Einige Lektüreeindrücke zu Olga Tokarczuk
Einige Tage vor der Bekanntgabe der Literaturnobelpreise für 2018 und 2019 tauchte der Name Olga Tokarczuk neben den üblichen Verdächtigen auf. War da etwas durchgesickert? Eine Überraschung war es dann doch (die größere war allerdings die Vergabe für 2019 an Peter Handke). Als die Nachricht kam, war die Autorin auf einer Lesereise durch Deutschland. Plötzlich wollten alle etwas von ihr; es gab eine eilig einberufene Pressekonferenz in Düsseldorf. Der Kampa-Verlag druckte nach, schien auch Rechte von Ausgaben von Tokarczuks Büchern von anderen Verlagen sukzessive aufzukaufen und bemüht sich, das Werk schnell und umfassend zu präsentieren. Als Taschenbuchausgabe ist jetzt Tokarczuks Roman »Gesang der Fledermäuse« von 2009 (erstmals in Deutsch 2011 bei Schöffling) erhältlich (Übersetzung von Doreen Daume). Ein Einstieg zu womöglich anspruchsvolleren Texten wie dem nicht zuletzt von der Akademie als Opus magnum gepriesenen »Die Jakobsbücher«?
Ich gestehe, dass mich die – sozusagen inoffizielle – Rubrizierung »Kriminalroman« (tatsächlich wird »Roman« als Genre verwendet) für »Gesang der Fledermäuse« eingenommen hat. (Was ich erst später recherchierte: das Buch bzw. wohl eher der Plot ist bereits verfilmt worden). Man kann also, so die Botschaft, sehr wohl einen Kriminalroman schreiben und trotzdem den Nobelpreis erhalten. Tatsächlich ist dieses unsägliche Schubladendenken gegenüber der sogenannten Genreliteratur fast nur noch in der deutschsprachigen Rezeption existent. Anderswo ist man durchaus in der Lage, die Literarizität beispielsweise von Kriminalromanen anzuerkennen – sofern sie denn vorhanden ist.
Der Roman spielt in dem kleinen Dorf Lufcug (ein »inoffizieller« Name) auf einem Hochplateau an polnisch-tschechischen Grenze. Es ist glücklicherweise kein dys- oder utopisches Szenario; man bewegt sich in der Gegenwart. Im »Kessel« liegt die nächstgrößere Stadt Glatz (polnisch: Kłodzko; im Buch fast durchgängig in der deutschen Nomenklatur). Es beginnt im eisig-kalten, windumtosten Winter, als Matoga seinen mehrere hundert Meter entfernt wohnenden Nachbarn »Bigfoot«, einen anderen, eremitisch-zänkischen Bewohner, tot in seinem Haus entdeckt und Janina Duszejko mitten in der Nacht aufweckt. Sie schauen sich die Leiche an, suchen eine Todesursache. Schnell kommen sie zu dem Schluss, dass er an einem kleinem Rehknochen erstickt ist. Für Janina ist klar, dass dies die Rache der Rehe ist, die »Bigfoot« gewildert hatte. Er war ein Mann, der von der Natur lebte, »die er aber nicht respektierte«.
Es dauert bis die Polizei kommt (die Grenznähe bedingt, dass die Anrufe zuweilen bei der tschechischen Polizei landen). Janina, die dominante Ich-Erzählerin, übernimmt das Psychologisieren und Mutmaßen. Sie, die einstige Ingenieurin, die auf der ganzen Welt Brücken baute, dann Lehrerin wurde, hat sich im Alter vollständig der Astrologie und der Natur verschrieben. Sie lebt von Englisch-Unterricht in der Stadt (der sehr unkonventionell ist) und von Rundgängen (»wie eine einsame Wölfin«) während der langen Wintermonate für die Häuser und Anwesen der Sommerbewohner. Immer wieder werden die stimmigen, topographisch grundierten Impressionen der Landschaft, losgelöst von der Handlung, eingestreut. Am Ende kennt der Leser die jahreszeitlichen Eigenheiten des Hochplateaus, die spezifischen Eigenheiten der Häuser (mal lebt in einem Haus ein Marder, mal gibt es Fledermäuse) und auch ausschnittweise die Sommerfrischler.
Die Polizei macht den Beiden Vorwürfe, den Tatort verändert zu haben. Janina hält mit ihrer Meinung über den Toten nicht hinter dem Weg. Brisanz bekommt die Sache zusätzlich dadurch, dass Matogas Sohn für die Polizei arbeitet. Ein paar Tage später erhält sie Besuch von einem Kommissar, der ihr merkwürdig vorkommt; sie glaubt, er verdächtige sie. Kurz darauf geschieht das Unfassbare: Der Kommissar wird tot aufgefunden. Janina entdeckt den Toten mit ihrem Bekannten Dyzio zuerst. Dieser besucht sie einmal die Woche, die beiden kochen zusammen und begutachten dann Dyzios Übersetzungen von Edward-Blake-Gedichten. Als sie Dyzio zu seinem Nachhause begleitet, finden sie die Leiche. Janina ist schockiert, entdeckt Rehspuren im Schnee. Ihre Rache-Theorie der Tiere bekommt neue Nahrung.
Nun haben Tiere bei Janina den gleichen, nein: einen höheren Rang als Menschen. Tiere hätten eine »Weltanfühlung«, Menschen eine »Weltanschauung«, sagt sie einmal. Selbst das Abmähen von Grünflächen verurteilt sie. Ihr Tierrechts-Radikalismus treibt seltsame Blüten. So verfasst sie mehrere Briefe an die Polizei, die auf Tierspuren im Schnee Bezug nehmen und macht eine »strafende Hand der Gerechtigkeit« durch die Tiere als Täter aus. Ernst genommen werden diese Einwürfe genau so wenig wie ihre Anzeige, weil ein Wildschwein außerhalb der Jagdzeit umgebracht wurde. Die Versuche, ihre vermisste Hündin über die Polizei suchen zu lassen, scheitern ebenfalls. Immerhin wird sie zum Tod des Kommissars verhört, allerdings ergebnislos.
Ihre Freizeit verbringt sie mit dem Erstellen von Horoskopen. Astrologie sei »eine exakte Disziplin, in hohem Maße empirisch und genauso wissenschaftlich wie etwa die Psychologie. Sie erfordert die genaue Beobachtung einiger Personen in ihrer Umgebung und die Verknüpfung gewisser Momente in ihrem Leben mit der Stellung der Planeten.« Mittels Computer wähnt sie sich in der Lage, zuverlässige Voraussagen über die Zukunft von Menschen zu erstellen; sie braucht neben dem Geburtsdatum nur noch die Geburtsstunde. Das Leben sei vorbestimmt und wie selbstverständlich erklärt sie, ihr eigenes Todesdatum auch schon zu kennen. Die für die aufgefundenen Toten posthum erstellten Horoskope zeigten abermals die Richtigkeit der Astrologie (was sie ebenfalls in ihren Eingaben der Polizei mitteilt). Kurz erhält auch der Leser einen im wahrsten Sinn erschöpfenden Astrologie-Exkurs.
Menschenfeindlich ist Janina aber nicht. Einen Käferforscher nimmt sie für eine kurze Zeit auf, taucht begierig in die Welt der Wissenschaft ein (ob es zu einer kurzen Affäre kommt, bleibt unklar). In der Stadt freundet sie sich mit der Besitzerin eines Second-Hand-Ladens an (wie für so viele andere Protagonisten erfindet sie für sie einen anderen, »passenderen« Namen). Für ärztlichen Beistand sieht sie bei Dr. Ali nach, der zwar nur Hautarzt ist, aber für nahezu jedes Gebrechen eine Mixtur kreieren kann (Janina ist außerdem mit einer nicht näher definierten Krankheit geschlagen.) Urkomisch die Szene, wenn der Zahnarzt im Mai und Juni mit seinem alten Bohrer in die Öffentlichkeit tritt und »die Waldarbeiter und Schnurrbartträger« fast im Akkord behandelt. Bisweilen gibt es einen Tee bei der (lesbischen) Schriftstellerin Giselle, die ihr wie eine »Beamtin« vorkommt. »Wenn ich sie nicht so gut kennen würde, läse ich sicher ihre Bücher«, lautet der lakonische Kommentar.
Die Sommeridylle wird getrübt durch einen weiteren Mord. Die Nervosität unter den Sommerfrischlern wächst, die Ratlosigkeit der Polizei auch. Aber das Leben geht weiter. Janina nimmt an einem Ball einer Jahresversammlung von Pilzsammlern teil, obwohl sie mit Menschen, die tagelang durch Wälder streifen, um Pilze zu sammeln, wirklich nichts anfangen mag. Es gelingen satirisch-komödiantische Beschreibungen, die radikal beendet werden, als der Präsident des Vereins tot ist. Dann brennt noch eine Kirche ab und der Pfarrer überlebt das nicht.
Neben den bereits angesprochenen komischen Momenten, schafft es Tokarczuk bisweilen simenonhaft die Kriminalgeschichte hinter scheinbar abseitigen Begebenheiten vergessen zu machen, ohne sie aus den Augen zu verlieren. Es gelingen grandiose Szenen, etwa wenn sie zu Beginn mit Matoga bei »Bigfoot« sitzen und in eine tranceähnliche Singsang-Totenwache einstimmen. Janina wird als sensibel, aber nicht schrullig dargestellt. »Der Welt sind alle Blätter abgefallen«, heißt es einmal von ihr. Ihre Stimmungen schwanken; mal geht sie in den Wald zum Weinen, mal gruselt sie sich vor der Imagination ihrer verstorbenen Mutter im Heizungskeller. Dann wieder geht sie in den Blake-Übersetzungen mit Dyzio auf.
Natürlich ist es schwierig, wenn die Abgründe einer Person erzählt werden sollen, die selber die Erzählerin der Geschichte ist. Zumal die Erzählperspektive beibehalten wird. So bleiben einige Begebenheiten deskriptiv. Da ist der Leser wahlweise eingeladen oder gefordert. Das Urteil könnte dabei zwischen Abscheu, Unglaube und Komik changieren.
Leider kommt man der Lösung schnell auf die Schliche. Obwohl es kein klassischer Whodunit ist, ist das ein bisschen schade. Verraten werden soll das Ende hier allerdings nicht, zumal es dann noch eine veritable Überraschung gibt. »Gesang der Fledermäuse« ist eine leichte, unterhaltsame, aber keinesfalls seichte Lektüre.
Bereits im Herbst hatte mich die englische Übersetzung der Nobelpreisrede von Olga Tokarczuk beeindruckt. Diese liegt nun im soeben erschienenen Band »Der liebevolle Erzähler« (der Titel der Nobelpreisrede) auf deutsch übersetzt von Lisa Palmes vor. Der Band versammelt auch noch den instruktiven Essay »Wie Übersetzer die Welt retten« sowie eine Art Chronik der Nobelpreisvergabe vom 9. Oktober bis 13. Dezember 2019.
»Der liebevolle Erzähler« beginnt mit einigen sehr persönlichen Bemerkungen von Olga Tokarczuk und ihrem Verhältnis zu ihrer Mutter. Dann entwickelt sie ihre literarische Agenda, hebt hervor, wie die Möglichkeit des Erzählens eines »Ich« die Literatur revolutioniert habe: »Die Ich-Erzählung scheint eine der größten Errungenschaften der menschlichen Zivilisation zu sein«, denn sie »machte die Erzählung über die Welt als einen Ort, an dem Helden oder Gottheiten ohne unseren Einfluss handelten, zu unserer individuellen Erzählung und überließ so die Bühne Menschen wie uns.« Was jedoch fehle, sei »die parabolische Dimension der Erzählung.« Bei der Parabel müsse das Individuum »seine Getrenntheit aufgeben und zu Jedermann werden.« Das Fehlen des parabolischen Erzählens zeugt, so Tokarczuk, »von unserer Ratlosigkeit«.
Aber die Literatur hat Konkurrenz bekommen. »Eine neue Form des Welt-Erzählens« sei entstanden: »die Streamingserie, deren heimliche Aufgabe es ist, uns in Trance zu versetzen« und »die Aufmerksamkeit des Zuschauers« durch »mehr und mehr Handlungsfäden so lange wie möglich zu fesseln«. »Die potenzielle Fortsetzung einer Serie in weiteren Staffeln erfordert ein offenes Ende, bei dem es niemals zum geheimnisvollen Phänomen der Katharsis kommen kann und darf – zum inneren Wandel, zur Auflösung, zum Vergnügen, die Handlung verfolgt und durchschaut zu haben.« Dies verändere unsere Wahrnehmung.
Es ist erstaunlich, dass Tokarczuk im Rahmen dieser Rede nicht die Durchhalteparolen des Betriebes herunterbetet, sondern skeptisch-realistisch die Zukunft der Literatur und speziell des Romans sieht. Sie könnten zu »narrativen Randerscheinungen« werden. Begründet wird dies mit dem »komplexe[n] psychologische[n] Perzeptionsprozess«, den das Lesen verlange. »Zunächst wird ein schwer greifbarer Inhalt konzeptualisiert, verbalisiert, in Zeichen und Symbole umgewandelt, um anschließend wieder in die Erfahrung ›zurückentschlüsselt‹ zu werden. Das setzt eine gewisse intellektuelle Kompetenz voraus. Vor allem aber verlangt es Aufmerksamkeit und Konzentration – zwei in unserer heutigen Welt mit ihren zahlreichen Ablenkungen zunehmend seltene Gaben.«
Sie spricht dabei auch das Internet und die damit verbundene Informationsflut bzw. das, was man Information nennt, an. »Im Überfluss an Informationen verlieren die einzelnen Nachrichten ihre Konturen, werden irreal, entfallen unserem Gedächtnis und gehen ganz verloren.« Einher gehe damit eine »von allen Seiten herankriechende Unruhe«, die »epidemisch um sich« greife.
Daher plädiert sie weiterhin für die Möglichkeiten der Literatur. Dabei ist sie gegen die Dichotomie von wahr und falsch. Literatur beginne dann, «wenn wir versuchten, Ereignisse mithilfe unseres Erfahrungsschatzes zu verstehen und einzuordnen, also beim Übergang von der Frage ›Was geschah dann?‹ zur Frage ›Warum geschah es?‹– selbst wenn wir diese Frage immer wieder mit einem simplen ›Ich weiß es nicht‹ beantworten sollten.« (Dies könnte man ganz gut als Kommentar auf die unsägliche Diskussion um die Jugoslawien-Texte Peter Handkes anlässlich seiner Nobelpreis-Nominierung anwenden.)
Tokarczuk beharrt darauf, dass nur die Literatur »tief in das Leben eines anderen Wesens« eindringen könne. Aber die einst befreiende »Ich«-Fokussierung erweist sich als Sackgasse. Wie kann das »unkommunikatives Gefängnis des ›Ich‹« gesprengt werden? Es ist die Suche nach den »Grundfesten für eine neue Universal-Erzählung […] für eine ganzheitliche, allumfassende, in der Natur verwurzelte Narration, die die unterschiedlichsten Kontexte mit einbezieht und dennoch verständlich bleibt.« Der Traum ist ein »neuer Erzähler – ein Erzähler in der ‘vierten Person’«, der »die Perspektive sämtlicher Figuren mit einnimmt und zugleich den Horizont jeder einzelnen überschreitet, der mehr und weiter sieht, der die Zeit außer Acht lassen kann.«
Mehrmals verwendet Tokarczuk das Wort »vielleicht« – die Suchbewegung noch unterstreichend. Vielleicht ist das Bruchstückhafte, das Fragment die Lösung? Wäre das, so überlegt man sich, die Abkehr des Romans als großer Gesellschaftserzählung? Vielleicht wäre, so Olga Tokarczuk, eine Art »Neo-Surrealismus« die Lösung, der »nicht die Konfrontation mit dem Paradoxen scheuen und die sich gegen die simple Einordnung nach Ursache und Wirkung sträuben« würde? Am Ende wagt sie es dann auch noch »sich auf die geschlossenen Strukturen der Mythologie zu besinnen«, die »dem Zustand der Unbestimmtheit, in dem wir heute leben, zu einem Gefühl der Stabilität beitragen« könnte. Da denkt man an die Erzählerin des Fledermaus-Romans und deren mythisch-esoterisches Weltbild. Das kann allerdings höchstens als Karikatur (oder Abschreckung?) gemeint sein.
Wie passt dieser Anspruch zu jenem Interview, welches unmittelbar nach der Bekanntgabe des Nobelpreises im Deutschlandfunk Kultur mit zwei Tokarczuk-Übersetzern – Lothar Quinkenstein und die Schriftstellerin Esther Kinsky – geführt wurde? Kinsky goss dabei Wasser in den aufgetischten Wein zur Feierstunde, in dem sie dezidiert Stellung gegen die Sprache von Tokarczuk, insbesondere in deren »Jakobsbüchern«, bezogen hatte. Sie hatte es irgendwann abgelehnt, ihre Bücher weiter zu übersetzen; es seien Auftragsarbeiten gewesen. Der Gesprächsleiter war wohl überrascht, als Kinsky von einem »Sammelsurium […] von verschiedenen Beiträgen« sprach, »in denen ich überhaupt keine Linie, Struktur erkennen konnte.« Tokarczuk profitiere, so Kinsky, von den Übersetzungen, wobei sie ausdrücklich Quinkenstein und Lisa Palmes heraushob (eine Möglichkeit, die indirekt auch in ihrem Übersetzungsessay anklingt).
Man kommt danach wohl nicht umhin, sich irgendwann an die fast 1200 Seiten der »Jakobsbücher« heranzuwagen.
Uff, die Rede/Reflexion über die Varianten des Erzählens resp. Auffassens von Geschichten und »Serien« ist ein bisschen chaotisch. Da wünscht man sich eine analytische Literaturtheorie, die noch nicht jeglichen Ordnungssinn aufgegeben hat.
Die Unterscheidung von parabolischer Erzählung und Ich-Konversion kann ich nachvollziehen. Klar, mit dem erzählerischen Ich gewinnt man Zugang zu einem zentralen modernen Erfahrungsbereich: dem Übergang zwischen Ich und Du, den glücklichen und tragischen Ereignissen an der »Grenze«. Und man verliert die Faszination für die Ereignisse, sowie den kathartischen Schrecken der Kausalität, etc.
Aber wie kann man von einem Erzähler der Dritten Art spekulieren, grammatikalisch der Vierten Person Singular?!
Ich habe dazu offen gesagt keine Idee. Es ist doch so: der Ich-Erzähler verschluckt im wörtlichen Sinn den auctor universalis. Der Sprecher wird monoton (einsam), und gewinnt nur über seine weiteren Figuren bzw. die eigene psychologische Vielschichtigkeit eine gewisse Breite. Er repräsentiert nicht die allgemeine Menschlichkeit, aber einen bestimmten Komplex an Erfahrungen, der einem »vielleicht« bekannt vorkommt.
Natürlich verstehe ich das Anliegen von Tokarczuk: der Welt-Begriff löst sich dabei auf. Das Ich ist und bleibt lokal, sein Außen ist unbegrenzt und total. Aber genau deswegen gibt es keine Synthese höherer Art. Das sind zwei verschiedene Geometrien, die sich nicht in Quere kommen.
Oder meint sie: ausgerechnet damit haben sich die Erzähler »klein gemacht«, sind uninteressant geworden zu einem Zeitpunkt, wo sie kulturell an Boden verlieren, etwa durch den Einsatz unsäglicher Erzählungstechniken wie die Streaming-Serie?!
Kann ich nachvollziehen. Aber die visuelle Erzählung aus den international expandierenden Bild-Ton-Strickwerken ist nicht nur weniger anspruchsvoll für die »einfühlende Perzeption«, sie setzt auf die völlige Inkonsistenz der Figuren und die völlige Abwesenheit von sozialer Intelligenz beim Zuschauer. Deshalb finde ich den Vergleich mit der Literatur beinahe wohlwollend. Tatsächlich sagt uns dieser Unterhaltungstrend doch gar nichts über die Zukunft der Erzählungen.
Der neue Erzählertypus ist mir auch ein Rätsel. Den Vergleich Streamingserie / Literatur macht sie, weil er ohnehin in den Feuilletons kursiert. Zwischenzeitlich hatte man ja den Eindruck, die »großen Erzählungen« finden nur mehr als »Serie« statt.
Was Tokarczuk von der Trancewirkung berichtet, halte ich für sehr treffend. Das ist im übrigen der Unterschied zur Literatur. Das Lesen ist definitiv schwieriger als Fernsehschauen. Ich glaube, der Trend zur Fernseh- bzw. Streamingserie hat damit zu tun, dass man immer weniger die Strecke eines »dicken Buches« aushält und sich lieber von den Bildern weitertragen lässt.
Ich vermute, dass anspruchsvolle Literatur in 20 oder 30 Jahren nur mehr ein Nischenphänomen sein wird. Von der Germanistik höre ich, dass dort immer weniger Primärtexte in Gänze gelesen werden. Die Unterhaltungsliteratur wird weiter Abnehmer finden, aber auch das wird weniger werden. Es gibt einfach zu viele andere, scheinbar lockendere Freizeitmöglichkeiten.
Die öffentliche Resonanz auf Literatur nimmt ab – es geht von bereits sehr niedrigem Niveau aus weiter herunter. Man muss sehen, was Literatur kann, und was andere Medien leisten. Der ex-Preiskämpfer und Komiker Joe Rogan hat gerade einen 100 Millionen Dollar Deal mit spotify abgesschlosssen. Das ist auch netzpolitissch wichtig, weil Google/YouTube zunehmend zensieren. Simon Strauß hat kürzlich wohlwollend in der FAZ berichtet über das Intellectual Dark Web und seinen Preiskämpfer Rogan und – - – -
Zletzt wurde bei YouTube die großartige Kriminologin Heather Mac Donald zensiert, wg. Geoge Floyd. Unglaublich. Die antirassistischen Faktenchecker schritten ein – - – in willkürlicher Weise. Motto – was nicht passt, wird gerne mal kujoniert. Viele Nadelstiche machen die Leute müde...
Joe Rogan’ Experience (cf. Jimi Hneddrix’ Experience – cf. Michael rutschky’s Essayband Erfahungshunger) macht den sokratischen intimen Dialog zu einem Massenereignis. Drei Stunden kann das gehen – und ich hab’ das ein paarmal bis zum Schlusss interessiert angehört. Sowas kostet Leser, weil die Menschen nur einen Kopf aufhaben, und wenn sie den den Podcastern leihen – Dave Rubin, Ben Shapiro etc. pp. – - – - Sam Harris – Dann bleibt für Bücher weniger übrig. Podcasts hören kann man beim Bügeln und beim Staubsaugen und beim Rasenmähen und beim Autofahren...Joe Rogan hat hunderte Millionen Zugriffe, die Leute mögen das.
Filmisches Erzählen ist in vielen Fällen dem schriftlichen Erzählen überlegen. Die Zuschauer merken das und bevorzugen optische Medien für die Trance und die Unterhaltung usw. (um sich die Welt anzugucken), und die Podcasts erledigen das Diskursive. Das ist eine Aufgabenteilung, die offenbar funktioniert.
Daneben funktioniert der wissenschaftliche Blog. (James Thompson – Psychological Commenter) und – Claire Lehmanns Weltwunder Quillette. Twitter funktioniert auch gut. Mal gucken bei Steve Stewart-Williams oder Noah Carl oder Jayman usw. – Norbert Bolz – oder Markus Schär, ein ruhiger und niederfrequenter Schweizer Twitterer. – Das alles kostet obendrein fast nichts oder gar nichts.
Bei den Zeitungen gehen zudem die Erlöse runter. Viele haben Angst, dass es sie als Nächste trifft. Tatsache ist, so manche Edelfeder, die es traf, sah sich danach materiell um Welten schlechter gestellt als zuvor bei Esquire oder dem Playboy oder wo auch immer. Ein Beispiel ist der blog headbutler, der von so einem ex-Edelschreiber namens Kornblum nun betrieben wird; man merkt, dass der kämpft – auch wegen des plötzlichen schutzlosen Außenseiter-Status. Er schreibt auch schon mal Rezensionen populärer Bücher auf Amazon – vermutlich, um Leser für seinen Blog anzulocken. Die jungen bei den Zeitungen haben kaum Lieblinge oder sozusagen geheime Leidenschaften – Autorinnen, für die sie wieder und wieder eintreten. Die Szene verleirt die Dringlichkeit. Geschwärmt wird fast nur über – - – optissche Medien, vom Comic bis zur Film-Serie usw.
Der Roman kann immer noch was, was andere Medien nicht können. Jonathan Franzen und – Hermann Peter Piwitt (doch doch) und Botho Strauß usw. haben Haltbares dazu gesagt. Auch Eckhard Henscheid und Gerhard Henschel. Tom Wolfe!
Der wichtigste Unterschied zum Film ist der, dass der Roman a) in den Kopf eines Protagonisten blicken kann. Und dass er b) Luft hat für diskursive Passagen. Dass er aber weder Sounds noch Bilder/Szenen direkt transportiert. Autorinnen usw., die Romane schreiben ohne diese Dinge hinreichend zu berücksichtigen, sind zum Scheitern oder zum Nischendasein verurteilt.
Olga Tokarczuks offenbar gemütlicher Krimi »Gesang der Fledermäuse« könnte eine interessante Lektüre sein. Ihre Erzähltheorie ist zu idiosynkratisch, um überzeugend zu sein. – Ich werde in meiner Stammbuchhandlung mal in ihren Krimi reinlesen. Danke dem Blogherren Gregor Keuschnig für die Rezension.