melancholischen Gemüt paßte. Sie selbst hatte einen ähnlichen Blick, vor allem, wenn sie András anschaute, der sie so wenig beachtete. Dabei war sie eine schöne Frau, die schönste weit und breit, daran zweifelte niemand. Aber das schien András nicht zu jucken; er vergnügte sich lieber mit Hausfrauen, die unter seiner Anleitung das sich abzeichnende Übergewicht ihres Körpers bekämpften.
Judith hatte keine Probleme dieser Art. Kein Wunder, sie war zehn, fünfzehn Jahre jünger als diese Frauen. Wenn ich an Musils Roman denke, fällt mir auf, daß Ulrich überhaupt keine ernstzunehmenden Geschlechtspartnerinnen hat, jedenfalls keine, die er von sich aus ernstnimmt, ernstnehmen will. All diese Diotimas und Gerdas und Bonadeas – höhere Hausfrauen der Jahrhundertwende. Und dann, als der Strang der Frauengeschichten durchzuhängen beginnt, plötzlich die eigene Schwester, die angeblich vergessene. Warum ausgerechnet die eigene Schwester? Gibt es in der kakanischen Großstadt unter den zwei Millionen Einwohnern wirklich keine einzige schöne Frau, die vom Alter und vom geistigen Niveau her zu ihm passen würde? Vielleicht hat András Judith verschmäht, weil sie nicht in das Anders-Schema paßte. Oder weil dieser Ulrich-Typus, den er willentlich oder, was wahrscheinlicher ist, unwillentlich verkörperte, für solche Frauen keinen Sinn hat, weil er nichts mit ihnen anfangen kann. Weil sie ihn öffnen, lockern würden? So sah es Judith selbst, in manchmal nachtlangen Gesprächen vertraute sie es mir an. »Seine Panzerungen werden abfallen, wenn er sich erst einmal auf mich einläßt.« Das war der Stil, den wir damals pflegten. András hat sich aber nicht auf sie eingelassen. Ob er nicht wollte oder nicht konnte, wer will diese Frage entscheiden? Am wenigsten er selbst . . . Er ließ sich nicht auf Judith ein, nicht einmal durch die Heirat, die er auf dem Standesamt wie einen mittelmäßigen Scherz absolvierte (ich war Trauzeuge). Judith weinte, und der, der seit ein paar Sekunden ihr Mann war, machte irgendeine ironische Bemerkung. Kein einziger Verwandter war zugegen, auch nicht der Musiker-Vater, nur eine kleine Schar Paralellaktionisten in ihrem üblichen Aufzug. András hatte die Heirat akzeptiert, damit Judith ein Visum für die USA bekäme, wo er ein Jahr lang studieren oder forschen sollte, postgraduate, ein für mich damals neues Wort. Und Judith, die New York für das Mekka der Psychoanalyse hielt, brannte auf die Reise. Sie führte nicht nach New York, sondern in die Provinz, nach Maryland.
Wenn wir nach unseren Treffen noch weggingen, landeten wir nach einem Aufenthalt im Kaffeehaus, diesem Hort von Aufklärung und Vernunft, regelmäßig im schummerigen Felsenkeller. Dieses Lokal war, wie der Name schon sagt, eine tiefe und feuchte, in den Mönchsberg gegrabene Höhle, der Eingang befand sich zwischen dem Stift Sankt Peter und der Hinterseite des großen Festspielhauses. In meiner Erinnerung fällt hin und wieder ein Tropfen von den Zacken an der Decke, womöglich genau in eines der Weingläser vor uns. Mehrmals habe ich gesehen, wie András mit Franz oder Michelangelo im Schlepptau von Tisch zu Tisch ging, mit den Trinkern scherzte und ein paar Exemplare der Parallelaktion gegen eine freiwillige Spende absetzte, die niemals gering war, immer ein Geldschein, keine Münzen. Einmal gerieten er und Franz an eine Gruppe von Polizisten, die sich erst nach einer Weile als solche zu erkennen gaben – die mehr oder minder jungen Männer waren allesamt in Zivil. Zwei von ihnen kamen an unseren Tisch, der eine hatte ein Auge auf Judith geworfen, die ihn keines Blickes würdigte (sie konnte kalt wie ein Eisblock sein), der andere rief, nachdem er András eine Weile beim Reden zugeschaut hatte: »Dich kenne ich doch, bist du nicht der mit der Sau?« Schlecht formulierte Redensart, dachte ich zuerst, er will sagen, daß András Glück im Leben habe – was ich damals durchaus bejaht hätte. Aber András wurde mit einem Mal blaß, die Farbe wich buchstäblich aus seinem Gesicht, es blieb keine Farbe zurück, nur wächsernes Weiß. Schweigen . . . Ein Tropfen fiel mit einem deutlichen Platschen von der Decke in ein Weinglas. »Dann muß ich dich jetzt leider verhaften«, sagte der Polizist. András sprang auf, griff mit beiden Händen an die Tischkante, als wollte er den Tisch im nächsten Augenblick umwerfen, doch der Polizist fügte lachend hinzu: »Ist doch eh längst verjährt.«
András klappte seinen Körper zusammen wie ein Besiegter, richtete sich dann aber wieder auf, und ich sah, wie die Farbe in sein Gesicht zurückkehrte: etwas zuviel davon, jetzt war die Haut rot wie bei einem, der sich schämt (Scham war etwas, das ich mir bei András überhaupt nicht vorstellen konnte). Er stimmte ins Lachen ein, und es dauerte nicht lange, da hatten sich der Polizist und der Aktionist verbrüdert. András, der Alkohol verschmähte, trank sogar Wein, er stieß mit dem Polizisten an: »Auf die revolutionäre Volkspolizei!« Dann erzählten sie gemeinsam von der Militärparade auf dem Residenzplatz, von dem kleinen Schwein, »ein größeres Ferkel«, das sich András und sein Mitstreiter bei einem Bauern samt Steige ausgeliehen hatten; wie sie es eingeseift, im Wagen des Klarinettisten bis zur Kaigasse gebracht und schließlich im Durchgang zwischen Dom- und Residenzplatz freigelassen hatten; wie es unverzüglich auf die Paradierenden zugelaufen und um die Beine der Soldaten geschwänzelt sei, die so tun mußten, als gebe es keine Störung; wie es dann zick-zack durch die Menge der auseinanderstiebenden Zuseher gerast sei; wie die paar auf den Residenzplatz abkommandierten Polizisten – nicht die Soldaten, die keinen Befehl erhielten – dem Schwein hinterherliefen und es mehrmals berührten, aber nicht zu fassen bekamen, denn habhaft werden, so der Polizist im Felsenkeller, könne man eines voll eingeseiften, jungen, lebhaften Schweines nicht, außer man erschieße es, und das sei unter den gegebenen Umständen viel zu gefährlich gewesen. Natürlich habe man nicht gewußt, so der Polizist weiter, ob die Aktion den Zweck hatte, Panik zu säen und das Chaos zu nützen, um einen anderen, ernsteren Angriff durchzuführen. Man wußte nicht, wer die Täter waren, ja, nicht einmal, ob es überhaupt welche gab, denn schließlich konnte ein Schwein, das zufällig oder zum Spaß eingeseift worden war, auf einem Bauernhof ausgebüchst und in die Stadtmitte gelaufen sein. In der Menge hatte jemand Flugblätter in die Luft geschleudert, um die sich die Polizisten in diesem Augenblick nicht kümmern konnten: Zettel mit der Zeichnung eines Schweins und eines Gewehrs, aus dem eine Blume sproß, darüber und darunter die Sätze: »Laßt die Sau raus! Schluß mit der Wehrpflicht!« Und noch ein Zusatz, mit winzigen Buchstaben, am rechten unteren Rand, eine Art Unterschrift: »Der Friedenskaiser«. Einige Schaulustige hoben Blätter vom Boden auf und gaben sie an andere weiter. Das Schwein tauchte bald hier, bald dort auf, und mittlerweile lachten die Leute oder versuchten, es zu fangen, was ihnen naturgemäß nicht gelang. Während sich das Publikum entspannte, wurde das Schwein immer panischer, es lief mehrmals um den von Georg Trakl besungenen Brunnen mit den aus dem Wasser aufsteigenden Pferden, und sein hysterisches Quieken erfüllte anstelle militärischer Blasmusik den sonnenhellen Raum über dem weiten Platz. Irgendwann verstummten die Schreie, das Tier war verschwunden, niemand wußte, wohin.
Der Polizist, unser zeitweiliger Freund, erhielt, nachdem die Veranstaltung für beendet erklärt worden war, von seinem Vorgesetzten den Auftrag, zusammen mit einem Kollegen die Umgebung des Residenzplatzes zu durchstreifen und nach Beweisstücken sowie verdächtigen Personen Ausschau zu halten. Im Petersfriedhof fanden sie eine leere Sausteige sowie einen Packen Flugblätter, die von einem Windstoß erfaßt wurden und über die Gräber flatterten. Zwei junge Männer, einer mit langem, einer mit kurzgeschnittenem Haar, fast eine Glatze, verließen hastig den menschenleeren Ort. Er und sein Kollege, sagte der Polizist mit übertriebenem Bedauern, hätten leider nicht die Geistesgegenwart besessen, die erst im nachhinein Verdächtigen anzuhalten, doch ihre Gesichter habe er sich – berufsbedingt – gemerkt.
»Berufskrankheit gutes Gedächtnis«, kommentierte András.
»Elefantengedächtnis«, konterte der Polizist.
Mit ironischer Lehrerhaftigkeit bewertete András die Erzählung seines Nebenmanns und fügte ein Detail hinzu, das nur jemand kennen konnte, der an der Aktion beteiligt war. Indirekt gab er damit seine Täterschaft zu. »In der Steige befand sich eine Babyflasche mit Milch«, sagte er kichernd, und der Polizist nickte ernst. Wie sie das Ferkel denn hätten einfangen wollen? Bei ihren Besuchen auf dem Bauernhof hatte sich das Schwein mit dem zweiten Täter – András nannte den Namen nicht – angefreundet; war er in seiner Nähe war, benahm es sich wie ein Kätzchen und wich nicht von seiner Seite. Besonders gern ließ es sich von ihm das Fläschchen geben. Im Felsenkeller entspann sich eine Diskussion, ob der Plan, das Schwein mit Babymilch zu ködern, realistisch war oder nicht. Auf alle Fälle war er gescheitert, das Schwein hatte die Freiheit vorgezogen, die beiden Aktionisten mußten dem Bauern, der die Reisepässe der beiden als Einsatz zurückbehalten hatte, den Verlust ersetzen. Als das vergnügliche Thema beinahe erschöpft war, warf ein Jüngling, der erst vor kurzem unserem Kreis beigetreten war, die Frage auf, was wohl Musil zu der Schweinchenaktion gesagt hätte.
»Oder Ulrich«, fiel András ein, etwas zu scharf vielleicht, als müßte er den Jüngling zurechtweisen. Im Anschluß an diese Differenzierung, nach der sich der Polizist verabschiedet hatte – er habe morgen Dienst, im Unterschied zu uns Studenten –, führte András seine Theorie von Krieg und Frieden in Leben und Werk des Autors aus. Mir war längst klar, daß András eine Vielzahl von Theorien in sich trug, daß er gewissermaßen mit ihnen schwanger ging, literarische, kybernetische, gesellschaftliche Theorien, doch es kamen immer nur Ahnungen oder Ansätze davon ans Tageslicht. Dort, im Felsenkeller, im Anschluß an die Schweinchenerzählung, hörte ich das erste und einzige Mal, wie er eine solche Theorie einigermaßen zusammenhängend, nicht allzu verworren, zur Darstellung brachte. Musil sei eigentlich und von ganzem Herzen Soldat gewesen, davon zeuge besonders die Episode mit dem Fliegerpfeil in der Erzählung Die Amsel, die ebenso und vielleicht besser Der Fliegerpfeil heißen könnte. Dieses rätselhafte mystische, weltfromme Ding, um das sich die Erzählung ranke, sei in Wahrheit nichts anderes als ein profanes Zerstörungsinstrument, und genau diese Ambivalenz habe Musil fasziniert. Auch in Bezug auf das literarische Leben, letztlich auf die gesamte Gesellschaft, hegte Musil militärische Vorstellungen, er stülpte sämtlichen Lebensbereichen soldatische Modelle über, nicht wesentlich anders als Ernst Jünger, der bekanntlich ebenfalls ein überzeugter Soldat war. Und an seinen großen Roman, sein Lebenswerk, sein großes geistiges Kampffeld ging er ebenfalls wie ein General heran; daß er den literarischen Krieg verloren hatte, stehe auf einem anderen Blatt. Stumm von Bordwehr, so András, sei die Parodie der Figur des literarisch-kriegerischen Strategen. Der Friedenskaiser entpuppe sich unter diesen Voraussetzungen als Kriegskaiser, und der Titel, den ihm die Parallelaktionäre bzw. Musil selbst verleihen, sei ein ironischer, wie der gesamte Roman ein ironischer sei, nur daß sich – Wende- und Höhepunkt in András’ Ausführungen – die Ironie mehr und mehr gegen den Autor selbst zu wenden beginnt. Mit Hilfe von Wirtschaftsmagnaten wie Arnheim bereitet der Kriegskaiser im Gleichschritt mit seinen Kriegs- und Friedensfunktionären den Krieg vor. Musil hätte dem Roman diesen Titel geben können: Krieg und Frieden, und er hätte es bestimmt getan, wäre er nicht schon besetzt gewesen: darauf deutet eine Notiz in seinem Tagebuch hin. Etwas in dem Roman, seine Friedensdynamik gewissermaßen, sträubte sich jedoch gegen diesen Entwurf, das heißt: gegen all die heimlichen Kriegsplanungen, denen die Parallelaktion mit ihrer vorgeblichen Wohltätigkeit nur als ideologischer Schutzmantel dient. Und Musil, das heißt Ulrich, pazifizierte sich, indem er sich in sein privates Lustgärtlein zurückzog wie einst Candide in der Erzählung Voltaires. Ulrich pazifizierte Musil, seinen Schöpfer. Er hinderte den General daran, jene Pläne in die Tat umzusetzen, die in der historischen Wirklichkeit zu dem Zeitpunkt, als Musil den Roman ohne Eigenschaften schrieb, längst stattgefunden hatte, als Weltvernichtungstat. Musil schrieb, vom ironischen Ulrich angetrieben, die Wirklichkeit um, gegen seinen Willen, denn eigentlich hatte er eine verfeinerte, vergeistigte, heute würde man sagen: chirurgische Kriegsführung vorschlagen wollen. Kein Gemetzel wie in Vietnam, keine flächendeckende Umweltverseuchung, sondern einen sauberen, vernünftigen, humanitären Krieg. Aber Ulrich zeigte ihm, daß es keine sauberen Kriege gibt, daß Töten niemals menschlich ist und daß man sich nicht heraushalten kann, daß die ganze Ironie nichts bringt und nichts verhindert, daß man sich eben deshalb heraushalten muß, und zwar vollständig, mit Leib und Seele. Man muß sich, darauf läuft der Roman hinaus, von den Magnaten und Funktionären und mystischen Schwätzern à la Meingast abwenden und dem Frieden zuwenden, dem friedlich gesteuerten, spielerischen und kontrollierten Aufbau. Diesem Vorhaben bot Musil bis zuletzt seinen auktorialen Widerstand, so daß die Niederschrift, also der Krieg, der Literaturkrieg namens Mann ohne Eigenschaften, endlos weiterging. Statt daß Ulrich in Agathes Arme sank. Oder umgekehrt. Ich dir und du mir. Happy End!
Stille. Schweigen. Ein Tropfen fiel von der Decke ins fast leere Glas, das der Polizist zurückgelassen hatte.
»Musil war doch ein zwanghafter Charakter.« Wer hatte das gesagt? Ein Grottengespenst? Judith hatte gesprochen, ihre Stimme klang manchmal, wenn sie sich nicht räusperte, ziemlich tief. »Doderer war viel lockerer«, pflichtete eine andere Stimme bei. »Spontaner, anarchisch, der brauchte keine Strategie.« Der Jüngling meldete sich wieder zu Wort. Ob András das mit der Steuerung der Gesellschaft kybernetisch meine? Musil quasi als Kybernetiker avant la lettre?
András setzte zu einer Antwort an, verwirrte sich aber nach und nach. Die Vertreter der Parallelaktion im Roman seien eigentlich überhaupt nicht imstande, mehr als ein paar Worthülsen zu liefern, über relevante Konzepte verfügten sie nicht. Aber auch Ulrich habe nicht viel zu bieten, seine Rolle sei die Obstruktion. »Sand im Getriebe, das bin ich.« (Man wußte nicht, meinte András den Romanhelden oder sich selbst.) Die wahren Parallelaktionisten, »wir hier«, hätten erst ein Konzept zu bilden, von Grund auf, das sei ihre Aufgabe. Die Gesellschaft spielerisch zu gestalten, also sich selbst, das eigene Zusammensein, Zusammenleben, nicht Ulrich und Agathe, sondern ich und du und du und du – er zeigte auf jeden einzelnen, ließ aber, ich weiß nicht, ob mit Absicht, Judith aus –, bloß aus Lust und Laune, also Laune und Lust zum Prinzip zu machen unter vernünftiger Leitung, selbstregulierend, das sei die konkrete Aufgabe von »uns hier«, die Leiter (der Leiter?) sei nur ein Abstraktum, das sich selbst auflösen werde, »über unseren Köpfen«. Er zeigte an die Decke, und wir erwarteten, daß ein Tropfen fiel. Fiel aber nicht.
Der Jüngling hatte sich in den Kopf gesetzt, dem Anführer, der András gar nicht sein wollte, Widerstand zu leisten. Seine Argumente waren durchaus treffend, die Unterstützung Michelangelos für seinen Mentor so tollpatschig wie gewöhnlich, aber András war ohnehin schon woanders. Daß sich der Freiheitswille der Subjekte nicht mit systematischer Planung, die Spielfreude nicht mit dem Ernst von Institutionen vereinbaren ließ, wie der Jüngling betonte, kümmerte ihn überhaupt nicht, er war vielmehr selbst ein lebendes Beispiel dafür, verkörperte sozusagen die Argumente des Jünglings, der sie mit soviel Eifer vorbrachte, daß er nach einiger Zeit stecken blieb wie ein Traktor im feuchtschweren Acker. András kicherte, niemand wußte, worüber. Wie ein Greis kicherte er in sich hinein. Er war, was er sein würde, ein Zittergreis, kichernd über sich selbst. Zum ersten Mal fiel mir auf, daß seine Hände zitterten, sobald er auch nur die kleinste Prüfung zu bestehen hatte. Diese kräftigen Hände, an Schiffstauen und Tennisschlägern gehärtet, zitterten geringfügig, fast unmerklich, aber sehr schnell, womöglich infolge der sensitiven Verfeinerung, die das Klavierspiel fordert und schult. Es waren winzige, zahl- und ergebnislose Erschütterungen, aus denen das Dasein seines Körpers und wohl auch seines Geistes bestand.
Schweigen und Kichern . . . Außer den Parallelakteuren waren keine Gäste mehr im Felsenkeller. Judith erhob sich, ging hinter András’ Rücken um den Tisch herum, vollendete den Kreis und streifte mit der Hand flüchtig meine Schulter. Ohne zu überlegen, begriff ich die Geste als Zeichen, als Erwählungsgeste, und stand auf. Im Vorbeigehen, ohne Seitenblick, nahm Judith den Geldschein, den ihr András reichte. Wir gingen zum Taxistandplatz vor der Pferdeschwemme, Hand in Hand, bedächtig unter dem Abendstern. (Ein verklärtes Bild, gewiß, aber so sehe ich uns.) Der Hund sprang gewohnheitsgemäß in den Hohlraum neben dem Taxilenker und blickte kurz auf, als sich seine Herrin zu mir in den Fond setzte. Der Geldschein reichte gerade für die Fahrt bis zu ihrer Wohnung am Stadtrand, in Aigen oder in Liefering. Unsere Hände lagen auf dem Rücksitz ineinander, und ich empfand etwas wie Glück, vielleicht das erste Mal in meinem noch kurzen Erwachsenenleben. Glück, weil das Außergewöhnliche selbstverständlich war. Oder das Selbstverständliche außergewöhnlich. Weil Vollmond war und die Sterne funkelten.
© Leopold Federmair
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