Der Frie­dens­kai­ser (2)

Teil 1

Ju­diths Hund, war­um fällt er mir jetzt wie­der ein? Als wä­re er die heim­li­che Haupt­fi­guer je­ner Jah­re. Ich se­he ihn vor mir, bes­ser ge­sagt: ne­ben mir, wie er still in ei­ner Ecke des Hör­saals liegt und manch­mal die Oh­ren be­wegt, als lausch­te er den mehr oder min­der klu­gen Dis­kus­sio­nen im Se­mi­nar. Da­mals reg­te sich kein Mensch dar­über auf, daß Hun­de oder Klein­kin­der an die Uni­ver­si­tät mit­ge­nom­men wur­den. In man­chen Se­mi­na­ren war es er­laubt zu rau­chen, und es war über­haupt kein Pro­blem, die Räum­lich­kei­ten am Wochen­ende für Fe­ste zu nut­zen (die Por­tie­re fei­er­ten mit). Ich will nicht sa­gen, daß es da­mals bes­ser war, die Luft in den Zim­mern war wirk­lich ver­pe­stet, aber . . . Nun ja, der Hund hör­te zu und dach­te mit, we­nig­stens sah es so aus, wäh­rend wir uns in end­lo­se Gedanken­gefechte ver­strick­ten. Ju­dith hat­te ihm ei­nen ty­pi­schen Hun­de­na­men ge­ge­ben, Bel­lo oder Wal­di oder Ajax, et­was in die­ser Art, ei­nen Na­men, der über­haupt nicht zu sei­nem me­lan­cho­li­schen Ge­müt paß­te. Sie selbst hat­te ei­nen ähn­li­chen Blick, vor al­lem, wenn sie An­drás an­schau­te, der sie so we­nig be­ach­te­te. Da­bei war sie ei­ne schö­ne Frau, die schön­ste weit und breit, dar­an zwei­fel­te nie­mand. Aber das schien An­drás nicht zu jucken; er ver­gnüg­te sich lie­ber mit Haus­frau­en, die un­ter sei­ner An­lei­tung das sich ab­zeich­nen­de Über­ge­wicht ih­res Kör­pers be­kämpf­ten.

Ju­dith hat­te kei­ne Pro­ble­me die­ser Art. Kein Wun­der, sie war zehn, fünf­zehn Jah­re jün­ger als die­se Frau­en. Wenn ich an Mu­sils Ro­man den­ke, fällt mir auf, daß Ul­rich über­haupt kei­ne ernst­zu­neh­men­den Ge­schlechts­part­ne­rin­nen hat, je­den­falls kei­ne, die er von sich aus ernst­nimmt, ernst­neh­men will. All die­se Diot­imas und Ger­das und Bo­na­de­as – hö­he­re Haus­frau­en der Jahr­hun­dert­wen­de. Und dann, als der Strang der Frau­en­ge­schich­ten durch­zu­hän­gen be­ginnt, plötz­lich die ei­ge­ne Schwe­ster, die an­geb­lich ver­ges­se­ne. War­um aus­ge­rech­net die ei­ge­ne Schwe­ster? Gibt es in der ka­ka­ni­schen Groß­stadt un­ter den zwei Mil­lio­nen Ein­woh­nern wirk­lich kei­ne ein­zi­ge schö­ne Frau, die vom Al­ter und vom gei­sti­gen Ni­veau her zu ihm pas­sen wür­de? Viel­leicht hat An­drás Ju­dith ver­schmäht, weil sie nicht in das An­ders-Sche­ma paß­te. Oder weil die­ser Ul­rich-Ty­pus, den er wil­lent­lich oder, was wahr­schein­li­cher ist, un­wil­lent­lich ver­kör­per­te, für sol­che Frau­en kei­nen Sinn hat, weil er nichts mit ih­nen an­fan­gen kann. Weil sie ihn öff­nen, lockern wür­den? So sah es Ju­dith selbst, in manch­mal nacht­lan­gen Ge­sprä­chen ver­trau­te sie es mir an. »Sei­ne Pan­ze­run­gen wer­den ab­fal­len, wenn er sich erst ein­mal auf mich ein­läßt.« Das war der Stil, den wir da­mals pfleg­ten. An­drás hat sich aber nicht auf sie ein­ge­las­sen. Ob er nicht woll­te oder nicht konn­te, wer will die­se Fra­ge ent­schei­den? Am we­nig­sten er selbst . . . Er ließ sich nicht auf Ju­dith ein, nicht ein­mal durch die Hei­rat, die er auf dem Stan­des­amt wie ei­nen mit­tel­mä­ßi­gen Scherz ab­sol­vier­te (ich war Trau­zeu­ge). Ju­dith wein­te, und der, der seit ein paar Se­kun­den ihr Mann war, mach­te ir­gend­ei­ne iro­ni­sche Be­mer­kung. Kein ein­zi­ger Ver­wand­ter war zu­ge­gen, auch nicht der Mu­si­ker-Va­ter, nur ei­ne klei­ne Schar Pa­ralel­l­ak­tio­ni­sten in ih­rem üb­li­chen Auf­zug. An­drás hat­te die Hei­rat ak­zep­tiert, da­mit Ju­dith ein Vi­sum für die USA be­kä­me, wo er ein Jahr lang stu­die­ren oder for­schen soll­te, post­gra­dua­te, ein für mich da­mals neu­es Wort. Und Ju­dith, die New York für das Mek­ka der Psy­cho­ana­ly­se hielt, brann­te auf die Rei­se. Sie führ­te nicht nach New York, son­dern in die Pro­vinz, nach Ma­ry­land.

Wenn wir nach un­se­ren Tref­fen noch weg­gin­gen, lan­de­ten wir nach ei­nem Auf­ent­halt im Kaf­fee­haus, die­sem Hort von Auf­klä­rung und Ver­nunft, re­gel­mä­ßig im schum­me­ri­gen Fel­sen­kel­ler. Die­ses Lo­kal war, wie der Na­me schon sagt, ei­ne tie­fe und feuch­te, in den Mönchs­berg ge­gra­be­ne Höh­le, der Ein­gang be­fand sich zwi­schen dem Stift Sankt Pe­ter und der Hin­ter­sei­te des gro­ßen Fest­spiel­hau­ses. In mei­ner Er­in­ne­rung fällt hin und wie­der ein Trop­fen von den Zacken an der Decke, wo­mög­lich ge­nau in ei­nes der Wein­gläser vor uns. Mehr­mals ha­be ich ge­se­hen, wie An­drás mit Franz oder Mi­chel­an­ge­lo im Schlepp­tau von Tisch zu Tisch ging, mit den Trin­kern scherz­te und ein paar Ex­em­pla­re der Par­al­lel­ak­ti­on ge­gen ei­ne frei­wil­li­ge Spen­de ab­setz­te, die nie­mals ge­ring war, im­mer ein Geld­schein, kei­ne Mün­zen. Ein­mal ge­rie­ten er und Franz an ei­ne Grup­pe von Po­li­zi­sten, die sich erst nach ei­ner Wei­le als sol­che zu er­ken­nen ga­ben – die mehr oder min­der jun­gen Män­ner wa­ren al­le­samt in Zi­vil. Zwei von ih­nen ka­men an un­se­ren Tisch, der ei­ne hat­te ein Au­ge auf Ju­dith ge­wor­fen, die ihn kei­nes Blickes wür­dig­te (sie konn­te kalt wie ein Eis­block sein), der an­de­re rief, nach­dem er An­drás ei­ne Wei­le beim Re­den zu­ge­schaut hat­te: »Dich ken­ne ich doch, bist du nicht der mit der Sau?« Schlecht for­mu­lier­te Re­dens­art, dach­te ich zu­erst, er will sa­gen, daß An­drás Glück im Le­ben ha­be – was ich da­mals durch­aus be­jaht hät­te. Aber An­drás wur­de mit ei­nem Mal blaß, die Far­be wich buch­stäb­lich aus sei­nem Ge­sicht, es blieb kei­ne Far­be zu­rück, nur wäch­ser­nes Weiß. Schwei­gen . . . Ein Trop­fen fiel mit ei­nem deut­li­chen Plat­schen von der Decke in ein Wein­glas. »Dann muß ich dich jetzt lei­der ver­haf­ten«, sag­te der Po­li­zist. An­drás sprang auf, griff mit bei­den Hän­den an die Tisch­kan­te, als woll­te er den Tisch im näch­sten Au­gen­blick um­wer­fen, doch der Po­li­zist füg­te la­chend hin­zu: »Ist doch eh längst ver­jährt.«

An­drás klapp­te sei­nen Kör­per zu­sam­men wie ein Be­sieg­ter, rich­te­te sich dann aber wie­der auf, und ich sah, wie die Far­be in sein Ge­sicht zu­rück­kehr­te: et­was zu­viel da­von, jetzt war die Haut rot wie bei ei­nem, der sich schämt (Scham war et­was, das ich mir bei An­drás über­haupt nicht vor­stel­len konn­te). Er stimm­te ins La­chen ein, und es dau­er­te nicht lan­ge, da hat­ten sich der Po­li­zist und der Ak­tio­nist ver­brü­dert. An­drás, der Al­ko­hol ver­schmäh­te, trank so­gar Wein, er stieß mit dem Po­li­zi­sten an: »Auf die re­vo­lu­tio­nä­re Volks­po­li­zei!« Dann er­zähl­ten sie ge­mein­sam von der Mi­li­tär­pa­ra­de auf dem Re­si­denz­platz, von dem klei­nen Schwein, »ein grö­ße­res Fer­kel«, das sich An­drás und sein Mit­strei­ter bei ei­nem Bau­ern samt Stei­ge aus­ge­lie­hen hat­ten; wie sie es ein­ge­seift, im Wa­gen des Kla­ri­net­ti­sten bis zur Kai­gas­se ge­bracht und schließ­lich im Durch­gang zwi­schen Dom- und Residenz­platz frei­ge­las­sen hat­ten; wie es un­ver­züg­lich auf die Pa­ra­die­ren­den zu­ge­lau­fen und um die Bei­ne der Sol­da­ten ge­schwän­zelt sei, die so tun muß­ten, als ge­be es kei­ne Stö­rung; wie es dann zick-zack durch die Men­ge der aus­ein­an­der­stie­ben­den Zu­se­her ge­rast sei; wie die paar auf den Re­si­denz­platz ab­kom­man­dier­ten Po­li­zi­sten – nicht die Sol­da­ten, die kei­nen Be­fehl er­hiel­ten – dem Schwein hin­ter­her­lie­fen und es mehr­mals be­rühr­ten, aber nicht zu fas­sen be­ka­men, denn hab­haft wer­den, so der Po­li­zist im Fel­sen­kel­ler, kön­ne man ei­nes voll ein­ge­seif­ten, jun­gen, leb­haf­ten Schwei­nes nicht, au­ßer man er­schie­ße es, und das sei un­ter den ge­ge­be­nen Um­stän­den viel zu ge­fähr­lich ge­we­sen. Na­tür­lich ha­be man nicht ge­wußt, so der Po­li­zist wei­ter, ob die Ak­ti­on den Zweck hat­te, Pa­nik zu sä­en und das Cha­os zu nüt­zen, um ei­nen an­de­ren, ern­ste­ren An­griff durch­zu­füh­ren. Man wuß­te nicht, wer die Tä­ter wa­ren, ja, nicht ein­mal, ob es über­haupt wel­che gab, denn schließ­lich konn­te ein Schwein, das zu­fäl­lig oder zum Spaß ein­ge­seift wor­den war, auf ei­nem Bau­ern­hof aus­ge­büchst und in die Stadt­mit­te ge­lau­fen sein. In der Men­ge hat­te je­mand Flug­blät­ter in die Luft ge­schleu­dert, um die sich die Po­li­zi­sten in die­sem Au­gen­blick nicht küm­mern konn­ten: Zet­tel mit der Zeich­nung ei­nes Schweins und ei­nes Ge­wehrs, aus dem ei­ne Blu­me sproß, dar­über und dar­un­ter die Sät­ze: »Laßt die Sau raus! Schluß mit der Wehr­pflicht!« Und noch ein Zu­satz, mit win­zi­gen Buch­sta­ben, am rech­ten un­te­ren Rand, ei­ne Art Un­ter­schrift: »Der Frie­dens­kai­ser«. Ei­ni­ge Schau­lu­sti­ge ho­ben Blät­ter vom Bo­den auf und ga­ben sie an an­de­re wei­ter. Das Schwein tauch­te bald hier, bald dort auf, und mitt­ler­wei­le lach­ten die Leu­te oder ver­such­ten, es zu fan­gen, was ih­nen na­tur­ge­mäß nicht ge­lang. Wäh­rend sich das Pu­bli­kum ent­spann­te, wur­de das Schwein im­mer pa­ni­scher, es lief mehr­mals um den von Ge­org Tra­kl be­sun­ge­nen Brun­nen mit den aus dem Was­ser auf­stei­gen­den Pfer­den, und sein hy­ste­ri­sches Quie­ken er­füll­te an­stel­le mi­li­tä­ri­scher Blas­mu­sik den son­nen­hel­len Raum über dem wei­ten Platz. Ir­gend­wann ver­stumm­ten die Schreie, das Tier war ver­schwun­den, nie­mand wuß­te, wo­hin.

Der Po­li­zist, un­ser zeit­wei­li­ger Freund, er­hielt, nach­dem die Ver­an­stal­tung für be­en­det er­klärt wor­den war, von sei­nem Vor­ge­setz­ten den Auf­trag, zu­sam­men mit ei­nem Kol­le­gen die Um­ge­bung des Re­si­denz­plat­zes zu durch­strei­fen und nach Be­weis­stücken so­wie ver­däch­ti­gen Per­so­nen Aus­schau zu hal­ten. Im Pe­ters­fried­hof fan­den sie ei­ne lee­re Sau­stei­ge so­wie ei­nen Packen Flug­blät­ter, die von ei­nem Wind­stoß er­faßt wur­den und über die Grä­ber flat­ter­ten. Zwei jun­ge Män­ner, ei­ner mit lan­gem, ei­ner mit kurz­geschnittenem Haar, fast ei­ne Glat­ze, ver­lie­ßen ha­stig den men­schen­lee­ren Ort. Er und sein Kol­le­ge, sag­te der Po­li­zist mit über­trie­be­nem Be­dau­ern, hät­ten lei­der nicht die Gei­stes­ge­gen­wart be­ses­sen, die erst im nach­hin­ein Ver­däch­ti­gen an­zu­hal­ten, doch ih­re Ge­sich­ter ha­be er sich – be­rufs­be­dingt – ge­merkt.
»Be­rufs­krank­heit gu­tes Ge­dächt­nis«, kom­men­tier­te An­drás.
»Ele­fan­ten­ge­dächt­nis«, kon­ter­te der Po­li­zist.
Mit iro­ni­scher Leh­rer­haf­tig­keit be­wer­te­te An­drás die Er­zäh­lung sei­nes Ne­ben­manns und füg­te ein De­tail hin­zu, das nur je­mand ken­nen konn­te, der an der Ak­ti­on be­tei­ligt war. In­di­rekt gab er da­mit sei­ne Tä­ter­schaft zu. »In der Stei­ge be­fand sich ei­ne Ba­by­fla­sche mit Milch«, sag­te er ki­chernd, und der Po­li­zist nick­te ernst. Wie sie das Fer­kel denn hät­ten ein­fan­gen wol­len? Bei ih­ren Be­su­chen auf dem Bau­ern­hof hat­te sich das Schwein mit dem zwei­ten Tä­ter – An­drás nann­te den Na­men nicht – an­ge­freun­det; war er in sei­ner Nä­he war, be­nahm es sich wie ein Kätz­chen und wich nicht von sei­ner Sei­te. Be­son­ders gern ließ es sich von ihm das Fläsch­chen ge­ben. Im Fel­sen­kel­ler ent­spann sich ei­ne Dis­kus­si­on, ob der Plan, das Schwein mit Ba­by­milch zu kö­dern, rea­li­stisch war oder nicht. Auf al­le Fäl­le war er ge­schei­tert, das Schwein hat­te die Frei­heit vor­ge­zo­gen, die bei­den Ak­tio­ni­sten muß­ten dem Bau­ern, der die Rei­se­päs­se der bei­den als Ein­satz zu­rück­be­hal­ten hat­te, den Ver­lust er­set­zen. Als das ver­gnüg­li­che The­ma bei­na­he er­schöpft war, warf ein Jüng­ling, der erst vor kur­zem un­se­rem Kreis bei­getre­ten war, die Fra­ge auf, was wohl Mu­sil zu der Schwein­chen­ak­ti­on ge­sagt hät­te.

»Oder Ul­rich«, fiel An­drás ein, et­was zu scharf viel­leicht, als müß­te er den Jüng­ling zu­recht­wei­sen. Im An­schluß an die­se Dif­fe­ren­zie­rung, nach der sich der Po­li­zist ver­ab­schie­det hat­te – er ha­be mor­gen Dienst, im Un­ter­schied zu uns Stu­den­ten –, führ­te An­drás sei­ne Theo­rie von Krieg und Frie­den in Le­ben und Werk des Au­tors aus. Mir war längst klar, daß An­drás ei­ne Viel­zahl von Theo­rien in sich trug, daß er ge­wis­ser­ma­ßen mit ih­nen schwan­ger ging, li­te­ra­ri­sche, ky­ber­ne­ti­sche, ge­sell­schaft­li­che Theo­rien, doch es ka­men im­mer nur Ah­nun­gen oder An­sät­ze da­von ans Ta­ges­licht. Dort, im Fel­sen­kel­ler, im An­schluß an die Schwein­chen­er­zäh­lung, hör­te ich das er­ste und ein­zi­ge Mal, wie er ei­ne sol­che Theo­rie ei­ni­ger­ma­ßen zu­sam­men­hän­gend, nicht all­zu ver­wor­ren, zur Dar­stel­lung brach­te. Mu­sil sei ei­gent­lich und von gan­zem Her­zen Sol­dat ge­we­sen, da­von zeu­ge be­son­ders die Epi­so­de mit dem Flie­ger­pfeil in der Er­zäh­lung Die Am­sel, die eben­so und viel­leicht bes­ser Der Flie­ger­pfeil hei­ßen könn­te. Die­ses rät­sel­haf­te my­sti­sche, welt­from­me Ding, um das sich die Er­zäh­lung ran­ke, sei in Wahr­heit nichts an­de­res als ein pro­fa­nes Zer­stö­rungs­in­stru­ment, und ge­nau die­se Am­bi­va­lenz ha­be Mu­sil fas­zi­niert. Auch in Be­zug auf das li­te­ra­ri­sche Le­ben, letzt­lich auf die ge­sam­te Ge­sell­schaft, heg­te Mu­sil mi­li­tä­ri­sche Vor­stel­lun­gen, er stülp­te sämt­li­chen Le­bens­be­rei­chen sol­da­ti­sche Mo­del­le über, nicht we­sent­lich an­ders als Ernst Jün­ger, der be­kannt­lich eben­falls ein über­zeug­ter Sol­dat war. Und an sei­nen gro­ßen Ro­man, sein Le­bens­werk, sein gro­ßes gei­sti­ges Kampf­feld ging er eben­falls wie ein Ge­ne­ral her­an; daß er den li­te­ra­ri­schen Krieg ver­lo­ren hat­te, ste­he auf ei­nem an­de­ren Blatt. Stumm von Bord­wehr, so An­drás, sei die Par­odie der Fi­gur des li­te­ra­risch-krie­ge­ri­schen Stra­te­gen. Der Frie­dens­kai­ser ent­pup­pe sich un­ter die­sen Vor­aus­set­zun­gen als Kriegs­kai­ser, und der Ti­tel, den ihm die Par­al­lel­ak­tio­nä­re bzw. Mu­sil selbst ver­lei­hen, sei ein iro­ni­scher, wie der ge­sam­te Ro­man ein iro­ni­scher sei, nur daß sich – Wen­de- und Hö­he­punkt in An­drás’ Aus­füh­run­gen – die Iro­nie mehr und mehr ge­gen den Au­tor selbst zu wen­den be­ginnt. Mit Hil­fe von Wirt­schafts­ma­gna­ten wie Arn­heim be­rei­tet der Kriegs­kai­ser im Gleich­schritt mit sei­nen Kriegs- und Frie­dens­funk­tio­nä­ren den Krieg vor. Mu­sil hät­te dem Ro­man die­sen Ti­tel ge­ben kön­nen: Krieg und Frie­den, und er hät­te es be­stimmt ge­tan, wä­re er nicht schon be­setzt ge­we­sen: dar­auf deu­tet ei­ne No­tiz in sei­nem Ta­ge­buch hin. Et­was in dem Ro­man, sei­ne Frie­dens­dy­na­mik ge­wis­ser­ma­ßen, sträub­te sich je­doch ge­gen die­sen Ent­wurf, das heißt: ge­gen all die heim­li­chen Kriegs­planungen, de­nen die Par­al­lel­ak­ti­on mit ih­rer vor­geb­li­chen Wohl­tä­tig­keit nur als ideo­lo­gi­scher Schutz­man­tel dient. Und Mu­sil, das heißt Ul­rich, pa­zi­fi­zier­te sich, in­dem er sich in sein pri­va­tes Lust­gärt­lein zu­rück­zog wie einst Can­di­de in der Er­zäh­lung Vol­taires. Ul­rich pa­zi­fi­zier­te Mu­sil, sei­nen Schöp­fer. Er hin­der­te den Ge­ne­ral dar­an, je­ne Plä­ne in die Tat um­zu­set­zen, die in der hi­sto­ri­schen Wirk­lich­keit zu dem Zeit­punkt, als Mu­sil den Ro­man oh­ne Ei­gen­schaf­ten schrieb, längst statt­ge­fun­den hat­te, als Welt­ver­nich­tungs­tat. Mu­sil schrieb, vom iro­ni­schen Ul­rich an­ge­trie­ben, die Wirk­lich­keit um, ge­gen sei­nen Wil­len, denn ei­gent­lich hat­te er ei­ne ver­fei­ner­te, ver­gei­stig­te, heu­te wür­de man sa­gen: chir­ur­gi­sche Kriegs­füh­rung vor­schla­gen wol­len. Kein Ge­met­zel wie in Viet­nam, kei­ne flä­chen­decken­de Um­welt­ver­seu­chung, son­dern ei­nen sau­be­ren, ver­nünf­ti­gen, hu­ma­ni­tä­ren Krieg. Aber Ul­rich zeig­te ihm, daß es kei­ne sau­be­ren Krie­ge gibt, daß Tö­ten nie­mals mensch­lich ist und daß man sich nicht her­aus­hal­ten kann, daß die gan­ze Iro­nie nichts bringt und nichts ver­hin­dert, daß man sich eben des­halb her­aus­hal­ten muß, und zwar voll­stän­dig, mit Leib und See­le. Man muß sich, dar­auf läuft der Ro­man hin­aus, von den Ma­gna­ten und Funk­tio­nä­ren und my­sti­schen Schwät­zern à la Mein­gast ab­wen­den und dem Frie­den zu­wen­den, dem fried­lich ge­steu­er­ten, spie­le­ri­schen und kon­trol­lier­ten Auf­bau. Die­sem Vor­ha­ben bot Mu­sil bis zu­letzt sei­nen aukt­oria­len Wi­der­stand, so daß die Nie­der­schrift, al­so der Krieg, der Li­te­ra­tur­krieg na­mens Mann oh­ne Ei­gen­schaf­ten, end­los wei­ter­ging. Statt daß Ul­rich in Aga­thes Ar­me sank. Oder um­ge­kehrt. Ich dir und du mir. Hap­py End!

Stil­le. Schwei­gen. Ein Trop­fen fiel von der Decke ins fast lee­re Glas, das der Po­li­zist zu­rück­ge­las­sen hat­te.

»Mu­sil war doch ein zwang­haf­ter Cha­rak­ter.« Wer hat­te das ge­sagt? Ein Grot­ten­ge­spenst? Ju­dith hat­te ge­spro­chen, ih­re Stim­me klang manch­mal, wenn sie sich nicht räus­per­te, ziem­lich tief. »Do­de­rer war viel locke­rer«, pflich­te­te ei­ne an­de­re Stim­me bei. »Spon­ta­ner, an­ar­chisch, der brauch­te kei­ne Stra­te­gie.« Der Jüng­ling mel­de­te sich wie­der zu Wort. Ob An­drás das mit der Steue­rung der Ge­sell­schaft ky­ber­ne­tisch mei­ne? Mu­sil qua­si als Ky­ber­ne­ti­ker avant la lett­re?

An­drás setz­te zu ei­ner Ant­wort an, ver­wirr­te sich aber nach und nach. Die Ver­tre­ter der Par­al­lel­ak­ti­on im Ro­man sei­en ei­gent­lich über­haupt nicht im­stan­de, mehr als ein paar Wort­hül­sen zu lie­fern, über re­le­van­te Kon­zep­te ver­füg­ten sie nicht. Aber auch Ul­rich ha­be nicht viel zu bie­ten, sei­ne Rol­le sei die Ob­struk­ti­on. »Sand im Ge­trie­be, das bin ich.« (Man wuß­te nicht, mein­te An­drás den Ro­man­hel­den oder sich selbst.) Die wah­ren Parallel­aktionisten, »wir hier«, hät­ten erst ein Kon­zept zu bil­den, von Grund auf, das sei ih­re Auf­ga­be. Die Ge­sell­schaft spie­le­risch zu ge­stal­ten, al­so sich selbst, das ei­ge­ne Zusammen­sein, Zu­sam­men­le­ben, nicht Ul­rich und Aga­the, son­dern ich und du und du und du – er zeig­te auf je­den ein­zel­nen, ließ aber, ich weiß nicht, ob mit Ab­sicht, Ju­dith aus –, bloß aus Lust und Lau­ne, al­so Lau­ne und Lust zum Prin­zip zu ma­chen un­ter ver­nünf­ti­ger Lei­tung, selbst­re­gu­lie­rend, das sei die kon­kre­te Auf­ga­be von »uns hier«, die Lei­ter (der Lei­ter?) sei nur ein Ab­strak­tum, das sich selbst auf­lö­sen wer­de, »über un­se­ren Köp­fen«. Er zeig­te an die Decke, und wir er­war­te­ten, daß ein Trop­fen fiel. Fiel aber nicht.

Der Jüng­ling hat­te sich in den Kopf ge­setzt, dem An­füh­rer, der An­drás gar nicht sein woll­te, Wi­der­stand zu lei­sten. Sei­ne Ar­gu­men­te wa­ren durch­aus tref­fend, die Unter­stützung Mi­chel­an­ge­los für sei­nen Men­tor so toll­pat­schig wie ge­wöhn­lich, aber An­drás war oh­ne­hin schon wo­an­ders. Daß sich der Frei­heits­wil­le der Sub­jek­te nicht mit sy­ste­ma­ti­scher Pla­nung, die Spiel­freu­de nicht mit dem Ernst von In­sti­tu­tio­nen ver­ein­ba­ren ließ, wie der Jüng­ling be­ton­te, küm­mer­te ihn über­haupt nicht, er war viel­mehr selbst ein le­ben­des Bei­spiel da­für, ver­kör­per­te so­zu­sa­gen die Ar­gu­men­te des Jüng­lings, der sie mit so­viel Ei­fer vor­brach­te, daß er nach ei­ni­ger Zeit stecken blieb wie ein Trak­tor im feucht­schwe­ren Acker. An­drás ki­cher­te, nie­mand wuß­te, wor­über. Wie ein Greis ki­cher­te er in sich hin­ein. Er war, was er sein wür­de, ein Zit­ter­greis, ki­chernd über sich selbst. Zum er­sten Mal fiel mir auf, daß sei­ne Hän­de zit­ter­ten, so­bald er auch nur die klein­ste Prü­fung zu be­stehen hat­te. Die­se kräf­ti­gen Hän­de, an Schiffstau­en und Ten­nis­schlä­gern ge­här­tet, zit­ter­ten ge­ring­fü­gig, fast un­merk­lich, aber sehr schnell, wo­mög­lich in­fol­ge der sen­si­ti­ven Ver­fei­ne­rung, die das Kla­vier­spiel for­dert und schult. Es wa­ren win­zi­ge, zahl- und er­geb­nis­lo­se Er­schüt­te­run­gen, aus de­nen das Da­sein sei­nes Kör­pers und wohl auch sei­nes Gei­stes be­stand.

Schwei­gen und Ki­chern . . . Au­ßer den Par­al­lel­ak­teu­ren wa­ren kei­ne Gä­ste mehr im Fel­sen­kel­ler. Ju­dith er­hob sich, ging hin­ter An­drás’ Rücken um den Tisch her­um, voll­ende­te den Kreis und streif­te mit der Hand flüch­tig mei­ne Schul­ter. Oh­ne zu über­le­gen, be­griff ich die Ge­ste als Zei­chen, als Er­wäh­lungs­ge­ste, und stand auf. Im Vor­bei­ge­hen, oh­ne Sei­ten­blick, nahm Ju­dith den Geld­schein, den ihr An­drás reich­te. Wir gin­gen zum Ta­xi­stand­platz vor der Pfer­de­schwem­me, Hand in Hand, be­däch­tig un­ter dem Abend­stern. (Ein ver­klär­tes Bild, ge­wiß, aber so se­he ich uns.) Der Hund sprang gewohn­heitsgemäß in den Hohl­raum ne­ben dem Ta­xi­len­ker und blick­te kurz auf, als sich sei­ne Her­rin zu mir in den Fond setz­te. Der Geld­schein reich­te ge­ra­de für die Fahrt bis zu ih­rer Woh­nung am Stadt­rand, in Ai­gen oder in Lie­fe­ring. Un­se­re Hän­de la­gen auf dem Rück­sitz in­ein­an­der, und ich emp­fand et­was wie Glück, viel­leicht das er­ste Mal in mei­nem noch kur­zen Er­wach­se­nen­le­ben. Glück, weil das Au­ßer­ge­wöhn­li­che selbst­ver­ständ­lich war. Oder das Selbst­ver­ständ­li­che au­ßer­ge­wöhn­lich. Weil Voll­mond war und die Ster­ne fun­kel­ten.


© Leo­pold Fe­der­mair

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