Tilo Jung ist das, was man einen Senkrechtstarter nennen könnte. 2014 bekam er für sein Videoformat »Jung und Naiv« den Grimme Online Award. Und er gilt als eines der wichtigen Gesichter der Online-Plattform »Krautreporter«, also jenen Journalistinnen und Journalisten, die den Onlinejournalismus retten wollten.
Im Vergleich zum Angebot habe ich nur einen Bruchteil von »Jung und Naiv« gesehen. Die Kaiser-ist-nackt-Masche Jungs fand ich irgendwann verbraucht. Als Hamas-Sprecher dann ohne große Zwischenfragen ihre antiisraelische Propaganda absondern durften, wartete ich noch auf ein Neonazi-Interview, aber das blieb dann aus.
Jung hatte gestern vier Bilder ins Netz gestellt, auf denen eine Frau im Bikini am Strand mit einem Fuß in den Rücken getreten wird. Auf dem letzten Bild liegt sie bäuchlings auf dem Boden. Die Fotos haben Verstörung ausgelöst; im Laufe des Tages wurde eine Art Shitstorm daraus. Nicht wenige fordern, Jung aus der »Krautreporter«-Redaktion zu entfernen. Und wieder andere warnen genau davor.
Jungs kleine Fotoserie war womöglich als ironischer Kommentar zum gestern begangenen »Weltfrauentag« gedacht. Sein Pech ist, dass er »nur« Journalist ist und nicht beispielsweise Künstler. Ein Künstler hätte diese Fotografien sofort interpretiert – und die Journaille wäre ihm womöglich gerne gefolgt; im besten Fall wäre es »kontrovers« gewesen.
Für mich, der sich mit Jungs Journalismus nur am Rande beschäftigt, war es neu, dass er so etwas wie Ironie oder gar Sarkasmus überhaupt kennt. Sein Anspruch, den er wie ein Mantra über nahezu jedem längeren Text setzt, lautet schließlich »Jung und Naiv«. Dabei gibt es mindestens zwei Möglichkeiten der Interpretation von Naivität: Zum einen eine »richtige« Naivität, eine Art Mischung aus Unwissen und Neugier. Man könnte es »Kinderfragen« nennen, wobei dies nicht pejorativ gemeint sein soll: Fragen von Kindern sind unverstellt und direkt. Sie sind an einer Antwort interessiert, nicht an der Inszenierung der Frage. Sie haben demzufolge auch nicht die fertige Antwort im Gepäck, sind also nicht suggestiv. Jung wurde lange mit dieser Form der »Sendung-mit-der-Maus«-Fragerei identifiziert.
Zum anderen gibt es die gespielte, aufgesetzte Naivität, die dem Interviewten entweder eine Bühne bietet oder bereit sein kann, Fallen zu stellen. Sie rückt den Frager in den Vordergrund. Im Laufe der Zeit wird diese Form des Fragens immer schwieriger werden, denn Interviewte und auch das Publikum werden dem Journalisten seine schweijkhaft vorgebrachte Naivität irgendwann nicht mehr glauben. Inwiefern sich dieses Modell bei Jung inzwischen in eine narzisstische Selbstdarstellung verwandelt hat, müssen andere beantworten. Tatsache ist: Es gibt kaum noch eine journalistische Fernsehdokumentation im Fernsehen, in der nicht der Journalist nahezu immer im Bild ist: beim Autofahren, hinter dem Computer, im Gespräch, bei einer Frage und/oder der Antwort, usw. Der Journalist ist zur Marke geworden; ein Kämpfer, eine Kämpferin für das Gute und Richtige. Die Vierte Gewalt inszeniert sich.
Die Gefahr besteht, dass das Leben des Journalisten außerhalb der Redaktion und jenseits seines Schaffens irgendwann selber zum Gegenstand journalistischer Betrachtung wird. Jemand der ständig moralische Reden hält, wird selber moralisch bewertet werden. Es reicht schon ein Verdacht, um die Person und damit das Werk zu diskreditieren. Leben und Werk sind längst eins. Der Weggang zweiter Journalisten von der FAS zum Spiegel und die Berichterstattung hierüber zeigt, dass diese Form der Personalisierung innerhalb des Journalistenstandes längst eingesetzt hat.
Noch schwieriger wird die Sache mit einem Projekt wie »Krautreporter«, in dem den zahlenden Abonnenten sogar eine Art Mitspracherecht zugestanden wird. Ich halte dieses Verfahren für problematisch. Der Leser kommt nicht nur auf die Idee Wünsche hinsichtlich der Themen zu äußern, sondern glaubt womöglich auch Einfluss auf den Tenor der Texte selber nehmen zu können. Um es drastisch auszudrücken: Man kauft sich für 5 Euro im Monat den Gesinnungsjournalismus, der mit der eigenen Weltanschauung übereinstimmt. Indirekt wird dann verständlich, dass man sich in der Redaktion letzte Woche von zwei Projekten getrennt hat. Hier gilt das, was man im Fernsehen »Quotendruck« augenscheinlich noch stärker: Was nicht gefällt, fliegt. Wie sieht denn am Ende ein Journalismus aus, der als Wunschkonzert daher zu kommen hat?
Und, das ist die zweite Frage, wie sieht ein Journalismus aus, in dem ein geradezu aseptisches Verhalten des Reporters als Grundvoraussetzung abgefordert wird? Zumal im Meutenverhalten der Online-Communities die Unschuldsvermutung nur für den zu gelten scheint, dessen Gesinnung man selber teilt (nicht unähnlich hierin den sogenannten Stammtischen). Vor diesem Hintergrund ist der stillose Tweet aus der Redaktion zu sehen, in dem man sich wohlfeil distanziert und bekräftigt, dass Krautreporter »nicht für Sexismus und das Kokettieren mit Gewalt gegen Frauen« stehe. Die Frage wäre: Steht Tilo Jung für Sexismus und dem Kokettieren mit Gewalt gegen Frauen? Hat ihn jemand mal dazu gehört?
Unabhängig wie die Sache ausgeht: Tilo Jung ist von nun an nicht mehr »jung und naiv«. Aber das muss kein Nachteil sein.
Einspruch:
Die gepostete Bilderserie hat nichts mit Humor zu tun, auch nicht mit Comedy, Ironie oder Sarkasmus. Einen Menschen per Fußtritt, dazu noch hinterrücks, zu Fall zu bringen, ist nicht komisch. In keinem Zusammenhang. Egal ob Mann oder Frau zu Fall kommt. Es ist damit unerheblich, ob Tilo Jung als Journalist oder als Künstler/ Komiker oder sonst was postet.
Es wäre etwas anderes gewesen, hätte er (oder ein Künstler oder Komiker) zum Weltfrauentag ein Foto oder Video gepostet, das ein noch immer bestehendes (wahres oder unwahres) Vorurteil behandelt. Schlecht einparken können etwa, oder gut kochen oder etwas mit Hausarbeit vielleicht. Oder wie es die heute Show tat mit »Kein Penis, kein Geld« zur Ungleichheit der Bezahlung von Männern und Frauen.
Das kann mitunter auch unpassend sein, aber es ist immer noch ein Zusammenhang erkennbar, bei dem man sich sagen kann: »Ja, leider ist was Wahres dran.«
Hier: kein Zusammenhang
Aber das hier, ein Fußtritt hinterrücks, das ist schlicht gehässig und sagt etwas über die Einstellung des Posters gegenüber Frauen – und wahrscheinlich gegenüber Menschen im allgemeinen – aus.
Das ist nicht witzig, das ist schockierend.
Sie sehen das, was Sie sehen wollen. Es handelt sich nicht um ein Video, sondern um vier Fotos. Theoretisch könnten sie auch gestellt sein. Die Geschmacksfrage stellt sich dann zwar immer noch, aber im Empörungsgeheule möchte ich nicht so ganz mitwimmern.
»Die gepostete Bilderserie hat nichts mit Humor zu tun, auch nicht mit Comedy, Ironie oder Sarkasmus.«
Die Bilderserie ist doch offensichtlich gestellt. Es gibt ja viele Versionen dieses Bildes. Sagt es dann auch was über die Frau aus, die das mit sich machen lässt? Hat sie eventuell auch einen seltsamen Humor? Wurde sie von ihrem Freund dazu gezwungen?
Man muss das nicht lustig finden (tu ich auch nicht), aber man kann. Man kann es auch unpassend finden, das zum »Weltfrauenkampftag« zu posten.
Aber muss man daraus dann gleich so eine riesige Story machen?
Ich glaube auch, dass die Serie gestellt ist. Wahrscheinlich ist das Paar befreundet. Und in einem Zusammenhang, vielleicht an die Freunde geschickt, ist sie lustig – für das Paar und die Freunde. »Gemeinsamer erster Urlaub« oder so.
Aus dem Zusammenhang herausgenommen jedoch ergibt sich ein ganz anderes Bild, das die Frage aufwirft: Was soll das? Hast Du Spaß daran, andere hinterrücks zu Fall zu bringen?
Humor sagt viel über denjenigen aus, der ihn lustig findet.
Hier noch ein anderes Beispiel, was Tilo Jung so lustig findet:
https://t.co/urgStVVmzF
Abschließend: Klar ist die Aufregung übertrieben. Dazu ist Tilo Jung einfach nicht groß genug. Trotzdem lohnt es sich, darüber nachzudenken, ob man ihn weiterhin unterstützen oder beachten möchte.
Nachtrag:
Na bitte, die Serie ist laut TAZ-Kommentarist eine Parodie auf die Serie »Man follows woman around the earth« von vor einer Weile.
http://www.taz.de/Tilo-Jung-zum-Frauentag/!156087/
In diesem Zusammenhang ist sie lustig.
In diesem Zusammenhang ist sie lustig.
Das ist nun mal wieder etwas, was ich nicht verstehe. Aber das liegt an mir.
Die Aussage: »Es ist prinzipiell nicht lustig, wenn jemand getreten wird oder auf die Schnauze fliegt«, ist natürlich ganz großer Käse.
Schonmal »Tom & Jerry« gesehen? Oder »Dick & Doof«, »Bugs Bunny«, die Marx Brothers oder « Die nackte Kanone«? Da widerfährt den Opfern ständig jede Menge Gewalt, es wird geprügelt, getreten, Leute fallen von Leitern, aus Fenstern oder es fallen ihnen schwere Dinge auf den Kopf. Trotzdem ist das nicht verstörend oder schockierend, sondern oft brüllend komisch.
Warum? Der Kontext ist entscheidend, die Haltung, die Perspektive.
Ob die bei Jungs kleiner Fotobombe gestimmt hat? Meiner Ansicht nach eindeutig nicht. Es wirkte nicht lustig, es wirkte hämisch und gemein. Aber solche Pauschalaussagen wie »Gewalt ist nie lustig« sind einfach ganz großer Quatsch.
Zur Personalisierung fiel mir gestern dies auf: http://bit.ly/198gEGS
Was die Naivität angeht, so hat man die ja schon nicht mehr, wenn man sie sich selbst zuschreibt, jedenfalls nicht in der Bedeutung von »unschuldig«, »unvorbelastet«.
So wird auch die Attitüde der Naivität im TV nur gespielt, oft auch als ironische Naivität, was ja geradezu ein Widerspruch in sich selbst ist und auf gut Deutsch auch einfach »Verarschung« genannt werden kann.
In seinen besten Momenten ist Jung gelungen, wirklich wie unvorbelastet mit Autoritäten zu sprechen. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit dem Regierungssprecher Seibert, den er duzte und so tatsächlich »naiv« befragte. Aber wie lange kann man naiv bleiben, wann kippt das in die Attitüde? Naiv kann man nicht ewig bleiben, das ist auch »technisch« gar nicht möglich. Und Jungs Kritiker spüren das schon, z.B. neulich Falk Steiner. Gerade in der Pressekonferenz hat sich Jung so diametral aufspannt zwischen »kritisch« und »naiv«, dass man ihm die Navität jetzt schon zum Vorwurf machen muss. Und so gibt es für verunglückte Naivität auch keinen Bonus mehr, den Youtuber ja sonst reichlich genießen ...
Die wunderschöne, echte naive, »unschuldige« Neugier, die geht baden. Hoffentlich nicht in der Literatur, wo sie sozusagen zum Mineralboden gehört.