Norbert Lammert scheint Standpauken zu lieben. Als sich der neue Bundestag konstituierte, beschimpfte er die öffentlich-rechtlichen Medien, diese Veranstaltung in den Spartenkanälen zu verstecken. Da hatte er nicht ganz unrecht, auch wenn diese Schelte ein bisschen Ablenkungsmanöver war – sitzen noch in den Gremien der öffentlich-rechtlichen Anstalten genug Politiker.
Jetzt hat sich Norbert Lammert wieder zu Wort gemeldet. Er tadelt das Auftreten der Regierung und insbesondere das sogenannte »Wachstumsbeschleunigungsgesetz«, in dem unter anderem der Umsatzsteuersatz für Hotels gesenkt wurde. Auch hier stimmen ihm sicherlich viele zu.
Aber Lammert heroisiert sich selber. In dem Radiointerview behauptet er, er habe dieser Regelung nicht zugestimmt. Stefan Niggemeier dokumentiert nun, wie die Medien nichts anderes tun, als diese Meldung ungeprüft weiterzuverbreiten.
Die ganze Sache hat nur einen Nachteil: Norbert Lammert lügt. Er hat sehr wohl dem Gesetz zugestimmt. Zwar hat er auch einem Antrag der Grünen zugestimmt, den Passus der niedrigeren Hotelbesteuerung aus dem Gesetzeswerk zu entfernen, aber dies hebt seine Zustimmung zum Gesetz ja keinesfalls auf. Die Regelungen, die in diesem Gesetz getroffen wurden, standen nicht einzeln zur Diskussion. Entweder man stimmt dem Gesetz insgesamt zu – oder man lehnt es ab. Wenn man ihm zustimmt, stimmt man auch allen Regelungen zu.
Wie einfach macht er es sich: Er stimmt einem Gesetz zu, welches er in Teilen für falsch hält – damit unterwirft er sich der sogenannten Fraktionsdisziplin. Danach stimmt er mit der Opposition und dann poltert er Tage später in den Medien los um eben das Gesetz zu kritisieren, dem er selber zugestimmt hat.
Man fragt sich, wozu es ein Parlament gibt, wenn die Debatten, die dort stattzufinden haben, nachträglich in den Medien geführt werden. Nicht nur Lammerts Lüge forciert die Parteienverdrossenheit, sondern insbesondere diese mediale Inszenierung eines erbärmlichen Pseudo-Widerstandes.
Wenn die notwendigen Debatten,
wie Sie vorschlagen, wieder im Bundestag geführt würden, dann hätte der gemeine Bürger vielleicht so viel Interesse an der Arbeit seiner Vertreter, dass ARD und ZDF öfter live aus dem Parlament senden würden.
Schlimmer noch als Lammerts ungelenken Westenwaschversuch finde ich jedoch Folgendes:
Es ist mehr als inkonsequent und unglaubwürdig, den USt-Normalsatz zunächst auf 19 Prozent anzuheben und dann nach und nach für einzelne Branchen Ausnahmetatbestände zu schaffen. (Erst die Skilifte, jetzt die Übernachtungen und was dann?) Zudem darf bezweifelt werden, dass die Hoteliers ihre Bruttopreise wirklich zugunsten der Gäste anpassen. Für den umsatzsteuerpflichtigen Geschäftskunden bedeutet ein niedrigerer MWSt-Satz bei gleichbleibendem Inklusivpreis sogar eine reale Mehrbelastung.
Dem nichtbegünstigten kleinen und mittleren Selbständigen ist die vermeintliche Rechtfertigung solcher Subventionen nicht zu vermitteln, insbesondere dann nicht, wenn diese Staatsinterventionen ausgerechnet von den sog. wettebewerbsorientierten Kräften in der politischen Landschaft kommen.
Der Abgeordnete Lammert befand sich offenbar in einem Dilemma zwischen seinem Gewissen und der Fraktionsdisziplin. Deshalb griff er wohl zu der salomonischen Lösung, dem Antrag der Grünen zuzustimmen, um seine Hände in Unschuld waschen zu können, ohne zugleich einen Affront gegen die eigene Partei wagen zu müssen. Dass er den ramponierten Ruf des Politikerstandes damit nicht verbessert hat, müsste ihm klar sein.
Das Gesetz selber interessiert mich kaum; ich glaube, dass es im wesentlichen Murks und nur bestimmten Klientel-Gruppen von CSU und FDP geschuldet ist. Schlimm genug, dass die Kanzlerin so was mitmacht.
Lammert hätte sich auch enthalten können – DAS wäre m. E. die einzige Möglichkeit gewesen, seinen Unwillen zu dokumentieren. Das erinnert mich fatal an diese »Widerstandskämpfer« die nach 1945 und 1989 überall wie Pilze aus dem Boden schossen, von deren Existenz vorher aber niemand etwas bemerkt hatte.
„Schlimm genug, dass die Kanzlerin sowas mitmacht.“
Gab es bisher irgendeinen Murks, den sie nicht mitgemacht hätte? Widersetzte sie sich, wäre sie ganz schnell eine Ex-Kanzlerin, was ich im Übrigen nur begrüßen würde. Mittlerweile kann ich diese lavierende Wischi-Waschi-Politik ohne, auch nur ansatzweise, erkennbare Führung und Ziele kaum noch ertragen. Lammerts Rumeierei ist bei diesem Regierungsstil doch nur systemimmanent und angesichts der Zumutung einer Regierungsbeteiligung dieser windigen FDP-Figuren geradezu eine heroische Haltung.
Naja, bisher brauchte Merkel nicht zu regieren; in der Großen Koalition war tatsächlich eher das konsensuelle, das Moderieren gefragt. Das hat sie ganz gut hinbekommen, wobei sie sich in einigen Politikfeldern fast chamäleonhaft der SPD angenähert hat und der damit die Schau gestohlen hatte. Das war bis auf die Gesundheits»reform« nicht unbedingt mehr »Murks« als das, was viele andere Regierungen vorher so praktizierten.
Jetzt allerdings zeigt sich, dass die Verhältnisse andere sind. Und zwar auch andere als zu Kohls Zeiten. 1994 betrug das Verhältnis CDU/CSU zur FDP noch 41:7, also grob gerechnet 6:1. 2009 beträgt es 35:15, also nur etwas mehr als 2:1.
Nimmt man das Verhältnis zwischen CDU und CSU aus 2009, so hat die CSU rund 20% zum Ergebnis der Unionsparteien beigesteuert (27,3 : 6,5). 1994 war das weniger: 34,2 : 7,3 (= ca. 18%). Obwohl die CSU also ein schlechteres Ergebnis hat, ist ihre Macht innerhalb der Union prozentual stärker geworden.
Beides hat Konsequenzen: Konnte in der Koalition mit der SPD der Minimalkonsens bereits als Erfolg verkauft werden, so ist bei Schwarz-Gelb der »Koalitionsdruck« verblüffenderweise stärker. Du magst ja Spreng nicht, aber es rächt sich, was der konstatierte: Die CDU ist nicht nur ohne Programm in den Wahlkampf gegangen – sie hat auch schlichtweg keine Ideen. (Wie heißt noch mal der neue CDU-Generalsekretär?) Das führt dazu, dass FDP und CSU ihre Klientelpolitik (= Murks) weiterführen werden. Wie so oft stinkt aber der Fisch vom Kopf her.