Sapere aude!
Auch Kritiker sind überzeugt, daß es kein Zurück gibt, und wünschen sich keines. Wer die digitalen Gebrauchstechniken und die althergebrachten Kulturtechniken wie Lesen und Schreiben, Erkennen und Verstehen, Werten und Urteilen, Argumentieren und Geltenlassen beherrscht und miteinander zu verbinden versteht, ist im Vorteil. Nicht unbedingt im Wettbewerbsvorteil um das schleunigere Wissen und die größere Datenmenge, aber doch im Vorteil, wenn man seine Tätigkeit an jahrhundertelang gewachsenen, oft modifizierten, manchmal erneuerten und erweiterten, durchaus hierarchischen Werten mißt. Die Hochgeschwindigkeit, mit der man Informationen auf den Bildschirm bekommt, läßt sich mit dem Herstellen von Zusammenhängen verbinden, sofern man in der Lage ist – und dazu bedarf es eben jener traditionellen Fähigkeiten –, das Wichtige vom Unwichtigen zu trennen, die Daten in einen Horizont zu stellen und das, was für das eigene Gedankengefüge dienlich ist, bewußt auszuwählen. Manchmal wundere ich mich, daß Kollegen an der Universität nicht im Handumdrehen Lunte riechen, wenn ein Student irgendwo abkopiert hat. Wer eine gewisse Anzahl von Büchern wirklich gelesen, das heißt, sich Wissen angeeignet hat, der merkt so etwas. Umgekehrt entdecke und entwickle ich echte Zusammenhänge – geistige Assoziationen – nur durch den Gebrauch meines eigenen Verstandes und Gedächtnisses; die Suchmaschinen sind dafür blind. Sie können mir nur helfen, alles zu vervollständigen, wenn ich einmal auf die Spur gekommen bin. »Sapere aude!« rief Immanuel Kant einst den Bürgern zu, von denen er sich wünschte, daß sie mündig wären. Er fügte die deutsche Übersetzung hinzu, nicht »Wage zu wissen«, sondern »Habe Muth, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!« (Die Hervorhebung des Adjektivs stammt von Kant.) Nicht klicken, sondern nachdenken, das heißt: selbst tätig werden, nicht bloß konsumieren. Unter heutigen Bedingungen wäre die Aufforderung zu erweitern: Verzichte bisweilen darauf, dich auf externe Datenspeicher zu verlassen! Für geistiges Tätigsein braucht man Zeit abseits der digitalen Hektik; man benötigt jenes immer seltenere Gut, das man einst Muße nannte. Die Muße fördert Konzentration anstelle von Zerstreuung. Das Internet mit seinem Sekundenzauber kann uns hier und da vielleicht auf die Sprünge helfen; noch öfter lenkt es uns ab.
© Leopold Federmair
Die Zitate sind nicht das, was sie mal waren...
Liest sich gut, der Kant, seine unschuldige Gelassenheit gegenüber der Fiktion, dass sich jeder seines je eigenen Verstandes bedient. Was hätte schon passieren können... Damals! Die Distanzen waren riesig, die Kutschenwege holprig und die Zeitungen gerade mal ein faltbarer Zettel. Niemand kam Dir in die Quere, wenn Du Dich Deines eigenen Verstandes bedient hast. War ja auch keiner so blöd, dies beim Magistrat oder bei Hofe zu tun...
So entsteht große Philosophie, die zeitlos scheint und ewig gültig bleibt. Entfernt von allem, auf halbem Wege zum Absoluten, desinteressiert sogar an der je eigenen Zeit!