Wenn sich schon sonst nichts tut, erfindet das Feuilleton seinen Skandal eben selber. Der neue »Skandal« hat einen Namen: Per Johannson. Die Kritik steckte das Buch anfangs in die Schublade »Schweden-Krimi«. Aber Johannson soll gar nicht so heißen. Er ist ein anderer, wie inzwischen detektivisch herausgearbeitet wurde (wobei man davon ausgehen darf, dass diese Indiskretionen gezielt gesetzt wurden; wenn man will, kann man jahrzehntelang ein Pseudonym geheimhalten). Derjenige, der in diesem Krimi, der erst nächste Woche erscheint, einen Journalisten ermorden lässt, der einem Herausgeber einer großen deutschen Zeitung verdächtig ähnlich sieht, soll Thomas Steinfeld heißen. Also »der« Thomas Steinfeld der Süddeutschen Zeitung. Noch ist nicht klar, ob es nun eine Empörungswelle wie weiland bei Walsers »Tod eines Kritikers« gibt (wobei die meisten Empörten das Buch nicht zu Ende gelesen hatten, ansonsten hätten sie bemerkt, dass der Kritiker bei Walser gar nicht tot ist und gegen Ende wieder auftaucht), in der im übrigen pikanterweise Steinfeld damals Walser gegen die bigotten wie lächerlichen Vorwürfe in Schutz genommen hatte.
Elmar Krekeler nutzt in der »Welt« die Causa Johannson zu einer Art Generalabrechnung. Immer mehr Verlage, so Krekeler, würden Autoren »erfinden«, was à la longue »ihre Glaubwürdigkeit aufs Spiel« setzen würde. Im weiteren Verlauf seines Artikels zählt Krekeler einige Fälle von aktuellen Schriftstellern auf, die mehr oder weniger öffentlich unter einem Pseudonym schreiben bzw. in scheinbar seichteren literarischen Gewässern auf anderen Namen ausweichen.
So richtig vermag Krekeler dabei nicht zu erklären, warum dies eigentlich ein »fadenscheiniges Versteckspiel« und so schlimm sein soll. Zumal die Fälle, die er aufzählt, längst bekannt sind und das eigentliche Ziel des Pseudonyms, die Anonymisierung des Autors, gar nicht mehr im Vordergrund steht. Krekeler vergisst außerdem, dass es immer Pseudonyme gegeben hat, die Schriftsteller parallel zu ihrem »realen« Namen verwendet haben. Man muss dabei gar nicht an diejenigen denken, die sich durch Publikationsverbote in Diktaturen gezwungen sahen, mit anderen Namen zu veröffentlichen. Die Liste der Pseudonyme ist lang und es liegt nicht immer nur daran, dass die »bürgerlichen Namen« so wenig griffig erscheinen. Viele Literaturwissenschaftler dröseln beispielsweise die Gründe Kurt Tucholskys auf, warum er mal diese und mal jenes Pseudonym gewählt hat.
Krekelers Philippika gegen den unbekannten Autor hat andere Gründe. Einer davon ist der systemimmanente Zwang nach der Biographie des Autors/der Autorin. Literatur wird längst nur zu selten nur nach dem reinen Buchtext beurteilt. Die Kritik will mehr, sie will eine »Geschichte« zum Autor, eine irgendwie in Kontext zum Geschriebenen setzbare Biographie. Ein unbekannter Autor, mit nur wenigen oder ganz fehlenden biografischen Angaben? Das verunsichert wohl zu sehr. Im Zweifel werden solche Bücher erst gar nicht in das Repertoire der Saisonlektüre aufgenommen. Und so will man wissen, wo jemand geboren ist (vielleicht eine Home-Story?), wo er mit wem seit wann lebt, was er studiert oder nicht studiert hat, welche Hobbys er pflegt und so weiter. In Wirklichkeit ist Krekeler (aber nicht nur er) längst schon an die hübschen Werbewelt der Verlage und deren Waschzettel gewöhnt. Danach fällt die (fast notgedrungen) rasche Einordnung der Lektüre leichter.
Es ist schon einige Jahre her, als eine Jurorin beim Bachmannpreis bei einer Diskussion über einen Beitrag bekannte, dass sie gewisse Probleme habe, den Text eines Autors zu beurteilen, über den sie ansonsten nichts weiß (er hatte sich des lächerlichen Rituals eines Vorstellungsfilmes verweigert). Ich glaube, dass dieser kleine Hilferuf der Jurorin (die ich ansonsten sehr schätze) ein deutlicher Hinweis ist. Literaturkritik bedient sich im Hamsterrad des Feuilletons allzu gerne und allzu oft nicht primär literarischer Fakten. Dazu passt dann auch diese Bemerkung von Bazon Brock. Daher sind unbekannte oder auch einfach »versteckte« Autoren so unbeliebt (eine Ausnahme gibt es: Thomas Pynchon, dessen Versteckspiel flugs zum Mythos erklärt wurde).
Was, wenn man sich zu weit hervorwagt und sich nachher die Annahmen als falsch herausstellen? Weil man keinen Autor interviewen kann? Weil es kein Gesicht gibt? Als reiche die Literatur, der Text nicht. Es geht in Wirklichkeit nicht um Glaubwürdigkeit. (Keine einzige Zeile von Tucholsky in der »Weltbühne« ist unglaubwürdig, weil er sie unter »Paul Panther« oder »Theobald Tiger« geschrieben hat.) Es geht um die Angst vor dem Stachel der Ungewissheit. Man wünscht »klare Verhältnissen« – eigentlich das Gegenteil dessen, was Literatur ausmacht. Die Frage dahinter: Was kann man von einer Kritik erwarten, die solche Maßstäbe anlegt?
So ist es. Passend dazu ein paar 7 Jahre alte, nach wie vor brandaktuelle Zeilen von Tanja Dückers: http://www.tanjadueckers.de/ist-das-autobiographisch/
Das ist aber wirklich ein sehr schöner Essay; ich möchte am liebsten abschnittweise daraus zitieren. Und alles so wahr.
Schlimm ist dabei nicht unbedingt die Frage des Publikums nach dem autobiographischen Anteil. Schlimm finde ich, dass die seriöse (seriöse?) Kritik mittlerweile ebenfalls auf diese »Authentizität« so »abfährt« und dies fast zum Alleinstellungsmerkmal macht.
Ich halte es eher mit Tanja Dückers und finde die Frage des Publikums nach dem autobiografischen Anteil schlimm.
Im Übrigen geben wir ohnehin in unseren Texten alles über uns preis, wie wir die Welt sehen, wie wir sie fantasieren, unsere Sehnsüchte und Verzweiflungen, wo wir stehen, wer wir sind. Brenda Ueland hat es die »dritte Dimension« eines Texts genannt, nämlich das Ego der Autorin, bzw. des Autors, das in jeder Zeile sichtbar werde. Und ich rufe den Leserinnen und Lesern und besonders den professionellen Kritikerinnen und Kritikern zu: »Lest die Texte, dort findet ihr mehr als an den Schlüssellöchern unserer Wohn- und Schlafzimmer!«
Auch als Leser verspüre ich schon sehr oft die Sehnsucht nach dem reinen Text, muss jedoch dorthin schon etwaige Schlangenlinien laufen: Vorbei an fiesen Einspielfilmen, in denen Autoren sich produzieren oder produziert werden müssen, oder an diesen – der Gedanke verursacht mir schon Übelkeit: Klappentexten.
Aber: es gibt ihn doch nicht, den aseptischen, von allen Befleckungen der Welt und des Persönlichen gereinigten Text(?). Wenn das Werk lebendige Gestalt sei, organisch, wie sollte man dann fordern können, dass es frei sei von fremden Zellkulturen, Bakterien, Mikroorganismen, parasitären Ideen, die auch auf dort, in jedem Satz, Gedanken nisten?
@Phorkyas
Nein, es gibt natürlich den »jungfräuliche« Text nicht. Aber es sollte ihn wenigstens einmal für eine kurze Zeit geben. Natürlich muss man irgendwann in die Tiefe gehen – und dazu gehört auch der Autor. Aber es darf nicht zuerst alles andere verdrängen und dominieren.
Ich plädiere (und das nur halb unernst): Leseexemplare ohne Autorenangabe! Bis zur ersten Rezeptionsphase!
Hm, eine Erwartungshaltung oder ein Interesse von Seiten vieler Leser muss schon vorhanden sein, ansonsten wäre das Phänomen nur von »den« Kritikern verursacht, was ich mir nicht vorstellen kann. Die einfachste Erklärung liegt vielleicht in der Wirkung der Texte selbst: Ist es möglich, dass der Autor das alles bloß erfunden hat? Was hat er erlebt? Und was nicht? Usw., usf.
Dem oben geäußerten Unmut der Autoren wollte ich nur hinzufügen, dass ich mich als Leser mich manches Mal ebenso bedrängt fühle von Dingen, die doch im Boulevard weit besser aufgehoben wären.
Ihren Vorschlag finde ich begrüßenswert. Das wäre dann wie beim Wein die Blindverkostung.
@metepsilonema
Zwei Faktoren spielen eine Rolle: Zum einen schreibt ein angesehener Feuilletonist einen Krimi unter Pseudonym. Und zum anderen wird der Schluss nahegelegt, dass eine Figur, die im Krimi ermordet wird, ein anderer Feuilletonist ist. Die Sache wird nur durch beide Faktoren interessant. Gäbe es wirklich einen Schweden, der P. J. hieße und dieses Buch geschrieben hätte, wäre dies nicht annähernd auf ein solches Interesse gestossen. Und hätte Thomas Steinfeld unter seinem Klarnamen einen Krimi geschrieben, wären in den Redaktionen nicht nur die Bleistifte gespitzt worden.
Interessant ist die Frage, ob die Pseudonym-Sache aufgrund einer gezielten und gewollten Indiskretion herauskommt. Ich glaube nämlich, dass ein Krimi eines bislang unbekannten Autors normalerweise kaum ein Interesse auf das Feuilleton zieht. Hier kommt dann die Handlung wieder ins Spiel. Dennoch scheint mir der »wahre« Autor zu schnell gefunden. Ich denke an Leute wie B. Traven, die jahrzehntelang unerkannt blieben, obwohl sie sehr populäre Bücher geschrieben hatten.
Zum anderen berührt ein solches Buch ein heikles Thema: Inwieweit darf einer Person, die aus der Beschreibung im Buch deutlich zu identifizieren ist, sozusagen der Tod herbeigeschrieben werden? Daher sofort die Parallele zu Walsers »Tod eines Kritikers«.
Das Interesse des Publikums liegt vor allem in der Selbstzerfleischung von Intellektuellen,. Auch wenn es viele nervt – neugierig sind sie doch alle. Wenn Denkmäler vor aller Augen zu zerbröseln scheinen, will jeder einen Platz in der vorderen Reihe.
@Phorkyas
Ja, so ab und an wäre eine Blindverkostung in der Literatur vielleicht reinigend. Würde ein Handke, ein Grass, eine Mayröcker, eine Jelinek heute angenommen werden? Das Problem bei diesen Schriftstellern ist, dass man die »blinden Texte« als epigonal bezeichnen würde.
@Gregor
Ich glaube trotzdem, dass die autobiographische Frage vieler Leser, auch als Lob gelesen werden sollte — und, natürlich, als Missverständnis. Gibt sich der verlinkte Essay, der die autobiographisch orientierte Kritik interessanter Weise ausspart, am Ende nicht selbst die Antwort: Ich bleibe dabei: Eine Frage wie “Wie Sie die Demenz der alten Frau aus Sicht einer Enkelin beschrieben haben, das ist wunderbar, ganz realistisch, haben Sie das selbst erlebt?” ist eigentlich eine viel größere Frechheit als “Sind Sie verheiratet?” Erstens, besitzt kein Autor eine Deutungshoheit über sein Werk, was ein Leser als realistisch empfindet oder nicht, muss man diesem überlassen, und zweitens scheint mir das eine naive Frage zu sein, hinter der allerdings ein Lektüre- oder Lesungseindruck steckt. Ich kann mir schon vorstellen, dass diese Fragen nerven, aber seine Leser kann man sich nicht aussuchen, was auch gut so ist. Ergo: Die professionellen Kritiker verdienen hier weit mehr Schelte als die Leser (mich erinnert das sehr an eine Diskussion bei ANH).
[Am Rande: Ich halte es für einen schwerwiegenden Irrtum zu glauben, dass die Pop Art bloß eine Feier des Banalen darstellt, das Gegenteil ist (häufig) der Fall, wie auch der Hyperrealismus nicht bloß als Wiederaufleben des Realismus’ abgetan werden kann.]
Bilden nicht diese Fragen nach den autobiographischen Bezügen die Sehnsucht des Lesers ab, Literatur »fassen« zu wollen, sie »greifbar« zu machen? Die meisten Leser scheuen ästhetische Diskussionen (sie ist ihnen zumeist in Schulen oder gar Universitäten ausgetrieben worden) und haben keinen anderen Bezugspunkt, als nach biographischen Bezügen zu fragen. Daher sind diese Dichterlesungsdiskussionen und auch Interviews in den Medien so oft so langweilig. Kritiker haben allerdings zumeist auch das Problem, dass die Rezipienten das Buch nicht gelesen haben. Man kann also keine Diskussion beginnen, die sich mit dem Inhalt oder der Ästhetik des Romans befasst. Der Zuhörer verstünde einfach nur »Bahnhof«, fühlte sich ausgeschlossen und schaltet ab. Daher müssen Hilfslinien eingezeichnet werden, die gleichzeitig das Interesse befeuern sollen. Das geht am einfachsten mit dem Rekurs auf das autobiographische.
Ich erinnere mich an einen Beitrag, als nach der Aufführung seines Stückes »Das Spiel vom Fragen« Handke sich dem Publikum stellte. Die erste Frage lautete sinngemäß, was er mit dem Stück habe sagen wollen. Zum einen handelt es sich dabei um eine typische Feuilleton-Frage. Und zum anderen ist es ungemein dämlich, denn alle hatten die dreistündige Aufführung gesehen. Soll jetzt der Autor die Interpretation seines Werkes auch noch geben? Handke reagierte entsprechend unwirsch, beschimpfte die Leute als »Ihr Wichte«, schlug auf das Mikrophon ein. Der Regisseur, Claus Peymann, vermittelte und glättete ein bisschen; später beruhigte sich das Szenario dann wieder.
Ich vertrete ja sogar die Meinung, dass Befragungen von Autoren/Autorinnen über ihr gerade erschienenes Buch einen Informationswert nahe Null haben. Zumal die Fragen nicht in die Tiefe gehen, nicht in die Tiefe gehen können, sondern zumeist nur Statements oder Bekenntnisse abverlangen, die am besten noch griffig und zitierbar sind.
Sehr schöner Kommentar zu der Causa Steinfeld/Schirrmacher. Genau was Sie bemängeln, dass manche im Falle des Romans »Tod eines Kritikers« überlesen oder vergessen haben, das M.R‑R. gar nicht ermordet wurde, ist jetzt Iris Radisch in ihrem Beitrag zu dem Fall »Schirrmacher« unterlaufen. Sie schreibt nämlich in der aktuellen Zeit: »Damals, als Martin Walser unter dem Schutz der Fiktion eine Marcel Reich-Ranicki ähnliche Figur ermorden ließ...«.
Was waren das noch für Zeiten, als Fritz J. Raddatz bei der »Zeit« als Feuilleton-Chef gechasst wurde, weil er Goethe und den Frankfurter Bahnhof zeitlich gleich gesetzt hatte. Vermutlich kommt in diesem Fall noch nicht einmal eine Richtigstellung.
@Norbert
Danke für den Hinweis. Ich hab’s mal eingestellt. Aber Feuilletonisten sind oft wie Enten: an ihnen perlt das Wasser einfach ab.
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Die Leser suchen Informationen und Bilder zum Autor, einzig um mit ihnen das Fundament seines Denkmals zu errichten. Man will ja nicht nur Schmökerer von »Schwedenkrimis« sein, sondern profunder Kenner des Oeuvres von XY – schließlich taugt dies mehr zum Namedropping als alles andere.
@Gregor
Ich würde folgendes für grundsätzlich ansehen: Einerseits gilt für den Leser, dass er die Texte eines Autor zu nehmen hat wie sie sind oder sich ihnen verweigern, sie also nicht lesen, kann. Dagegen ist nichts einzuwenden. Aber warum sollte das nicht umgekehrt gelten? Kann ein Autor mit seinen Lesern nicht, dann muss er sich nicht mit ihnen beschäftigen und sich mit ihren Fragen auseinandersetzen (oder eine Lesung ohne Fragemöglichkeit abhalten). Eine Art »Wunschleser« gibt es nicht und sollte es auch nicht, sehr wohl aber, und das wäre doch ein lohnenswertes Unterfangen, sich das einmal anzusehen, verschiedene Typen — für Kritiker gilt, natürlich, anderes.
Ich ärgere mich manchmal auch über »dumme« Kommentare, finde es aber – so sehr ich alle Einwände nachvollziehen kann –, ein wenig seltsam und auch wieder: ärgerlich, einerseits auf sein Werk zu pochen, nach dem Motto »friss oder stirb«, das vice versa, sozusagen, aber nicht gelten lassen zu wollen.
Ich finde es ersteinmal komplett unnötig zu wissen, wie der Autor eines guten Buches aussieht oder wie er wirklich heißt. Letztendlich finde ich es am wichtigsten, ob das Werk, das er geschaffen hat gut ist und mich anspricht. Darüber hinaus, ist mir der Rest wirklich egal. Es geht beim Lesen ja darum sich in eine andere Welt zu verirren und den Alltag hinter sich zu lassen, von daher sollte für den Autor ein wenig Anonymität doch auch zulässig sein, oder etwa nicht?
Viele wunderbare Literatur wäre der Öffentlichkeit nie zugänglich geworden, gäbe es nicht die Möglichkeit, unter Pseudonymen zu schreiben, oder ‘gar wie Pessoa: Unter Heteronymen.