Postskriptum
»Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.« Seit ich diesen berühmten Definitionssatz zum ersten Mal las, und das ist nun schon ziemlich lange her, frage ich mich immer aufs Neue, inwiefern die von Kant konstatierte Unmündigkeit denn selbstverschuldet sei. Ich habe bis heute keine Antwort gefunden. Mit einer zusätzlichen Definition erläutert der Autor das Wort »Unmündigkeit«, aber »selbstverschuldet«, dieses seltsame Epitheton bleibt so stehen, ohne weiteren Kommentar. Zu Kants Zeiten war es alles andere als selbstverständlich, daß alle Bürger bzw. ihre Kinder eine halbwegs solide Bildung erhielten, auch wenn die Aufklärer und aufgeklärte Fürsten wie Friedrich der Große viel für die Etablierung der allgemeinen Schulpflicht taten. Ich halte also fest: Leute, die den eigenen Verstand, der ihm zunächst einfach gegeben ist, nicht zu gebrauchen verstehen oder ihn aus welchen Gründen auch immer – Trägheit, Verblendung... – nicht gebrauchen wollen, sind selber schuld, sie können keine mündigen – unter heutigen Bedingungen würde ich hinzufügen: demokratiefähigen – Bürger sein. Also wäre die von Kant ins Visier genommene Unfähigkeit eigentlich eine Denkfaultheit? Eine Willensschwäche? Müßte man dann, wenn man die Zustände ändern wollte, nicht nur durch pädagogische Maßnahmen auf die heranwachsenden (und auch die erwachsenen) Bürger einwirken, sondern gleichzeitig auf ihren Willen, ihre Motivation, ihre Tätigkeitsbereitschaft? Im konsumistischen Kapitalismus mit seiner quantifizierenden, kurzsichtigen, populistischen Der-Kunde-ist-König-Demokratie geht die Tendenz in die entgegengesetzte Richtung, passives Konsumieren, diverse Arten von Süchten, scheinaktive Selbstbezogenheit (siehe Facebook & Co.), allgemeine Trägheit, sei es auch in Form von ständiger, unreflektierter Leistungsbereitschaft (siehe Handys, siehe »Erreichbarkeit«), Schwimmen in Mainstreams (mit oder ohne Ironie) sind längst vorherrschend geworden, während die ständig geforderten, oft eingeleiteten und häufig wieder zurückgenommenen Reformen der Ausbildungsstätten die pädagogische Qualität, die sich in erster Linie in Gestalt von guten Lehrern erweisen sollte, nicht und nicht heben (oft genug ist dieser Reformwille ohnehin bloßes Lippenbekenntnis). Sind die Menschen selber schuld, die Masse der Einzelnen, die gamer, die couch-potatoes, die Facebook-Aktivisten? Was tun? Wir wollen doch niemanden zu seinem Glück zwingen... Zumal die Konsumenten, wenigstens auf den ersten Blick, ohnehin glücklich scheinen. Bei Kant finde ich keine Antworten, und ich selbst komme nicht über meine fragende Unruhe hinaus.
© Leopold Federmair
Aber Kant schrieb doch mehr:
»Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.
Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung frei gesprochen (naturaliter maiorennes), dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben; und warum es Anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt, u.s.w., so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen. Daß der bei weitem größte Teil der Menschen (darunter das ganze schöne Geschlecht) den Schritt zur Mündigkeit, außer dem daß er beschwerlich ist, auch für sehr gefährlich halte: dafür sorgen schon jene Vormünder, die die Oberaufsicht über sie gütigst auf sich genommen haben. Nachdem sie ihr Hausvieh zuerst dumm gemacht haben und sorgfältig verhüteten, daß diese ruhigen Geschöpfe ja keinen Schritt außer dem Gängelwagen, darin sie sie einsperrten, wagen durften, so zeigen sie ihnen nachher die Gefahr, die ihnen droht, wenn sie es versuchen allein zu gehen. Nun ist diese Gefahr zwar eben so groß nicht, denn sie würden durch einigemal Fallen wohl endlich gehen lernen; allein ein Beispiel von der Art macht doch schüchtern und schreckt gemeinhin von allen ferneren Versuchen ab. [...]«
Bei den meisten Diskussionen um Bildung (und ohne ein Konzept wie Aufklärung ist diese nicht zu denken) wird vergessen, dass man jemanden nur versuchen kann in den Stand zu setzen, diesen Prozess zu beginnen: Er selbst muss dazu etwas beitragen, muss wollen, sonst geht es nicht. Auch die Demokratie benötigt dieses Wollen (da kann man hundert mal Bildung als Menschenrecht bezeichnen, es bleibt falsch; richtig ist, dass Menschen die Möglichkeit sich bilden zu können offenstehen muss, durch Institutionen unterstützt, aber aus der Pflicht nehmen, kann man sie nicht, Bildung ist kein Recht, dass man einfach in Anspruch nehmen kann, das qua Geburt zugesprochen wird).
Oje, der alte Knochen...
Ich hab den Text gar nicht gern, das muss ich gestehen.
Kant steht geschichtlich schon am Ende der Aufklärung, er schreibt, was man »in der Folge der Aufklärung«, in der Beherzigung ihrer Anliegen und deren langfristigen Wirkung erwarten darf. Zentral ist für ihn der Komplex »Rationalität bewirkt Herrschaftsfreiheit«.
Nach heutiger Erfahrung beinahe widersinnig. Das eine hat mit dem anderen nicht das geringste zu tun. Damals eine Utopie! Heute eine »übertriebene Idee«. Bürgerlichkeit hat doch mehr mit Herrschaft in allen Beugungsformen zu tun, als mit Herrschaftsfreiheit.
@die kalte Sophie
Das kommt auch darauf an, was mit Rationalität gemeint ist. Ein Herrschaftsverzicht im strengen Sinn, kann vernünftig sein.
Horkheimer und Adorno haben das in etwa so gesehen wie Sophie, der (die) vermutlich die »Dialektik der Aufklärung« gelesen hat: Die abendländische Rationalität – oder doch ihr Mißbrauch? – hat ihren – den wesentlichen? – Beitrag zum Horror des 20. Jahrhunderts geleistet, unter dessen unmittelbarem Eindruck sie damals ihre »Dialektik der Aufklärung« schrieben. Mit einigem Abstand zu diesen Büchern und Fakten bin ich mir da nicht mehr so sicher. Gerade die Nazis haben Irrationalismus und Rationalismus zu verbinden verstanden (»verstanden« – man müßte hier ständig alles zwischen Anführungszeichen setzen). Mystik fürs Volk, Rationalität fürs System, wenn man das so über den Daumen peilen kann.
Für Kant war Rationalität ein Allheilmittel. Das würde er vermutlich heute selbst einschränken, ohne deshalb von seinen paar Grundsätzen abzulassen.
Die Erklärung der Selbstverschuldetheit durch metepsilomena kann ich gut nachvollziehen. Während der vergangenen Wochen, während ich dann doch wieder über diese Kant-Sätze nachdachte, habe ich mich vor allem gefragt, ob Kant vielleicht doch die Menschheit als Gattung meint und nicht die einzelnen Individuen. Im Grund ist diese Stelle von einer ganz unkantianischen Ambivalenz. Deshalb lockt sie zum Interpretieren.
Noch ein Postskriptum: Daß Erklärungen wie die metepsilomenas einem bei aller Einsicht schwer im Magen liegen, hat vielleicht damit zu tun, daß für die Gemeinschaft, egal wo auf der Welt, wenig Hoffnung besteht, wenn die Dinge so liegen, wie sie (er?) sagt. Diese Beurteilung führt zwangsläufig zum Elitarismus. Mit dem ich persönlich liebäugele (weshalb mir der von Keuschnig mehrfach kritisch besprochene Botho Strauß doch immer wieder nahe ist).
Erfreulich viel Einvernehmen, auch die untypische Ambivalenz, die den Kant’schen Text prägt, kann ich (er) bestätigen. Die Gattung Menschheit ist wohl am Anfang des Textes gemeint, obwohl die Perspektive sofort wechselt. Sehr »stylish«, aber nicht sehr klar.
Eine Kritik der abendländischen Rationalität à la Hork/Adorno ist schon gar nicht mehr durchführbar. Interessant ist Leopold’s Feststellung der Parallele bei den Nazis. Pointiert: die Nazis haben etwas zustande gebracht (System & Irrationalität), was die Philosophen vergeblich zu dekonstruieren versuchten, weil die Rationalität ihren Antipoden gar nicht zu fassen kriegt. Als ob man dem Teufel nur in der Hölle begegnet ...
P.S.: Auch die Frankfurter Schule light, die Erziehung zur Rationalität bei der Teilnahme am Öffentlichen Diskurs muss verworfen werden, oder?! Nicht leicht zu begründen, weil hier Grundbegriffe wie »Demokratie« immer zur Motivation einer ursprünglichen Kollegialität verwendet werden, die man auch »bürgerliche Verbundenheit« oder »endloses Wohlwollen« nennen könnte. Eine psychologisch verdeckte Aktion.
Horkheimer und Adorno haben ja doch (noch) an der Aufklärung festgehalten, als eine selbstaufgeklärte, die »das Unheil« zwar in sich trägt, aber nun darüber bescheid »weiß«. Bauman, der explizit an die beiden anknüpfte, hat die Moderne, durch ihre Schaffung von Kategorien und Begriffen, als Kampf gegen die Ambivalenz verstanden, die ihren »Gegner« gerade durch dieses Vorgehen immer wieder neu erschafft und daher scheitern muss; auch dies ist sicher nicht falsch; er ging dann noch weiter und hat den Massenmord der Nationalsozialisten als genau diesen Kampf interpretiert, die Juden also als das zu vernichtende Fremde, Ambivalente angesehen und den Nationalsozialismus also als genuin modern verstanden.
Die Postmoderne wurde sicherlich verfrüht ausgerufen, aber rein diagnostisch kann man nicht umhin bestimmte Phänomene wie die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen (oder die Uneindeutigkeit) als durch Medien und Technik verwirklicht, anzusehen.
Rationalität hat m.E. zwei Aspekte: Verstand und/oder Vernunft. Der erstere kann reine Verfahrenslogik und ‑organisation bedeuten, ohne Vernunft, Ethik, usf. Die Vernunft selbst kann, wenn man an die Tugend denkt, geradezu diktatorisch sein, aber muss sie es, trotz des bislang Geschriebenen? — Was kann also nach aller berechtigten Kritik bleiben? Was muss (vielleicht) bleiben (um zum Beispiel noch Gespräche zu führen, wie dieses hier)?
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Bei Kant muss man wohl auch immer die strenge und unbedingte Pflicht zur Wahrheit mitbedenken.
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Ich (er) wollte oben eigentlich kein Plädoyer für eine Elite verfassen, sondern nur darauf verweisen, dass der Bildungsprozess auch ein Willensprozess ist (ich fände es auch besser von Verantwortung zu sprechen, zu mal ja andere Faktoren wie die Zeit oder die Lebensumstände mitspielen; klar: Man kann einer mittellosen alleinerziehenden Mutter oder einem jungen Muslim, der von Anfang an indoktriniert wurde, vorwerfen er oder sie seien ungebildet, aber Sinn hat das wenig; man muss auch zugestehen: In einer Welt wie der unsrigen hat Bildung keine oder kaum Relevanz um gut und gesund durch das Leben zu kommen.). Was ich an Eliten nicht mag, ist der herablassende Duktus, zumal der vorgetragene Anspruch, selbst auch nicht immer erfüllt wird und das exkludierende Element (etwas, das innerhalb der digitalen Medien zurecht erodiert).
@die kalte Sophie: Da gehen Sie doch aber deutlich zu weit, wenn Sie Rationalität als solche als verwerfbar ansehen. Allein, dass hier in dieser Kommentarspalte eine Diskussion stattfinden kann, in welcher sich Diskutanten manchmal ein wenig verstehen, bezeugt doch, dass es ein zumindest loses intersubjektives Band gibt. (Ich hoffe sehen darin keine durch sprachliche Konvention erzeugte Illusion.)
Sicherlich hat sich unsere Auffassung von Rationalität seit Plato oder Kant gewandelt, aber mir ist nicht klar, wie man um die zwei Grundprämissen herumkommt: 1) Es handelt sich um ein Erkenntnisvermögen, dass universell, prinzipiell jedem Menschen gegeben ist. 2) Es ermöglicht uns, unsere Welt zu erschließen – sozusagen im Buch der Natur zu lesen (welches wohl recht mathematisch verfasst ist?)
Die Dellen, die Rationalität in der Moderne bekommen hat, könnte man doch durchaus auch als vertiefte Reflexion sehen, dass Vernunft versucht, sich weiter zu durchleuchten, zu erweitern. Auch für Google gilt doch Hilberts Motto: Wir müssen wissen, wir werden wissen. Nur kann dieser Erkenntnisprozess eben wie bei Kant (und Plato) auch etwas schmerzhaft werden und nicht unbedingt, das erwartete Ergebnis erbringen.
@Phorkyas
Ich habe versucht, die These »Rationalität bewirkt Herrschaftsfreiheit« zu beleuchten. Und diese wird immer, betone: immer überspannt, wenn der Kontext Ethik, bzw. Politik ins Spiel kommt.
Das Erkenntnisvermögen, aka der Verstand wird immer eine neutrale und (statistisch) weit verbreitete Eigenschaft des Menschen sein. Das schließt die Kommunikation ein. Selbstverständlich. Damit hat man aber noch keinen Boden für Ethik und Politik bereitet.
Rationalität ersetzt keine Loyalität (vorallem nicht im Krieg, sehr aktuell!), erzwingt keine Anerkennnung, garantiert keine »ewige« Kooperation. Das ganze Abendland leidet an einem überzeichneten Pragmatismus, würd’ ich ganz laienhaft sagen, der die Grenzen des Handelns nicht einsehen möchte.
Ich sehe deshalb keinen Sinn darin, die Rationalität zu »verteidigen«.
Kants Fetischisierung der Vernunft entsprang der Tatsache, dass er die Religion (also das Christentum) entzaubern wollte. Ein Christentum, das für ihn durchaus zur Unmündigkeit beitrug, weil sie das Leben an ein höheres Wesen delegierte. Hierfür stellte er die Religion auf die Seite (sich gegen sie auszusprechen, wäre alleine schon wegen der Zensur nicht möglich gewesen). Die Instanz der Ethik verschob sich damit von Gott auf den Menschen bzw. dessen Vernunft. Dass diese nicht allumfassend ist und fehlbar, war ihm natürlich klar. Aber hierin liegt eben die Verantwortung des Menschen. Vernunft ist kein Selbstläufer; Aufklärung kein Fertiggericht.
@ Gregor
Und damit erfand Kant auch das klassische Dilemma der Deutschen Philosophie. Sie sollte für unbestimmte Zeit zwischen der christl. Religion und den empirischen Wissenschaften positioniert sein, als hielte sie »Aktien« von beiden Feldern.
Dass diese Mittenposition immer hartnäckiger hinterfragt werden würde, vorallem von Leuten aus den eigenen Reihen, war klar. Die Total-Absage der Nutzlosigkeit, das Verdikt von der Weltflucht noch gar nicht einkalkuliert.
Es stimmt: die jederzeit »beengte Situation« eines Philosophen, das Go und NoGo des Denkens, kann man an dem kleinen Spießerchen K. sehr gut studieren. Ein Musterbeispiel für die Enge namens »Denken«.
@die kalte Sophie
Inwiefern ist der Verstand (das Erkenntnisvermögen) neutral? Und warum sollte es kein Boden (oder anders: ein Boden) für Ethik oder Politik sein? Das Bild scheint mir durchaus treffend, zumal der Boden ohne Wasser, Sonne (und Samen), noch keine Pflanze (Politik) sprießen lässt. — Insofern sehe ich Sinn darin, Rationalität zu verteidigen und anzuerkennen, man darf nur ihre Mängel und ihre Unvollkommenheit nicht übersehen.
Sie widersprechen ohne Argumente. Das liest sich wie Verwunderung.
Je, nun. Ich habe die Spielregeln nicht gemacht. Insofern kann ich nichts daran ändern. Der Verstand nach Kant ist reines Erkenntnisvermögen, da sind Ethik und Politik außen vor.
Natürlich können Sie den Begriff variieren und alles intelligente Handeln, Planung, Organisation, Kooperation, etc. ebenfalls zur Verstandestätigkeit rechnen. Aber dann ist der Verstand nur noch Info- und Schaltzentrum, und die Erkenntnisse Google-Ergebnisse. Dann sind wir weit weg von der Kant’schen Nomenklatur.
Was ich auch nicht verstehe: Sind Sie der Ansicht, dass die Rationalität verteidigt werden müsse, weil sie bedroht ist, oder tun Sie das nur um der Debatte willen? Wozu verteidigen?!
@die kalte Sophie
Kant trennt zwar Verstand und Vernunft, aber nur um festzustellen, dass sie beim Menschen nicht voneinander zu trennen sind bzw. der Mensch das Vermögen zur »praktischen Vernunft« hat, also das, was man gemeinhin Ethik nennt. Es geht am Ende um die »höchste Einheit des Denkens«. Nur »Verstand« wäre ein Affektwesen, ein Apparat. Kant, ob Spießerchen oder nicht, spricht dem Menschen die Möglichkeit und die Fähigkeit zu, den reinen Affekten zu entkommen.
Vielleicht wäre es hilfreich den Begriff Rationalität erst einmal zu definieren.
Die Enge der Vernunft
@diekalteSophie Ihr Kant-Bild deckt sich nicht mit meiner Erfahrung. Nehmen Sie nur die Vorworte der KdrV oder obiges Zitat (ist der aufklärerische Gestus darin nicht aufrührerisch, zeugt das Bild des Hrrumstolperns und der Blessuren, die man sich bei der Erkenntnisgewinnung holt, nicht davon dass Vernunft hier nicht als bloßes Kalkulieren verstanden wird?) In den Teilen der KdrV, die ich las, war soviel Bewegung, Suche nach den Erkenntnisgrenzen, dass mir das transzendentale Subjekt beispielsweise im Vergleich zu den Reflektionsmöglichkeiten der analytischen Sprachphilosophie so anmutet als sei man vom Kampfjet wieder auf die Draisine umgestiegen.
Gerade Kant gründet seine Ethik doch auf Vernunft (worauf auch sonst? Was würden Sie vorschlagen, wenn wir Gott außen vor lassen?)
Keuschnig hat vermutlich Recht, wenn er die fehlende Rationalitätsbegriffsbestimmung moniert. Zwei Grundannahmen scheinen mir zentral: 1) Die Welt ist so verfasst, dass es Gesetze, Regelmäßigkeiten gibt, die wir erfassen können. 2) Die Gabe diese Gesetzmäßigkeiten zu erfassen,ist prinzipiell allen Menschen gegeben.
Die Kant’sche Unordnung ist mir bewusst. Ich straffe die Begriffe dahingehend, dass ich dieses spezifische Schwanken beiseite lasse. Ich verbessere ihn, wenn ich darf.
Ich habe den Begriff »Rationalität« deshalb gerne benutzt, weil er mir moderner schien. Für mich fällt er mit dem (sublimierten) Kant-Begriff »Verstand« zusammen.
Identifiziere: Rationalität = Verstand (Kant+)
Streitpunkt jenseits begrifflicher Unsicherheiten (diese sind immer gegeben): Auf welcher Fähigkeit fußt die Ethik und die Politik?!
Ich bin der Meinung, auf Bindungen, Kooperation, Vorteilserkennung, Empathie, Kommunikation.
Das setzt den Verstand voraus, monierte Phorkyas.
Ich bin der Meinung: Nein, das ist irreführend. Der Verstand spielt auf der Ebene des komplexen Sozialverhaltens eine Nebenrolle. Es wäre rabulistisch, zu sagen: keine Rolle. Aber die große tranzendentale Ableitung, am Anfang war der Verstand, und der Verstand war bei... ‘m Menschen, und alle hatten daran Anteil... Dieser Transzendentalismus ist veraltert und rein akademisch. Darüber zu reden, glaube ich, lohnt sich nicht mehr. Oder?!
@die kalte Sophie
Mir war bzw. ist Ihr Kommentar oben unklar gewesen, deswegen die Fragen oder wie Sie schrieben: der »Widerspruch ohne Argumente«.
Da wir Vernunftkritik nach Kant thematisierten (Adorno, usw.), bin ich nicht davon ausgegangen, dass wir uns explizit auf ihn beziehen (es stimmt natürlich, dass wir auch über Kant diskutierten, insofern entstandenen vielleicht Unklarheiten). Ich verwende Begriffe meist meinem eigenen Verständnis nach, ansonsten führe ich es an oder man klärt es im Zweifelsfall (da seit Kant viel Zeit vergangen ist, gedacht und vor allem geforscht wurde, könnte man Definitionen und Konzepte falls notwendig überdenken und erweitern). Wenn ich die Dialektik der Aufklärung richtig im Kopf habe, dann ging es dort auch darum, dass Rationalität auch Verwaltungs- und Verfahrenslogik bedeuten und damit Massenmorden dienstbar sein kann (etwa wie Sie oben vorschlagen »intelligente[s] Handeln, Planung, Organisation, Kooperation, etc.«).
Ein erster, spontaner Definitionsversuch (auf Phorkyas Grundannahmen bezogen): Kategorisierung, Logik, Strukturierung, Systematisierung, Ordnung, Reflexion, das bedeutet in meinem Verständnis Rationalität (oder eben Verstand).
Politik und Ethik kommen ohne Logik aus? Ohne Ordnung? Ohne Kategorien? Ohne Theorie? Ohne Programme? Ohne Konzepte für die Zukunft? Ohne Erkennen der Wirklichkeit? Ich muss schon sehr bitten!
@ metepsilonema
Exakt, Politik und Ethik kommen ohne Logik aus, Ohne Ordnung, Ohne Kategorien, Ohne Theorie, Ohne Programme, Ohne Konzepte für die Zukunft, Ohne Erkennen der Wirklichkeit...
Siehe Bundesregierung bei Ukraine-Krise!
Natürlich sind das sophistische Nötigungen, denen niemand Folge leisten wird. Eine notwendige Bedingung ist nicht die »absolute Basis« gemeinsamen Handelns, weil die Welt jene lästige Eigenschaft, konkret zu sein aufweist. Und deshalb muss man nicht nur sagen, was man vorhat, wissen, was man braucht, sondern auch in wessen Namen und mit welchem Recht man es tut. Sprich: der alte Überflieger-Pragmatismus, gekennzeichnet durch ein Handeln »im Namen der Menschheit, getreu den Regeln des Völkerrechts und der Charta der U.N.« hat sich erledigt. Niemand hat das Recht, im Namen der Menschheit zu handeln. Eindeutig: post-kantianisch.
Weder ist der Verstand eine absolute Basis, die Vorbedingung des Anfangs, noch ist es irgendeinem Menschen möglich, im Namen der Menschheit Ethik zu treiben.
Ich weiß, das ist ein Steckenpferd der »Philosophen«, aber ich seh’ darin nur eine Überheblichkeit.
Wenn die Kategorie »Mensch« nicht in meinem Gehirn existiert oder geschaffen werden kann, werde ich sie (die Menschen) nicht erkennen und nicht mit ihnen interagieren können; wenn in meinem Gehirn keine Kategorien weiterer Lebewesen existieren oder sich bilden können, werde ich keine Ethik denken oder praktizieren können, weil ich nicht weiß wer die Adressaten sind und welche Behandlung ihnen zu teil werden soll, wer welche Rechte genießen soll, usw., kurzum: Ob das Handeln nun konkret sein soll oder abstrakte Schlüsse gezogen, die Welt muss erkannt werden (durchaus im banalen Sinn des Worts). Von einer absoluten Basis habe ich nicht geschrieben, sondern vom Boden, der das Wachstum einer Pflanze mit ermöglicht.
Beschreiben Sie doch eine alltägliche Situation (waches Bewusstsein) von der Sie meinen, dass Rationalität nicht benötigt wird, z.B. keine basalen Kategorien, keine Ordnung der Welt, usw., keineswegs in erkenntnistheoretischem Sinn.
@Metepsilomena
Tut mir leid, aber Kategorien gehören zu den simpelsten Verstandes-Funktionen überhaupt. Eine gewisse Körpertemperatur ist sicher auch wichtig, wenn’s um Ehtik und Politik geht.
Wie weit wollen Sie die Grundlagen des Denkens ins Banale verschieben?!
Da Sie es offenbar gewohnt sind, ethische Probleme mit erkenntnistheoretischen Problemen »kurz zu schließen«, weiß ich nicht recht, was ich noch sagen soll.
Ich werde jetzt erst mal meine Kommentare nochmals durchlesen. Angeblich steht da irgendwo, dass ich auf Rationalität verzichten möchte.
Das muss ich mir mal ganz genau anschauen. Man soll sich ja immer selbst überprüfen.
@die kalte Sophie
Wo schrieb ich denn, dass Sie geschrieben haben, dass Sie auf Rationalität verzichten wollen? Ich habe vorgeschlagen, dass Sie eine Situation beschreiben in der Rationalität nicht benötigt wird, weil ich gerne verstehen würde warum sie nicht verteidigenswert ist (etwas das ich nicht benötige, ist womöglich nicht der Verteidigung wert).
Ethik hat mit erkennen zu tun: Jemand der ein mystisches Einheitserlebnis hatte, kommt womöglich zu einer anderen Ethik als jemand der sich auf die Naturwissenschaft beruft, weil der Ausgangspunkt ein jeweils anderer ist.
Vielleicht noch zur Erklärung: Wenn wir darüber übereinkommen sollten, dass der Verstand grundsätzlich wichtige Funktionen erfüllt und ohne ihn die Welt nicht erkannt werden kann, haben wir eine Basis auf der wir weiter diskutieren können: Erstens stünde außer Streit, dass der Verstand wichtige Funktionen erfüllt, und zweitens könnte man weiter überlegen warum die systematische Erfassung der Welt durch den Verstand (Wissenschaft) und ein Primat desselben (Moderne) problematisch sind (sein könnten) und was daran nicht verteidigenswert ist (was mir immer noch unklar ist).
@metepsilomena
Beschreiben Sie eine Situation, in der Rationalität nicht benötigt wird...
Ich weiß nicht, ob wir noch deutsch miteinander reden, aber ich wüsste wirklich nicht, warum ich das tun sollte!
Dazu habe ich bereits gesagt: eine notwendige Bedingung stellt keine Basis für eine universelle Ethik dar. 37° Körpertemperatur, Stimmbänder, etc.
Oder noch deutlicher: mir fällt keine Situation ein.
Na und?!
Ich schrieb warum, aber gerne nochmal: Der Verstand (Rationalität) ist an der Basis simpler Welterfahrung für uns notwendig; als institutionalisiertes Prinzip, als Primat (Wissenschaft und Demokratie) erscheint er (möglicher Weise) problematisch, Ihnen eine Verteidigung als nicht sinnvoll. Ist das keine Diskrepanz (oder kein Paradox) über das nachzudenken wäre? Das zu begründen wäre?
Ich würde von Ihnen gerne etwas anderes als Behauptungen lesen, ich wiederhole mich auch hier noch einmal: Eine mystische Einheitserfahrung kann zu einer anderen Ethik führen als naturwissenschaftliche Erkenntnis; die Erfahrung das alles eines ist, billigt sogar einem Stein ein Existenzrecht zu; wer die Neurowissenschaften als Basis nimmt, nur bewusst (also Leid empfindenden) Lebewesen. Schreiben Sie doch einfach, ob das eine (in Ihrem Sinn) notwendige Basis ist oder warum es sonst ethisch irrelevant sein sollte!
Nun, der hohe Wert des Verstandes steht außer Frage. Die Absicht, Rationalität zu verteidigen, erscheint mir dennoch präpotent. Sie wird weder mehr noch weniger. Über die Abstufungen der Gaben zwischen den Individuen kann man trefflich spekulieren, aber die Summe bleibt konstant.
Verteidigen, hieße meiner Begriffsstutzigkeit nach: einer drohenden Minderung (in summa) entgegen treten. Oder seh’ ich das zu mathematisch?!
Die letzte Formulierung vom »institutionalisierten Verstand« komprimiert vermutlich das Problem, auf das Sie mich aufmerksam machen möchten. Die Demokratie und das Staatswesen sind hochgradig rationalistisch, formalistisch und legalistisch, schlampig gesprochen. Den Verstand, die Rationalität nicht mehr zu »verteidigen«, hieße in diesem Kontext, politisch die Segel zu streichen, und alle westlichen Einrichtungen der illegitimen Willkür zu bezichtigen.
Im Ernst: ich bin mir höchst unsicher, ob sie mir ein erkenntnistheoretisches oder ein rechtsphilosophisches Problem vorlegen möchten. Ich akzeptiere beides, keine Frage, aber ich kann nur ein Problem nach dem anderen begreifen.
Eine (leicht provokante) Verständnisfrage: Würden Sie sagen, Demokratie und Rationalität sind vereinbar oder unvereinbar?!
Mir ist erst während der Diskussion bewusst geworden, dass da zwei Ebenen existieren, die zwar (irgendwie) zusammengehören, aber auch wieder getrennt sind (man könnte sagen: eine biologische oder natürliche und eine künstliche vom Menschen geschaffene). Im Alltag gebrauchen wir unseren Verstand ganz unbewusst (in dem wir z.B. Gegenstände klassifizieren und unterscheiden oder systematisch auflisten was wir erledigen wollen), unzweifelhaft kommen wir ohne ihn nicht aus (in diesem Sinn würde ich Phorkyas Einwand »Allein, dass hier in dieser Kommentarspalte eine Diskussion stattfinden kann, in welcher sich Diskutanten manchmal ein wenig verstehen, bezeugt doch, dass es ein zumindest loses intersubjektives Band gibt« verstehen); ein »Unternehmen« wie die Wissenschaft ist etwas anderes, da ist Rationalität das einzig gültige (Erkenntnis)kriterium (im Alltag nicht), hat aber dennoch mit den biologischen Verstandesfunktionen (etwa der Fähigkeit zur Kategorisierung oder Systematisierung) zu tun. Ähnlich verhält es sich mit ethischen oder rechtsphilosophischen Erörterungen (wir nutzen unsere biologischen Verstandesfähigkeiten in künstlichen und sozialen Unternehmungen oder Institutionen). So weit so klar, hoffe ich.
Wenn man Rationalität nicht verteidigen möchte, so habe ich es verstanden und ich bin mir fast sicher, Sie haben etwas anderes gemeint, möchte man »Unternehmungen« wie Wissenschaft, Aufklärung oder Moderne, verwerfen oder sieht sie als nicht wichtig an (das ginge dann in die Richtung dessen, was unter dem Begriff Postmoderne verstanden wird, im Extrem ein ironisches Spiel mit allem, eine Gleichgültigkeit von allem, das Konzept der großen Erzählungen, eben jener »Unternehmungen«, die nun am Ende sind, und eben nur Erzählungen waren, usw.). — Sie scheinen die Verteidigung als nicht sinnvoll zu erachten, weil die Befähigung dazu nicht weit genug verbreitet ist, oder?
Das Problem, das ich meinte, war und das ist nicht ganz von der Hand zu weisen, dass der Verstand auch eine Form von Herrschaft ist oder Herrschaft ausübt, über Kategorien, Systeme, Begriffe, usw. (Adorno hat auf das Aus- und Einschließende der Begriffe hingewiesen); in der Aufklärung steckt im Grundsatz etwas Imperialistisches, das lange nicht bemerkt worden ist und der Wahrheitsbegriff der Wissenschaft und ihr alleiniger Anspruch auf Welterklärung, lassen alles andere als minder oder ungeeignet erscheinen (ich formuliere etwas plakativ). Etwas davon kann man in den Evolutionsdiskussionen finden, im Streit über die Religion; ich glaube auch, dass sich die Kälte der Rationalität in wissenschaftlichen Experimenten an Tieren zeigt; und letztlich ist die Wissens- und Informationsexplosion unserer Zeit eine Folge der Verstandestätigkeit, der Kategorisierung, der Benennung und Lösung von Problemen und ihrer Neuerschaffung; über Demokratie als Staatsform ließe sich vom Anspruch her ähnliches sagen, s.u. (wir kennen das Scheitern diverser Versuche im Irak, in Afghanistan, usw.).
Man kann sich nun von all dem verabschieden oder versuchen die Kritik aufzunehmen und einer reflexiv gewordenen Rationalität »die Stange zu halten« (das meint ich mit Verteidigung).
Demokratie bedeutet ein Primat des Verstandes für die Lösung und Verhandlung politischer Probleme, diese Primat spiegelt sich, genau wie Sie schreiben, in den Institutionen wider (es zählen Argumente und die besten Argumente tragen den Sieg davon). Wir alle wissen, dass die Realität eine andere, sehr viel gemischtere, ist, wie Wahlkämpfe gewonnen und Interessen durchgesetzt werden, wie medial manipuliert wird, usw. (Stichwort Postdemokratie).
Großteils einverstanden. Sie wollen eine flexible Rationalität »repräsentieren«, Sie dachten wohl nicht an die Lehre, der berühmte Teufelsfuß.
Ich bin kein Profi in Sachen Philosophie, aber ich glaube, Sie haben ein sehr gut verpacktes, ein »intestinales« Problem beschrieben, da Sie die Herrschaft der Begriffe, die Zwänge der Systematik und die Unterdrückung der Intuition (über Adorno) erwähnen. Es gibt das strukturelle Ungleichgewicht, die Professoren, die Prüfungen, etc. Das ist leicht zu erkennen. Es gibt aber auch noch eine nomenklatorische Gewalt, die subtiler ist. In der Tat findet man dort eine inflexible Sprache, gelegentlich bizarr, immer endfertig, seltsam fehlerlos und unpersönlich. Der Verstand zeigt hier deutlich seine kalte unmenschliche Seite, und selbst das kann noch Faszination erzeugen. Ich fürchte, diese Anmutung erinnert tasächlich an die rationalistisch durchgeführten Grausamkeiten der Geschichte, aber ich würde keine »innere Logik«, also eine Wesensverschwandtschaft zwischen den kalten Denkern und den Henkern vermuten. Das ginge zu weit. Das ginge in Richtung »Christuskomplex« (Psychoanalyse).
Was die Folgerung aus dem Ganzen sein kann weiß ich nicht; vielleicht hilft es Rationalität mehr als Methode denn als Selbstzweck zu begreifen, der Verstand ist kein Heiligtum, die Wärme kommt aus anderen Bezirken (ich habe mich vor ein paar Jahren einmal mit Ingeborg Bachmanns Rede »Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar« beschäftigt, da ging es um ähnliches, dort [pdf]).
Die Abstraktion von der Sie schreiben, verrät und verneint das Konkrete, das Individuelle, in dem es über Details hinweggeht und diese damit negiert (Statistik ist auch ein gutes Beispiel). Das ist einerseits notwendig (Wissenschaft), andererseits beginnt dort die Kälte (einen Massenmord organisiert man mit der selben Methodik wie einen Transport von Eisenerz). Es ist gar nicht die Kälte dessen, der letztendlich tötet, über die wir gerade diskutieren, sondern die Logik, die das organisiert und legalisiert (die ist mindestens genauso essentiell wie die Leute die am Ende töten, abgesehen davon sind es oft schon die Bedingungen der Lager und der Transportzüge, Hunger, Kälte, Krankheit, die eine immense Zahl an Opfern fordern und sicherlich kalkuliert sind).
Die Mathematik wäre der Gipfel der Abstraktion und da kommt dann, Sie deuten es an, wieder Schönheit ins Spiel (die ich nie nachvollziehen konnte, aber ich glaube es einmal). Und ganz seltsam wird es, wenn man die Musik betrachtet, die man als reine Mathematik auffassen kann und die uns doch wieder beim Hören oder Spielen in unbekannte Gefühlswelten führt.
Ich möchte den Bogen noch einmal zum Ausgangsthema zurückspannen: dem Internet als Antiaufklärungsinstrument. Ideengeschichtlich ist es doch genau andersherum. Am Anfang steht doch nicht nur der Missbrauch von Heeresgerät sondern auch die Ideen des freien, ungehinderten Austausch von Wissen (s. Barners-Lee, Usenet, Open-Source-Ideologien etc). Gerade auch die Wikipedia setzt doch auf offensichtliche Weise das Werk der Enzyklopädisten, Diderots fort; durch die Sammlung von Wissen und Fakten müsse die Welt sich schon verbessern lassen. Google und seine digitale Vermessung der Welt würde ich initial auch eher in diesen Kontext stellen (z.B. Googlebooks, Streetview).
Letztlich ist es einfach zu kompliziert: bei der Vielzahl von Diensten und Communities die auf dem Internet aufsetzen können, ist eine pauschale Aussage über deren Kultur oder Gesinnung schwierig. (Da ich beispielsweise seit ca. 2003 privat kein propietäres Betriebssystem mehr einsetze, mag meine Wahrnehmung, Priorisierung da auch nicht ganz unvoreingenommen sein)
Es wird auch von der weiteren Entwicklung abhängen; wenn sich ein repräsentativer Querschnitt der Bevölkerung im Netz aufhält, wäre hinsichtlich des antiaufklärerischen Moments die Frage zu beantworten, warum sich hier eine Verhaltensänderung einstellen sollte.
@ Phorkyas
Stimmt, gesetzt die »Aufklärung« als positives Projekt wäre fortsetzbar, rein hypothetisch... selbst dann kommen wir nicht mehr um eine Erörterung der Verfahren herum: Enzyklopädie, Vorlesungen, aktuelle Zeitungsartikel, Forumsbeiträge, Emails, Video-Podcasts, etc.
Selbst wenn man ohne persönliche Präferenzen an die Analyse geht (nicht leicht!), wird man sehr deutlich die begrenzte Wirkung und eine gewissen Anteil von unerwünschten Wirkungen erkennen. Die volle Wirkung besten Wissens und Gewissens wird man nie haben, gesetzt es hätte je einen solchen »Aufklärer« gegeben. Ich bin der Meinung, jeder Aufklärer in Person hatte auch seinen ganz persönlichen Schatten. Selbst Adorno. Natürlich auch Adorno.
@mete: Das klingt ein bisschen.. elitistisch, antidemokratisch: der Pöbel solle das Netz nicht weiter mit ihrem Müll verstopfen? Wie ließe sich denn eine Demokratie ohne das Volk machen? Nicht dass ich diese Anwandlungen nicht auch kennte – es reicht ja ein Blick in die Bild- oder Kronenzeitung – und auch in obigem Kantzitat schimmert Ungläubigkeit bis Verzweiflung über den Aufklärungsunwillen der meisten Menschen durch, und man kann sie ja auch nicht zwingen, schon die fremde Anleitung dazu (Pädagogik?) führt ja in eine kleine Aporie, aber wenn wir nicht noch die Hoffnung hätten, wie ginge das dann?
@sophie: Adorno hatte einen Schatten, da stimme ich zu.
@Phorkyas
Nein, ganz im Gegenteil: Ich meinte, dass sich ein repräsentativer Ausschnitt der Bevölkerung im Netz aufhält, und im Allgemeinen so handelt, wie sonst auch (zu zeigen wäre also, dass das Netz diese Gewohnheiten zum Schlechten verändert).
@phorkyas
Ist es eigentlich antidemokratisch und/oder elitistisch, wenn ich nicht jeden der möchte in meine Wohnung lasse?
Es nicht darum geht, dem Pöbel das Netz nicht zuzugestehen, sondern nur darum, ihm nicht mit Widmung zu begegnen.
Was zumeist vergessen wird: Aufklärung ist keine Einbahnstraße. Um es knapp zu machen kann man Gadamer, den großen Hermeneutiker, paraphrasieren. Ein Gespräch kommt nur zustande, wenn zugestanden wird, dass der andere auch Recht haben könnte. Aufklärung setzt eine Bereitschaft voraus – auf beiden Seiten. Hinzu kommt das Problem, dass der vermeintliche Aufklärer nicht selber ideologisch agiert. Das Internet als Aufklärungsinstrument bedeutet, dass es in einem diskursiven Prozess zu Erkenntnissen kommt, die über das hinaus gehen, was es vorher gab. (So ein mögliches Ideal; utopisch.) Stattdessen hat man oft genug das Gefühl im Netz stehen sich Armeen mit rivalisierenden Meinungssoldaten gegenüber, die alles mögliche beabsichtigen, aber eben nicht Erkenntnisgewinne. Das ist übrigens keine spezifische Eigenschaft des Netzes, wird aber dadurch sozusagen potenziert.
@Gregor Keuschnig: In Ihren Blog müssen Sie das Gesindel natürlich nicht lassen, aber da steht ja auch keine Wahlurne.
»Stattdessen hat man oft genug das Gefühl im Netz stehen sich Armeen mit rivalisierenden Meinungssoldaten gegenüber, die alles mögliche beabsichtigen, aber eben nicht Erkenntnisgewinne.«
Das bringt mich auch immer häufiger zum Abbruch der Lektüre. – Nehmen wir aber dieses Beispiel Ukraine-Konflikt; was da die Reaktionen im Netz ausgelöst haben, an Verunsicherung (bei Herrn Gniffke u.a.), wie die Herumeiern, sich Winden, Moskauer Hack-Attacken wittern und wie immer noch die Objektivität und Unvoreingenommenheit der eigenen Berichterstattung bescheinigt wird, das ist für mich als Zuschauer doch unterhaltsam, wenn andere sich sozusagen auf ihrem ideologisch blinden Fleck drehen – beim eigenen wäre das schon was schmerzhafter. (In einem anderen Kommentarstrang meinten Sie die neue Meldung der Süddeutschen, ich denke zu Putins Drohungen, sei erwiesernmaßen die Unwahrheit – das würde mich noch interessieren, falls Sie Zeit und Lust hätten darauf einzugehen.)
@phorkyas
Zur Ukraine/Putin-Sache werde ich nichts schreiben; es ist vermintes Gelände. Es gibt einige Artikel, die sich um eine etwas differenziertere Sicht bemühen, ohne gleich wieder in Propaganda abzudriften (bspw. hier und hier). Im verlinkten Blog ist auch aktuell ein Artikel, der mit dem Beginn der US-amerikanischen Bombardierung der IS in Syrien das Ende der Ukraine-Krise sozusagen ausruft. Dahinter steht der Gedanke, dass sich der Westen über die völkerrechtswidrige Annexion der Krim aufregt (hier steht das sie streng genommen nicht unbedingt völkerrechtswidrig ist, aber das sind Petitessen, über die schon niemand mehr redet) aber die Bombardierung in Syrien goutiert, obwohl die dortige Regierung wohl kein Einverständnis gegeben hat. Man könnte es Doppelmoral nennen. Wenn man es so nennt, kommt man sofort in Verdacht: Entweder man gilt als Putinversteher oder man wird sofort in die Ecke der Befürworter des Diktators Assad gerückt. So bequem geht inzwischen dieses Meinungstheater. Eigentlich gibt es kaum einen Unterschied bspw. zum 1. Weltkrieg in Deutschland. Wer damals nicht für diesen Krieg war, galt sofort als Vaterlandsverräter. Es ist lesenswert, wie die SPD sich damals gewunden hat, der Stigmatisierung aus dem Weg zu gehen: Die Abgeordneten, die gegen den Krieg waren, hatten vor der Abstimmung die Sitzung verlassen. So war die SPD dann offiziell einer Meinung.
Um den Faden des Threads ein bisschen aufzunehmen: Diese Gesinnungshuberei hat das Netz nicht verhindert, eher im Gegenteil.
Ich hab da noch ne Frage:
Gibt es eigentlich eine ernst zu nehmende Abhandlung, welche die »kommunikative Aufgabe« von den immer unstrittigen wissenschaftlichen Fortschritten trennt?!
Phorkyas brachte Gadamer ins Spiel, der wohl verstanden hat, dass sich »Wahrheitsansprüche« bzw »Wahrheitsbehauptungen« nicht einfach systematisch sortieren, prüfen und testieren lassen, dass es mithin also um etwas anderes geht als die Verlängerung der Wissenschaft bis in die soziale Interaktion hinein.
Die Einteilung wird aber auch fleißig zugeschüttet von Leuten, die ihre disparaten Einsichten zu allgemein gültigen Entscheidungskriterien hochstilisieren möchten. Anders gefragt: müssen wir uns wirklich dieser Vereinheitlichung des Wahrheitsbegriffs beugen, der wiss.Erkenntnis, simple Tatsachen und argumentative Behauptungen im Meinungsstreit zusammen fassen möchte?!
@Keuschnig: Ein kurzer Kommentar, ein paar Links, war alles wonach ich gefragt haben wollte. Danke.
@Sophie: Gadamer wurde von Keuschnig ins Spiel gebracht.