Second lives
Im Mann ohne Eigenschaften privilegiert Musil das, was er »Möglichkeitssinn« nennt, gegenüber dem Wirklichkeitssinn. Er tut es häufiger am Beginn des Romans als in späteren Passagen; die Problematik tritt mit dem stagnierenden Fortschritt der Begebenheiten in den Hintergrund. Musil schrieb in einer Zeit, da die Ausrichtung auf die Wirklichkeit und die Bedachtnahme auf die Wirkung des eigenen Handelns noch selbstverständlich, vielleicht allzu selbstverständlich waren. Im dritten Kapitel definiert die Erzählinstanz des Romans die mit Möglichkeiten spielenden (oder arbeitenden) Ideen als »noch nicht geborene Wirklichkeiten«, er geht also davon aus, daß das Mögliche früher oder später verwirklicht werde. Ulrich, die Zentralfigur des Romans, bleibt zwar langfristig bei seiner Neigung, Hypothesen aufzustellen und deren Implikationen zu durchdenken, verliert aber mehr und mehr das von Anfang an kärgliche Interesse, aus dem, was er denkt, auch »etwas zu machen«. Er verläuft sich gewissermaßen in seiner pluralen Welt der Möglichkeiten und verliert die Lust, sich um Verwirklichungen zu bemühen (was als Sekretär der Parallelaktion eigentlich seine Aufgabe wäre).
Ulrich erweist sich tatsächlich als »unpraktischer Mann (…), unzuverlässig und unberechenbar im Verkehr mit den Menschen«. Im digitalen Zeitalter der weltweiten Vernetzung von Welten, die oftmals virtuell sind, ist das unverantwortliche Spiel mit Möglichkeiten gang und gäbe, der Ulrich-Typus kein Außenseiter und kein Kritiker der Gesellschaft, sondern ihr am meisten verbreiteter Repräsentant. In einem seiner seltsam schiefen Vergleiche stellt Musil den typischen Konsumenten, der nach jedem Köder, der ihm geboten wird, schnappt, einem Mann gegenüber, der eine Schnur durchs Wasser zieht, ohne zu wissen, ob ein Köder dran ist: Mal schauen, was dabei herauskommt. Den Fisch, also das Opfer, hat Musil stillschweigend zu einem Fischer, also Täter, gemacht. Sein Fischer hat gewisse Ähnlichkeiten mit dem Internet-Surfer, der über die Datenströme gleitet, auf der Suche nach etwas, das ihn interessieren könnte, letzten Endes aber auf der Suche nach nichts, nach Zufallsfunden, nach Zerstreuung. Auch mein Vergleich ist schief, aber nicht ganz so wie der von Musil. Was ich sagen will: Musils Visionen von den möglichen Welten, die die eine wirkliche Welt tendenziell ersetzen, ist inzwischen Wirklichkeit geworden. Für jemanden, der sich um gesellschaftliche Entwicklungen sorgt, wird es eher darum gehen, den Rückbezug auf die eine, von vielen geteilte Wirklichkeit einzufordern. Musil lief in seiner Begeisterung für die alternative, wirklichkeitsverweigernde Lebensform seines Helden Gefahr, die dialektische Verbindung zwischen den beiden Sphären zu kappen. Dieselbe Abgezogenheit ist heute ein Massenphänomen unter den weltweit verteilten Nutzern der digitalisierten Datensysteme.
© Leopold Federmair
Ich finde den Vergleich zwischen Musils Roman und unseren Tagen interessant, glaube aber nicht, dass das Phänomen neu ist oder mit dem Netz ursächlich zusammenhängt: Darf man im Rahmen einer solchen Überlegung das Fernsehen außen vor lassen? Und was unterscheidet einen Schrebergartenbesitzer, den nur seine Gemüsebeete interessieren von demjenigen, der den Großteil seiner Zeit vor dem Netz verbringt, hinsichtlich der Teilung der Wirklichkeit oder dem Interesse an gesellschaftlicher Veränderung?
Was würde passieren, wenn »das Virtuelle« (das in einem bestimmten Sinn auch real ist) sich zum von vielen geteilten Realen entwickelt?
Neu ist das Phänomen sicher nicht, aber es hat mit der globalen Digitalisierung ein vorher unbekanntes Tempo, eine Multiplizierung und Entgrenzung erfahren, die auch die Qualität (die Eigenschaftlichkeit) des Möglichkeitssinns verändert.
Bei Musil finde ich problematisch, daß er im Möglichkeitssinn schwelgt und den Wirklichkeitssinn außen vorläßt. Dadurch entstehen die Probleme oder, wenn man so will, die Lächerlichkeit der sog. Parallelaktion, die ja generell für politisches Handeln stehen soll. Der Held von Musils Roman macht sich gern darüber lustig, unterliegt aber derselben Problematik. Ich glaube, daß Musil diese Schwierigkeit mehr und mehr zu Bewußtsein kam und daß er sie nicht lösen konnte, er verstrickte sich darin. Das hat natürlich nicht nur »epochale«, sondern persönliche und biographische Gründe. Trotzdem kann man aus seinem Werk Reflexionen über gesellschaftliche Phänomene ziehen, auch in Bezug auf heutige.
Die Qualität ist eine andere, keine Frage, aber sie eröffnet, ganz im Gegenteil zum Fernsehen, Möglichkeiten nicht bloß passiver Teilhabe (auf das Netz bezogen). — Die negativen Folgen werden deutlich sein, wenn die Generationen erwachsen sind, die von Anfang an in der digitalen Welt aufgewachsen sind.
Musil konnte das vielleicht nicht lösen, weil er Künstler war und dadurch der Möglichkeitssinn Vorrang haben musste (oder hatte, im Sinne seiner Begabung).
Sehr interessant, diese Perspektive »second lives«. Nachleben hieß das bei Warburg. (Sorgfältig eingoogeln den Begriff, sonst liest man als erstes »Nachtleben in Warburg«). In W’s Mnemosyne (= auf Tafeln angebrachte, für sich sprechende Reihungen von Bilddokumenten) ging es um den Nachhall u.a. antiker Pathosformen). Was mit Musils Pathetik des bloß Virtuellen geschah: das im Laufe der Kulturgeschichte ja immer wieder zu beobachtende »Herabsinken«, einer Kunstform in eine andere, hatten Sie an dieser Stelle, vor einem Monat etwa, anlässlich von Mahlers Comic-Adaptation des »Manns ohne Eigenschaften« gezeigt (»Leere Spechblasen«).
Nun also als Folgetext, wie ich das lese, eine Parallele zwischen der im Roman dargestellten (und von Musil selbst erlittenen) Verfangenheit mit jener, welche das Allgemeine Netz mit sich bringt. Ja, da ist wohl etwas dran. Wenn früher einmal die Natur hier und da die Kunst nachzuahmen schien, so könnte man (in einem Gedankenspiel) die heute maßlos sich ausbreitende virtuelle Nachnatur als ein ins Reelle hinausexplodierendes Abbild von Musils Voraus-Scheitern sehen.
Scheitern durch — im Roman wie in der Nachwelt —- maßlos herrschende Virtualität.
Verfangenheit, gutes Wort. Verstrickung. Sich ins eigene Werk einspinnen. Kokon. Das sind keine Erfindungen des Digitalzeitalters, Metepsilonema hat schon recht. Musil wollte seinerzeit ja durchaus die Wirklichkeit erobern, sie »geistig organisieren«. Statt dessen hat er sich mehr und mehr in seine Möglichkeitenwelt verstrickt. In einer Schrift von 1933, »Bedenken eines Langsamen«, fragt er, ob die Geistesarbeiter etwa die Wirklichkeit verschlafen hätten. Die Antwort ist ein verräterisch-emphatisches Nein. Das kakanische Lavieren, falls es je »real« war, wird nun plötzlich von einer aggressiven, eiligen Willens- und Tat-Ideologie abgelöst. Musils »Bedenken« sind genauso Fragment geblieben wie der »Mann ohne Eigenschaften«, nichts davon hat er zu Lebzeiten veröffentlicht. Die heutige Wirklichkeit aber, virtuell oder nicht, die hat Musil und seine Phantasien weit überholt. Sein Werk ist heute veraltet, aber gerade diese Alterung öffnet viele Auskünfte über uns selbst. (Andere Autoren sind einfach nur veraltet, man »braucht« sie nicht mehr.)