Der Wald und die Bäu­me (V)

Sape­re au­de!

Auch Kri­ti­ker sind über­zeugt, daß es kein Zu­rück gibt, und wün­schen sich kei­nes. Wer die di­gi­ta­len Ge­brauchs­tech­ni­ken und die alt­her­ge­brach­ten Kul­tur­tech­ni­ken wie Le­sen und Schrei­ben, Er­ken­nen und Ver­ste­hen, Wer­ten und Ur­tei­len, Ar­gu­men­tie­ren und Gelten­lassen be­herrscht und mit­ein­an­der zu ver­bin­den ver­steht, ist im Vor­teil. Nicht unbe­dingt im Wett­be­werbs­vor­teil um das schleu­ni­ge­re Wis­sen und die grö­ße­re Da­ten­men­ge, aber doch im Vor­teil, wenn man sei­ne Tä­tig­keit an jahr­hun­der­te­lang ge­wach­se­nen, oft mo­di­fi­zier­ten, manch­mal er­neu­er­ten und er­wei­ter­ten, durch­aus hier­ar­chi­schen Wer­ten mißt. Die Hoch­ge­schwin­dig­keit, mit der man In­for­ma­tio­nen auf den Bild­schirm be­kommt, läßt sich mit dem Her­stel­len von Zu­sam­men­hän­gen ver­bin­den, so­fern man in der La­ge ist – und da­zu be­darf es eben je­ner tra­di­tio­nel­len Fä­hig­kei­ten –, das Wich­ti­ge vom Un­wichtigen zu tren­nen, die Da­ten in ei­nen Ho­ri­zont zu stel­len und das, was für das ei­ge­ne Ge­dan­ken­ge­fü­ge dien­lich ist, be­wußt aus­zu­wäh­len. Manch­mal wun­de­re ich mich, daß Kol­le­gen an der Uni­ver­si­tät nicht im Hand­um­dre­hen Lun­te rie­chen, wenn ein Stu­dent ir­gend­wo ab­ko­piert hat. Wer ei­ne ge­wis­se An­zahl von Bü­chern wirk­lich ge­le­sen, das heißt, sich Wis­sen an­ge­eig­net hat, der merkt so et­was. Um­ge­kehrt ent­decke und ent­wick­le ich ech­te Zu­sam­men­hän­ge – gei­sti­ge As­so­zia­tio­nen – nur durch den Ge­brauch mei­nes ei­ge­nen Ver­stan­des und Ge­dächt­nis­ses; die Such­ma­schi­nen sind da­für blind. Sie kön­nen mir nur hel­fen, al­les zu ver­voll­stän­di­gen, wenn ich ein­mal auf die Spur ge­kom­men bin. »Sape­re au­de!« rief Im­ma­nu­el Kant einst den Bür­gern zu, von de­nen er sich wünsch­te, daß sie mün­dig wä­ren. Er füg­te die deut­sche Über­set­zung hin­zu, nicht »Wa­ge zu wis­sen«, son­dern »Ha­be Muth, dich dei­nes ei­ge­nen Ver­stan­des zu be­die­nen!« (Die Her­vor­he­bung des Ad­jek­tivs stammt von Kant.) Nicht klicken, son­dern nach­den­ken, das heißt: selbst tä­tig wer­den, nicht bloß kon­su­mie­ren. Un­ter heu­ti­gen Be­din­gun­gen wä­re die Auf­for­de­rung zu er­wei­tern: Ver­zich­te bis­wei­len dar­auf, dich auf ex­ter­ne Da­ten­spei­cher zu ver­las­sen! Für gei­sti­ges Tä­tig­sein braucht man Zeit ab­seits der di­gi­ta­len Hek­tik; man be­nö­tigt je­nes im­mer sel­te­ne­re Gut, das man einst Mu­ße nann­te. Die Mu­ße för­dert Kon­zen­tra­ti­on an­stel­le von Zer­streu­ung. Das In­ter­net mit sei­nem Se­kun­den­zau­ber kann uns hier und da viel­leicht auf die Sprün­ge hel­fen; noch öf­ter lenkt es uns ab.

© Leo­pold Fe­der­mair

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1 Kommentar Schreibe einen Kommentar

  1. Die Zi­ta­te sind nicht das, was sie mal wa­ren...
    Liest sich gut, der Kant, sei­ne un­schul­di­ge Ge­las­sen­heit ge­gen­über der Fik­ti­on, dass sich je­der sei­nes je ei­ge­nen Ver­stan­des be­dient. Was hät­te schon pas­sie­ren kön­nen... Da­mals! Die Di­stan­zen wa­ren rie­sig, die Kut­schen­we­ge holp­rig und die Zei­tun­gen ge­ra­de mal ein falt­ba­rer Zet­tel. Nie­mand kam Dir in die Que­re, wenn Du Dich Dei­nes ei­ge­nen Ver­stan­des be­dient hast. War ja auch kei­ner so blöd, dies beim Ma­gi­strat oder bei Ho­fe zu tun...
    So ent­steht gro­ße Phi­lo­so­phie, die zeit­los scheint und ewig gül­tig bleibt. Ent­fernt von al­lem, auf hal­bem We­ge zum Ab­so­lu­ten, des­in­ter­es­siert so­gar an der je ei­ge­nen Zeit!