Es ist wohl so etwas wie ein Sinnbild: Wenn man nach vielen Jahren noch weiß, wann und wo man die Bücher eines bestimmten Autors, einer bestimmten Autorin gelesen hat. Und wie es einem danach ging. Dabei kommt es nicht unbedingt darauf an, wieviel man aus dem Buch tatsächlich »behalten« hat. Sondern nur, wie man sich dieses Buch erlesen hat. Und mit welchen Bildern man herumläuft, wenn man den Titel oder den Autor hört oder liest.
Ich weiß heute noch, wie ich Hermann Lenz’ Eugen Rapp-Romane gelesen habe. Ich sehe mich mit dem eher modrig duftende Exemplar von »Neue Zeit« aus der Stadtbibliothek auf dem Bauch lesend. Und staunend. Später dann das fast protokollhafte, für Lenz’ Verhältnisse zornige »Seltsamer Abschied«, in dem sein Alter ego Eugen Rapp durch seiner Schwester übel mitgespielt wird, die ihn nach dem Tod der Eltern aus dem Haus treibt, in der Rapp mit seiner Frau gelebt hatte. Rapp, der mit Hermann Lenz einerseits identisch, andererseits aber auch eine Kunstfigur ist, trauert ob dieser Vertreibung vom heimeligen Stuttgart ins hektische München (seine Frau hat dort ein Haus und sie ziehen dort ein) in der ihm eigenen Mischung aus Melancholie, Gleichmut und Ergebenheit. Irgendwann habe ich mir die Bücher dann gekauft. So etwas wollte ich besitzen.
Ich verhehle nicht, dass ich manchmal mit Rapps passiven Ertragen des Schicksals, das er dann in Worte sanft, aber durchaus ausführlich fasste, haderte. Immer nimmt sich Rapp zurück. Dass er einmal von Thomas Mann gelobt wurde? Nein, das soll niemand wissen. Skeptisch stand er der »neuen Zeit« in den 1930er Jahren gegenüber. Früh wurde ihm klar: Sie bedeuten Krieg. Seine größte Sorge war, wie es seiner Frau geht, die als sogenannte Halbjüdin Straßenbahnen schrubben musste. Er selber hatte Angst in Russland von eigenen, übereifrigen Kameraden erschossen zu werden – und tatsächlich ereignete sich ein Vorfall, der dies fast bewirkt hätte. Als die Russen kommen, ballert er in die Luft. Nur nicht auffallen, so lautet seine Devise. Auch später als Schriftsteller und zeitweiliger Verbandsfunktionär oder im Konflikt mit seiner Schwester – Rapp blieb zaudernd und zog sich lieber zurück, statt Konflikte auszutragen. Nicht von ungefähr war der Stoiker Marc Aurel Rapps/Lenz’ Held. Aber es liegt auch ein anarchisches Moment in diesem Mann: Indem er sich aus den Weltläuften absentiert, sein »nebendraußen« pflegt (und zuweilen damit sogar posiert), erwirbt er sich sozusagen die Berechtigung »sein« Leben zu leben – sein Leben als Schriftsteller. Ein Schriftsteller, der sich nicht für einen bestimmten Verleger oder den »Markt« verbiegt, der keine »Netzwerke« pflegt, um irgendwann selber davon zu profitieren (und dabei doch so sehr nach Anerkennung sucht) und die politischen Dinge meist ungleich komplexer wahrnimmt als so manch ein Bekenntnisliterat. Ein Schriftsteller, der, so würde man heute sagen, »sein Ding« durchzieht – und dies mit allen Konsequenzen, auch finanziellen.
Wer wollte damals Lenz’ Zeitreise in das k.u.k.-Wien mit dem »Kutscher und dem Wappenmaler« machen? Wer interessierte sich schon für den scheuen wie sturen Schreiber Eugen Rapp? Hermann Lenz bedingte sich nur eines aus: für die Literatur (und mit seiner Frau) leben zu dürfen. Seine Rapp-Romane sind voller Reflexionen und Selbstzweifel im Detail, aber eindeutig in seinem trotzigen Beharren. Er wusste, dass er dieses freie Leben seiner Frau verdankte, denn die Bücher verkauften sich sehr schlecht. Als dann noch Lenz’ Verlag aufgab, sah er sich vor dem finanziellen und, schlimmer noch, literarischen Ruin: Wer verlegt jetzt noch seine Bücher?
Als Lenz 60 Jahre alt war, wurde er für den »Betrieb« durch den jungen Peter Handke »entdeckt«. Er sorgte dafür, dass Lenz in der Suhrkamp-Gruppe publizieren konnte. Die Ignoranten, die ihn jahrzehntelang mit spitzen Fingern angefasst hatten, belobigten ihn nun. Die Scheinheiligkeit und Verkommenheit des Literaturbetriebs der Nachkriegszeit zeigt sich exemplarisch an seinem Namen. Sein Durchfallen bei der »Gruppe 47« wurde endlich korrigiert. Die Skepsis auch gegenüber dem Lob behielt Lenz sein ganzes Leben.
Ich halte »Jung und Alt«, diese unprätentiöse, menschenfreundliche Lebensgeschichte des Malers Robert Roß, für Hermann Lenz’ bestes Buch. Roß wohnt in seinem geliebten Stuttgart, »alles ziemlich eng, aber die Weite drang trotzdem herein«. Und vor allem sind es die Erinnerungen, die hineindrängen. Niemand hat das Umland Stuttgarts derart wunderbar beschrieben wie Hermann Lenz. Dessen Naturbeschreibungen sind, da hat Peter Handke recht, Naturbeschwörungen, die noch im kleinsten das Große sehen: »Und er gedachte der Wegwarten, die blaue Sternblüten sehen ließen, wenn’s geregnet hatte. Oder wie die Radspuren im Straßenstaub aussahen, wenn Anfang September die ersten Bratbirnen von den Bäumen fielen, die Münchingen zu die Straße zwischen weiten Feldern säumten, bis die Kirchhofsmauer zu sehen war. Der Asperg schaute her, falls er nicht verdeckt wurde.« Wie Eugen Rapp bei der Reflexion über sein Schreiben so stellt sich bei Robert Roß beim Betrachten seiner Bilder zuweilen eine Ahnung über den Sinn von Leben und Werk ein: »Es war etwas dahinter, und das Glitzern deutete auf etwas hin, doch war’s nur ein Gefühl. Aber vermittelte Kunst etwas anderes als Gefühle?«
In seinem letzten Eugen-Rapp-Roman »Freunde« von 1997 zieht der Erzähler in elegischem Ton eine Art Bilanz, schreitet noch einmal sein Leben vor dem geistigen Auge ab: »Und er erinnerte sich an eine Stelle in einem seiner Bücher. Darin hast du beschrieben, wie du mit deinem Vater in der ‘Restauration Zur Kiste’ sitzt, obwohl du niemals mit ihm dort gewesen bist. Und gesprochen über deine Arbeit hast du nie mit ihm. Das ist alles erfunden, und du hast es nur geschrieben, um mit deinem Vater nachträglich ins Reine zu kommen, als konziliante Geste sozusagen. In Wirklichkeit warst du mit ihm im Trüben…Und Eugen schaute weiterhin aufs graue Wasser, kehrte um und ging über die Brücke, dann unter hohen Platanen und Buchen, bis er zum Erfrischungshäuschen kam, wo er hoch oben über einer einzeln dastehenden Pappel eine Fledermaus taumeln sah.«
»Das eigentliche Studium der Menschheit ist der Mensch« schrieb Ottilie in Goethes »Wahlverwandtschaften« in ihr Tagebuch. Dieser Satz durchdringt die Bücher von Hermann Lenz wie ein spezifisch neues, sanftes Gesetz. Immer hat sich er sich mit den Menschen in ihrer Zeit in liebevoller und gleichzeitig kritisch-distanzierter Form beschäftigt. Aber es blieben wenige. Im letzten Satz von »Freunde« artikuliert Eugen Rapp nur einen Wunsch: er möge vor seiner Frau sterben, »dem einzigen Menschen, der zu dir gehört«.
Um nicht an sich und anderen zu verzweifeln, wurde Hermann Lenz zum Stoiker. Und damit fiel er natürlich gänzlich aus der Zeit; und zwar: immer wieder. Dabei ist es schade, dass man diese Formulierung fast immer pejorativ verwendet; viel zu selten als positives Merkmal. Dabei ist das Aus-der-Zeit-Gefallene an Lenz’ Büchern ihr großer Schatz. Man muss sich schon in die Gedankenwelt begeben wollen, die Evokationen wirken lassen, ja: zulassen. Wer rasche und schnell eingängige Lektüre bevorzugt, sollte es lassen. Aber irgendwann wird der Leser reich beschenkt und mag nicht mehr aufhören zu lesen.
Am 26. Februar 2013 wäre der großartige Schriftsteller Hermann Lenz 100 Jahre alt geworden. Was für ein Anlass! Das Angebot steht. In Ihrer Buchhandlung.
Vielen Dank für die Erinnerung an diesen wunderbaren Autor. Ich habe sofort Lust bekommen, wieder »Der Wanderer« oder »Zwei Frauen« aus dem Regal zu nehmen. »Jung und Alt« kenne ich noch nicht – das wird sich ändern. Auch Lenz´phantastische Erzählungen sind sehr eigen und eindrücklich. Ich fühle mich immer in eine schubertartige Nahferne versetzt: »Oben lagen Wolken, als wäre dort ein Spiegelbild des Landes ausgebreitet, und Eugen sah hinunter in ein Tal mit Wäldern, deren Ausläufer Wiesen umgaben.«
Ja, die Erzählungen! Unbedingt! Und »schubertartige Nahferne« ist wirklich sehr schön.
Schön, danke. Ich gestehe nichts von ihm gelesen zu haben (aber Erzählungen klingen sehr verlockend).
Gerade »Der Wanderer« und »Ein Fremdling« für quasi kein Geld antiquarisch erworben. »Neue Zeit« ist eines der besten Bücher, um eine gegründete Ahnung dafür zu bekommen, wie aus verängstigten Bürgern Nazis werden konnten.
Und Schande über den Suhrkamp Verlag, der nicht mal zum 100. Geburtstag die Rapp-Romane komplett liefern kann, ganz zu schweigen davon den Autor durch eine Neuausgabe zu würdigen.
Kleine Korrektur: Suhrkamp hat »Neue Zeit« neu herausgebracht; sogar mit Ausschnitten aus Briefen von Hermann Lenz (bspw. hier und hier).
Die Neue Zeit-Neuausgabe sieht auch wirklich sehr schön aus, aber sonst reißt man sich wirklich kein Bein aus um Lenz. Mein Buchhändler, der auch ein ANtiquariat betreibt, schafft mir gerade antiquarische eine Rapp-Roman-Gesamtausgabe zusammen. Ich hätte mir sowas ja auch bei Suhrkamp als Wiederauflage zum Jubiläumspreis oder so gerne gekauft. Hier in Stuttgart würdigen Literatur- und Schriftstellerhaus sowie einige Buchhandlungen Lenz aber ganz ordentlich. Im Feuilleton der führenden Regionalzeitung gab es sogar eine Doppelseite!
In einer Kritik habe ich irgendwo gelesen, Peter Hamm kürze die Lenz-Briefe reichlich drastisch. Das kann ich nicht beurteilen, fände ich aber schade.
Und ich verstehe Ihren Unmut. Vermutlich hat man sich von kommerziellen Erwägungen leiten lassen: Lenz’ Bücher fallen womöglich zu sehr aus der Zeit – obwohl sie teilweise ja noch gar nicht so alt sind. Auch die Webseite der Hermann-Lenz-Stiftung macht einen eher randständigen Eindruck (was ja noch zum Dichter passen würde). Aber was dieses apodiktische Urheberrechtsbeharren bewirken soll, verstehe ich nicht. Kleingeistig.