Als im Mai 2018 diese ungustiöse Geschichte mit der Ökopolitikerin und dem Bierwirt in der Wiener Josefstadt bekannt wurde, schienen mir der Fall und die Person nur ein weiterer Beleg für die Problematik der Identitätsverwischungen im Internet und die dadurch begünstigte moralische Verrohung. Jemand hatte der Nationalratsabgeordneten der österreichischen Grünen Sigi Maurer obszöne, beleidigende, mit sexueller Gewalt drohende Nachrichten geschickt. Die junge Frau ging damals oft in der Strozzigasse im 8. Wiener Gemeindebezirk an einem Bierlokal vorbei, und vom Facebook-Account dieses Lokals stammten die unerwünschten Emails. Maurer machte sie öffentlich, weil sie auf diese Art von Gewalt im Internet aufmerksam machen wollte. Sie nannte dabei auch das Lokal und seinen Betreiber. Der Mann behauptete, die obszönen Nachrichten nicht geschrieben und abgeschickt zu haben; sein Computer und der Account seien seinen Kunden zugänglich, die Emails könne »irgendwer« geschrieben haben. Er verklagte die Abgeordnete wegen Ehrenbeleidigung, in der Folge kam es zu Gerichtsverhandlungen, bei denen nun Maurer als Täterin dastand. Als dem Bierwirt die juristischen Felle davonzuschwimmen begannen, zog er seine Klage zurück. Knapp drei Jahre später wurde bekannt, daß ebendieser Mann seine Freundin und Mutter seiner zwei minderjährigen Kinder in deren Wohnung im 20. Bezirk erschoß. Er befindet sich derzeit (2021) in der Josefstadt in Untersuchungshaft, nicht weit von seinem ehemaligen Lokal.
Den Streit um die sexistischen Emails führte ich 2018 in einem Essay an, der dieser Problematik nachspürte und versuchte, ihr etwas entgegenzusetzen, freilich im Bewußtsein, daß ich mit der Einmahnung überlieferter humanistischer Werte auf verlorenem Posten stand; abgesehen davon, daß ich damit ohnehin nur ein exquisites Publikum erreichen konnte, genauer, die Leserschaft der Tiroler Kulturzeitschrift Quart. Der Mann oder die Frau, nicht einmal die geschlechtliche Identität schien gesichert, welche oder welcher der Nationalratsabgeordneten Sigi Maurer auf Facebook mit sexueller Gewalt drohte und sie übel beschimpfte, erschien mir als armes Schwein, das seine Aggressionen virtuell ausleben muß, weil er sich im wirklichen Leben nicht traut.
Die Redakteurin der Zeitschrift äußerte vor der Publikation Bedenken, weil sie verständlicherweise keine gerichtliche Klage riskieren wollte, wie sie Maurer inzwischen ereilt hatte, nachdem sie den Absender jener Verbalaggressionen identifiziert zu haben glaubte und öffentlich benannte. Der Bierwirt, von dessen Account die Emails ausgegangen waren, behauptete dagegen, sie weder geschrieben noch abgeschickt zu haben, und warf Maurer Verleumdung vor. Jetzt war er das Opfer und verlangte vor Gericht eine Entschädigung von 50.000 Euro. Nebenbei nützte er die Geschichte als Werbung für sein Geschäft, indem er für den Kurier davor postierte und sich ablichten ließ. Ich wunderte mich, warum im Verlauf des Prozesses kein Linguist zurate gezogen wurde, denn ich war mir sicher, daß ein Fachmann durch einen Vergleich der inkriminierten Emails mit anderen Texten des Bierwirts, die ebenfalls öffentlich waren, auf die Identität des Aggressors schließen konnte. Bestimmte stilistische und orthographische Merkmale schienen mir ganz klar auf seine Identität hinzuweisen.
Mittlerweile hat sich der Mann als realer Gewalttäter hervorgetan. Er hat die Sau, die offenbar über Jahre hinweg sein Inneres beherrschte, nicht nur im Schutz digitaler Anonymität herausgelassen, sondern durch körperliche Gewalt und den Gebrauch einer Schußwaffe. Zugesetzt hatte ihm vor der Tat nicht nur die Trennung von seiner nachmals ermordeten Freundin, sondern auch die Niederlage im Prozeß gegen Maurer. Die Verbalaggression im Jahr 2018 ist nach seinem tödlichen Wüten drei Jahre später sekundär, wenn auch nicht unerheblich. Vergessen sollte man sie deshalb nicht, weil der Fall zeigt, daß es zur Verwirklichung von anonym oder pseudonym verbreiteten Phantasien nur ein Schritt ist und die digitale Verrohung früher oder später eine reale nach sich zieht. Daß Maurer den Fall damals publik gemacht hat, hat immerhin bewirkt, daß eine Verbesserung der Gesetze zur Ahndung von virtueller Gewalt im Internet in Angriff genommen wurde. Hier waren Anpassungen überfällig.
Albert L., wie der Bierwirt mit bürgerlichem Namen heißt, wurde in einem Gerichtsgutachten nach dem begangenen Mord als zurechnungsfähig eingestuft. Er ist für seine (mutmaßliche) Tat verantwortlich und wird nicht wie bei den Emails von 2018 behaupten können, »irgendwer« habe sie begangen. Das Problem mit diversen Internetforen ist nach wie vor, daß das endlos ausweitbare Spiel mit virtuellen Identitäten das Verantwortungsbewußtsein und damit oft auch das Unrechtsbewußtsein der Einzelnen – aka User – aushöhlt und einen verheerenden Einfluß auf die Persönlichkeitsentwicklung haben kann. Das Arschloch, als das Maurer einem weiteren Gerichtsbeschluß zufolge Albert L. bezeichnen durfte, bleibt kein Arschloch, es wird zum selbstherrlichen Gewalttäter. Der Bierwirt scheint sogar »seine« Richterinnen in seiner Wahrnehmung sexualisiert zu haben. Berufliche Gegebenheiten, persönliche Zuständigkeiten und sexuelle Gelüste scheint er nicht trennen zu können. Er mag antisozial sein, wie es im Gutachten heißt, und ziemlich abgedreht, wie man umgangssprachlich wird sagen dürfen, oft auf Drogen (was freilich für gar nicht so wenige Mitbürger gilt, die deshalb nicht gleich durchdrehen). Der Bierwirt verkörpert einen Typus von Mann, der nicht zuletzt durch die sogenannten Sozialen Medien geformt wurde, sich selbst zwanghaft im Mittelpunkt sieht und nicht gewillt ist, auch nur zu versuchen, sich in andere – gar ins andere Geschlecht – einzufühlen. »Ich zuerst« lautet sein Slogan. Wenn etwas nicht so läuft, wie ich es mir vorgestellt habe, bin ich das Opfer von Machenschaften, Verschwörungen usw. Diese potentiellen Gewalttäter sind wehleidig, sie können es nicht verkraften, bei einer Auseinandersetzung den kürzeren zu ziehen. Ich ein Verlierer? Unmöglich! Da können nur andere schuld sein. Und daß man das Leben auch anders auffassen kann, nicht nur als Kampf, sondern als Zusammenwirken, auf diese Idee kommen sie überhaupt nicht.
Es ist nicht dasselbe. Und doch. Der US-amerikanische Präsident, der sich immer noch als »Lieblingspräsident« der Massen sieht, hatte wochenlang den Betrug an ihm und wieder ihm ins (sozial-)mediale Spiel gebracht und diesen Betrug, als er nicht geschah, twitternd herbeibehauptet. Seine Anhänger setzten das verbale Um-sich-Schlagen des Präsidenten in die Tat um, indem sie das Kapitol, in dem das Parlament zu tagen pflegt, stürmten, was für einige unter ihnen tödliche Folgen hatte. Der Typus des populistischen Politikers – aggressiv und zugleich wehleidig – weist Ähnlichkeiten auf mit dem Typus des männlichen Sexisten, der in Extremfällen Taten begeht, die man in letzter Zeit als Femizide bezeichnet, weil sie einem bestimmten Muster folgen, in dem der in seiner Eitelkeit verletzte narzißtische, für Gespräch und Mitgefühl unzugängliche Mann die Hauptrolle spielt. Natürlich sind Gesetze sinnvoll und notwendig, die das private oder politisch-öffentliche Wüten unter Strafe stellen. Langfristig kann aber nur eine Änderung gesellschaftlicher Werthaltungen helfen. Das betrifft nicht nur das Männlichkeitsbild, sondern die Persönlichkeitsbildung unabhängig vom Geschlecht, den Umgang mit dem Internet und besonders in den Sozialen Medien, die Fähigkeit zum Verstehen und zum Gespräch vor jeder Selbstdarstellung. Ich fürchte, daß das in den Schulen und Elternhäusern über Jahrzehnte hinweg zu kurz gekommen ist.
Das alles sind nun keine Neuheiten, im Gegenteil, es sind im Lauf jahrhundertelanger abendländischer Geschichte überlieferte, nicht erst seit der Verbreitung des Internets, sondern seit dem Siegeszug des Neoliberalismus ins Hintertreffen geratene Werte. Die Kunst wird darin bestehen, sie unter den heutigen Bedingungen von Digitalisierung und Automatisierung zu erneuern, also technologisches Know-how mit humanistischen, vermenschlichenden Fähigkeiten zu verbinden. Die virtuellen Welten nicht dazu zu mißbrauchen, um sich als ungreifbares proteisches Ich überall herauszureden und gegebenenfalls aus dem Schatten zuzuschlagen, sondern um unser Vorstellungsvermögen mit Blick auf die Wirklichkeit zu schärfen.
© Leopold Federmair
Ich finde die »Karriere« vom Hasser im Netz zum »Mörder« nicht schlüssig abgeleitet. Er erinnert mich an die von mir nur noch am Rande erfahrenen Vorbehalte meiner Großmutter und deren Generation gegenüber Büchern. Die konnten ja auch wahlweise Kinder, die Jugend oder die ganze Welt verderben.
Der Text konstruiert aus einer Korrelation eine unausweichliche Kausalität. Dabei gibt es kaum reale Fakten, außer das, was in den Medien zu lesen ist – und wer weiß, wie vollständig es ist. Die »Verbalaggression« im Netz wird zur logischen Vorstufe zum »Mord« an seiner Freundin. Demnach müsste das Land übersät sein von Tötungen.
Nach eventuellen Ursachen, »Gründen« für die Tötung (die das Geschehene nicht billigen, sondern irgendwie erklären könnten), ist nicht die Rede. Gab es vorher Streit? Wollte die Frau den »Bierwirt« vielleicht verlassen? Es könnte sich um eine Affekttat gehandelt haben. Im Text steht übrigens durchgängig »Mord«. In Deutschland gibt es ja noch den Totschlag, d. h. eine Tötung ohne Vorsatz beispielsweise im Affekt. Womit wird die Einstufung als Mord gerechtfertigt?
Die Aussage, dass der »Bierwirt« (auch über diese pejorative Bezeichnung könnte man diskutieren – wieso nicht »Wirt« oder »Gastwirt«?) durch sogenannte soziale Medien zum Mörder »geformt wurde«, steht ohne Beleg da. Wie alt ist er? Seit wann ist er in den sozialen Medien tätig? Was hat er dort gemacht (außer einer grünen Politikerin Hassnachrichten zu schicken)? Hat er vielleicht sonst auch herumgepöbelt? Sicherlich wird man seinen Computer inzwischen beschlagnahmt haben. Welche Erkenntnisse hat das gebracht?
Ich glaube übrigens, dass es durchaus Persönlichkeiten gibt, die sich beispielsweise von Ballerspielen zu Mordtaten »inspirieren« lassen können. Können. Nicht müssen. Hieraus pauschale Schlüsse zu ziehen, hielte ich dennoch für voreilig, zumal damit allzu oft eine Schuldminderung behauptet wird. Das akzeptiere ich überhaupt nicht.
Am Schluss wird dann wieder der Pappkamerad »Neoliberalismus« ins Bild geschoben. Aber darüber haben wir ja schon mehrfach diskutiert.
Es lag nicht in meiner Absicht, eine strikte Kausalität oder gar schicksalhafte Entwicklung vom Verbalaggressor zum Realaggressor zu behaupten. Ich denke, so steht das nicht im Text. In dieser Person, dem »Bierwirt« Albert L., den die österreichischen Massenmedien 2018 so getauft haben (ich übernehme den Beinamen, der in der Tat auf einen Zusammenhang zwischen regelmäßig übermäßigem Alkoholkonsum und Gewaltbereitschaft verweist), gab es eine Disposition zu gewalttätigen Handlungen. Wie diese entstanden ist, kann ich nicht genau sagen, der Bierwirt ist ja nur sehr beschränkt eine öffentliche Figur. Sicher ist das polykausal, nicht monokausal. Was mich an diesem Fall interessiert hat, ist der sehr verbreitete, gewissermaßen »normale«, alltägliche Gebrauch von Anonymität und Pseudonymität, wie er durch die Sozialen Medien ermöglicht wurde. Meine These ist, daß dieses verbreitete Spiel mit falschen Namen dazu führen kann – nicht muß -, daß Identität überhaupt ausgehöhlt wird, indem sich ein Subjekt z. B. für seine Äußerungen nicht mehr verantwortlich fühlt. Solche Verantwortlichkeit muß wie gesagt nicht zwangsläufig zu Gewalt führen, ich denke aber doch, daß es diese fördert. Man läßt im Internet, in den Sozialen Medien (= SM), in den diversen Foren gern die Sau raus. Im Fall des Bierwirts liegt eine Parallelität zwischen verbaler, anonymer Triebenthemmung und realer Triebenthemmung vor, die im Mord gipfelt. Daß das eine das andere zwangsläufig nach sich zieht, sage ich nicht. Sehr wohl aber könnte die beschriebene anonyme/pseudonyme Praxis jene Disposition bestärkt haben. So sieht heute der allgemeine soziale, digitalisiert-soziale Rahmen aus – mit den älteren Warnungen vor Lektüre läßt sich das kaum vergleichen.
Was mich als Beobachter sozialer Entwicklungen weiters interessiert, ist der immer mehr aufklaffende, in den SM blühende Widerspruch zwischen dem Sich-Verstecken und Sich-Verkleiden einerseits, dem Drang zur Selbstdarstellung, zur Veröffentlichung von Privatem andererseits, manchmal in ein und derselben Person. Hier könnte man den Fall des »Drachenlords« – als exemplarischen Extremfall – anführen, wo Gewaltscharmützel im Netz sich ebenfalls ins Reale verlagert haben. Sascha Lobo hat seine Einschätzung des Falls »Drachenlord« unlängst lang und breit im Onlinespiegel ausgeführt (https://www.spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/der-fall-drachenlord-ein-jahrelanges-martyrium-in-deutschland-und-niemand-haelt-es-auf-kolumne-a-91b94ce3-ab01-4ac1-9286-d85bea144928). Ich glaube – ohne mich genau damit auseinandergesetzt zu haben -, daß vieles von dem dort Gesagten zutrifft, halte aber gleichzeitig dafür, daß die Praktiken von YouTubern dieses Schlags selbst zur Gewalttätigkeit neigen. Das dürfte auch für den Drachenlord gelten. YouTuber sind vorwiegend Spaßmacher (neben den Werbefritzen und ‑friederiken sowie den Verschwörungstheoretikern). Die Überbietungslogik der SM treibt sie dazu, immer gröbere Späße zu machen. Auch die obsessive Selbstdarstellung führt dann, wie das anonyme Umherschleichen, Stalken usw., in bestimmten Fällen zu realer Gewalt – ohne Kausalitätslogik, um das noch einmal zu betonen.
Es lag mir nicht daran, die Geschichte des Bierwirts im einzelnen zu erzählen. Es liegt in der Natur der Sache, also des ano/pseudonymen Agierens, daß man darüber nicht allzuviel weiß, wenn man nicht unter die Investigationsjournalisten gehen will. Was durch die österreichischen Medien bekannt wurde: Der zunächst nur der Verbalaggression verdächtigte Mann, heute 46, betrieb ein Bierverkaufs- und ‑schanklokal, seine Freundin, Vorname Marija, war die Mutter seiner beiden Kinder, ich glaube, beide Teenager, lebte aber nicht mit ihr zusammen. In den Medien war von »On-Off-Beziehung« (komischer Ausdruck) die Rede. Er ging bewaffnet zur Wohnung der Freundin, drang in die Wohnung ein, d. h., er überredete die 13-jährige Tochter, die vor ihm Angst hatte wie die ganze Familie, zum Aufsperren, und kurz darauf erschoß er Marija, die sich vorher »endgültig« von ihm getrennt hatte. Ein Verwandter des Bierwirts meinte auch, daß ihm seine »Niederlage« (so wird er das empfunden haben) gegen die Politikerin Sigi Maurer, eine Frau, ebenfalls zugesetzt hatte. Unmittelbar nach seiner Tat betrank sich der Bierwirt schwer, vor dem Haus, in dem er Marija erschossen hatte. Anscheinend wollte er sich in einen Zustand der Unzurechnungsfähigkeit bringen. Aber erst nachträglich; vorher dürfte er nicht schwer betrunken gewesen sein. Es deutet also vieles auf Mord hin. Ich fühle mich nicht durch die »Unschuldsvermutung« gezwungen, diese Mordvermutung hier zu unterdrücken. Natürlich steht das Gerichtsurteil darüber noch aus. Es gibt aber überhaupt keinen Zweifel daran, daß Albert L. der Täter ist.
In letzter Zeit gab es in Österreich viele Morde an Frauen, die man sich als »Femizide« zu bezeichnen angewöhnt hat. Ich weiß nicht, ob die Bezeichnung gut ist, aber jedenfalls verweist sie auf ein Phänomen, das durch verkommene Geschlechterbeziehungen hervorgerufen ist. Der hier besprochene Fall ist wohl ein Femizid. Die Verrohung, die ich beobachten zu können glaube (und bei der die Digitalisierung mit der Praxis der SM eine Rolle spielt, aber keineswegs NUR die Digitalisierung), trägt m. E. dazu bei, daß solche Verbrechen geschehen. (Sicher, es gab auch früher Femizide... Diesen Einwand, der so oft kommt, habe ich keine Lust zu diskutieren, er blockiert eher das Nachdenken, als daß er dabei hilft.)
Neoliberalismus: Ich sage lediglich, daß man mit diesem Wort die Rahmenbedingungen bezeichnen könnte, die auf sehr viele Lebensbereiche wirken, und zwar seit den achtziger Jahren, vor der Digitalisierung.L
Es geht mir nicht um die Unschuldsvermutung. Dass der sogenannte »Bierwirt« die Tat verübt hat, sollte klar sein. Es geht mir darum, dass man sich anmaßt vom Schreibtisch aus das Urteil »Mord« auszusprechen. Selbst wenn Indizien dafür sprechen – Indizien, die man allerdings wohl nur aus Medien erhalten hat. Die könnten unvollständig sein oder schlichtweg falsch. Könnten. Ich frage mich immer, wie man sich zu solchen Behauptungen aufschwingen kann.
Der Gedanke, dass die Anonymisierung im Internet solche Taten in irgendeiner Form beschleunigen könnten, ist durch nichts unterfüttert. Wie gesagt, es gibt anonyme Hass-Mobs und es ist sicherlich leichter geworden als früher, Menschen zu beschimpfen und zu stalken. Die justiziablen Möglichkeiten sind hier immer noch sehr schwierig. Aber ich kann den Zusammenhang zwischen einem Mord oder Totschlag und der Anonymisierung im Internet wirklich nicht erkennen.
Von der »Drachenlord«-Geschichte kennen wir, nein: kenne ich nur diese Version. Ich weiß nicht ob sie stimmt bzw. was weggelassen wurde.
Lassen wir unsere Differenzen stehen.
Off topic: Wie Sie sehen, ist diese Seite mausetot, was meine Lust zum Aufhören verstärkt. Demnächst mehr.
Zu diesem Text habe ich mir einige Einwände notiert.
Einwand #1: Jemand hat Sigrid Maurer die privaten Nachrichten nicht vom Facebook-Account des Bierlokals gesendet, sondern vom persönlichen, auf seinen Namen lautenden Facebook-Account des Albert L. Screenshots davon sind ohne weiteres recherchierbar. Damit ist der »Beleg« für die Problematik der Identitätsverwischungen im Internet als unzutreffend erkennbar, an dem der gesamte nachfolgende Text keinen Halt finden kann. Anonymität/Pseudonymität haben im gewählten Fallbeispiel gerade keine Bedeutung. Dennoch spielt der Text damit, um sich daran, was real nicht vorhanden ist, zu entwickeln und Vorstellungen darauf zu projizieren. Der Text entgleist faktisch bereits zu Beginn unrettbar.
Einwand #2: Sigrid Maurer wurde erstinstanzlich der üblen Nachrede schuldig gesprochen, da sie private Nachrichten unter Nennung der nach richterlichen Ansicht unbewiesenen Urheberschaft auf Facebook veröffentlicht hatte. Berücksichtigt man dies in Einheit mit dem oben aufgezeigten Einwand, drängt sich die Frage nach der Verantwortlichkeit für einen offenen Software-Account auf, der auf einem frei zugänglichen Rechner vorgefunden wird. Auf dem Rechner des Albert L. konnte auch vom Account eines als reale Person existenten Max Mustermann gepostet werden, diesfalls nicht L., sondern Max Mustermann zu beschuldigen wäre. Diese wesentlichen Zusammenhänge spielen im Text keine Rolle. Auch der verlinkte Text im Quart scheitert (nicht nur) daran.
Einwand #3: Der Text setzt nicht nur den Irrtum in #1 mit dem »Schutz digitaler Anonymität« fort, sondern behauptet eine »herausgelassene Sau«. Damit schließt der Text einerseits in Unkenntnis der Dynamik unmittelbar vor den Schussabgaben die Möglichkeit eines Affektsturms aus, andererseits unterstellt der Text damit L. verdeckt ein latentes Mordbedürfnis.
Einwand #4: Die Lebensgefährtin des L. beendete eine fünfzehnjährige Beziehung wenige Tage zuvor, nachdem ihr Vater L. wegen verbaler Ungebührlichkeiten aus der Wohnung verwiesen hatte und L. daraufhin eine Waffe auf den Vater gerichtet hatte. Der Vorfall, bei dem die Freundin zugegen war, wurde – wohl aus Rücksichtnahme – nicht angezeigt. Diese Begebenheit ist dem Text sichtlich unbekannt.
Einwand #5: Der Text sagt: »Die Verbalaggression im Jahr 2018 ist nach seinem tödlichen Wüten drei Jahre später sekundär, wenn auch nicht unerheblich. Vergessen sollte man sie deshalb nicht, weil der Fall zeigt, daß es zur Verwirklichung von anonym oder pseudonym verbreiteten Phantasien nur ein Schritt ist und die digitale Verrohung früher oder später eine reale nach sich zieht.«
In der Verbalaggression hatte er unter anderem einen Geldbetrag für eine an ihm befriedigend vorgenommene Fellatio ausgelobt. Mit dem Tötungsdelikt an seiner Lebensgefährtin hat die gegenüber Maurer geäußerte Phantasie allerdings exakt nichts zu tun – der Fall zeigt das mitnichten. Schließlich wurde Ls. Lebensgefährtin nicht durch Ersticken infolge blockierter Atemwege zu Tode gebracht und andererseits Maurer nicht mit dem Erschießen bedroht. Dieser Fehlschluss trägt die Bezeichnung »non sequitur« und ist allenthalben zu finden in sich intellektuell herausragend wähnenden Zirkeln, vornehmlich in Chefredaktionen von Qualitätszeitungen beheimatet. Rund um solche Fehlschlüsse werden schließlich allerlei Phantasien und Hirngespinste gepflanzt und als Leitplanken für das Denken des gemeinen Volkes verbreitet.
Einwand #6: Der Text behauptet reale Verrohung als zwangsläufige Folge (»früher oder später«) digitaler Verrohung, weil der Fall des L. zeige, »daß es zur Verwirklichung von anonym oder pseudonym verbreiteten Phantasien nur ein Schritt ist«. Abgesehen von der Fortschreibung des Irrtums in #1, wird Ursache und Wirkung verkannt (Fehlschluss »post hoc ergo propter hoc«). Damit digitale Verrohung sich zeigen kann, muss zwingend eine Verrohung auf anderer Ebene – z.B. des Denkens (Vorurteile, etc.) – vorliegen, welche ihrerseits im täglichen Leben – z.B. in gesellschaftlichen Interaktionsmustern oder in veröffentlichten [Zeitungs]Texten – in Erscheinung tritt.
Einwand #7: Der Text stellt den L. als »Typus von Mann« vor, der nicht zuletzt durch die sozialen Medien geformt werde. Eine denkbare psychopathologische Problemstellung greift der Text nirgends auf. Albert L. wurde 1978 geboren und in völliger Abwesenheit von digitalen »sozialen Medien« sozialisiert. Es sei ins Bewusstsein gerufen, dass Twitter und Facebook erst seit 2006 bzw. 2004 online sind. Auch wenn man der Theorie von der lebenslangen Plastizität psychischer Eigenschaften zuneigt, wird man Gewicht und Bedeutung der psychischen Entwicklung des Menschen bis in das frühe Erwachsenenalter nicht geringschätzen können. Psychopathologische Auffälligkeiten werden bei Menschen mittleren und höheren Lebensalters ( > 40) durch soziale Medien nicht geformt, sondern bloß für eine breite Öffentlichkeit sichtbar. Mit der im Text vorgenommenen Typisierung geht die Ausblendung einer zumeist gut behandelbaren psychischen Störung einher. Sublime Aussage des Textes: Diese Typen sind unveränderbar so und zudem potentielle Gewalttäter.
Einwand #8: Der Text spricht ausdrücklich von Mord (»seiner nachmals ermordeten Freundin« bzw. »nach dem begangenen Mord«), wenn auch an einer Stelle als in Klammer gesetzte Mutmaßung relativiert. Dass darüber ein Gericht zu entscheiden hat, ob ein Mord vorliegt, wird in einer kommentierenden Anmerkung bereits zugestanden. Dennoch eine Mordvermutung geltend zu machen, ist unter »Irrtum“ zu subsumieren. Dazu im Detail: Der Täter gab zwei Schüsse ab. Einer traf einen Oberschenkel des Opfers, der andere den Kopf. Der Ankläger hat unter anderem den Tathergang zu beweisen. Wo wurde das Opfer zuerst getroffen? Eine der beiden Varianten ist wesentlich wahrscheinlicher; diese würde ich als Verteidiger mit Nachdruck vertreten, weil damit die angeklagte Mordabsicht effektiv in Zweifel zu ziehen ist.
Als bemerkenswert darf auch der performative Widerspruch des Textes gelten. Von überlieferten, ins Hintertreffen geratenen Werten ist darin die Rede, deren Erneuerung anstünde . Der Text bringt, wie aufgezeigt, Irrtum, Vorurteil und Vorverurteilung zum Ausdruck mit der abschließenden Mahnung „[...], sondern um unser Vorstellungsvermögen mit Blick auf die Wirklichkeit zu schärfen“. Einer dieser ins Hintertreffen geratenen Werte wird wohl mit „Gerechtigkeit“ bezeichnet. Ein anderer Wert heißt „Aufklärung“, dem die im Text vorgenommene Typisierung zuwider läuft.
Der Text – nicht der Autor, wohlgemerkt! – steht geradezu exemplarisch für die intellektuelle Verrohung einer gehobenen Bildungsklasse mit ins Extreme kultiviertem Distinktionsanspruch. »Wer wirtschaftlich erfolgreich ist, hat recht« – ein Mantra neoliberal-privilegierter Selbstversicherung. Wer sich am Ausdruck »gehobene Bildungsklasse« stößt, ersetze ihn mit dem Ausdruck »Abhängende«. Während die »Abgehängten« sich bislang eingestehen mussten, gesellschaftlich nicht mehr Schritt halten zu können, formulieren die »Abhängenden« mittlerweile unverhohlen despektierlich, dass sie mit den anderen nichts zu tun haben wollen.
Der rechtskräftig angeklagte L. führte einen kleinen, heruntergekommenen »Craftbeer«-Laden, den wohl auch der Autor (Vorsicht: reine Spekulation!) um nichts in der Welt betreten hätte. Den neoliberal-privilegierten Abhängenden attestiere ich nicht nur Unwillen, sondern blankes Unvermögen, die langfristig schlimmstenfalls radikalisierenden Folgen manifester Armut und täglicher Existenzangst sich zu vergegenwärtigen und daraus gesellschaftlich relevante Schlussfolgerungen zu ziehen. Darüber umfassend sich zu informieren und sodann nachzudenken sei ihnen daher wärmstens anempfohlen.
Zusammengefasst kann ich dem verunglückten Text nichts abgewinnen. Ich nehme ihn als Totalschaden wahr.
(betreffend verbliebener orthografischer Auffälligkeiten erbitte ich Nachsicht)
Im Kommentar von h.z. wäre nun auch einiges zu berichtigen. Ich will aber nicht kleinlich sein und vor allem den Wald sehen, nicht nur die Bäume.
Der Computer und der FB-Account des Albert L. war seinen Kunden bzw. Gästen zugänglich, gab dieser vor Gericht an. Deshalb könne die inkriminierten Mails »irgendwer« (sprich: jedermann) geschrieben haben, er aber sei es nicht gewesen. M. E. hätte man die Urheberschaft durch vergleichende Textanalysen (Stil, Orthographie) leicht herausbekommen können. 2018 wunderte ich mich, daß das nicht geschah. Der Bierwirt wollte sich seiner Verantwortung entziehen und die Anonymität des Netzes – einst als »Offenheit« gelobt – dafür nützen. Darum ging und geht es mir. Selbstverständlich gibt es bei der Persönlichkeitsentwicklung sehr verschiedene Faktoren. Im frühkindlichen Stadium ist auch heute der Einfluß Sozialer Medien gering. Ich glaube aber sehr wohl, daß die heute verbreitete Form der Internetkommunikation vorhandene Tendenzen bestärken kann. Verweigern von Verantwortung ist natürlich älter als das Internet. Unter den gegenwärtigen Bedingungen der Digitalkommunikation hat sich dieses Phänomen nach meiner These aber verstärkt und verschärft. Das heißt nicht, daß jeder, der SM nutzt, verantwortungslos ist oder wird.
Daß Albert L. die Familie seiner Freundin in deren Wohnung mit einer Schußwaffe bedroht hatte, war mir sehr wohl bekannt. Es ist dies, zusammen mit anderen Indizien, die ich z. T. erwähne, ein weiterer Grund zur Annahme, es habe sich um einen Mord gehandelt. Wieso dringt jemand man mit einer Schußwaffe in die Wohnung einer »befreundeten« Familie ein? Natürlich muß ein Gericht das alles im Detail klären.
Ich vertrete keinerlei Fatalismus oder Determinismus der Entwicklung und des Verhaltens von Individuen. Jeder hat die Möglichkeit, von einem eingeschlagenen Weg wieder abzugehen. Was mich aber interessiert, sind die Auswirkungen digitalisierter und vernetzter Kommunikation auf die sozialpsychologischen Verhältnisse. Und ich stehe zu meiner Behauptung , daß diese Auswirkungen massiv seien und überwiegend nicht sehr erfreulich (was natürlich eine Frage von Werten und Wertungen ist). In der Bildungspolitik – vor allem Schulen – werden meist nur technische und finanzielle Aspekte, Computer für alle, schnelles Internet usw., beachtet. Geistige, menschliche, soziale, psychische Zusammenhänge – Chancen und Gefahren – fallen dabei unter den Tisch. Es gibt in den meisten Schulen keinen Unterricht, der das berücksichtigen würde, und zwar weltweit. Meine Überlegungen laufen immer wieder auf die Frage hinaus, wie man Digitalisierung und überlieferte humane, humanistische Standards unter einen Hut bringen kann.
P. S. Der gehobenen Bildungsklasse gehöre ich nicht an, ich bin Autodidakt und stamme aus kleinen Verhältnissen. Hin und wieder suche ich immer noch »heruntergekommene Lokale« auf. Wirtschaftlich erfolgreich bin ich nicht, im Gegenteil, ich habe Angst vor der sog. Altersarmut (bin jetzt 64).
@ h.z.
Noch etwas. Der Bierwirt hatte seine Klage gegen Sigrid Maurer zurückgezogen, der Richter sprach Maurer daraufhin frei. (Info z. B. hier: https://www.spiegel.de/panorama/justiz/oesterreich-gruenen-politikern-sigrid-maurer-freigesprochen-a-3a4ab18d-6dd3-488f-b7db-b81243889ea9). In einem weiteren Prozeß wurde Maurer in Wien bestätigt, daß sie Albert L. auch »Arschloch« nennen durfte. (https://futurezone.at/netzpolitik/urteil-sigi-maurer-durfte-bierwirt-arschloch-nennen/401177866) Ihre Darstellung ist, wenn nicht mutwillig irreführend, so zumindest tendenziös. Maurer ist hier nicht Täterin, sie war Opfer. Verdrehen Sie das nicht!
Also, ich lese eine kurze Geschichte über das Töten, wo anschließend ein notorischer US-Präsident einen Gastauftritt hat. Diesen Epilog hätte ich weggelassen, weil der Narzissmus von Trump zwar exemplarisch aber keineswegs berufsuntypisch ist. Was wir ohne schräge Vergleiche auch für Sigi Maurer feststellen können. Es trifft ja keine Unschuldigen, wie der Zyniker sagt... Im Ernst, Psychoanalyse hat einen begrenzten Anwendungskreis, und ich würde mich von vorne herein thematisch beschränken, entweder auf das durchschnittliche Individuum unter sozialem Druck, oder auf die exorbitanten Teilnehmer auf der politischen Bühne, deren »Persönlichkeit« auf uns alle zurückwirkt.
Ich stelle auf der Basis meiner Selbsterprobung über die letzten Jahre hinweg fest, dass die Differenz zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten immer noch stabil ist. Ich weiß, wo ich mich befinde, und was ich mir leisten darf, und was nicht. Allerdings schließt diese Funktionalität keineswegs die Urteilssicherheit in politischen Fragen ein. In diesem Bereich erlebe ich eine ständige Verunsicherung bzw. Frustration. Dürftige Informationslage, Sprachverhunzung, Endlos-Werte-Diskussion, Funktionärsdummheit, und Früh-Präpotenz beim Nachwuchs. Das Politische wird giftig, wie mir scheint, jedenfalls der Dosis nach. Den Abstand zu diesen Zumutungen findet der geplagte Zeitgenosse ganz sicher im Privaten, es sei denn da geht es ebenfalls drunter und rüber, dann ist wirklich guter Rat teuer.
Wogegen ich mich streube, ist eine Überdimensionierung des Öffentlichen (von Öffentlichkeit), wie sie die politische Aktivität gewissermaßen nach sich zieht. Ich würde das bürgerliche Individuum eher als randständigen Teilnehmer begreifen, nicht als den prototypischen »Politiker«. Der Klassenbegriff (bourgeois) ist ohnehin obsolet, aber ich denke, es macht schon einen gewaltigen Unterscheid, ob ich nur eine Meinung habe, zu diesem oder jenem Thema, oder ob ich aktiv auf andere zugehen, sie überzeugen oder bekämpfen muss. Politik als Beruf, wie Max Weber sagte, ist nicht der existenzielle Normalfall. Es kann (um Leopold entgegen zu kommen) sein, dass der eine oder andere »Psycho« die Grenze zwischen dem teilnehmenden Bürger und dem kombattanten Ekel inzwischen nicht mehr findet, aber genau diese Entartung haben wir ja schon mit dem Begriff »Wutbürger« erfasst...
@Leopold Federmair
Wenn Sie mich ansprechen, erwarte ich, dass Sie sich argumentativ auf meine Einlassungen beziehen. Auf dem Niveau Ihres Nachschlages #6 gibt es mit mir keine Verständigung. Wenn Sie nennenswerte Berichtigungserfordernis in meinen dargelegten Einwänden erblicken, legen Sie Ihre Anmerkungen vor, sodass ich mich damit auseinandersetzen kann. Auf Ihren als gönnerhaftes Hinwegsehen camouflierten Diskreditierungsversuch meiner vorgestellten basalen Textanalyse verzichte ich. Soweit zur unmittelbaren atmosphärischen Standortbestimmung.
Mit der Behauptung, Albert L. wollte sich seiner Verantwortung entziehen, indem er auf die Möglichkeit des »Irgendwer« als Verfasser der Mails verwies, irren Sie abermals. Der Ankläger zieht den Angeklagten zur Verantwortung und nicht umgekehrt. Ankläger: Albert L., Angeklagte: Sigrid Maurer. Diese Form der Unterstellung findet im journalistischen, wie auch im politischen Alltag breite Anwendung. Sie wird meines Wissens nach »Framing« genannt.
Maurer hatte das Recht und die Möglichkeit, im Strafprozess den Wahrheitsbeweis für ihre Behauptung der Urheberschaft Ls. zu erbringen. Vor dem erstinstanzlichen Richter blieb diesem Unterfangen der Erfolg versagt, daher verantwortete sie den Vorwurf der üblen Nachrede mit Urteil. Die den angebotenen Wahrheitsbeweis ablehnende Argumentation Ls. (welcher der Richter letztlich folgte), »irgendwer« hätte die Mails schreiben können, ist aus rein logischen Gründen ohne Frage zulässig und insofern unbestreitbar, wie auch vom Berufungsgericht anerkannt.
Das Urteil gegen Maurer wurde daher mit der leitenden Begründung aufgehoben, dass die Latte für den gelingenden Wahrheitsbeweis vom Erstgericht geradezu unerreichbar hoch angesetzt wurde und somit lebensfremd erschien. Im zweiten Rechtsgang zog L., wie Sie zutreffend erwähnen, seine Anklage schließlich zurück, weshalb Maurer von einem anderen Richter ohne inhaltliche Würdigung des Klagsvorwurfs aus formalen Gründen freigesprochen wurde.
Und noch eine Anmerkung zum vorgetragenen Narrativ: Nirgendwo ist die Information zu recherchieren, dass L. Tage zuvor in die Wohnung eingedrungen sei, in der er den »Schwiegervater« mit einer Waffe bedroht hatte. Mir drängt sich mittlerweile der Verdacht auf, dass hier ein confirmation bias wirksam ist.
Die Anonymität des Netzes spielte im gewählten Fall überhaupt keine Rolle. Nirgendwo wurde behauptet, dass Ls. Facebook-Account etwa geknackt oder sonst in irgendeiner Weise virtuell missbraucht worden sei. Immer war die Rede von anwesenden Personen, die physischen Zugang zu Ls. Rechner hatten.
Die Problematik der Anonymität des Netzes sei damit keineswegs vom Tisch gewischt, möchte ich ausdrücklich betonen. Der gewählte Fall des Albert L. ist aber – wie bereits ausführlich gezeigt – denkbar ungeeignet für eine an sich interessante Fragestellung und Thesenentwicklung. Dafür einen der Ansätze in #7 (die_kalte_Sophie), z.B. das Verhältnis zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten, zu wählen, hielte ich für wesentlich ergiebiger.
P.S. Dass ein promovierter Philologe als Autodidakt und als nicht der gehobenen Bildungsklasse zugehörig sich definiert, erstaunt einigermaßen, ist aber nicht weiter zu erörtern.
@ h.z.
Was ich in meinem Kommentar #6 schreibe, bedarf keiner großen Erläuterungen. Maurer wurde in erster Instanz wegen übler Nachrede schuldig gesprochen. Dieses Urteil empfand ich wie viele andere als skandalös. M. E. hätte man die Identität des Verfassers und Absenders der Beleidigungen und Drohungen (= A. L.) ohne weiteres feststellen können. Tendenziös ist in Ihrem ersten Kommentar, daß Sie mit keinem Wort erwähnen, daß Maurer im März 2019 in zweiter Instanz vom Oberlandesgericht Wien freigesprochen wurde. Dieses zweite Urteil, und nur dieses, ist rechtskräftig. Aber das Entscheidende dabei ist: Maurer wurde zunächst und aus heiterem Himmel, ohne daß sie ihm etwas zuleide getan hätte, von jenem Mann angegriffen. Maurer ist die Angegriffene, nicht A. L., der spätere Mörder oder Totschläger – das Gericht wird es feststellen.
@ h.z.
Noch zur Vorgeschichte der Bluttat: Journalisten gegenüber »erhob allerdings der Vater (der getöteten Ex-Freundin von Albert L.) schwere Vorwürfe, dass der Tatverdächtige in der Woche vor der Tat bei einem Streit bereits Schüsse – auch in Richtung des Kontrahenten – abgegeben habe. Das bestätigte die Rechtsvertretung der Opferfamilie, die Anwältin Astrid Wagner, gegenüber der APA. ‘Dazu sind aber noch Erhebungen im Gange.’ Von einer Anzeige sah die Familie jedoch ab.« Der Vater sagte dann noch, eine Anzeige sei nicht erstattet worden, weil man befürchtet hatte, A. L. zu reizen und dadurch die Familie in Gefahr zu bringen. Es bestand also bereits die akute Gefahr eines Femizids. Leider konnte er nicht verhindert werden. (https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/chronik/wien-chronik/2103542-Bierwirt-soll-eine-Woche-vor-der-Tat-Schuesse-abgegeben-haben.html)
Ich habe Ihnen nun schon einige Quellen genannt. Genügt Ihnen das nicht? Ich versuche, mich auf Tatsachen zu beziehen. Daß sie bereits durch journalistische Darstellung gefiltert sind, ist unvermeidlich. Trotzdem kann sich jeder ein Bild von den Vorfällen machen.
@Leopold Federmair
Ich nehme zur Kenntnis, dass Sie meine unter #4 formulierten Einwände zum vorgestellten Text trotz Anmahnung in #8 nicht behandeln wollen. An einer Verhandlung der (mir durchaus bekannten) Berichterstattung zum Kriminalfall möchte ich nicht mitwirken.
Weiters halte ich fest, dass ich kein Interesse daran habe, Ihnen persönlich nahe zu treten, wenn ich offenkundige Fehlschlüsse benenne. Wie zuletzt in #10, worin aus den (nach der Tat) erhobenen Vorwürfen des Vaters der Getöteten und dessen geäußerten Befürchtungen verfehlt (»non sequitur«) auf das Bestehen einer akuten Gefahr eines Femizids geschlossen wird. Das Tötungsdelikt konnte im Übrigen gerade aus dem Grund nicht verhindert werden, dass niemand den Vorfall bei der Polizei melden wollte. Dieser kausale Zusammenhang dürfte nicht nur dem trauernden Vater äußerst schmerzhaft bewusst geworden sein.
Den unfruchtbaren Austausch betrachte ich damit als beendet – ich betreibe keine Jagd auf Autoren.
@ sophie, und auch h.z., und überhaupt
Der Fall Albert L. ist vielleicht nicht das beste Beispiel, um den Themenkomplex Internet-Anonymität-Identität- Gewalt zu erörtern. Das stimmt. Mich schockierte und interessierte zunächst die Auseinandersetzung zwischen Albert L. und Sigi Maurer, die Art, wie mit Cybermobbing und sexualisierter (Verbal-)Gewalt umgegangen wird. Dann, drei Jahre später, schockierte und interessierte mich der Mordfall oder Tötungsfall, wie Sie’s nennen wollte, in Wien-Leopoldstadt, wo dieselbe Person der Täter war. Ich fragte mich, ob und welche Zusammenhänge es zwischen beiden Ereignissen geben könnte. Ich glaube, es gibt welche. Aber es ist richtig, es gibt zahllose andere Fälle, die ebensogut und besser diesen Themenkomplex erhellen.
Ich glaube Sophie aufs Wort, daß sie (oder er) zwischen Öffentlich und Privat trennen kann. Und noch eine Beobachtung: In diesem Blog äußern sich mehr oder weniger alle unter Pseudonym. Ich bin womöglich der einzige, der unter Klarnamen schreibt (so daß man z. B. in Sekundenschnelle eruieren kann, ob ich einen akademischen Abschluß habe oder nicht). Trotzdem geht es hier sehr zivilisiert zu, auch wenn die Meinungen oft weit auseinandergehen. Was sicher auch der Art zu danken ist, wie Gregor Keuschnig (auch ein Pseudonym) seine Rolle als Gastgeber spielt.
Ich lese ebensoviel oder mehr französische Zeitungen im Internet wie deutsche und bin daher teilweise mehr über Frankreich informiert als über Deutschland, Österreich, Schweiz. In Frankreich wird derzeit Cybermobbing an Schulen diskutiert. Dieses scheint ungeheure Ausmaße zu haben und ganz alltäglich zu sein. Kürzlich erhängte sich eine Vierzehnjährige, nachdem sie zwei Jahre lang von Mitschülern gemobbt worden war, vor allem im Netz – »Soziale Medien«! -, aber auch in der Wirklichkeit. Den entscheidenden Tipp, wie man sich erfolgreich erhängt, erhielt sie übrigens auch von einer Internetseite. Beschimpft wurde sie nicht nur als Lesbe, weil sie offenbar lesbische Neigungen entwickelt hatte, sondern zunächst als »intello«, weil sie eine sehr gute Schülerin war (sic! müßte ich hier als Akademiker schreiben). Klug sein ist offenbar für den Mainstream dieser Jugendlichen schimpflich, denn die, die sie mobbten, waren keine Minderheit.
Ich finde all diese Fälle erschütternd. Natürlich gab es Mobbing auch vor dem Internet. Und es kann sein, daß durch das Alltäglich-und-allgegenwärtig-Werden von Öffentlichkeiten eben mehr ans Tageslicht kommt. Trotzdem scheint mir, daß die Entwicklung des Internets und besonders der SM da zu neuen Dimensionen und damit auch zu einer neuen Qualität geführt hat. Natürlich gilt das in erster Linie bei Digital Natives, bei jungen Leuten, die mit WhatsApp etc. aufwachsen. Und sicher gilt es nicht für alle, auch das nehme ich wahr.
Zu reden wäre auch über den populistischen Persönlichkeitstypus, wenn ichs so nennen kann. In eine Kurzformel gebracht: Hart gegen die anderen, weich gegenüber mir selbst. Ständig austeilen, nichts einstecken wollen. Ich zuerst. Da sehe ich durchaus Parallelen zwischen Leuten wie Trump und Leuten wie dem Bierwirt. Sehen Sie sich z. B. diesen Artikel an, v. a. das Foto, wie der Bierwirt vor seinem Lokal posiert: https://kurier.at/chronik/wien/causa-craft-beer-den-ruf-krieg-ich-nie-wieder-weg/400143314. Einerseits beschwert sich Albert L. über »Verleumdung«, andererseits versucht er, wo es nur geht die gewonnene Öffentlichkeit zu nützen. So wird man heute ein erfolgreicher Geschäftsmann. Bis man ausrastet und alles in die Brüche geht.
Wäre ich im Netz oder in der Zeitung auf einen Text über einen »Bierwirt« gestoßen, der seine Frau oder Freundin umgebracht hat, hätte ich ihn nicht gelesen. Meist wird das boulevardesk abgehandelt mit der erforderlichen Prise Action. Aber warum soll mich ein solcher Fall in Wien oder Los Angeles oder Zagreb interessieren? Wäre der Text von Leopold Federmair gewesen, dann hätte ich ihn gelesen, weil ich mir einen Mehrwert über die bloße Sensationalisierung hinaus versprechen würde. Tatsächlich verknüpft der Text ja eigentlich zwei Straftatbestände, die eine Person begangen hat und setzt sie in eine Beziehung zueinander.
Wo man früher bei der Schilderung von Tötungsverbrechen und Serienmördern immer rasch auf die Kindheit des Schuldigen rekurriert hat, so wandelt sich inzwischen mehr und mehr das Bild hin, anderen Umständen, die in der Gesellschaft angelegt sind, Bedeutung zuzumessen. Ich halte dies für richtig, weil nicht jede Kindheit, in der sich beispielsweise die Partner getrennt haben, psychopathische Menschen zurücklässt, die stehlen, erpressen oder morden. Inzwischen versucht man die Komplexität von Entwicklungen zurückzuverfolgen, nicht um die Straftat zu entschuldigen, sondern um sie zu erklären. Das gelingt mal mehr, mal weniger.
Der vorliegende Text nimmt nun einen Fall heraus, der die Hypothese des Autors, dass die sogenannten »sozialen Netzwerke« mit ihrem Hang zur »Pseudonymisierung« über Gebühr schädliche Einflüsse auf die Entwicklung von Menschen in einer modernen Gesellschaft haben, illustrieren soll.
Das erinnert nicht nur an die Eruptionen in den gehobenen Ständen des 18. Jahrhunderts, als der Pöbel mehr und mehr in die Lage versetzt wurde, sich die Welt in Zeitungen und Büchern zu erschließen. Die Entwicklung der Popularisierung und umfassenden Verbreitung des Geschriebenen, der Abschied von den Priestern, die bisher die Deutungshoheit über göttliche wie weltliche Dinge hatten, ist durchaus mit dem, was wir heute Digitalisierung nennen, vergleichbar. Das hat bis weit in das 20. Jahrhundert hinein Generationen geprägt.
Residuen solchen Denkens findet man immer dann, wenn zum Beispiel bei Amokläufern eine Affinität zu sogenannten »Ballerspielen« festgestellt wird. Meist sind sie dann noch »Waffennarren«. Rasch ist das Küchengericht zum Urteilsspruch gekommen. Dass bei manchen Tätern ein Automobil oder sogar nur ein Messer genügt und dass sie noch nie Videospiele gespielt haben, kann man getrost ausblenden.
Natürlich kann Gedrucktes zu üblen Taten inspirieren. Man denke an Goethes Werther, der eine Art von Selbstmordwelle ausgelöst haben soll (man liest mal so, mal so). Und die fortwährende Hetze in den Zeitungen gegen Juden im Deutschland der 1930er Jahre dürfte den ohnehin schwelenden Antisemitismus angestachelt haben. Aktuell mobilisiert sich der international vernetzte radikale Islamismus über das Netz (hierüber hört man verblüffend wenig). Und es ist auch nicht auszuschließen, dass die eigentlich als Ventil gedachten »Ego-Shooter«-Spiele bei einigen Protagonisten die Hemmschwellen zu einer realen Tat verwischen oder gar abbauen.
Ich leugne nicht, dass die Digitalisierung Mobbing-Phänomene noch einmal auf eine andere Stufe gebracht hat. Die Vorgänge um jemanden wie Toerleß befremden uns nur noch. Heute läuft es anders. Es ist auch nicht zu verharmlosen. Aber das Problem der Digitalisierung ist die Sichtbarkeit, die solche Phänomene fast noch befördert. Wie wir von Grubenunglücken in China, Busunfällen auf Sri Lanka oder Flugzeugabstürzen über dem Pazifik praktisch in Echtzeit erfahren, so werden heute die Fälle von Cybermobbing publik.
Ich gestehe, dass mich der Fall der Politikerin eher mässig interessiert. Sie hat die Möglichkeiten, gegen die Beleidigungen vorzugehen, genutzt. Das ist richtig. Aber es ist meine (unbeweisbare) These, dass in ähnlichen Fällen bei anderen, nicht so prominenten Menschen, die Ermittlungen mehr oder weniger fruchtlos eingestellt worden wären. Aber Prominenz und Präsenz lassen natürlich die Behörden ermitteln.
Dass diese justiziablen Beleidigungen in irgendeinem Zusammenhang zu einer Tötung stehen, haben Sie weder mit dem Text noch in den Kommentaren schlüssig erklären können. Das ist – ich wiederhole mich da – vermutlich auch gar nicht möglich, weil die Öffentlichkeit nicht in Kenntnis der Ermittlungen ist. Insofern ist der Satz »Trotzdem kann sich jeder ein Bild von den Vorfällen machen« der größte Trugschluss – gerade in vorliegendem Fall. Das »Bild« ist eben nur ein unvollständiges, durch Medien gefiltert, ja, aber, und das ist erheblicher: es fehlen einem schlichtweg elementare Fakten. Wir haben gerade kein Bild des Vorfalls – wir haben nur einen Ausschnitt.
Trotzdem wird der Bogen gespannt von der Beleidigung einer Politikerin im Internet zu einer Tötung, die, weil inzwischen die Problematik des »Mord«-Begriffs mit Händen zu greifen ist, mit dem Modewort »Femizid« bezeichnet wird. @h.z. hat in einer eindrucksvollen Analyse (insbesondere Punkte 4 bis 8) auf die Widersprüchlichkeiten in der Argumentation des Textes hingewiesen. Es wäre nun sinnvoll im Rahmen einer Diskussion – falls man diese denn wünscht – darauf einzugehen. Die Aussage, dass es »zahllose andere Beispiele« gibt, ist sehr unkonkret. Stattdessen wird – ist es Verzweiflung? – der »Bierwirt« mit Trump verglichen. Und zur Unterstützung wird ein Link zu einem Bild der inkriminierten Person gepostet (ist er es wirklich? ist das sicher?), welches wiederum nur auf bestimmte Vorurteile beim Leser zielt (tätowiert, virile Erscheinung, heruntergekommenes Lokal).
In einem muss ich Ihnen allerdings zustimmen: Es ist unmöglich, im Internet, oder, besser: in einer schriftlichen Kommunikation, komplexe Sachverhalte zu analysieren, ohne dass es eines enormen Ausmaßes an Zeit bedarf. Alle Diskussionen müssen ab einem bestimmten Punkt schlichtweg scheitern. Man kann, anders als im mündlichen Gespräch, nicht nachfassen, nichts einschieben. Das bedeutet nicht, dass mündliche Diskussionen ergiebiger sind, aber sie bieten einfach mehr Variationsmöglichkeiten. Daher sind einer solche Webseite wie Begleitschreiben Grenzen gesetzt. Was noch geht, sind ein paar Smalltalk-Bemerkungen, Klarstellungen oder Ergänzungen. Das ist hier in der Vergangenheit manchmal sehr schön gelungen. Immerhin.
Zu dem verlinkten Artikel aus der österreichischen Zeitung Kurier: Natürlich ist das Albert L. auf dem Foto. Er posiert regelrecht, versuchte damals, 2018, noch Werbung für sein Lokal zu machen, während er sich gleichzeitig über die Veröffentlichung seiner Emails an Maurer echauffierte. Diese widersprüchliche Haltung, immer auf die eigenen Interessen aus, meine ich mit »populistischer Persönlichkeit« (vielleicht gibt es einen besseren Ausdruck, aber dieser Typus ist im Zusammenhang der rechtspopulistischen Milieus oft anzutreffen, sowohl bei »Führern« wie auch bei Underdogs – in Österreich war schon Jörg Haider so). Hier noch ein Link, um das alles und auch die Identität des visualisierten Albert L. zu bestätigen (und ich betone noch einmal: er wollte SELBST in die Medien): https://kurier.at/chronik/wien/mordanklage-fuer-bierwirt-in-20-jahren-will-ich-meine-kinder-sehen/401787305
Über seine Biographie finde ich kaum etwas. Interessant scheint mir auch zu sein, daß ihn der Prozeß gegen Maurer, den er SELBST angestrengt und letztlich verloren hat, »fertig gemacht« hat, wenn man seinen Äußerungen trauen kann (er hat sich mehrmals in diesem Sinn geäußert). Wieder der selbe Mechanismus: Ich, de facto zunächst ein Täter, bin das arme Opfer. Ein sexistischer Aggressor, der sich von den Frauen verfolgt fühlt. Hier ein Zitat: »Eine Anrainerin des Bierlokals von Albert L. erzählt dem eXXpress am Freitag, der “Bierwirt” hätte die Tage vor der Tat außergewöhnlich viel getrunken. Sein Leben war eine einzige Abwärtsspirale. Immer wieder soll er über die letzen Wochen und Monate lamentiert haben, “die Maurer” hätte sein Leben zerstört. Gemeint hat er die jetzige grüne Klubchefin Siegrid Maurer und den Rechtsstreit, den er gegen sie führte.« (Quelle: https://exxpress.at/causa-bierwirt-das-letzte-kapitel-eines-verpfuschten-lebens/)
Was ist denn an diesem Foto kritisierenswert, das es als »posieren« abqualifiziert wird? Was hat es mit der Tötungstat zu tun? Ich verstehe es wirklich nicht. Jetzt ist es nicht mehr Trump sondern Haider. Beide haben meines Wissens nach niemanden direkt umgebracht, wie beispielsweise damals Jack Unterweger, der Liebling des intellektuellen Wien.
Scheinbar sind Sie taub gegenüber jedem Einwand, was gegen Ihre Kausalitätsthese angebracht wird. Stattdessen zitieren Sie Boulevard-Zeitungen, die man normalerweise nur mit spitzen Fingern anfasst.
Wie es der Zufall will, lese ich gerade »Coddling the America Mind«. Die Analysen von Jonathan Haidt mit dem Fokus Universität/Jugendpsychiatrie verdeutlichen die Tatsache, dass wir es bei den SM und den bildbasierten Medien mit einem eminenten Problem zu tun haben. Die gesundheitlichen Schäden sind statistisch erkennbar. Angststörungen und Depessionen florieren.
Auf der anderen Seite der Pathologiemedaille (Leopold ist da ja sehr hartnäckig, eine allgemeine, sozusagen »virile Pathologie« zu entwerfen) stehen die aktiv/destruktiven Entgleisungen bei Männern, von den vernetzten Attentätern bis zu den vom Autor sog. »populistischen Persönlichkeiten«. Ich bin unglücklich mit dieser Polit-psychologischen Bezeichnung, wie schon gesagt, weil sie das Feld der Betrachtung maximal überdehnt. Psychologie hilft nicht gegen Trump, oder wen auch immer. Und Terrorismus oder Autoritäre gab’s schon vor der Erfindung des Radio. Wir müssen uns in Bescheidenheit üben, wenn wir etwas erklären wollen.
Zu besagter »Persönlichkeit« dennoch eine Anmerkung von Jordan Peterson über (ja, tatsächlich) Adolf Hitler. Wenn man seine krasse Pathologie und ihre politischen Folgen mal abträgt, wie die Schichten über einem Kohleflöz, dann kommt ein Typus zum Vorschein, der in dem einem Universum vielleicht Unterhaltungskünstler, in dem anderen vielleicht Massenmörder gewesen könnte. Peterson charakterisiert AH als kreativ-offenen aber zugleich extrem ordnungssensiblen Menschen, mit paranoiden Dispositionen für Hygiene und einem starken Sinn für Loyalität. Wenn man diese Anlagen besitzt, sollte man a) sich nicht viel im Internet rumtreiben, und b) möglichst die aktive Zone der Politik vermeiden. Auch für die Ehefrau wird’s nicht ganz leicht...
Warum nicht das Internet?! Ganz einfach: es gibt dort keine Möglichkeiten, seinen moralischen Goldstandard den Anderen (der Netzgemeinde) abzuverlangen. Die haben eigene andere Kriterien. Oder sie wollen nur spielen... Das wird unseren Avatar-Adolf auf jeden Fall auf die Palme bringen. Die mangelhafte »Wirksamkeit« der eigenen Forderungen und Interventionen macht es dann nötig, die Mittel zu verschärfen, was natürlich nach hinten losgeht. Aus Ärger wird Wut, und aus der Wut heraus entstehen Anschlagspläne! Allerdings wäre der Mord an der Exfrau kein politisches Attentat »by-proxy«, da müssen wir schon etwas genauer sein, wie gesagt.
Auf Hitler habe ich gewartet, jetzt fehlt nur noch Stalin. Alles Herrschaften, die auch ohne Internet Ihre Massenverbrechen ausüben konnten. Mir fällt aus jüngerer Vergangenheit noch Pol Pot ein, der aus seinen Studienzeiten in Frankreich von Rousseau inspiriert wurde.
Es wurde ja bereits darauf hingewiesen, dass im konkreten Fall eine Sozialisierung über das Internet nicht stattgefunden haben kann, weil der Wirt 1978 geboren wurde. Die nächste Leerstelle ist, ob er sich auch anderweitig im Netz pöbelnd betätigt hat. Wenn nicht, stellt sich die Frage, warum er sich diese Politikerin ausgesucht hat.
Dass die Digitalisierung massive Auswirkungen auf die mentale Verfassung der heutigen Jugend hat, steht außer Zweifel. Dass diese negativer Natur sein können ist längst Gegenstand von Untersuchungen. Ich weigere mich allerdings immer den Gegenstand als solchen verantwortlich zu machen. Ein Messer ist nie Schuld. Es ist immer derjenige, der damit zusticht. Wie gross diese Schuld im juristischen Sinn ist, muss dann entschieden werden. Einen Determinismus gibt es schlichtweg nicht. Das fällt manchen Welterklärern schwer zu glauben, weil es dann schnell kompliziert wird.
Zu #15: Jetzt stellen Sie sich aber dumm, werter Gregor. Posieren ist doch nicht an sich schändlich, das tun viele Leute tagtäglich. Besonders auf dem ersten von mir zitierten Foto ist das Posieren des Albert L. offensichtlich. Ich habe doch auf den Widerspruch hingewiesen, daß der Mann sich einerseits darüber beschwert, daß sein Name in die Öffentlichkeit gebracht wird, und gleichzeitig diese Öffentlichkeit für sich zu nutzen sucht. Es ist ganz offensichtlich, daß er dem Bericht über ihn im Kurier zugestimmt hat, daß er mit dem Journalisten redete und für den Fotografen posierte. Vor dem Lokal, aus dem die obszönen/aggressiven Postings kamen. Um diesen Widerspruch ging es mir. Das Ganze war 2018. Zum Mörder oder Totschläger wurde der Mann drei Jahre später. Einen logischen Kausalzusammenhang behaupte ich nicht.
Trump und Haider erwähne ich nicht als Mörder, so etwas unterstelle ich nicht, obwohl Trump am 6. Januar 2021 fahrlässig gehandelt hat und in der Folge – kein Kausalzusammenhang! – fünf Menschen starben. Ich erwähne beide, weil sie einen narzißtischen Persönlichkeitstypus verkörpern, der in den vergangenen Jahren/Jahrzehnten populär wurde. Warum und wieso, in welchem Kontext, welche Werteverschiebungen sind da im Gange: diese Fragen interessieren mich, in wenigen Sätzen läßt sich das aber nicht abhandeln. Den Bierwirt sehe ich in diesem Kontext – wobei ich zugebe, daß ich nicht viele Informationen über ihn habe, nur die in den Massenmedien zugänglichen.
A propos Boulevardzeitungen: Der Vater des Opfers hat sich solchen gegenüber zu der Tat geäußert. Das ist nun mal so. Warum soll man das nicht zitieren dürfen? Ansonsten Zitiere ich Spiegel, Standard, Wiener Zeitung, ORF – kein Boulevard.
Gregor kämpft gegen Windmühlen; eine gelungene Analyse schließt die Verantwortlichkeit doch nicht aus, sondern EIN. Natürlich ist der Bierwirt ein frauenschindendes Großmaul, dem seine öffentlichen Interventionen gegen die grüne Hypermoralistin aus dem Ruder gelaufen sind. Was er bedauert, auf eine rhetorisch abwegige, selbstmitleidige Art. »Sie hat mein Leben zerstört...«. Daran macht Leopold dann einen »unbegreiflichen Selbstwiderspruch« fest. Also bitteschön, meine Herren! So mysteriös ist der Mensch nun auch wieder nicht.
Die systematische Frage, ob das Internet die Gewaltbereitschaft befördert, ist auch nicht mit der Generationenbetrachtung ausgeschöpft. Das Internet bietet den Schutz durch Anonymität und verstärkt durch die Abwesenheit non-verbaler Signale (evolutionär entscheidende Kompetenzen!) die Neigung zu Gratis-Bosheit und niederschwelligen Gemeinheiten. Es begünstigt... das Böse! Da ist der Mord, ganz klar, nicht die maßgebliche Fallhöhe. Leopold hat einfach einen viel zu fetten Braten aufgetischt, populistische Politiker und Gattenmorde sind (stimmt!) etwas zu viel Boulevard...
@Leopold Federmair
Naja, wenn man ständig für dumm verkauft wird, erstaunt es nicht, wenn man sich entsprechend gebärdet.
Selbstverständlich konstruieren Sie einen Zusammenhang. Er steckt schon der Überschrift. Und die Aussage »Er hat die Sau, die offenbar über Jahre hinweg sein Inneres beherrschte, nicht nur im Schutz digitaler Anonymität herausgelassen, sondern durch körperliche Gewalt und den Gebrauch einer Schußwaffe«, ist eindeutig als Kausalität zu deuten.
Wenn man über Werteverschiebungen in Gesellschaften diskutieren will, sollte man m. E. entsprechende Literatur heranziehen oder im konkreten Fall die Prozessakten studieren. Letzteres dürfte nicht möglich sein; die Verhandlung ist zwar öffentlich, wird aber lokal begrenzt bleiben, wobei ich sicher bin, dass es Gerichtsreporter gibt, die sich der Sache annehmen. Boulevard-Artikel dienen hier kaum als belastbare Grundlage. Ich habe auch nicht die »Bild«-Zeitung herangezogen, als sie sich über den Nobelpreis von Handke geäussert hatte.
die_kalte_Sophie
Das Problem ist, dass ich, der Windmühlenkämpfer, keinen Sancho Pansa hat. Das macht die Sache, freundlich ausgedrückt, anstrengend.
Es geht nicht darum, ob der Wirt »mysteriös« ist oder dazu gemacht wird. Es geht mir um die Theorie, dass das die Möglichkeit der Anonymisierung im Internet ein Tötungsdelikt hervorgebracht haben soll. Es ist ein bisschen wie mit einem Bankräuber, der Schuhgrösse 47 hatte. Hieraus zu schließen, dass nun alle mit Schuhgrösse 47 Bankräuber sind oder die Disposition dazu in sich tragen – das ist doch wirklich absurd.
Ich sehe hier keinen Kampf gegen Windmühlen. Ich erkenne den durch die Blume geflüsterten Appell, sich bewährter Diskursregeln zu bedienen.
Die im Essay entwickelte These des (auch nur losen) Zusammenhanges zwischen Anonymität des Netzes und Tötungsdelikt habe ich argumentativ sauber und scharfkantig zusammengefaltet, wie ich meine. Und damit mein Urteil begründet, dass ich den Text für einen – ich ergänze: – intellektuellen Totalschaden halte. Bisher unwidersprochen. Was, bitteschön, findet hier also statt?
Und selbstverständlich stellt der Text, wie nachgewiesen, Kausalitäten fest. Das abzustreiten und zu meinen, das gebe der Text nicht her und, noch dreister, es sei gar nicht Absicht gewesen, eine strikte Kausalität oder gar schicksalhafte Entwicklung vom Verbalaggressor zum Realaggressor zu behaupten, ist grenzwertig. Wer das, seinem eigenen Text widersprechend, behauptet, ist beweispflichtig und hat eine valide Interpretation der kritisierten Textstellen zu liefern. Und wer sich elementaren Grundsätzen des Diskursanstandes entzieht, büßt seine Satisfaktionsfähigkeit ein.
@G.K. wg. »justiziable Beleidigungen«
In Ihrem Strafrecht sind die Beleidigungen des L. mit einer Höchststrafe von einem Jahr Freiheitsentzug bedroht, im Falle der öffentlichen Wahrnehmbarkeit sogar mit bis zu zwei Jahren. Im hiesigen Strafrecht waren (2018) die Beleidigungen des L. nicht strafbar. Dazu bedurfte es – was eben nicht der Fall war – der öffentlichen Wahrnehmbarkeit oder zumindest der Wahrnehmbarkeit für mehrere (wenigstens zwei von Täter und Angegriffenem verschiedene) Personen. Der maximale Strafrahmen: drei Monate Freiheitsstrafe.
Der Fall Maurer führte nach dem Abebben des Empörungsgeheuls während der rituellen Kriegstänze zu einer Gesetzesinitiative, deren Verabschiedung euphorisch als großer Wurf gefeiert wurde. Wären die Beleidigungen des L. nach heute gültiger Gesetzeslage anders zu beurteilen? Mitnichten. Nach wie vor ist eine wahrnehmende Öffentlichkeit erforderlich, um eine Maximalstrafe von unverändert drei Monaten auszufassen. Darin erblicke ich einen politischen Skandal, in den auch die dazu schweigende Maurer verwickelt ist.
@die_kalte_Sophie
Erlauben Sie mir, an einen Gedanken in #7 anzuknüpfen. Sie stellen fest, »[...], dass die Differenz zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten immer noch stabil ist.« Das gilt wohl für viele, aber gewiss nicht für alle. Meiner Beobachtung nach gibt es Zeitgenossen, die ihren »Wohnzimmer-State-of-Mind« überall hin mitnehmen. Für diese Individuen existiert »öffentlicher Raum« nicht. Ob dies die Missachtung einer unübersehbaren Warteschlange vor einem Postschalter betrifft oder das hemmungslose und lautstarke Telefonieren im ÖPNV oder die verhaltensoriginelle Teilnahme am Straßenverkehr oder... (usw.usf.). Lästige Nebenerscheinungen menschlicher Koexistenz, möchte man meinen.
Mich interessiert die Reaktion des vorhandenen sozialen Umfelds bei solchen Grenzüberschreitungen. Nur selten kann ich bestenfalls gemurmelten Protest wahrnehmen. Wenn überhaupt eine Reaktion festzustellen ist, dann missbilligendes Kopfschütteln, genervtes Augenverdrehen oder physisches Abrücken. Wenn ich – entsprechende Verfassung und Laune zum Experiment vorausgesetzt – einen Missetäter deutlich und vor Publikum zurechtweise, ereilt mich regelmäßig eine freundlich-mitfühlende Beschwichtigung aus der Umgebung, mich doch nicht zu ärgern, das sei es doch nicht wert. Dem setze ich dann die Bemerkung entgegen, dass öffentlicher Raum und die darin zu beachtenden sozialen Normen gegen Verdrängung durch individuelle Privatheit verteidigt werden müsse. Auf die Nachfrage, ob diese Überlegung abwegig erscheine, habe ich in vielen Jahren niemals ein »Ja« bekommen. Kurze Nachdenklichkeit zumeist, gefolgt von einem »Stimmt eigentlich« oder ähnliches. Vom zurechtgewiesenen Individuum kommt zumeist offene Aggression, seltener ist der aufgesetzte Tunnelblick als innere Fluchtstrategie zu beobachten. Ganz selten erlebe ich den Rücktritt von der Normverletzung.
Ich hege den Verdacht, dass ein gesellschaftlich verankertes Korrektiv (man nennt es wohl »soziale Kontrolle«) zumindest in urbanen Ballungsgebieten – ich bewege mich hauptsächlich in Wien – nicht ausreichend funktioniert. Den Grund dafür vermute ich in schwindendem Vertrauen des Einzelnen in die soziale Kompetenzen seiner Mitbürger. Das könnte unmittelbar bewirken, dass Grenzüberschreiter recht rasch von der Erprobungsphase (vorsichtige Aufmerksamkeit bezüglich Umweltreaktionen ist noch vorhanden, gepaart mit Fluchtbereitschaft) in die Gewohnheitsphase (Durchsetzung mit aller Konsequenz) sich entwickeln.
Dieser Gruppe von Zeitgenossen, den Grenzüberschreitern eben, würde man vielleicht die eine oder andere psychische Auffälligkeit attestieren. Angenommen, sie erreichen zahlenmäßig eine kritische Masse in einer Gesellschaft, würde dann die normative Kraft des Faktischen sich entfalten? Könnte noch berechtigt von z.B. Persönlichkeitsstörungen gesprochen werden?
Den Bogen nun abschließend nochmals zu L. schlagend behaupte ich unbelegbar, dass er in einem sozialen Biotop lebte, in welchem sein alltägliches Verhalten als unauffällig normiert war. Insofern, damit lehne ich mich weit aus dem Fenster, könnte von der Existenz realer »Parallelgesellschaften« ausgegangen werden, welche – wenn z.B. räumlich stark verstreut – auf Netzaktivitäten für die Zusammenhaltspflege zurückgreifen. Aber damit hat es sich auch schon wieder mit der Wirkmächtigkeit des anonymen Netzes in Hinblick auf Gewaltentfaltung, denke ich.
Dem geplanten, heimtückisch angelegten Mord geht meiner Überlegung nach eine jahrelange psychische »Trimmung« und eingeübte Desensibiliserung im realen Leben voraus, um den für die Umsetzung des Mordplans erforderlichen State-of-Mind einnehmen zu können. Solches nur mit den Mitteln des Netzes zu erreichen: das halte ich für ausgeschlossen.
@ h.z. h.z. #22
Seltsam, diesen Ausführungen stimme ich durchaus zu. Ich sehe da auch keinen großen Widerspruch zu meinem Essay. Psychische Trimmung ist Voraussetzung für solche Gewalttaten, ja. Im Fall von L. hat sich das über Jahre – mindestens drei – zusammengebraut. Internetpraktiken allein genügen dafür nicht, können aber einen Beitrag leisten.
Belästigung durch Mitteilung von Privatem in der Öffentlichkeit ist unangenehm, ich verstehe aber auch, daß viele Zeitgenossen das nicht gar so schlimm finden. Schlimmer wird es, wenn Jugendliche, Digital Natives, die weitgehend übers Netz kommunizieren, private Informationen (oder auch Erfindungen, Verleumdungen) textueller oder bildlicher Natur im Netz öffentlich machen, wo sie dann in der Regel lange Zeit stehen bleiben (während realverbale Erregungen verfliegen), um eine unliebsame Person fertigzumachen. Hier beginnt die Gewalt im engeren Sinn. Und das meine ich mit gesellschaftlicher Verrohung, für die Typen wie Albert L. nur extreme Beispiele sind.
Wenn Sie verstehen, dass viele Zeitgenossen das [die Verdrängung der öffentlichen Raums durch individuelle Privatheit] gar nicht so schlimm finden, haben Sie mein Argument im Ansatz nicht erfasst. So können Sie auch nicht verstehen, dass Sie als Gesellschaftsmitglied letztlich mitverantwortlich sind für die Entwicklung eines L. Das meinte ich mit intellektueller Verrohung.
@h.z.
Ich bin mit solchen Zuweisungen wie Mitverantwortung immer sehr vorsichtig. Moderne Gesellschaften, insbesondere in Großstädten, sind dafür viel zu heterogen.
Ich kenne einen Fall aus einem Dorf, in dem ein Mann sich an pubertierende Mädchen herangemacht hat. Er hatte wohl im ein oder anderen Fall das Mädchen angeleitet, sein Geschlechtsteil anzufassen und zu stimulieren. Der Dorfgemeinschaft war dies rasch bekannt. Wer Kinder in diesem Alter hatte, sorgte dafür, dass sie besseren Schutz bekamen. Nur einer stellte ich dagegen. Er wollte ihn anzeigen und dies im Konsens mit den anderen Betroffenen (bspw. als Zeugen oder Kläger). Den gab es nicht. Also zeigte er ihn selber an. Die Sache nahm seinen Lauf.
Das Beispiel zeigt, wo Mitverantwortung möglich ist. In Wien, Berlin, Rio de Janeiro oder New York fällt das schwerer. Es erinnert mich an die Thesen aus den 1960er/70er-Jahren, die in langen soziologisch begründeten Argumentationsketten am Ende einen Täter fast von der Schuld an einem Verbrechen freisprachen und die »Schuld« an »die Gesellschaft« weitergaben. Ich vermute, dass Sie das nicht so meinen, finde aber diese Mitverantwortung für fremde Milieus ziemlich schwierig.
Noch einmal an @h.z.
Ich habe jetzt erst Ihren Kommentar auf @die_kalte-Sophie gelesen, in dem Sie meinen Einwand praktisch vorweg nehmen.
Ich stimme Ihren Beobachtungen zu. Tatsächlich scheinen die »Normverletzungen« im Umfeld des Wirtes nicht mehr als solche wahrgenommen zu werden. Das kann man – wie Sie ja ausführen – häufig beobachten. Gesellschaftliche Normen werden häufig, wenn überhaupt, nur noch als fakultativ angesehen oder sofort als für sich selber nicht gültig definiert.
Ich ertappe mich allerdings selber dabei, wie ich in bestimmten Feldern Normierungen bzw. sich bildende Normen schlichtweg ignoriere. Ein Beispiel ist das sogenannte »Gendern«, dem ich mich völlig verweigere. Dabei ist es nur eine Frage der Zeit, wann dies sozusagen flächendeckend normierend sein wird, ohne dass es in Gesetzesform gegossen wird (wie die meisten Normen ja eher stillen Vereinbarungen ähneln). Ich breche dann ganz bewusst eine Norm (mit der Folge, dass ich, der Außenseiter, noch mehr Außenseiter sein werde).
In der Kunst (und somit auch in der Literatur) gilt eine bewusste Normverletzung häufig als Ausweis von Kreativität. Im nachheinein könnte man auch die These aufstellen, dass die 68er-Bewegung (notwendig gewordene) Normverschiebungen in der Gesellschaft bewusst herbeigeführt hat. In Wirklichkeit ist das natürlich ein Prozess. Vor fünf Jahren wurden laute Handy-Telefonierer mehr geächtet als heute. Und was das Bild des Wirtes in der Zeitung angeht, wird das auch ein bisschen deutlich: Ein derart tätowierter Mensch wäre vor zwanzig Jahren sofort als soziale Unterschicht definiert worden. Inzwischen lassen sich sogar 60jährige noch tätowieren.
In der Tat, @G.K., das meine ich nicht in dem Sinne, dass Täter beinahe freizuargumentieren wären durch Überwälzung von »Schuld« auf »die Gesellschaft«. Insofern: haben Sie vielen Dank dafür, dass Sie den denkbaren Eindruck klärend ansprechen.
Ich bin lediglich extrem frustriert und genervt. My bad.
In der Tat gibt es verschiedene Spielfelder des Öffentlichen Lebens, die Großstadt verlangt mehr Ignoranz von den Teilnehmern, das kann ich nachvollziehen. Die Trennschärfe zwischen öffentlichen und privaten Verhaltensparadigmen ist aber nicht ausschließlich nach dem Urbanisierungs-/Barbarisierungsgrad zu bemessen. Öffentlich, heißt vorallem die Prägung durch den Beruf, oder wenn man die jungen Leute dazunimmt, die Ausbildungsverhältnisse. Den Zustand an den Universitäten (um auf Haidt zurückzukommen) merkst du natürlich auch in der U‑Bahn. Ich stelle fest, dass die habituelle Fixierung auf das Smartphone sehr gut zum Ignoranz-Axiom passt, also die großstädtische Anpassung unterstützt. Außerdem erlöst das Smartphone die Menschheit wohl von einer Jahrtausende alten Zumutung, nämlich der Idee dass die »verhaltensoriginellen Sonderlinge« rings um uns her unsere »Mitmenschen« wären. Jeder hat seine kleine Ingroup an der Hand, um deren Wohl und Wehe permanent die Gedanken kreisen. Eine wünschenswerte Normierung des öffentlichen Verhaltens als Ergebnis eines Interaktionsgeschehens (sich Einmischen!) setzt natürlich gewöhnliche »Achtsamkeit« voraus, also die kommunikationsbereite und wahrnehmungsscharfe Auffassung der Umgebung. Richtig, soweit, das wird wohl gerade abtrainiert, sprich die jungen Leute sind blank, wenn das irgendwann mal wieder »aktuell wird«...
@ h.z. #25
Meinen Sie, daß ich wie alle Gesellschaftsmitglieder mitverantwortlich bin für die Entwicklung eines L.? Oder daß ich persönlich mitverantwortlich bin?
Das Ende vom Bierwirt-Lied
Am 22. Dezember wurde Albert L., der sogenannte Bierwirt, von einem Geschworenengericht in Wien wegen Mordes an seiner ehemaligen Lebensgefährtin zu lebenslanger Haft verurteilt. Der Verurteilte nahm das Urteil an, es ist damit rechtskräftig.
Während der Gerichtsverhandlung ging es unter anderem um die Zurechnungsfähigkeit des Täters zum Tatzeitpunkt. Albert L. hatte zunächst behauptet, sich wegen Trunkenheit an nichts erinnern zu können. Die Gerichtsgutachter kamen zu einem anderen Ergebnis, und zuletzt gestand der Täter ein, es habe sich bei seiner früheren Aussage um eine »Schutzbehauptung« gehandelt. Am letzten Verhandlungstag nahm er die Tatschuld dann ausdrücklich auf sich: »Ich gestehe alles. Ich übernehme die Verantwortung für den Tod meiner Frau. Ich will selbst nicht wahrhaben, daß ich so eine miese Tat begangen habe.«
Mich – als sehr fernen, unbeteiligten Beobachter – ließ diese Aussage aufhorchen. In seiner letzten (verbalen) Handlung, die von diesem Mann voraussichtlich in die Öffentlichkeit gelangt sein wird, hat er sich zum ersten Mal mannhaft gezeigt. Ich wähle dieses Beiwort bewußt, wohl wissend, daß es altbacken ist und mißverstanden werden könnte. Mannhaft und menschlich ist es, die Verantwortung für seine Taten zu übernehmen, für Fehler und Missetaten geradezustehen. Was natürlich nicht immer einfach ist – vielleicht deshalb drängt sich mir jenes altertümliche Beiwort auf. In der Geschichte des Bierwirts, so weit sie in die Öffentlichkeit drang, zieht sich das Umgehen und die Verweigerung von Verantwortung wie ein roter Faden durch, sowohl im Fall der zweifellos von ihm getätigten verbalen Bedrohung von Frau Maurer, der Nationalratsabgeordneten, als auch im Fall des Mordes an seiner Lebensgefährtin.
Beispiele für feiges Ausweichen vor Verantwortung gibt es nicht erst im digitalen Zeitalter, es gehört zu den Schwächen des Menschseins, und wenige sind davor gänzlich gefeit. Woran ich mich im Zusammenhang der ersten Bierwirtcausa im Jahr 2018 gemahnt fühlte, war, daß die üblichen Praktiken in den Sozialen Medien erstens dazu führen können, Identitäten unsichtbar zu machen und eventuell zu pluralisieren oder gar aufzulösen, zu zerstäuben; und zweitens, daß hinter dem Schirm der Pseudonymität, also im Status einer Scheinidentität, verbale bzw. virtuelle Taten begangen werden können, für die kein Subjekt Verantwortung übernimmt. Das meine ich, wenn ich sage, im Internet lassen die »User« gern die Sau raus, vermutlich heftiger und öfter als im realen Leben. Das Über-Ich, das bei den meisten Menschen im realen Leben intakt ist, läßt sich dort leichter ausschalten. Naive Gemüter vergessen dabei manchmal, ihre Spuren zu verwischen, und noch weniger bedenken sie, daß die Spuren bei einer strafbaren Handlung trotz aller Anonymität ausgeforscht werden können (im Fall des Bierwirts hätte man das durch linguistische Vergleichsanalysen seiner Texte sehr leicht tun können).
Für einen Mord, einen Femizid wie den von Albert L. begangenen gibt es sicher nicht nur eine einzige Ursache. Die Tat steht am Ende einer langen, mehr oder minder komplex verlaufenen Geschichte. Wer aggressive Emails schreibt und veröffentlicht, wird in den allermeisten Fällen nicht zum Mörder. Im Fall des Bierwirts würde ich die Facebook-Pöbeleien retrospektiv nicht als Ursache, eher als Zeichen sehen für das, was geschehen könnte – und dann leider eingetreten ist. Aber im nachhinein ist man immer klüger. Ein Leser eines Zeitungsberichts über die Verurteilung des Bierwirts als Mörder meinte im digitalen Forum, der Fall sei ein Beispiel dafür dafür, »dass verbale sexuelle Belästigung eben nicht harmlos ist, sondern den Nährboden, die Vorstufe für Gewalt an Frauen darstellt. Wir verhindern Gewalt an Frauen da, wo wir als Männer verbaler Belästigung entgegentreten.« Soziale Medien wie Facebook sind nicht »schuld« an solcher Gewalt, doch deren Verfaßtheit und tagtäglicher Gebrauch tragen dazu bei, daß wir, die wir unsere Tage und Nächte vorwiegend im Internet verbringen, allzu leicht gegen die Wirkungen solcher Gewalt abstumpfen, sie nicht mehr wahrnehmen und die Hemmschwellen immer tiefer sinken lassen. Das, glaube ich, ist die Klammer zwischen den beiden Bierwirt-Episoden, der virtuellen und der realen, wie auch zwischen den beiden Gerichtsverfahren (das erste vom Bierwirt angestrengt, das zweite gegen ihn).
Im Zuge des zweiten Verfahrens wurden ein paar Dinge über den Werdegang des Albert L. bekannt.* Der Vater war anscheinend Alkoholiker, in der Familie war Gewalt an der Tagesordnung, seinen eigenen Angaben zufolge wuchs Albert L. seit seinem neunten Lebensjahr in einem Kinderheim auf, wo es rauh zugegangen sein soll. Er scheint sich später zeitweise im Rotlichtmilieu aufgehalten und nicht nur mit Bier gehandelt zu haben – bei seiner Verhaftung wurden 7,5 Kilo Marihuana sichergestellt. Wegen verschiedener Delikte hat er ein erhebliches Strafregister. Seine Lebensgefährtin, die zwei Kinder von ihm gebar (das ältere, ein dreizehnjähriges Mädchen, brachte er am Mordtag dazu, die Wohnungstür aufzusperren), hatte sich mehrmals von ihm getrennt. Er war im Besitz einer Schußwaffe, obwohl ihm dies behördlich untersagt war, und hatte eine Woche vor dem Mord auf den Vater der Getöteten geschossen, der ihn aus Angst, damit alles noch schlimmer zu machen, nicht anzeigte. Zwischen diesen Tatsachen und Ereignissen würde ich keinen kausallogischen Zusammenhang sehen, wohl aber dafürhalten, daß jedes Subjekt einer Entwicklung unterliegt, bei der viele Faktoren eine Rolle spielen. Eine Art Fatalität, eine Unausweichlichkeit kann, muß dabei aber nicht entstehen. Jedes Subjekt verfügt über Willens- und Handlungsfreiheit, auch wenn es von den Verhältnissen, in denen es lebt, bis zu einem gewissen Grad konditioniert wird. Daß man mit seiner Freiheit verantwortungsbewußt umzugehen hat, scheint der Bierwirt am Ende doch noch eingesehen zu haben. Freilich ist es jetzt zu spät, für sein Opfer und auch für ihn selbst.
Vor Gericht machte Albert L. geltend, die Niederlage – so empfand er es offenbar – im Prozeß gegen Sigi Maurer habe ihn aus der Bahn geworfen. Der Gerichtspsychiater sprach in diesem Zusammenhang von narzißtischer Kränkung. Die Zurückweisung durch seine ehemalige Lebensgefährtin und Mutter seiner Kinder war für L. eine weitere Kränkung dieser Art. Mutmaßen wird man dürfen, daß Albert L. ein Vertreter des narzißtischen Persönlichkeitstypus ist. Mutmaßen möchte ich weiters, daß dieser Typus durch das genährt wird, was ich als neoliberale Lebensphilosophie bezeichnen würde. Er findet sich auffallend häufig unter rechtspopulistischen Politikern (Donald Trump, Jörg Haider in Österreich, auch Silvio Berlusconi wies solche Züge auf) und gilt heute in weiten Kreisen als anstrebenswertes Modell, besonders unter Wählern der entsprechenden Parteien. Auch wenn das selten offen zugegeben wird. Mutmaßen möchte ich schließlich, daß dieser Persönlichkeitstypus ebenfalls und gleichzeitig durch den exzessiven Gebrauch »sozialer« Internetmedien genährt wird. Ein wesentliches Verhaltensmuster narzißtischer Personen besteht darin, anderen gegenüber unnachgiebig und, wenn nötig, brutal zu sein, während man sich sofort als Opfer darstellt (und vielleicht wirklich fühlt), sobald einem – nicht selten durch eigenes Verschulden – etwas gegen den Strich geht.
Der arme Verfolgte… So sah sich auch der Bierwirt, nachdem ihm die junge Politikerin seine Pöbeleien nicht hatte durchgehen lassen. So sah er sich womöglich noch gegenüber seiner Ex-Freundin, bevor er sie erschoß.
*Ein ziemlich umfangreiches und informatives Porträt von Albert L. haben Robert Treichler und Christa Zöchling für die Wochenzeitung profil zusammengestellt: Lebenslange Haft: Wer ist der Bierwirt?