Tatsächlich war es vielleicht noch zu keiner Zeit weniger schwierig als heute zu Wirkung und Geltung zu gelangen; und gerade weil es so leicht ist zu »wirken«, scheint es unmöglich zu wirken.
Von jeder Plakatsäule droht ein neuer, besonderer Weltumsturz, schreien Enthüllungen, locken frisch entdeckte Dimensionen. Die Folge ist, daß sich niemand mehr darüber aufregt; außer den Leuten natürlich, die von ihrer Aufregung leben.
Wir sind überfüttert mit Gedanken.*
Ist das die Klage eines gut bezahlten Redakteurs eines (sogenannten) Qualitätsmediums, der seine Meinungsführerschaft durch neue, obskure Kräfte unterminiert sieht? Oder einfach nur eine Feststellung eines desillusionierten Bloggers, der das souveräne Ignorieren durch die etablierten Medien sträflich unterschätzt hatte und trotz aller Anstrengungen seine regelmäßigen Besucher problemlos in einem Mittelklassewagen unterbringen könnte? Und mittendrin der seufzende Leser, Zuschauer, Zuhörer: Wir hingegen stöhnen unter der Last von [...] Meinungen, von denen jede einzelne nicht Unrecht hat und die doch weder einzeln, noch mitsammen das Gefühl der Wahrheit geben. Es scheint, wir sind mitten im aktuellen Überforderungs-Klagediskurs à la »Payback«.
»Musikanten der Weltweisheit«
Mitnichten. Denn die obigen Zitate sind nicht neu; im Gegenteil. Sie stammen aus dem ersten Kapitel (mit dem wunderbaren Titel »Die Musikanten der Weltweisheit«) des Buches »Verkappte Religionen« des deutschen Schriftstellers und Publizisten Carl Christian Bry (1892–1926) aus dem Jahr 1925.
Die Thesen des Buches wirken auch heute noch verblüffend frisch (wobei die tatsächliche Intention des Autors, die Decouvrierung sich religiös-dogmatisch gebender Weltanschauungen, an dieser Stelle nicht weiterverfolgt werden soll [obwohl dies sehr verlockend wäre; man lese beispielsweise die Bemerkungen zur Anthroposophie]). Hier ist von besonderem Interesse, wie sich Bry mit den damals aufkommenden massenmedialen Phänomenen und er ambivalenten Rezeption darauf auseinandersetzte.
Deutschland in den 1920er Jahren: Verlage, die das immer stärker aufkommende Bildungsbürgertum preiswert und trotzdem qualitativ gut mit zeitgenössischer wie klassischer Literatur versorgten, schossen nicht zuletzt aufgrund technischer Innovationen wie Pilze aus dem Boden; die Konkurrenz für die Platzhirsche S. Fischer oder Kurt Wolff nahm immer mehr zu. Parallel gab es die Sorge, ob dem normalen Bürger zeitgenössische Literatur überhaupt »zuzumuten« sei und welche Auswirkungen dies haben könnte – ein Reflex einer paternalistisch-elitären Oberschicht, die damit indirekt durchaus diffuse Ängste hinsichtlich des Verlusts ihrer gesellschaftlichen Privilegien zum Ausdruck brachte.
Brys Sicht ist zunächst ebenfalls skeptisch. Er beginnt mit der Frage Kann ein Buch noch wirken? Ziemlich deutlich wird da die Gefühlslage der damaligen Zeit aus Sicht der Autoren geschildert:
Wirken hat mit dem Erfolg umgekehrt zu tun, als man gemeinhin annimmt. In der guten alten Zeit [...] beklagte sich der Bücherschreiber grämlich über die Tücke der Verleger, die ihn ablehnten, über die Grausamkeit der Rezensenten, die ihn heruntermachten, über die Böswilligkeit von Kritikern, die ihn totschwiegen und über die Blödigkeit des Publikums, das ihn nicht las. Er glaubte sich durch rohe, körperliche, kapitalistische Gewalten vom Wirken abgeschnitten.
Sein Kollege von heute ist viel unglücklicher daran. Er glaubt und klagt, daß seine Verleger nicht genug für ihn tun, daß seine Kritiker und Rezensenten seine Bedeutung nicht genug unterstreichen, daß sein Publikum ihn nicht genug liest. Das heißt: er spürt in seinem und trotz seinem Erfolg, daß er nicht wirkt und nichts ändert.
Die Massenproduktion (von Büchern und Zeitschriften) trägt zwar zur Vielfalt bei – aber der potentielle Interessent hat begrenzte Ressourcen. Er muss auswählen. Brys Sicht schwenkt schnell ins aufklärerisch-optimistische um: Die Wahrheit vorstürmen zu lassen, die Richtigkeiten aus dem Felde zu schlagen, kurz, der Situation durch einen entscheidenden Sieg ein Ende zu machen ist unmöglich. Und, so resigniert es klingt: das ist eine der Tatsachen, die unserer Zeit Ehre machen..
Der heutige Medienkonsument steckt in noch weit größeren Problemen: neben Büchern, Zeitungen, Zeitschriften und (dem Mitte der 20er Jahre rapide aufkommenden) Radio buhlen noch zusätzlich Fernsehen, Blogs, Onlinemagazine, Smart-Phones, Twitter und eine ungemein vielfältige Freizeitindustrie um seine Aufmerksamkeit.
Damals Bücher – heute Online
Mit Mühe vermag man vielleicht noch wenige, ausgewählte Themen multiperspektivisch wahrzunehmen. Für das Vielfältige, das Umfassende bleibt (scheinbar) immer weniger Zeit. Es entsteht ein diffuses Unbehagen; durchaus ein Gefühl der Überforderung. Der Medienkonsument sieht sich gezwungen, Themen und Standpunkte dazu wenigstens teilweise an ausgewählte Instanzen zu delegieren. So entstehen Weltbilder, die vereinfachend sind aber eine gewisse Behaglichkeit bieten. Gelegentlich verliert man dabei jedoch die Verwaltung seiner ausgelagerten Anschauungen aus dem Blick. Das sind die Vorboten der Resignation, die irgendwann entweder in Zynismus oder – fast noch schlimmer – in Gleichgültigkeit umzuschlagen droht.
Man ertappt sich unweigerlich dabei, wie man Brys Worte zur Wirkungsmacht bzw. ‑losigkeit von Büchern auf die heutige Rezeption von ambitionierten Onlinemedien und Blogs anwendet (zumindest wenn man den deutschsprachigen Virtualiaraum rekapituliert). »Online« wird das Schmuddelimage nicht los; fast im Gegenteil. Selbst tumbe Boulevardzeitungen scheinen alleine aufgrund ihrer Auflage längst salonfähig. »Das Internet« als Publikationsraum ist seit einigen Jahren zum Schimpfwort geworden, als würde dort ausschließlich eine publizistische Unterschicht mit Hang zum Pädophilensex ihren Kolportageschrott veröffentlichen. Es kommt beinahe einem Geständnis gleich, wenn man sagt, für ein Online-Magazin zu schreiben; ist ja »nur« Internet. Ein bekannter deutscher (Fernseh-)Journalist entblödete sich nicht, die Vokabel »Müllhalde« für »das Internet« zu verwenden.
Dabei sind die formalen Begründungen, die für diese Paria-Stellung ins Feld geführt werden, eher lächerlich. Da wird beispielsweise die Anonymität der Autoren negativ bewertet – als wären Pseudonyme eine neue Erfindung. Oder es wird pauschal eine mangelnde Professionalität von Bloggern unterstellt (»Blogger« wird dabei meist mit einem gewissen Hautgout ausgesprochen). Dabei ist es fast tägliche Praxis, wenn etliche Online-Ableger auch bekannter Zeitungen und Zeitschriften ihre Sorgfaltspflichten kaum noch wahrnehmen, stattdessen Praktikanten mit dem Abschreiben bzw. Variieren von Agenturmeldungen beschäftigen und dies dann als »Onlinejournalismus« ausgeben. Ein gerüttelt Maß Anteil für die Ernüchterung in Bezug auf Online-Publikationen tragen die etablierten Medien selber.
Wie verzweifelt muten da die gelegentlichen Versuche an, mit Formalqualifikationen und/oder vermeintlicher Prominenz der Akteure Glaubwürdigkeit zu simulieren. Als würde der Meisterbrief des Handwerkers automatisch Garant für die Qualität der Arbeit seines Lehrlings sein oder die politische Meinung eines Starfriseurs alleine dadurch wichtiger und kompetenter.
Ja, natürlich gibt es schreckliche Webseiten, Onlinemagazine und Blogs. Oder einfach nur banale. Aber es gibt auch schreckliche und banale Bücher, Filme, Fernsehsendungen, Theaterstücke, Zeitschriften und Zeitungen ohne dass deshalb das Medium kollektiv verworfen wird. Warum wird also die Polyphonie wenn nicht als Gewinn so doch mindestens als Inspiration empfunden? Hat es tatsächlich mit der Angst vor dem Verlust einer Diskurs- oder Deutungshoheit zu tun? Oder ist das auch wieder so eine größenwahnsinnige Behauptung der Online-Adepten?
Jemand wie Bry empfand pluralistische Durchdringungen, diese differenten Richtigkeiten, die in seiner Zeit möglich wurden, als fruchtbar: Wir alle sehnen uns nach dem Gesetz, dem absoluten – und bleiben doch Relativisten, die das Eine ohne das Andere nicht denken und fühlen können, die von jedem Gedanken auch in sein Gegenteil geworfen werden. Dieser »Relativismus« gilt heute als Schwäche. Das Abwägen, früher als Dialektik bekannt (und gefürchtet), erscheint als eine weitgehend veraltete Technik. Wer seine Meinung nicht unerschütterlich, offensiv und möglichst laut vertritt, droht nicht wahrgenommen zu werden.
Provokationen um jeden Preis
Das gilt längst für große Teile der gängigen Medien, die mit ständig neuen Superlativen Bedeutung nicht aufzeigen sondern künstlich erzeugen wollen (die sogenannten Hypes). Es gilt aber eben auch für die neuen Meinungsinseln, die Blogs (die hier repräsentativ für jegliche Form von Onlinepublikation stehen). Mit der Zeit kristallisieren diese sich meist zu Refugien von Gleichgesinnten. Die vielleicht zu Unrecht diffamierte Stammtischkultur hat ihren virtuellen Bruder hervorgebracht. Eine Diskussion, die durch Leserkommentare befördert werden soll, findet höchstens in Nuancen statt, da meist Einigkeit herrscht (sieht man von den sogenannten »Trollen« einmal ab). Hierin liegt eine wichtige Differenz, insbesondere zu den überregionalen Tages- und Wochenzeitungen in Deutschland. Dort werden fast immer durchaus kontroverse Sichtweisen offeriert. Die Diskussion findet in Form von Pro- und Contra-Beiträgen statt; oft genug auf einer Seite nebeneinander oder zumindest in rascher zeitlicher Abfolge.
Blogs dagegen sind zumeist Sprachrohre meinungsstarker Individualisten. Sie müssen, um überhaupt wahrgenommen zu werden, laut, zuspitzend und provokativ sein. Mindestens glauben deren Betreiber das und setzen auf Aufmerksamkeit um jeden Preis wie weiland Orpheus die Sirenen durch sein eigenes Leierspiel übertönte. Dabei entwickeln sich viele mit der Zeit zu seltsam-kauzigen Weltkommentierern, die nur noch Meinungen nach ihren eigenen Maßstäben zulassen, überall Skandale und Manipulationen wittern, diese »aufbereiten« und mit mehr oder weniger wuchtiger Sprachgewalt den potentieller Leser zur Affirmation vergewaltigen. Widerstand zwecklos.
David Gelernter – um einen heutigen Protagonisten zu zitieren – sprach in einem Beitrag in der F.A.Z. vom Internet als einer »Maschine zur Verstärkung unserer Vorurteile«. Oft genug, so Gelernter, entscheiden wir uns »für genau das, was uns zusagt, und ignorieren alles andere. Das Netz gewährt uns die Befriedigung, nur Meinungen zur Kenntnis zu nehmen, mit denen wir bereits konform gehen, nur Fakten (oder angebliche Fakten), die wir schon kennen.«
Dem amerikanischen Psychiater Abraham Maslow wird das Bonmot zugeschrieben, dass jemand, der einen Hammer in der Hand hat irgendwann überall nur noch Nägel sieht. Carl Christian Bry prägte für dieses Phänomen den Begriff des Hinterweltlers (ein Wortspiel mit dem gebräuchlicheren »Hinterwäldler«; einem Lehnwort zum »backwoodsman«)**:
…[D]er Hinterweltler sieht die ganze Welt neu. Aber ihm dienen alle Dinge nur zur Bestätigung seiner Monomanie. […] Dem Hinterweltler schrumpft die Welt ein. Er findet in allem und jedem Ding nur noch die Bestätigung seiner eigenen Meinung. Das Ding selbst ergreift ihn nicht mehr. Er kann nicht mehr ergriffen werden; soweit ihn die Dinge noch angehen, ist es als Schlüssel der Hinterwelt.
Der Begriff des Hinterweltlers soll hier sowohl für den frustrierten Publizisten stehen, der seine selektive Wahrnehmung verabsolutiert als auch für den ähnlich komplexitätsreduzierenden Medienkonsumenten. Im Hinterweltlertum west der Wunsch, der komplizierten Welt zu entrinnen. Hinterweltler gibt es natürlich auch in den gängigen Mainstreammedien in nicht geringer Anzahl. Aber gerade deshalb ist eine differenziertere Auseinandersetzung mit ihnen, ihren Thesen und Methoden notwendig. Die Hinterweltler bekämpft man nicht mit einem »Gegen-Hinterweltlertum«, welches marktschreierisch daherkommt, sich fakten- und argumentationsresistent geriert und in überschäumender, affektierter Polemik agitiert. Dieses Verhalten gibt dem in die Bredouille gekommenen Mainstream die bequeme Möglichkeit, seine schrecklichste Waffe zu ziehen: das mit honoriger Ignoranz versehene Nichtbeachten (ähnlich Odysseus, der sich vor dem Sirenengesang durch Festbinden und geschmolzenem Wachs in den Ohren schützte; so konnte er immerhin den Gesang vernehmen, war aber unfähig, seinen Verlockungen zu erliegen).
Denn von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen werden nur die bloggenden Journalisten, die ihre Blogs häufig nur als eine Art Nebenprodukt führen, in der Zitierwelt als vollwertige Diskussionspartner toleriert. Wundert das? Wie kann man dauerhaft einen seriösen politischen Diskurs aufnehmen, in dem beispielweise Begriffe wie »Islamisierung Europas«, aber auch »Zensursula« oder »Stasi 2.0« nicht nur als alkoholgetränkte, griffige Partyformulierungen verwendet werden, sondern als seriöse Diskursbeiträge verstanden werden wollen? Oder in Diskussionen um öffentlich-rechtliche Medien: Da fallen schnell Begriffe wie »Systemmedien«, »Staatsfernsehen« oder »GEZ-Abzocker«. Und wie oft wird kategorisch so etwas wie »geistiges Eigentum« als überkommener Besitzanspruch regressiver Dummköpfe betrachtet? Diese rhetorischen Ausfälle verschaffen zwar Beifall in den eigenen Reihen. Aber statt eine Diskussion produktiv zu schärfen und eine neue Form von Debattenkultur zu entwickeln werden Themen allzu oft in einer Entrüstungssoße ertränkt (gelegentlich garniert mit kruder Verschwörungsrhetorik), die jede noch so gute, edle Zutat geschmacklich verdrängt und den Diskutanten nicht mehr satisfaktionsfähig erscheinen lässt.
Vom Elend des rhetorischen Wettrüstens
All das erinnert nicht nur an die Feindbilder der Studentenrevolution Ende der 60er Jahre, die ihre durchaus legitimen Anliegen mit pauschalisierter Radikalität versahen, sondern auch an die Auseinandersetzungen Mitte der 80er Jahre, als die deutsche konservative Regierung, deren Mangel an Intellektualität nur noch von den oppositionellen Kräften unterboten wurde, mit einem justiziablen Innenminister die Volkszählung im Jahr 1987 umsetzen wollte. Auch hier gab es Protestbewegungen, die schnell über die rein argumentative Ebene hinausgingen und Orwells »1984« kurz zur Modelektüre werden ließ (die Kinder dieser »Generation Orwell« legen heute begierig ihre Nutzerprofile bei Facebook oder MySpace an). Korrekturen und Veränderungen am damaligen Volkszählungsgesetz wurden übrigens durch institutionelle Kläger beim Bundesverfassungsgericht durchgesetzt – weniger durch Orwell-Paniker, bekenntnislaute Volkszählungsverweigerer und Graffiti-Sprayer.
Womit wir wieder beim Anfang wären: Wirkungsmacht erzielt man dauerhaft nicht durch haltlose Spekulationen, Skandalisierungen, Hysterisierungen oder anarchisch-pseudoradikale Verlautbarungen, die von wohlstandsgeformten Möchtegernrevoluzzern verfasst werden. Sie liefern höchstens eine gutgesetzte Pointe und verschaffen kurzfristige Erleichterung. Auf Dauer stumpfen diese Posen nur ab und erzeugen eher das Gegenteil dessen, was sie eigentlich intendierten. Dabei zeigen sie entweder ziemlich wenig Vertrauen in die eigene Argumentation oder mangelnde Fähigkeiten zur Disputation.
Schlimm genug, wenn sich inzwischen selbst seriöse Medien diesem Irrweg des rhetorischen Wettrüstens glauben hingeben zu müssen. Was zählt ist Genauigkeit und Präzision des Arguments. Natürlich durchaus pointiert vorgebracht. Aber nicht arrogant. Vielleicht müssten sich einige Blogs auch mindestens zeitweise zu einem Politik- und Kulturraum zusammenschließen, ihre Kräfte bündeln und damit der einzelkämpferhaften Atomisierung entgegenwirken. Das Schielen hin zur massenmedialen Verbreitung, zum Akzeptieren im Konzert der Großen, in dem man deren Fehler einfach potenziert – das sollte man nicht versuchen. Blogs werden, selbst wenn sie gut gemacht sind, immer nur Nischen bedienen. Diese Nischen schöpfen sie derzeit allerdings bei weitem nicht aus. Sie sollten sich aber weder dem Boulevard andienen noch einem Hinterweltlertum zuneigen. Dafür braucht man sie definitiv nicht.
Im übrigen muss man ja nicht soweit gehen wie Bry, der am Ende fast euphorisch vom Mut, einander Feind zu sein spricht, denn dann mögen wir uns noch als Feinde lieben, weil jeder dem anderen zu hellerer Klarheit, zu stärkerer Kraft hilft. Dieses Zutrauen in den Diskurs mutet heute allzu rührend an. Leider.
* Textstellen in kursiv sind Zitate aus Carl Christian Brys »Verkappte Religionen«, zitiert nach dieser Webseite. Der Ordnung halber wurde um Zitatgenehmigung gefragt, obwohl diese nicht zwingend erforderlich ist. Leider gab es vom in der Rechtsbelehrung genannten Kontakt trotz mehrmaliger Mail-Anfrage keine Reaktion.
** Im weiteren Verlauf seiner Ausführungen verwendet Bry beispielhaft den »Hinterweltler« in Bezug auf den Antisemiten. Dies ist in diesem Zusammenhang hier keinesfalls intendiert. Hinterweltler wird von mir jemand bezeichnet, der gemäß der zitierten Definition in seiner selbstgeschaffenen Ideologie gefangen und daher rationalen Argumenten nicht mehr zugängig ist.
Überforderung: Das Problem ist ja, dass der Input zu groß ist, um bewältigt zu werden, d.h. man muss ihn beschränken, selektieren. Und irgendwie steht dann doch die Frage im Raum: Warum nicht ignorant sein, und sich dafür auf weniges konzentrieren, dem man sich dann ganz anders widmen kann?
Dass das Web mehr dazu verlockt als herkömmliche Medien, sich nur mit dem zu beschäftigen was man hören will, sehe ich eigentlich nicht (bzw. wenn, dann nur in der Möglichkeit, dass der Nutzer besser entscheiden kann, was er konsumiert, aber das heißt eigentlich noch nichts).
Dem Gedanken Kräfte zu bündeln, kann ich einiges abgewinnen. Vielleicht sollte man das einmal versuchen. Die Frage wäre nur mit welcher Ausrichtung? »Journalistisch«? Feuilletonistisch? Oder viel vager? Und was dem entgegensteht, ist, dass Blogs eine persönliche Komponente besitzen, die diese Gemeinschaftsprojekte nicht haben können oder dürfen. Gerade diese spürbare persönliche Komponente macht viele Blogs wiederum sehr reizvoll.
»Warum nicht ignorant sein, und sich dafür auf weniges konzentrieren, dem man sich dann ganz anders widmen kann?«
Das kommt mit dem Alter ganz alleine; da weiß man endlich was man wirklich will — und liest, hört und genießt nur noch das; mit wenigen »Ausfällen«, die aber meist nur bestätigen: es lohnt kaum.
Jedenfalls ging/geht mir das so.
Ich bin gern ignorant, ja, gebe sogar manchmal damit an: ich hab’ nicht mal’n »Handy«.
Und »moderne Kunst«? gar »Free Jazz«? schon wieder mal kleinschreibung in modernen gedichten? – da hab ich mich in den sechziger Jahren für begeistert; heut’ wird’s lächelnd und wissend ignoriert.
Nur macht man es sich dann u.U. zu einfach, oder fällt auf sich selbst herein. Wahrscheinlich eine Gratwanderung.
Ignorant kann man in Wahrnehmungen bestimmter Themenbereiche ja durchaus sein. Wenn ich aber über ein Thema einen Aufsatz schreibe, rächt sich diese Ignoranz. Viele Journalisten (und auch Blogger – hierum ging es mir) schreiben über Themen, obwohl sie bereits eine vorgeafsste Meinung haben. Es wird eine Schein-Dialektik suggeriert. So ist es bspw. leicht die »Hartz-IV«-Problematik anhand von Fallbeispielen dahingehend darzustellen, dass die Beträge, die gezahlt werden, unzulänglich ist. Dann suche ich mir einfach Leute, die mit dem Geld nicht auskommen. Umgekehrt sucht der Schreiber, der das System für ausreichend hält, primär Leute auf, die keine Probleme haben.
Ich habe u.U. eine (irgendwie latente) Meinung zu Themen zu denen ich mich äußere, richte mich aber nach Argumenten, weshalb sich meine Ansichten während des Schreibens schon ändern können. Ich versuche mir mehr eine Offenheit zu erhalten, als völlig neutral an ein Thema heranzugehen (das geht ohnehin kaum).
Eine parallele Diskussion ist die nach der Missratenheit der Jugend. Darüber wird nicht bloß seit Jahrhunderten, sondern sogar seit Jahrtausenden gejammert, jeweils von den bereits Erwachsenen über ihre Kinder.
Was die Onlinemedien wohl nicht geändert haben, ist die Tatsache der Rezeption von Texten. es sieht sogar so aus, als ob mehr als früher gelesen wird. Allerdings anders, weil das Medium selbst anders ist und sich der gefühlte Zeittakt des Lebens beschleunigt hat. Ich glaube, ich habe das in einem Artikel über John F. Kennedy gelesen: Der Durchschnittsamerikaner liest heute pro Tag doppelt so viele Wörter wie vor 50 Jahren.
Ich habe den Zauberberg von Mann nach etwa einem Drittel beiseite gelegt. Die sprachliche Qualität empfand ich als sehr gut, aber die Behäbigkeit, mit der sich Handlung entwickelt, habe ich einfach nicht mehr ertragen. Und dabei lese ich schnell und viel. Ich glaube, man muss einfach akzeptieren, dass eine andere Zeit auch andere Kommunikationsformen entwickelt und alte Dinge entsorgen muss, damit Platz für Neues frei wird.
Insofern muss man »bloß« für sich bestimmen, was man für wichtig hält und was man fürderhin ignorieren will.
Der »Zauberberg« ist meiner Ansicht nach ein Buch, dass nur während einer chronischen Krankheit, die einen zur weitgehenden Untätigkeit zwingt, mit Genuss gelesen werden kann. (Es sei denn, diese Krankheit ist ausgerechnet TBC.)
Ein guter Text – der mich ziemlich heftig trifft
Ich bin, im bescheidenen Rahmen, Blogger. Das heißt, ich bin im Große und Ganzen damit zufrieden, dass ich immerhin mehr Stammleser habe, als in einem Mittelklassewagen Platz fünden – ich bräuchte dafür schon einen Bus. Dieses dann doch überschaubare Publikum erlaubt es mir andererseits, in meinem »Senfblog« auch spontan, nachts um halb zwei, leicht angetrunken und schwer frustriert, meine Ansichten zum Besten zu geben, ohne das aus einer Unausgegorenheit ein Skandal würde. Ich kann mich sogar »ungestraft« zwischen die Stühle setzen: etwa indem ich einerseits den Begriff des »geistigen Eigentums« als unsinnig ablehne, anderseits nichts von mutwilligen Urheberrechtsverletzungen halte.
Normalerweise ist mein Blog eher harmlos, und nicht immer ist es Sprachrohr meines meinungsstarken Individualismus. Dennoch gibt es in meinen Blog – und im überwiegend von mir bestückten »Gjallarhorn« – einige Spekulationen, Skandalisierungen oder provokativ nonkonformistische, meinethalben anarchischen, Aussagen.
Deshalb weckt dieser Artikel, wenn ich darüber nachdenke, ziemlich massive Selbstzweifel.
Polemische Begriffe wie »Zensursula« oder »Stasi 2.0« verwende ich ja auch – meistens, wie ich einräumen muss, sogar unreflektiert, ohne die mögliche Wirkung auf einen Diskussionspartner mit anderen Ansichten auch nur zu erwägen.
Auch den Vorwurf, ein Hinterweltler zu sein, muss ich mir gefallen lassen. Was etwas Anderes ist, als dass ich diesen Vorwurf für zutreffend halten würde. »Gefallen lassen« heißt in diesem Zusammenhang: ich kann es niemandem übel nehmen, wenn sie oder er mich für einen Hinterweltler hält. Etwa für einen Antifa-Hinterweltler, dem es nur noch darauf ankäme, bei Gesinnungsgenossen zu punkten, aber nicht darum, die Demokratie zu stärken.
Was mir fehlt – und was wahrscheinlich vielen Bloggern fehlt – das ist die Bereitschaft, politische und gesellschaftliche Diskurse zielorientiert zu führen. Die Fragen: »Was will ich erreichen?« und »Wen will ich erreichen?« werden vernachlässigt oder gar nicht erst gestellt. Ich kann niemanden überzeugen, oder auch nur erwarten, ernst genommen zu werden, wenn ich ihn beleidige.
Ein anderer heikler Punkt ist der »Konsenzkorridor«. Wenn ich mich demonstrativ außerhalb dieses Korridors bewege, dann darf ich mich nicht wundern, dass ich nicht etwa nur als »Enfant terrible«, sondern, wenn überhaupt, nur als Lachnummer wahrgenommen werde.
Das Thema »Neuheidentum«, das in meinem Blog nicht eben unwichtig ist, liegt, da ich als bekennender Neuheide schreibe, definitiv außerhalb des »religiösen« bzw. »spirituellen« Konsenzkorridors. Ich darf mich daher weder wundern noch ärgern, wenn mich jemand für einen Spinner, oder sogar für wahnsinnig im psychiatrischen Sinne hält – oder, was auch schon vorgekommen ist, für einen Rechtsextremisten, der sich in demokratischer Mimikry übt – denn: es gibt, aus ihren Wissen und ihrer Erfahrung heraus, keinen »vernünftigen« Grund dafür, Neuheide zu sein, außer dem, damit deutschvölkische Germanenspinnereien zu kaschieren.
Wenn ich das nicht berücksichtige, dann schade ich meiner Sache mehr, als wenn ich meine Ansichten für mich behalten würde.
Ich bin ja keinen Deut besser – und würde mich in einigen Punkten durchaus auch als »Hinterweltler« bezeichnen. Wichtig ist zunächst einmal, dass man sich dessen bewusst ist. Ich habe auch nichts gegen Provokationen in Blogs – und das dort mal richtig aufgemischt wird. Alles d’accord.
Die Gratwanderung, die Blogs schaffen müssen, um eine gewisse Akzeptanz zu erreichen, ist schwierig. Sind sie zu »brav«, werden sie tatsächlich nicht wahrgenommen. Dann schreibt man besser einen Leserbrief an eine Redaktion. Also wählt man das Mittel des Superlativs, des Alarmismus. Unbewusst ahmt man damit inzwischen längst das Boulevard-Verhalten der Mainstream-Medien nach. Und begibt sich damit m. E. prompt in die Falle.
Aufruf zum Mittelmaß
Wer hat denn noch mal festgelegt, dass ein Kompromiss das Ziel ist? Kann es vielleicht sein das viele der von Dir Gerügten gar nicht »seriös« wirken wollen?
Ich bin froh, dass es solche noch gibt, die nicht versuchen verständnisvoll die Gegenseite zu integrieren. Wenn Du etwas gegen eine Wortwahl wie Zensursula hast oder ein Problem mit der generellen Fragwürdigkeit von geistigem Eigentum, dann möchte ich gar nicht mir Dir ein einen »Diskurs« treten.
Denn Deine Ansichten sind damit für mich offensichtlich soweit von einer möglichen tolerablen Übereinkunft entfernt, dass sich die Mühe nicht mehr lohnt. Ein Mensch der etwas (zum vermeintlich Besseren) bewegen möchte kann sich für solch Harmoniesüchtige, zu denen Du wie Du den Anschein erweckst gehörst, (leider) dieser Tage keine Zeit mehr (oder noch nicht) nehmen.
Wenn gegen VDS nicht mehr mit Terrorangst argumentiert wird, wenn eine Mixtape auf dem Schulhof nicht mehr »gewerbsmäßiger Umfang« ist, wenn ELENA wieder neben StreetView genannt wird, dann nimmt sich auch sicher jemand die Zeit für das von Dir geforderte oder gewünschte Entgegenkommen...aber bis dahin...:)
Wer Argumentation mit »Mittelmaß« übersetzt, hat wenig verstanden und tritt offensichtlich für das Recht des Stärkeren ein. Man übersieht dabei leicht, wer der Stärkere ist.
»Möglichst tolerable Übereinkunft«
Wenn man das behauptet, sollte man es gut begründen. Ansonsten bleibt die Behauptung eine rhetorische Hülse, die sich die Mühe etwas verstehen zu wollen, erspart. Diskursverweigerung ist in einer Demokratie m.E. eines der letzten Mittel.
Der verräterische Duktus zeigt sich ja schon hier: Wenn Du etwas gegen eine Wortwahl wie Zensursula hast oder ein Problem mit der generellen Fragwürdigkeit von geistigem Eigentum, dann möchte ich gar nicht mir Dir ein einen »Diskurs« treten. Ein selten offenes Bekenntnis zur Intoleranz. Man kennt sowas ja durchaus.
Durchhalteruf zur Polemik?
Nach der Verlinkung im Bildblog (die mich sehr überrascht hat) hätte es solche Kommentare doch hageln sollen. Schade.
– Wenn ich den Schreiber richtig interpretiere so sieht er solche Begriffe als Teil einer notwendigen scharfen Polemik gegen die Missstände (erst wenn die nicht mehr bestünden könnte man sich wieder sachlich und [begriffs-]neutraler damit auseinandersetzen?!).
Leider muss ich Herrn Keuschnig beipflichten, dass allein die Minderwertigkeit dieser Begriffe (dann begleitet mit dem üblichen Verfolgungs-/ Überwachungswahn) schon benutzt werden können, um der Auseinandersetzung in der Sache zu entfliehen. – Dann kann man das ganze aussitzen bis den Polemikern die Luft ausgeht.
Es ist schade, Teo, dass Ihr rhetorisches Manöver der Diskussionsverweigerung hier aufgegriffen auch zu selbiger führt. Vielleicht antworten Sie ja trotzdem noch einmal.
@Phorkyas
Dass es aus dem »Bildblog« heraus keinen Kommentar gegeben hat, kann viele Gründe haben: (1) Der Text taugt nichts. (2) Er ist zu kompliziert und/oder zu lang. (3) Das Thema wird nicht gesehen. (4) Man hat keine Lust, darüber zu reden.
Die Blogosphäre beschäftigt sich lieber mit einem Phänomen, dass ein sehr bekannter Blog seinen Feed auf Teaser umgestellt hat, um die Leser auf seine Seite zu »locken« (finde ich legitim) und die Aufruhr in den glaube ich über 300 Kommentaren geht dahin, dass man mehrheitlich nicht auf die Seite des Bloggers möchte, weil da doch böse, böse Werbung ist. Dieser eigentlich lächerliche Vorgang und das noch lächerlichere Verhalten der Kommentaren zeigt, wo die Prioritäten liegen...