Genial!
Die kakanische Welt, die der Mann ohne Eigenschaften beschreibt, ist eine gelähmte. Zwar wird behauptet, ein großes Ereignis sei im Entstehen, aber dann geht nie etwas weiter. Die gehemmten Akteure verhalten sich im wesentlichen nicht anders als Ulrich, auch wenn ihnen dessen geistige Souveränität, seine Ironie und Spottlust fehlen. In den ersten Kapiteln des Romans ist auffällig oft von »Bedeutendem« die Rede, das Epitheton »bedeutend« wird in verschiedenste Kontexte eingeschleust. In seiner Rede über die Dummheit, die Musil 1937 in Wien vor ungewöhnlich zahlreichem Publikum hielt, kam er zum Schluß auf das Konzept des Bedeutenden zu sprechen. Bedeutungsloses Wissen, so verstehe ich seine Äußerungen, kann ebenso nützlich wie schädlich sein. Die Wortwahl finde ich nicht glücklich, ich würde eher von Sinngebung sprechen, es geht um die bewußte Wertung von Daten und deren Einordnung in Kontexte, Projekte, Horizonte. So hätte Musil sich auch die bedauernde Geste sparen können, die er an den Tag legte, bevor er sich von seinen Zuhörern verabschiedete: Mit dem Gesagten sei »durchaus noch kein Erkennungs- und Unterscheidungszeichen des Bedeutenden gegeben«. Nun, es wird nie ein sicheres Zeichen davon geben, da es sich um ein unendliches Gespräch handelt: Was bedeutend ist und was nicht, was für uns sinnvoll ist und was nicht, muß immer wieder aufs neue durchdacht und besprochen und sozusagen verhandelt werden. Dies gilt für einen literarischen oder musikalischen Kanon ebenso wie für die Frage, durch welche Techniken wir Energie für unseren wirtschaftlichen Bedarf erzeugen und von welchen wir Abstand nehmen wollen. Die Dummheit der digitalen Welt besteht darin, daß sie auf derlei mühsame Unterscheidungen verzichten zu können vorgibt. Was gut ist und was nicht, ist in dieser Welt ohnehin in Rankings festgelegt, und was mir gefällt, brauche ich nicht zu begründen. Die wenigsten wissen, wie Rankings zustande kommen, die meisten nehmen sie gedankenlos auf und reproduzieren sie. Unter solchen Bedingungen ist alles bedeutend, eine Kunstfigur wie Conchita Wurst gilt gleich wie ein Shakespeare-Darsteller. Eine Figur gilt, wenn sie »erfolgreich« ist. Was erfolgreich ist, entscheiden die Rankings des Markts. Alles und nichts ist bedeutend, die dialektische Spannung ist verschwunden, die Mühe, die Musil einst auf das Bedeutend-Sein und Bedeutend-Machen verwandte, heute kaum noch verständlich. Er ahnte die ferneren Entwicklungen, als er sich Gedanken über geniale Boxer und Rennpferde machte.
© Leopold Federmair
Die Kritik zeigt Schwächen, Leopold. Der Kanon muss nicht immer wieder zur Gänze neu verhandelt werden. Zumal in der Musik die Gewinner des 17. bis 20. Jahrhunderts längst feststehen.
In der Literatur im wesentlichen auch, einschl. der wenigen Einträge spätes 20. Jahrhundert.
Die Gefahr ist übrigens groß, ein ästhetisches und ein »politisches« Problem bis zur Ununterscheidbarkeit zu vermengen. Ein großer Künstler kann mit einfachsten Materialien schöne Dinge hervorbringen, der gewaltige Hang zur Vereinfachung in der Pop-Kultur beruht aber auf der Beschränkung »Inkompetenz«, und nicht auf einer freiwilligen stilistischen Selbstbeschränkung.
Bald schon, werden wir nichts mehr unterscheiden können...
Sportpalast-Szene: »Wolllt ihr die dto-dtale Dekultivierung?!«...Tosender Applaus, Livestream Internet...
Die Gewinner stehen fest, aber durchaus nicht für alle Zeiten. Und es darf an ihrem Stand gerüttelt werden. Vor einigen Jahrzehnten galt Brecht als einer der bedeutendsten Autoren des 20. Jahrhunderts, heute zweifeln manche daran. Hölderlin war nach seinem Verschwinden im Tübinger Turm so gut wie vergessen, bis er zu Beginn des nächsten Jahrhunderts wiederentdeckt wurde.
Viele Beispiele könnte man nennen. Brecht wird nicht vollständig aus dem Kanon verschwinden, aber die Wertungen ändern sich. Reich-Ranicki, der Thomas-Mann-Verehrer, wollte Musil aus dem Kanon hinausbugsieren (bzw. an den Rand). Thomas Mann selbst hielt dem Musil immer wieder die Stange und schrieb Sätze wie: » ‘Der Mann ohne Eigenschaften’ ist ohne jeden Zweifel größte Prosa, die mit dem Vornehmsten rangiert, was unsere Epoche überhaupt zu bieten hatte...«
Kanons haben etwas Museales, aber wenn sie endgültig museal erstarren, finde ich es besser, sie auf den Müllhaufen der Geschichte zu werfen und wieder von vorn anzufangen.
Für die Musik gilt das alles vielleicht nicht in derselben Weise – trotzdem, ich erinnere etwa an die Wertungsschwankungen in Bezug auf Richard Wagner.
P.S. zu Vorigem: Vor allem aber, die Welt der digitalen Rankings verzichtet von vornherein auf solche Diskussionen. Sie ist in diesem Sinn geschmäcklerisch, während gleichzeitig der Mainstream seinen sanften Terror ausübt.
Mit dem Kanon hatte das Bildungsbürgertum so etwas wie eine gemeinsame »Diskussionsgrundlage«. In der Moderne wurden Kriterien weich und die Kanons variierten je nach Zeitgeist. Das führte zu Entwicklungen wie Sie Leopold Federmair skizziert und die bis heute anhalten. In diesem Blog war das vor knapp zwei Jahren schon einmal ein Thema -> hier nachzulesen.
Inzwischen kann man in Germanistik promovieren, ohne eine Zeile Goethe oder Kleist gelesen zu haben.
@ Leopold
Ja, aber damit stimmst Du mir ja zu. Diese Rückungen sind ja nur noch Korrekturen, Musil ist drinn, Hölderlin »war vergessen«, aber er wird es nie wieder sein, Brecht nicht mehr ganz oben, aber immerhin. Die Kanones konsolidieren sich, auch wenn nicht jeder auf Wagner abfährt (ich z.Bsp.).
Dazu kommt, was Gregor sagt: hinten raus, Mitte 20. Jahrhundert, wird’s wackelig. D.h. aber genau: die Eintragungen »jüngeren Datums« werden problematisch, nicht die älteren. Und das hängt
a) mit Nivellierungen in der Germanistik zum Zwecke der Verfügbarkeit für die versch. Ausbildungen zusammen, und
b) mit einem Abschwung der künstlerischen Produktivkraft.
M.a.W.: einen allgemeinen Niveau-Verfall wird niemand wahrnehmen, denn eine sichere ästhetische Einschätzung bekommt man nur »von oben nach unten« und nicht wenn alle gleichzeitig nachlassen: Autoren, Kritiker, Publikum...
Gustav Mahler oder Anton Bruckner sind Beispiele für Komponisten, die für ihr Schaffen zu ihrer Zeit keine (oder nur innerhalb überschaubarer Gruppen) Anerkennung fanden (was in beiden Fällen nicht für den Dirigenten bzw. Organisten galt). Das hat sich später geändert, sie gehören beide zu Kern des Repertoires (dass sich das wieder ins Gegenteil verkehrt kann man ausschließen, gewisse Schwankungen in der Beurteilung sind normal und auch Mode).
@Sophie
Wir beide sind halt nicht so weit voneinander entfernt. Deine Sichtweise scheint mir ein bißchen teleologisch, ich wäre mir nicht so sicher, daß sich mit hinreichend langer Zeitdauer das Beste und die Besten durchsetzen. Es gibt Schwankungen, die durch gesellschaftliche Änderungen, Wandlungen in Geschmack, Interessen, Gewohnheiten, geistigen Bedürfnissen usw. begründet sind – aber ein Ziel und Ende der Geschichte?
Über die gegenwärtige Literaturwissenschaft bzw. die akademische Beschäftigung mit Literatur (denn »Literaturwissenschaft« halte ich für eine contradictio in adjecto) wäre manches zu sagen; ein Phänomen ist, daß die Tendenz seit langem dahin geht, Wertungsfragen als »unwissenschaftlich« auszuklammern. Damit überläßt man die Kanonbildung, was gegenwartsnahe Werke betrifft, gänzlich den Massenmedien, in denen immer weniger das herkömmliche Feuilleton und immer mehr das Ranking, die Massentauglichkeit, der kommerzielle Erfolg bestimmend sind.
Wertungsfragen sollten auch nicht Gegenstand der Wissenschaft sein, bestritten wir das m.E. nur (teilweise?) in den Sozialwissenschaften. — Der Grund ist, dass persönliche (oder andere) Motive und Belange verhindern, dass die Erkenntnis um ihrer selbst willen betrieben wird (jeder Wissenschaftler kann sich wertend äußern, er hat sich dann eben – im strengen Sinn und für diese Augenblicke – ein Stück weit von den engen Grundlagen entfernt; das macht gar nichts, im Gegenteil, öffentliche Äußerungen von Wissenschaftler haben eher Seltenheitswert, dabei kann man das durchaus auch als eine ihrer »Aufgaben« sehen). — Man muss sich nur an die (schon lang zurückliegenden) Auftragsstudien der Tabakindustrie erinnern und man weiß warum das zu Recht so gehalten wird.
Man kann einen Kanon doch durch die Bedeutung der Werke für die historische Entwicklung rechtfertigen oder durch deren formalen Anspruch und dessen Erfüllung, die Neuheit, deren Qualität, etc., hingegen nicht durch den persönlichen Geschmack der Wissenschaftler (da steht doch schon der Anspruch jedes Kanons dagegen!).
@Leopold
Die Eingrenzung der Gesamt-Situation zwischen Massenmedien und Gänsefüßchen-Wissenschaft ist absolut korrekt. Die westlichen Gesell. haben sich einmal mehr strukturell ganz elegant aus der Hüfte durch’s Knie in den Rücken geschossen. Wissenschaft und Kunst behindern sich nur gegenseitig.
Mein Geschichts-Modell ist tektonisch, Schichten die sich ablagern, austrocknen, abplätten, aushärten, darüber geht es endlos weiter... Daher verstehe ich die Analogie »fixierter Kanon – Ende der Geschichte« eigentlich nicht. Meinst Du, ausgehend von der Jetztzeitigen Dürre, es kommt nichts mehr, und der »Prozess« ist endgültig unterbrochen?!
@metepsilonema
Ich würde in solchen Diskussionszusammenhängen keinesfalls Literatur»wissenschaft« und Naturwissenschaften vermengen. Auch nicht Sozialforschung. A propos Tabak.
In Gesprächen mit Kulturwissenschaftlern höre ich immer wieder die in den letzten Jahren eingebürgerte Formel »mein Interesse ist«. Das soll vermutlich objektiv klingen, oder wissenschaftsethisch korrekt, aber tatsächlich geben sie unbewußt zu, daß sie persönlichen Vorlieben und biographischen Zufällen folgen.
Vor einem halben Jahrhundert galt literarische Wertung als eine der Aufgaben der Literaturwissenschaft (Emil Staiger usw.). Man hat diese Schule mit Recht kritisiert. Ästhetische Wertungen aber grundsätzlich auszuschließen, halte ich aber für verkehrt. Jedenfalls wird der akademische Umgang mit Literatur für mich dann – ja, uninteressant. Was nicht im medialen Kanon vorkommt, wird von den sog. Wissenschaftlern unter solchen Bedingungen überhaupt nicht mehr wahrgenommen. Das ist jetzt schon Realität. Man kann mir entgegenhalten, daß die Wissenschaft eben nichts anderes tun soll, als die – heute mediengesteuerte – Kultur einer Epoche zu beschreiben und zu analysieren. Nun gut...
@Sophie
Nein, mit Teleologie meine ich die Erwartung, daß sich im Lauf der Zeit das endgültig wahre Bild und damit die Position eines Autors oder Musikers oder Malers in der zeitlosen Kanonhierarchie herausstellen wird.
Eine Aussage dieser Art habe ich übrigens einmal von Peter Handke gehört. Und fand es erfrischend, als er dann sagte, die »Wanderjahre« von Goethe seien – sinngemäß – ein ziemlicher Schmarren. Goetheanischer Schmarren sozusagen.
(Übrigens werden die »Wanderjahre« kaum gelesen, aber viele halten das Werk in Ehren. So wirkt der unreflektierte Kanon.)
Handke über »Wilhelm Meisters Wanderjahre«
Peter Handke/Thomas Oberender: »Nebeneingang oder Haupteingang? – Gespräche über 50 Jahre Schreiben fürs Theater«, Suhrkamp spectaculum, 2014, S. 130
Kanon ist aber doch keine Liste von Schriftstellern?!
Ich meine, Goethe ist doch das beste Beispiel. Der hat viel mehr schlechte als gute Sachen geschrieben...
Ich bin dafür, die Kunstwerke in Mittelpunkt zu stellen, und das scheint nach wie vor schwierig, weil der Autor nach dem Bildungszeitalter nun als Marke funktionieren soll. Ich glaube, jeder Autor kann sich glücklich schätzen, wenn er ein einziges Sternchen am Firmament entzündet. Mehr kann man nicht erwarten.
@Leopold Federmair
Wir müssen keinen Diskurs darüber führen, ob es eine allgemeine Methode der Wissenschaft gibt oder nicht, aber bestimmte Kriterien gelten für alle Wissenschaften, von einer Vermengung kann daher keine Rede sein: Richtig ist, dass sich Methoden, »Objekte« und Untersuchungsbereiche stark unterscheiden und sich von daher Unterschiede ergeben, ich werde einem Literaturwissenschaftler nicht vorhalten, dass er keine mathematischen Modelle entwickelt oder nicht experimentell arbeitet, aber wie in allen anderen Wissenschaften werden auch in der Literaturwissenschaft Theoriebildung, Quellenangaben und ‑kritik, Begriffsklärungen und ‑definitionen, Subjektunabhängigkeit (soweit möglich), u.a. eine zentrale Bedeutung haben (ich sehe da keinen Grund, warum die Literaturwissenschaft dies nicht erfüllen können sollte).
Man soll ästhetische Urteile fällen und einen Kanon erstellen, dafür kann man Kriterien und Eigenschaften heranziehen und diese beschreiben und damit für andere nachvollziehbar machen, allerdings soll der persönliche Geschmack außen vor bleiben, ein literarisches Werk oder ein Stück Musik muss dem Wissenschaftler nicht gefallen, um wichtig oder bedeutend zu sein (es gibt da sicherlich eine enge oder besser fließende Grenze, aber man kann anstelle von »gut« oder »schlecht«, sich das Werk und seinen Anspruch ansehen und wie dieser erfüllt wurde, seine historische Bedeutung und seine Wirkungen, usw.).
Der mediale Kanon ist wieder ein anderes Thema, an das ich gar nicht gedacht habe; ich hätte nicht erwartet, dass selbst in der Wissenschaft derartige Abhängigkeiten bestehen (andererseits bleibt im Betrieb wohl wenig Zeit um selbst zu suchen, was ja auch immer weniger Kritiker tun). — Ich sehe die Wissenschaft allerdings in der Pflicht die gesamte und nicht nur die medial vermittelte Realität (repräsentativ) zu beschreiben und damit auch dessen was sich abseits der ausgetrampelten Pfade befindet.
@Sophie
Würde ich auch so sagen. Das Handke-Zitat ein Stück weiter oben zwar im rotzigen Tonfall, aber eine gewisse Souveränität im Umgang mit den alten Meistern ist da schon spürbar. Im wesentlichen treffen Handkes Aussagen zu. Die Lehrjahre sind viel besser als die Wanderjahre. Über die Gründe mögen die Germanisten forschen, statt krampfhaft zu versuchen, ein Alterswerk zu »retten«.
Ein anderes Beispiel ist für mich Kleist. Die »Marquise von O.« halte ich für vollkommen überschätzt, die Geheimnistuerei um eine nicht besonders spannende Frage – Wer hat die Frau geschwängert? – ein endloses syntaktisches Gewucher, aus der hin und wieder die konformistische Moral des Autors hervorleuchtet. Den »Kohlhaas« finde ich dagegen immer noch ein starkes, bedenkenswertes Stück, auch härter erzählt als z. B. die sich stilistisch zierende »Marquise«.
Wie auch immer, diese Werke bleiben »Geschichte« und geben uns hermeneutische Aufgaben auf. Auch die Literaturgeschichte beruht auf Machtstrukturen, das muß man wohl akzeptieren.
@metepsilonema
Ich glaube, daß Germanisten von der Gegenwartsliteratur nur den medialen Kanon überhaupt wahrnehmen. Und vermute, daß aufgrund dieser Mechanisen die Literatur zu Beginn des 21. Jahrhunderts im künftigen akademischen Kanon von Kehlmann-Glavinic-Zeh besetzt sein wird. Dazu vielleicht der eine oder andere von jenen Autoren, die von vornherein auf ein akademisches Publikum zielen und sich ihre akademischen Exegeten warmhalten. Natürlich spielen die Literaturpreise nach wie vor eine Rolle. Aber auch da ist eine Tendenz zur Kommerzialisierung zu bemerken: Buchpreis Aktien steigend, Büchnerpreis sinkend. Als Walter Kappacher letzteren erhielt, heulten die Medienleute auf: zu spröde. Weiß nicht, wie’s bei Jürgen Becker unlängst war, aber auch er repräsentiert eine stillere, weniger mediale Literatur (und wurde konsequenterweise von Suhrkamp als Hausautor gestrichen).
Vor zwei Jahren etwa habe ich das ZEIT-Titelblatt mit einer Reihe à la »Unsere Besten« bemerkt, da waren die Köpfe der besten Schriftsteller in einer Reihe aufgebaut, vgl. Mt Rushmore. Ich schon amüsiert, sehe mir die Parade an, Goethe, Thomas Mann, ..., und last not least Daniel Kehlmann.
Ich dachte: Jetzt setzt’s aus. Abgesehen davon, dass die Werke zählen, war Daniel Kehlmann für mich ein Schreib-Profi ohne Ambitionen, die Reihe hätte allenfalls Courths-Maler, Konsalik, Schätzing, Kehlmann lauten können.
Jedenfalls ist seit damals die »Tendenz« klar. Thema besetzen, Massentauglichkeit herstellen, Hochkultur-Image usurpieren, Uni-Abos verkaufen...
Handke lässt sich ja im gleichen Buch auch sehr negativ und »rotzig« über den »Scheißfaust« von Goethe aus. Das erinnerte mich daran, wie der Feuilletonist Fritz J. Raddatz irgendwann begann, Klassiker der Literaturgeschichte wiederzulesen. Die Resultate fielen ernüchternd, zum Teil sogar erschütternd aus. Kaum ein Buch behält beim neuen (Er-)Lesen seinen vormals hohen Status; oft wird gleich der Schriftsteller mit verdammt. Bei Montaigne macht Raddatz noch ein Fragezeichen, eindeutig dagegen die Verdikte zu Virginia Woolf (»seelische Spitzenklöppelei«), Tolstoi, Proust (»schwer erträgliche geschmäcklerische Zierlichkeit« bzw. »Frisörhaftes«), Balzac (»mickrig«), Döblin, Walter Benjamin (Zweifel an dessen »Beträchtlichkeit«), Joseph Conrad. Selbst das Monument Thomas Mann, dessen Tagebücher er genussvoller findet als einen »Coitus« (mit »C«!), bleibt nicht ganz verschont. Die »Buddenbrooks« bestehen noch, aber den »Felix Krull« findet er doch arg »Rokoko-verzuckert« und erkennt, dass der Ich-Erzähler unmöglich die Bildung haben kann, die sich in dessen Wortwahl zeigt. Die »Wahlverwandtschaften« hält er für einen Trivialroman; Goethe wird bei ihm zum »Stephen King avant la lettre«. Aber hier fragt er sicherheitshalber noch einmal nach: »Oder liegt das Desinteresse nur an mir«?
Wenn innerhalb eines Leserlebens nun die Präferenzen sich derart verändern (wird man durch Viel-Lesen eigentlich abgestumpfter?), wie soll dies erst bei einem Kanon gehen, der sich noch an ganz anderen Strömungen orientiert (Zeitgeist bspw)? Hier taucht dann das »Geschmacksproblem« auf, dass die Literaturwissenschaft (ich nenn’ sie jetzt mal so) wie keine andere Disziplin mit sich führt, da sie kaum eine empirische Basis hat (wie eigentlich alle Geisteswissenschaften, man denke an die Philosophie). Das persönliche Geschmacksurteil des jeweiligen Lesers, Wissenschaftlers ragt immer in die Betrachtung des Gegenstands hinein. Sympathie und Antipathie sollen zwar ausgeblendet werden, aber das ist kaum möglich. Das Problem besteht nun darin, ob man diese Geschmackskomponente ausblendet, sich also gewissermaßen zu einem Eunuchen macht (freilich mit Rückzugsraum) oder ob man seine persönlichen Einschätzungen mit übernimmt.
@ Gregor
Das Leben einem einzigen Gegenstand zu widmen, hat zweifellos Nachteile. Der Zahnarzt erlebt es genau so wie der Literatur-Profi. Man sättigt sich, das Erlebbare nimmt ab, die Distanz zum eigenen Wissen wächst.
Die jeweiligen Ziele (Schreiben, Rezensieren, Dozieren, Archivieren) sollte man aber nicht ganz aus dem Auge verlieren. Wenn man alle »individuellen Koordinaten« abstreicht und ein universales Subjekt bildet, ist guter Rat teuer. Will sagen: der kulturelle Ort des Arbeitens kann nicht allein dem Grundbegriff »Literatur« unterstehen, da verirrt man sich in der Abstraktion bzw. erklärt sich selbst implizit zum Gelehrten.
P.S.: Wahlverwandtschaften! Freut mich, dass Raddatz zu denselben Ergebnissen kommt wie ich, oft traut man dem eigenen Urteil ja selber nicht.
Die Dummheit der digitalen Welt besteht darin, daß sie auf derlei mühsame Unterscheidungen verzichten zu können vorgibt. Was gut ist und was nicht, ist in dieser Welt ohnehin in Rankings festgelegt, und was mir gefällt, brauche ich nicht zu begründen. Die wenigsten wissen, wie Rankings zustande kommen, die meisten nehmen sie gedankenlos auf und reproduzieren sie. Unter solchen Bedingungen ist alles bedeutend, eine Kunstfigur wie Conchita Wurst gilt gleich wie ein Shakespeare-Darsteller. Eine Figur gilt, wenn sie »erfolgreich« ist. Was erfolgreich ist, entscheiden die Rankings des Markts.
Dazu ein paar Differenzierungen und Überlegungen:
1) Das Netz (synonym »die digitale Welt«) ist ein Teil der Welt und nicht von dieser abgekoppelt.
2) Die dort »auftretenden« Personen führen (fast alle) ein Leben jenseits des Netzes.
3) Alle im Netz zu beobachtenden Phänomene (z.B. rankings, Quantifizierung statt Qualifizierung, etc.) sind auch abseits davon zu beobachten (Bestsellerlisten, Hitparaden, goldene Schallplatten) und hatten schon »immer« (lange) autoritative Bedeutung (Auflagen, viel gelesene Autoren, weit verbreitete Meinungen,...). — Man könnte das Netz oder besser: Teile davon, als Orte begreifen, die die diese Praxis weidlich (und erfolgreich) nutzen, aber ausgemacht ist das nicht, es hängt also viel davon ab, wer wie und in welcher Umgebung agiert (jemand der sich immer jene Bücher kauft, die in einer Bestsellerliste oben stehen, wird rankings wahrscheinlich nicht in Frage stellen).
4) Die Quantifizierung ist im Netz als Ordnungskriterium (z.B. Suchergebnisse) wahrscheinlich das einfachste Mittel (deswegen nicht das beste, aber eine Ordnung nach Qualität würde ich als weit schwieriger zu verwirklichen ansehen).
5) Vieles im Netz ist einer Verkaufs- oder Verwertungslogik unterzogen (wie leider andern Orts auch), rankings bieten sich also an, um Produkte oder Dienstleistungen anzupreisen.
6) Conchita Wurst ist m.E. viel mehr ein mediales, als ein digitales Phänomen, die Kunstfigur muss abgebildet und präsentiert werden (man hätte einen ganz ähnlichen Effekt mit analogem Fernsehen, Radio und Zeitungen erreichen können; wichtig ist [wiederum] die Häufigkeit der Darstellung und ihre Überzeugungskraft)!
Die Parameter und Faktoren durchringen sich halt. Massenmedien kommen ohne digitale Services, Kommunikationstechniken etc. längst nicht mehr aus, und leider unterwerfen sich Tageszeitungen zunehmend den Netz- oder digitalen Gebräuchen, dem Gieren nach Echtzeit usw. Digitale Personen, etwa die sog. Poster (aber auch die hier in diesem Forum Agierenden), haben natürlich auch noch ein »echtes« Leben, aber die Tendenz besteht, daß dieses Leben von der massenmedial-digitalen Welt beherrscht, im Extremfall erstickt wird.
Ich persönlich bin erfreut über das digitale Forenwesen, weil sich die Volksseele dadurch viel besser nachvollziehen, studieren, erkennen läßt als früher. Durch die Pseudonyme und gefakten Identitäten schimmert unendlich viel von den real lives & souls durch, das finde ich spannend, deshalb lese ich überhaupt Postings (und beteilige mich, in Maßen, aktiv).
Trotzdem: Die Pluralisierung der persönlichen Identäten, einst ein Thema der künstlerischen Avantgarden, halte ich für ein Problem. Sie untergräbt Verantwortungsbewußtsein, Verbindlichkeit, auch Altruismus. Der vorherrschende digitale Typus ist jener, der bei jeder Gelegenheit die Sau raus läßt, aber immer so, daß man ihm nichts anhaben kann. Ein digitaler Feigling, sozusagen.
metepsilonemas Kommentar entspricht auch meinem Empfinden. Die digitalen Partizipationsmöglichkeiten verhalten sich zu den massenmedialen Strömen bspw. in den 1980er Jahren in etwa wie eine verglaste Wand zum normalen Fenster. Dabei werden eben auch Auswüchse sichtbar, die zum Beispiel bisher in den Filtern der Leserbriefredaktionen hängen blieben oder an den Stammtischen sozusagen konspirativ ver- bzw. behandelt wurden. Auch hier schlummerten die diversen Identitäten. Im Netz bilden sie nun eine Spielwiese, in die man sich hineinbegeben kann oder auch nicht. Wenn man alleine auf Facebook diverse Kommentarspalten liest, ist man je nach persönlicher Stimmung fasziniert oder abgestossen vom Ausmass der Dummheit wie auch (seltener) Klugkeit.
Das Wort »digital« wird oft gleichbedeutend mit Massenphänomenen oder Medien verwendet, hat aber eigentliche eine technische Bedeutung; digitale Signale sind die Grundlage moderner Medien und Computer, aber etliche technische Geräte lassen sich analog oder digital bauen bzw. betreiben, etwa das Fernsehen (heute meist digital früher analog). Seine Effekte auf die Freizeitgestaltung der Menschen, die Gesundheit oder seine Möglichkeiten der Massenbeeinflussung sind davon weitgehend unabhängig (klar, dem digitalen Fernsehen stehen mehr Möglichkeiten offen). Ähnliches ließe sich über das Radio sagen. — Ich glaube, wir verstellen uns (ein wenig) den Blick, wenn wir eine wesentliche technische Grundlage als etwas ansehen, was sie nicht alleine ausmacht, sondern »nur« maßgeblich voran und an die Spitze getrieben hat, eine Entwicklung, die schon deutlich älter ist (und auch in anderen Dingen fußt).
Ich weiß nicht, in wie weit eine Pluralisierung tatsächlich stattfindet, wenn wir exzessives Spielen oder Phänomene wie Second Life einmal außen vor lassen (Menschen agieren auch in der Realität kontextabhängig); ich sehe viel eher die Gefahr von Zerstreuung, Aufmerksamkeitsstörung und Ablenkung. Was in Foren vielfach (aber keineswegs immer) geäußert wird, ist gesprochene und private Sprache (zumindest zur Hälfte): Früher hörten ein, zwei Freunde die Flegeleien, heute kann man den Adressaten seinen Grant direkt zukommen lassen.
Zustimmung zu dem was Sie zum Erdrücken und zu den Foren schreiben.
Vielen Dank an den Autor für diese Essay-Reihe und die Bemühung sich der digitalen Verwandlung unserer Welt kritisch und unvoreingenommen zu nähern.
Ich hoffe mich nach eingehenderer Lektüre noch zu Wort melden zu können – in diesem Fall würde ich in metepsilonemas Richtung beipflichten wollen: Die »digitale Kultur« lässt sich schwer a priori auf Datenfetischismus reduzieren (das gelingt nicht einmal mit der zahlengläubigen (Natur-)Wissenschaft selbst in szientistischer Verkürzung sehr gut, würde ich meinen). Was vielleicht hinzukommt sind neue und schnellere »Tools« das zu erzeugen, was der Blogbetreiber hier einmal mit »totaler Konvergenz« beschrieb. Moden, Trends und Hypes lassen sich nun allumfassender und vehementer verbreiten (wenn es gelingt gewisse selbstverstärkende Prozesse zu triggern). Dann lasse sich auch CEO’s der Megakonzerne zum Gangnam Style-Tanz oder zur Ice-Bucket-Challenge bitten. Das erinnert mich irgendwie an Pausenhof-Dynamik: der Druck dazuzugehören, mitzumachen, In-Zu-Sein. Warum sollte das beim sozialen Tier Mensch im virtuellen Raum / digtalen Dorf auch anders sein?
Einer der Aspekte, die mir bei kritischer Betrachtung der digital-medialen Welt auffallen: Mainstreams werden ungeheuer verstärkt. Nicht durch ausgesprochene Ideologien, nicht durch Zwang, sondern durch die besondere Dynamik, die dem Medium innewohnt (Beschleunigung, Multiplikation, automatische Verlinkung). Vermutlich gehört dazu auch der neoliberale, inzwischen über Jahrzehnte verfestigte Rahmen, der lukrativen Erfolg als obersten und oft auch einzigen Wert propagiert. Diese Rahmenbedingungen hat die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung zutiefst verinnerlicht.
Erfolg wird ja spätestens seit der Wirtschaftswunderzeit (1960er Jahre in Deutschland) immer und überall an Quantität gemessen. Nicht umsonst gibt es »Bestseller«-Listen schon, bevor die Leute das Wort übersetzen konnten. Alles wird gemessen an Stückzahlen, Ausschüttungen, Umsatz und, vor allem, Gewinn (manche schmeißen Umsatz und Gewinn allerdings immer noch durcheinander; ein Kollateralschaden dieses Denkens).
In der digital-medialen Welt wird dieses Denken noch potenziert. Hier wird zunächst Aufmerksamkeit gezählt und danach eine Rubrizierung vorgenommen. Medien lieben natürlich Quantifizierungen, weil sie ihnen lästige qualitatitve Analysen ersparen.
Zwei Aspekte, die mir gerade einfallen:
Medium bedeutet immer eine »Leerfläche« oder »-raum« der gefüllt oder gestaltet werden muss (womit auch immer). Daneben eigentlich auch (mit unterschiedlichen Graden): Verbreitung, Vervielfältigung, Zugänglichkeit.
Und: Ästhetische Urteile, gerade von Fachleuten, haben etwas Apodiktisches, sie sind, z.B. in der Musik, für den Nichtfachmann kaum im Detail nachzuvollziehen (etwa, wenn die Qualität von Musik, die persönlich nicht gefällt, bestimmt werden soll): Ein Kanon wird somit in weiten Teilen von eigentlich wenigen bestimmt und gestaltet (verkürzt: was Literatur ist und somit Qualität, steht in einem Literaturlexikon). Demgegenüber ist die Vielzahl der Stimmen im Netz und die Quantität auch eine notwendige Korrektur (weil die wenigen mitunter subjektiv urteilen, mitunter betriebsblind werden oder schlicht Fehler machen; und: Interessen haben).