Anmerkungen zu einer Handvoll legendärer Sätze
6 – Der schmale Grat zwischen Gefährdung und Idiotie
Musil, Horkheimer und Adorno bringen keine konkreten Beispiele für ihre Thesen, weder politischer noch lebensweltlicher, weder individueller noch kollektiver Art. Was er bringt, sind Redegewohnheiten und einige allgemeinmenschliche, idealtypische Fälle. Welche Formen, welchen Sinn und Unsinn kann Dummheit annehmen, welche Funktion erfüllen? Jeder kennt Beispiele, nicht zuletzt von sich selbst.
Ich zum Beispiel habe meine letzte Dummheit vor wenigen Minuten begangen, keine verbale, sondern eine Dummheit der Tat. Ich fuhr auf einem vielbefahrenen, relativ breiten Weg hinter zwei Fahrradfahrern, jungen Männern, die bei eher langsamer Geschwindigkeit nebeneinanderfahrend plauderten und längere Zeit die Bahn versperrten, die sie nur für Entgegenkommende kurz freigaben. Ich wollte nicht klingeln, wollte nicht aufdringlich sein, fuhr ein, zwei Kilometer nahe an den beiden Hinterrädern und überholte, als sich eine Chance dazu bot. Absichtlich schnitt ich den einen Fahrer, wollte ihn dabei nicht wirklich berühren, berührte ihn dann aber doch mit dem Ellbogen, den ich vielleicht ein paar Zentimeter zur Seite gestreckt hatte. Der junge Mann kam ins Schleudern und stürzte schließlich. Sein Freund schnauzte mich an, ich schnauzte zurück, ging dann aber doch besorgt, etwas kleinlaut geworden, zu dem Gestürzten. Er hatte sich an einer Hand leichte Abschürfungen zugezogen – eine geringfügige Verletzung, aber eben doch eine sichtbare Folge meiner Handlung, ich war daran schuld. Ich entschuldigte mich. Der Gestürzte, wieder auf den Beinen, schaute mich verdattert an.
Eine Dummheit; wenn mir wirklich so viel an einem geordneten Fahrradverkehr gelegen ist, sollte ich versuchen, Verkehrssünder zur Rede zu stellen, an meiner Universität aufklärend zu wirken, in der Schule meiner Tochter eine vernünftige Verkehrserziehung fordern. Das wären, vielleicht, kluge Handlungen. Aber einen unschuldigen, bloß ein wenig leichtsinnigen Jungen in Gefahr zu bringen...
Worin bestand meine Dummheit? In der falschen, nicht zweckführenden – aber wer weiß? – Wahl der Mittel? Oder wurzelte sie nicht doch eher im emotionalen Bereich, in mangelnder Einfühlungsbereitschaft und, ja, Aggressivität, also unzureichender Affektkontrolle? In der Nichtberücksichtigung der möglichen Folgen meines Handelns? Schließlich hätte die Sache schlimmer enden können. Gefühl und Verstand vermischen sich, genau wie Musil es in seiner Rede beschrieb.
Doch wovon ich eigentlich erzählen wollte, ehe mir diese Dummheit dazwischenkam: Im März 2017 erregte ein Gerichtsprozeß einiges Aufsehen, der in München vier Personen gemacht wurde, die angeblich einer terroristischen Vereinigung angehörten. Ein Journalist der Wochenzeitung Die Zeit versuchte damals, ein wenig Licht in die Vorgeschichte eines der Verurteilten, Olaf O., zu bringen, indem er mit dessen älterem Bruder sprach. Die verbalen Übeltaten des Mannes, soweit sie vor dem Gericht verhandelt wurden, fanden in einem Chatroom im Internet statt, sie waren also gewissermaßen virtuell (sieht man von einem einzigen realen Zusammentreffen der Gruppe ab). Zwei der Angeklagten – Olaf O. war nicht mit von der Partie – hatten außerdem in Tschechien Böller gekauft. In ihren Konversationen machten die Angeklagten ausländerfeindliche Äußerungen und sprachen von Attentaten, die man begehen könnte. Die Debatten in und außerhalb des Münchener Verhandlungssaals drehten sich darum, wie ernst man diese Reden – dieses Gerede? – zu nehmen hätte. Führten die Angeklagten wirklich etwas im Schilde? Der Großteil der Beobachtungen der Ermittler, die über einen längeren Zeitraum tätig waren, beschränkte sich auf das Internet, und eben darauf stützten sich die Einschätzugen von Polizei und Justiz.
Die Nachforschungen des erwähnten Journalisten brachten zutage, daß Olaf O., wohnhaft und aufgewachsen im Ruhrgebiet, ein typisches Opfer der neoliberalen spätkapitalistischen Gesellschaft war. Kfz-Mechaniker, angestellt bei Opel, gut verdienend, verheiratet, durch die Krise der Firma arbeitslos geworden, dann schwere Krankheit, Chemotherapie, Behinderung. Seine Frau verläßt ihn. Olaf O. findet nicht mehr in die Arbeitswelt zurück, er sitzt nur noch vor dem Computerbildschirm, gewinnt dabei neue, rechtsradikale Freunde, legt sich eine virtuelle Identität zu, verabschiedet sich aus der realen Welt, läßt die Wohnung verkommen – und so weiter. Eines seiner Postings, die vor Gericht und dann in den Medien breitgetreten werden, lautet: »Passen aber immer noch in einen Türkenarsch.« Gemeint sind die tschechischen Böller. Ein ausgesprochen dummer Satz, wie man sie in den sogenannten sozialen Medien zuhauf findet. Der Zeit-Journalist kommentiert in seinem Artikel, der den süffigen Titel Trottel oder Terrorist trägt, die Geschichte des Olaf O. zeige, »wie schmal der Grat sein kann zwischen Gefährdung und Idiotie.« Gemeint ist die Gefahr für die Gesellschaft, die von den Angeklagten möglicherweise ausging. Gefährdung oder Idiotie, natürlich ist das keine Alternative, keine begriffliche Opposition, denn auch Trottel können Terroristen sein, Dummheit endet oft genug in Gewalttätigkeit. Ebensowenig gilt der Umkehrschluß, denn auch intelligente Menschen waren und sind Gewalttäter, wenngleich eher als Planende, Koordinatoren, Bürokraten des Terrors (wie das Beispiel Adolf Eichmanns zeigt). Trotz allem wird man aber davon ausgehen können, daß ein Mehr an Bildung dazu beitragen kann, das Gewaltpotential in einer Gesellschaft zu vermindern. Führende Nationalsozialisten wie Goebbels, der Kulturminister, machten aus ihrer Verachtung rücksichtsvollen zwischenmenschlichen Umgangs keinen Hehl.
»Ich bin dafür das wir den Freitag ein bzw. zwei Ziele ausmachen die wir uns vornehmen.« Noch einer der inkriminierten Sätze von Olaf O. Fehlende Kommas, Dass-Fehler (ehedem »daß«). Die Formulierung läßt eine Rechtschreibschwäche vermuten, doch vor allem trägt sie die Charakteristika einer mündlichen, notdürftig und rasch verschriftlichen Rede. E‑Mail-Stil und E‑Mail-Form, man wägt in Frage kommende Ausdrücke nicht ab, liest das Geschriebene nicht noch einmal. Digitale Kommunikation ist in ihrer Masse ein getipptes Telephonieren, ein Fernsprechen, das Buchstaben, Symbole und Abkürzungen als unumgängliche Mittel zum Zweck verwendet. Schon seit einiger Zeit sind Computerprogramme verbreitet, die die Verschriftlichung übernehmen, so daß der Sender nur noch sprechen muß. Der Algorithmus, obwohl fehleranfällig, erledigt das nicht nur rascher, sondern zweifellos auch besser als der Großteil der Kommunmikationsteilnehmer des digitalen Universums. Wieder ein nützliches Instrumentarium, das allerdings die Gefahr einer Verkümmerung alter menschlicher Fähigkeiten mit sich bringt. Illiterat zu sein, wird binnen kurzem nicht mehr als Schande gelten.
Rechtschreibschwache sind nicht allesamt dumm. Diese Feststellung mache ich nicht zuletzt in den diversen Foren im Internet, wo sehr gut argumentierende Personen mitunter eine restringierte Sprache gebrauchen und fehlerhaft schreiben. Umgekehrt lassen es Leute, die ihren Stil ostentativ kultivieren (indem sie beispielsweise in Relativsätzen »welcher« statt »der« verwenden), mitunter an gedanklicher Substanz mangeln. Was Olaf O. betrifft, so vermute ich, daß keine dieser selteneren Varianten zutrifft, sondern daß er geistig durchschnittlich bemittelt ist. Seine Haßgefühle, die sich im Internet am besten entfalten konnten, sind zu einem Gutteil darauf zurückzuführen, daß er ab einem bestimmten Punkt Pech im Leben hatte und keinen rechten Ausweg, vielleicht auch nicht die notwendige Hilfe fand. Es ist leicht, im Internet eine andere Identität anzunehmen. Keine gänzlich andere in der Regel, denn auch in der virtuellen Welt läßt sich die im realen Leben über die Jahre hinweg ausgebildete Persönlichkeit nicht gänzlich verbergen. Aber die meisten anderen Kommunikationsteilnehmer merken davon nichts. Das zweite Ich darf prahlen, übertreiben, andere anschwärzen, Geschichten erfinden, mit Pseudonymen spielen – in der Selbstdarstellungsgesellschaft ist das gang und gäbe. So gaukelte Olaf O. seinen rechtsradikalen Netzfreunden eine Freundin vor, für die er ein falsches Facebook-Profil erstellte. (Klares Indiz, daß sich der Mann wirklich nicht nach Gewalt, sondern nach Liebe und Anerkennung sehnte.) Beim Münchener Prozeß entschuldigte er sich bei den Mitangeklagten dafür. Der Mann hat durchaus Anstand im Leib.
Das grundlegende ethische Problem, das sich hier in etwa mit der Jahrhundertwende aufgetan hat, liegt darin, daß die Ano- und Pseudonymisierung im digitalen Milieu, in dem immer mehr Leute immer mehr Zeit verbringen, den Begriff der Verantwortung und seine praktische Anwendung unterminiert, ja, tendenziell zum Verschwinden bringt. Verantwortung anderen, aber auch sich selbst gegenüber, wie die vielen Fälle zeigen, wo »User« intime Daten ins Internet stellen und sich dann wundern, wenn diese mißbraucht werden. Verantwortungsloses Reden und Verhalten gab es natürlich schon immer, wie es so ziemlich alles, was in der digitalen Welt vorkommt, immer schon gegeben hat, doch wie bei allem, was dort vorkommt, werden die Phänomene technologisch beschleunigt und vervielfacht und auch vereinfacht, so daß eine neue Qualität oder eben Nichtqualität, tendenzielle Auslöschung, eintreten kann. Die Frustration in den Bevölkerungen muß groß sein, hält man sich vor Augen, wie sehr in diesen Jahren das Genre der Haßrede aufgeblüht ist. Und zwar nicht nur in den reichen Ländern, die nicht so viele Sozialschmarotzer, Konkurrenten und Gefährder hereinlassen wollen, sondern überall auf der Welt. In Sri Lanka wurde kürzlich auf Anordnung der Regierung Facebook für eine Woche landesweit blockiert, weil der Haßpegel schwindelerregende Höhen erreicht hatte. Den Hintergrund dafür bilden schon lange währende Spannungen zwischen der buddhistischen Bevölkerungsmehrheit und der muslimischen Minderheit (wobei hier vor allem Muslime die Leidtragenden sind). Ein solcher Konflikt läßt sich jedoch nicht durch die Behinderung von sozialen Medien beheben. Konflikte lassen sich überhaupt nie durch ihr Verschweigen lösen, und ebensowenig durch das Verbot der Haßgefühle, durch den Entzug von Plattformen, auf denen sie sich äußern können. Sie werden sich, wenn sie an einer Stelle unterdrückt werden, stets andere Orte des Ausdrucks suchen und nur eingedämmt werden können, wenn man zu den Wurzeln geht und an den Ursachen arbeitet. Diese liegen nicht in der virtuellen, sondern in der realen Welt. Sie sind sozialer, aber auch erzieherischer und ethischer Natur. Hier könnte man am direktesten ansetzen und Respekt, Verantwortung, Mitgefühl, Toleranz fördern. Aber der globale Wille dazu scheint gering zu sein, im Westen wie im Osten. Bildungsreformer haben oft nur die unmittelbare, profitorientierte Verwertbarkeit im Sinn, wenn sie von »Kompetenzen« reden.
Die urteilsentscheidende Frage, wie ernst gewaltträchtige Äußerungen im Internet gemeint sind, ist schwer zu beantworten, nicht nur in diesem Fall. Das digitale Kommunikationsnetz fördert Ambiguitäten, Klarheit der Sprache und des Argumentierens sind nicht die Regel. Liest man sich eine größere Zahl von »Postings« in gleich welchen Foren, kann man nicht umhin, das Streben nach Witzigkeit, Ironie und Satire im Mainstream der Äußerungen zu bemerken. Selten meint jemand etwas wirklich »ernst«. Wiederum gilt, daß das Internet diese weitverbreitete Haltung nicht erst hervorgebracht hat. Die Vorgeschichte weist zurück in die achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, als sich parallel zur Vorherrschaft des ökonomischen Denkens, auch »Neoliberalismus« genannt, eine popkulturell gestylte Spaßgesellschaft herausbildete, die mit »protestantischer Ethik« und ähnlichen Kinkerlitzchen nichts mehr zu tun haben wollte. Die sogenannten sozialen Medien sind nichts anderes als die Fortsetzung der Spaßgesellschaft mit hochtechnologischen Mitteln. Dabei können mit Nägeln gespickte Böller, die unter Türkenärschen explodieren, schon mal die real-ernste Folge sein. Bislang sind solche Vorkommnisse eher die Ausnahme von der Regel, daß nichts so heiß gegessen wie gekocht wird.
Die mündlich-schriftliche Netzkommunikation hat ihre eigene Rhetorik entwickelt. Eines ihrer Elemente ist der Ironie-off-Button, den die User drücken, um sicherzugehen, daß das werte Publikum die ironische Intention auch bemerkt. Ironie heißt, sehr allgemein definiert, daß mit einer Aussage etwas anderes gemeint ist, als die Wörter und Sätze bei normalem Gebrauch meinen. In vielen Fällen heißt das schlicht und einfach: Was ich gesagt habe, war nicht (ganz) ernst gemeint. Die Masse der Sprecher-Schreiber will immer mehr und immer öfter Ironie und Satire produzieren, sie beherrscht die Mittel dazu aber immer schlechter. Diese sind auch nicht gar so einfach zu beherrschen; man kann Talent dafür haben, und bis zu einem gewissen Grad kann man sie lernen. Der Ironie-off-Button ist dazu nicht hilfreich, er hintertreibt echte Ironie. Immerhin können sich Leute, die glauben, ihre Äußerung könnte sie in Konflikt mit dem Gesetz bringen, gegen Klagen absichern: Es war ja nicht so gemeint, hier steht es Schwarz auf Weiß. Gewisse populistische Politiker haben diesen Reflex eingeübt. Wenn sie wieder einmal, oft planmäßig, über die Stränge geschlagen haben, war’s halt Satire, wenn sich jemand beschwert. Nicht anders war beim Prozeß die Verteidigungslinie des kleinen rechtsradikalen Netzwerks, dem Olaf O. angehörte. Sie hatten bloß »dummes Zeug« geredet.
← 5 – Dummheit ist ein Wundmal.
© Leopold Federmair
Ein sehr interessanter Text, der für mich viele Fragen aufwirft. Besonders die Frage nach der Ernsthaftigkeit vieler Einlassungen im Netz beschäftigt mich schon längere Zeit. Ich bin der Ansicht, dass in sehr vielen Fällen weder eine ironische Intention besteht, noch juristisches Fachwissen vorhanden ist. Ich glaube, viele Menschen wollen sich eine Art Fluchtweg offen halten.
Populisten sichern sich auf diese Weise rechtlich ab, das hat sich rumgesprochen. Ein Großteil der steilen Thesen, Haßreden, kurz: der Netzkommunikation im Allgemeinen, ist heiße Luft. Aber was macht sie? Ist sie nur die “Fortsetzung der Spaßgesellschaft” oder facht sie die vielen Feuerchen, die von verschiedenen Seiten gelegt werden, immer wieder an? Ist die Gefahr eines Flächenbrandes real und ließe der sich noch eindämmen? Wie?
Meine Erfahrungen mit den klassischen Werkzeugen der “social media”, also Facebook, Twitter, Instagram u.ä., sind rein passiver Natur. Natürlich bin auch ich, viel zu oft, im Netz unterwegs. Meine Beobachtungen stützen sich jedoch eher auf Kommentarspalten der Onlineangebote diverser Zeitungen (auch international, z.B. Guardian, NYT), Blogs u.ä. Dingen, als auf die vorher genannten Dienste, die nur die Spitze des Eisberges oder den Bodensatz darstellen. Meiner Einschätzung nach ist eine steigende Anzahl der Kategorie “Wolf im Schafspelz” unterwegs, um Stimmung durch bewusst provozierende oder völlig falsche Aussagen zu machen. Diese “Stimmen” verweigern sich oft jeglicher Diskussion und sind, wie in der Natur auch, nicht selten im Rudel unterwegs. Gerne berufen sie sich auf Redefreiheit, führen vorgeblich einen Kampf gegen übermäßige politische Korrektheit und spielen sich als Bewahrer der Kultur auf. Dahinter stecken Menschen, die sich auf dem angesprochenen, schmalen Grat bewegen.
Lassen die nur Dampf ab, zündeln die gerne oder sind das Brandstifter? Nicht jeder, der sich Luft verschaft, möchte andere mitreissen. Liegt nicht da schon eine im Text angesprochene Verantwortung? Trägt nicht jeder Mensch durch seine Sprache seinen Teil dazu bei oder geht das in der Flut an Informationen sowieso unter? Wie viele Menschen möchten wirklich die AfD regieren sehen, weil sie von den Köpfen dort überzeugt sind? Wie viele wollten den Brexit wirklich, wollten Trump als ihren Präsidenten?
Die wichtigste Frage, die nach den Zahlen, also die Einordnung, fällt mir sehr schwer. Ist es eine Masse, die sich da erhebt oder schweigt die Masse, so dass die Minderheit so laut erscheint? Warum wünschen sich Menschen autoritäre Anführer oder gar Autorkraten an der Spitze. Wissen sie die demokratischen Werte nicht mehr zu schätzen?
Welche Rolle spielt bei all den Fragen die “virtuelle Welt” und sollte man die von der “realen Welt” trennen (Stichwort: Digitaler Dualismus)? Es wird immer weniger gelesen, die Schreibschrift stirbt aus, das Textverständnis nimmt ab (Satire und Ironie werden nicht erkannt). Was bedeutet das für die Zukunft?
Womöglich wollten Sie nicht in diese pessimistische Richtung. Mir schwirren diese und viele weitere Fragen schon eine Weile im Kopf herum, so dass ich die hier mal aufschreiben musste. Beantworten lassen sich die meisten ohnehin schwer.
Die so oft beklagten Hassreden bzw. Hasskommentare verbreiten sich durch das Internet einfach nur schneller und vor allem exponentieller. Ich erinnere mich noch daran als Willy Brandt 1969 Bundeskanzler wurde. Ich war 10 Jahre alt und Schüler in einer mittelgroßen, konservative strukturierten Stadt im Rheinland. Mit den Mitschülern kam ich nicht so gut aus, was noch verschlimmert wurde, als die Rede auf Politik kam. Das war damals durchaus möglich, denn ganz Deutschland war politisiert – heute würde man sagen: gespalten. Ich hab’s hier schon mal kommentiert: Der heftigste Spruch war »Brandt an die Wand«. Ein Mitschüler (der Vater hatte ein Geschäft) wollte Brandt in ein Erdloch vergraben und verhungern lassen. Die Ostpolitik, die formal den Ausgleich mit Polen und der Sowjetunion suchte und praktisch den Verzicht auf die »Ostgebiete« bedeutete, wurde als Verrat empfunden. Natürlich plapperten die Schüler nur das nach, was sie zu Hause zu hören bekamen – ich auch. Aber ich gehörte der Minderheit an.
Ablehnung war ich gewohnt, aber dieser Grad der Ablehnung, ja der Hass befremdete mich sehr. Auch die Sprache, wobei ich nicht besonders sensibel war. Aber es war eben etwas Besonderes, jemandem den Tod zu wünschen. Heute gilt das »Satire«, wobei wir bei dem »Ironie off«-Button wären.
Irgendwann hat man den Menschen gesagt, dass ihre Meinung nicht nur wichtig ist, sondern auch relevant. Das wurde, wird unter »Demokratisierung« subsumiert. Wenn einem die Meinung nicht passt, wird sie wahlweise als »Populismus« oder »Gutmenschentum« abgebügelt. Die sogenannten sozialen Medien verstärken die jeweils eigenen Meinungsströme. Auch das war früher ähnlich, wobei es jedoch innerhalb eines Mediums zu divergierenden Bewertungen von politischen oder sozialen Fragen kam. Inzwischen pickt sich jeder nur noch das heraus, was ihm gefällt. Dabei wechseln die Fronten durchaus: Die Leute lehnen Prantl von der SZ ab, verlinken aber trotzdem einen Artikel aus einem anderen Politikfeld von der Süddeutschen, wenn er in ihr Weltbild passt.
Die Frage, ob Gewalt, sofern sie im Internet geäussert und anderen angedroht wurde, zu sanktionieren ist, wird immer wichtiger. Die Geschichte der sogenannten »Oldschool Society« (hier der Text der ZEIT) ist ein gutes Beispiel dafür. Mit typischer Sozialarbeiterattitüde werden hier nicht nur Beweggründe sondern gleich die Entschuldigungen mitgeliefert. Das kann man alles noch halbwegs witzig finden – der Terrorismus-Vorwurf ist natürlich lächerlich (er wird von der Staatsanwaltschaft vorgebracht, damit im Zweifel auch Mitwisser und Drahtzieher von Straftaten mit politischem Hintergrund wie die eigentlich Tatausführenden bestraft werden können). Aber warum, wie im Frühjahr geschehen, ein fremdenfeindlich motivierter Messerangriff auf einen Bürgermeister mit einem Freispruch endete und/oder warum ein Unterstützer des NSU vorläufig auf freiem Fuß kommt – das ist und wird immer schwieriger zu vermitteln. Da mutet es fast absurd an, Internet-Trolle bestrafen zu wollen.
Ich glaube, dass Adorno und Horkheimer dazu eine Erklärung haben: Kurzgefasst, wird unsere Gesellschaft schon sehr lange von jener instrumentellen Vernunft beherrscht, eine Vernunft, die nur mehr ein Werkzeug ist und aus ihrem Bezug zur Welt der Ideen, aber auch der sinnlichen Welt herausgelöst wurde, ein Prozess der nicht erst, aber vor allem durch die Aufklärung ausgelöst und beschleunigt wurde; eine Vernunft, die nur noch in Mitteln und Zwecken, die selbst wieder bloß als Mittel verstanden werden, denkt, kann keine Bedeutungen, übergeordneten Ideen, Gefühle, Emotionen oder Wahrnehmungen mehr achten, das ist noch immer unser Grundproblem, das sich allerdings weiter verschärft hat. Jemand der einen Urlaub nur mehr als Erholung von der Arbeit versteht, der sich selbst ständig anpreisen oder verkaufen (und darüber verleugnen) muss, der beim Spaziergehen seine Schritte via App zählt, entwertet sich selbst oder Dinge die für sich stehen könnten, indem sie immer als Mittel für etwas anders gesehen werden. Das aber rächt sich und man muss wohl feststellen, dass viele Menschen den Zugang zu sich selbst im Sinne ihrer sinnlich-emotionalen Welt oder bedeutungsvollem (also: nicht verhandelbarem) Tun weitgehend verloren haben (man ist gestresst, in Eile, läuft von einem Termin zum anderen, man amüsiert sich, frisst und säuft, gegen jedes Maß und eben gegen sich selbst). Das sieht man sehr schön an den Zuständen in der Erziehung: Die Pädagogik ist heute völlig unfähig in einem Kind etwas Nicht-funktionales, einen Selbstzweck noch zu erblicken. Meine These ist, dass all die Hasskommentare, all der Zulauf zu sogenannten populistischen Parteien genau von daher kommen: Das vom Verstand beherrschte, das Unterdrückte, Verzerrte, Nichtbeachtete, Vernachlässigte, bedeutungslos Genannte, kehrt irgendwo und irgendwann wieder, sucht sich seine Ventile. Das ist auch, was den Linksliberalismus so erbärmlich macht, dass er in seiner Symptombekämpfung und seiner Systemkonformität, das alles noch zementiert. Unsere Welt leidet daran, dass alles was sinnlich, weich und untergründig ist, missachtet wird. Davon hat schon Schiller geschrieben...
@Gregor Keuschnig
Es scheint etwas aus dem Gleichgewicht geraten zu sein. Das, was Sie als etwas Besonderes empfanden, geht heute einigen Menschen scheinbar leichter über die Lippen. Die Schamgrenzen sind gesunken, Tabus gefallen. Dennoch glaube ich nicht, dass derartige Aussagen heute verbreitet als Satire gelten. Yücel wurde verurteilt und hat sich schriftlich bei Sarrazin entschuldigt. Damit sollte der Fall eigentlich abgeschlossen sein.
Eigentlich. Trotzdem halten sich dieser und andere verstaubte Texte hartnäckig in aktuellen Debatten und wurden gar in einem Antrag zur Missbilligung von der AfD im Bundestag eingereicht.
Darin zeigt sich ein großer Unterschied zum Schulhof. Die Tweets, Facebookeinträge, Kommentare: alles Schriftliche – durch die Digitalisierung ist das wahrscheinlich wirklich irgendwann allumfassend – bleiben bestehen und werden eventuell morgen wieder ans Tageslicht gezerrt. Hat das dann einen anderen Charakter oder mindestens eine andere Wirkung? Für mich schon, allerdings stufen nicht wenige den Tweet oder den schnell hinaus posaunten Kommentar einer Affekthandlung nahestehend ein und fordern dementsprechend Nachsicht.
Die digital natives oder jene Menschen, die jegliche Kommunikation offen über das Netz tätigen, machen sich da leicht angreifbar und später vielleicht sogar erpressbar. Das geht nun in andere Themenbereiche hinein, bringt mich aber zurück zur Einordnung, die immer wichtiger und auch schwieriger wird. Ich stimme Ihnen zu, dass es eine große Herausforderung ist, das richtige Maß zu treffen und zu vermitteln. Womöglich bedarf es auch hier einer Anpassung der Gesetze? Ihre genannten Beispiele und die Posse um die Abschiebung von Sami A. beschädigen das Vertrauen in Behörden und Rechtsstaat nachhaltig.
Danke für den Link zur Oldschool Society.
@metepsilonema
Falls Sie es noch nicht gelesen haben: In der ZEIT wurde gestern eine Rede des Kulturhistorikers Philipp Blom, die er anlässlich der Eröffnung der Salzburger Festspiele hielt, veröffentlicht. Ich musste beim Lesen an Ihren Kommentar denken. Blom schreibt über Denis Diderot und “die volupté, die Sinnlichkeit, die Lust.” Er stellt die Frage “Was wäre, wenn eine neue, dringend gebrauchte Aufklärung mit einer Rehabilitierung der Leidenschaft beginnen würde?”
Ich glaube, Sie haben recht, wenn Sie schreiben, “dass viele Menschen den Zugang zu sich selbst im Sinne ihrer sinnlich-emotionalen Welt oder bedeutungsvollem (also: nicht verhandelbarem) Tun weitgehend verloren haben”. Man sieht das auch an der Wertschätzung von Menschen, die sich fast ausschließlich aus dem beruflichen Erfolg und den finanziellen/materiellen Früchten speist.
Der in Algerien geborene, französische Landwirt und Schriftsteller Pierre Rabhi beschreibt in seinen Schriften eine ähnliche Sicht. Immer mehr, immer schneller, Wachstum, Konsum, Fortschritt – da wundert es nicht, dass Sinnlichkeit, der Sinn für das Schöne, Sinn an sich, auf der Strecke bleiben.
Den Link zum Artikel der ZEIT hatte ich vergessen.
@Krylow
Danke für den Link. Mit Bloms Rede kann ich leider wenig anfangen, weil sie alle Versatzstücke dessen enthält, was einem tagein, tagaus in den Medien begegnet. Das entscheidende: Er definiert nicht den Begriff der »Aufklärung«, bleibt im diffusen, schwelgt in apokalyptischen Dimensionen indem von Demokratieverlust die Rede ist – woran macht er das fest? – und kommt dann zur »Festung« Europa. Am Ende steht dann die Wachstumskritik – ehrenvoll sicherlich, aber seit den 1970er-Jahren nichts Neues.
Aufklärung war und ist eben Kant, die Ratio, die Vernunft. Mit emotionalisierten Appellen kann man keine politischen Fragen lösen. Was bedeutet denn »nicht verhandelbares Tun«? Für mich ist das – sorry – Illustriertenprosa, die eine gewisse Klientel sicherlich toll findet, weil alle Feindbilder bedient werden, die es gibt.
Natürlich sind ästhetische Aspekte in unserer Zeit sehr stark rückläufig. Der beste Indikator dafür ist die sogenannte zeitgenössische Kunst, die fast nur noch Banalitäten produziert, die sie politisch oder kulturkritisch auflädt. Blom macht es ähnlich.
Es muss eine Synthese geben zwischen dem, was @metepsilonema in seinem Kommentar als verlustig beschreibt und einem zügellosen Optimierungswahn. Ich kenne die Lösung nicht. (Den Punkt, wo das Empfinden für Ästhetik schwindet, kann man sehr schön in Hofmannsthals »Briefe des Zurückgekehrten« lesen. Die Rettung für den Protagonisten bringt – eine Bildbetrachtung, Kontemplation. Die kann aber immer nur individuell geschehen, nie kollektiv. Oder?)
.-.-.-.
PS: Leider kann der Autor des Textes, Leopold Federmair, derzeit aus persönlichen Gründen nicht an der Diskussion teilnehmen. – G.K. -
Bloms Text ist eine Erörterung von Klischees, und damit ein Beitrag zur Unterhaltung. Er lässt wirklich nichts aus: den Narzissmus der Erkenntnis (wir Kinder), die Selbstbeschuldigung als weltpolitischer Wachmacher (Ransmayr aus Ruanda), die angeblich globale autokratische Wende, die Neuauflage des Motivs »Zeitalter der Angst« (org. von W.H.Auden 1947), der bequeme Rückzug aus dem Politischen (Dekadenz), die Fragilität der historisch noch jungen liberalen Demokratien, die unverfügbare Alternative von geltenden Menschenrechten oder weltweiter Barbarei, die schäbige Unverzichtbarkeit der Macht, und (irgendwie dann doch originell) eine kleine Hoffnung über den womöglich rettenden Beitrag der Leidenschaften, die verdrängt oder vergessen wurden.
Da möchte man dann doch lieber nicht klatschen.
Zurück zum Thema: es gibt einen guten meta-psychologischen Hinweis von Steven Pinker. Wir sollten uns davor hüten, die weltgeschichtlichen Tendenzen aus den »Schlagzeilen« abzuleiten.
Ganz einfach, weil wir mit hoher Sicherheit dabei fehlgehen.
Dem möchte ich eine ähnliche Haushaltsregel zur Seite stellen. Wir sollten uns davor hüten, die gesellschaftlichen Tendenzen aus dem Kommentarbereich abzuleiten.
Einfaches Argument: wenn die Anonymisierung im Netz zur Eskalation einlädt, zu Mobbing und Hate-Speech, dann ist der Boshaftigkeit zwar ein kleines Türchen geöffnet, aber nicht in der Weise, dass damit allen Beziehungen und ihren Kontrollmechanismen der Boden entzogen wird.
Die Idioten sind immer eine Gefahr, aber am meisten für sich selbst.
Das Twittern der Rechtspopulisten erweckt natürlich den Anschein, dass man die Zustimmung der Idioten leicht abfischen kann, aber das tut den Idioten insofern unrecht, als man Dummheit und Gemeinheit in einen Topf wirft.
Überhaupt wandert Federmair in seinem Text einen sehr schmalen Grat entlang.
Es gibt keinen direkten Nachweis über eine Korrelation zwischen IQ und Moralität; das ist auch schwer zu testen. Was wir aber inzwischen sehr genau wissen: es gibt eine Verbindung zwischen Moralität und Charakter. Und dieses Ergebnis gefällt den Universalisten womöglich überhaupt nicht, denn es zeigt, dass die Werte und Wertentscheidungen unterschiedliche Prioritäten ausprägen, je nach Charakter.
Und eine weitere verblüffende Intuition: wir halten Menschen, die in einer Entscheidungssituation (Flüchtlinge retten...) zu anderen Ergebnissen kommen als wir selbst, für dümmer. Wir denken zweifach schlecht über sie: moralisch verkommen und weniger intelligent als wir selbst.
@die_kalte_Sophie
Das Moral und Intelligenz in sozusagen negativer Korrelation gebracht werden ist eben einfacher als einen argumentativen Austausch vorzunehmen. Das kenne ich im übrigen von frühester Jugend: Der Andersdenkende war wenn nicht der Dumme, so doch derjenige, den es zu bekehren gilt. Der Paternalismus ist ja nicht neu.
Interessant scheint mir die These zu sein, dass man gesellschaftliche Tendenzen nicht aus dem Kommentarbereich sozialer Medien ableiten soll. Aber die Kommentare sind nun einmal da. Richtig ist, dass die Empörung hierüber zu einer weiteren viralen Verbreitung führt. Aufmerksamkeit ist ja alles. Andererseits ist es schwierig politische Strömungen vollkommen zu ignorieren.
Die Frage ist ja bei der Berichterstattung um Trump am deutlichsten. Aktuell jagen die Medien jede Sau, die Trump twittert, durch das Dorf. Hinzu kommen laufend Meinungsartikel, die ein baldiges Ende entweder seiner Präsidentschaft oder gleich sofort der Vorrangrolle der USA prognostizieren. Dann versucht man herauszuarbeiten, wann die Tochter, der Sohn oder die Frau Trump widerspricht. Und wie dies geschieht. Das ist natürlich Kinderkram und da spielt eine Menge Wunschdenken mit. Und so könnte ich mir vorstellen, dass die überbordende Berichterstattung nebst Meinungsgewitter zu Trump das Gegenteil dessen bewirkt, was erreicht werden soll. Wobei es ja überhaupt problematisch ist, wenn Journalismus politische Ziele formuliert.
Die Frage ist also, ob auf den Schmutz, der aus den Kommentarbereichen der sozialen Medien angespült wird, Rückschlüsse auf die Verfasstheit der Gesellschaft selber angestellt werden können. Und ob nicht die Verbreitung dessen, was sich dort abspielt, zu deren Popularisierung beiträgt. Den sogenannten populistischen Parteien verschafft man damit unverhoffterweise den Sauerstoff, den sie zur Versorgung ihrer Thesen benötigen. Totschweigen geht aber auch nicht. Gelassenheit wäre angebrachter.
Trump und die Populisten stellen die uns gut bekannte »Konsens-Interpretation« der liberalen westliche Gesellschaften auf den Kopf. Nach dieser Interpretation sind die Wahrheit und die Fakten neutral und unveränderlich, der Werte-Kanon überlagert alles, und die Meinungen sind beinahe willkürliche Geschmacks-Resultate, die sich nach subjektiven Kriterien »aus dem Hinterkopf« der Teilnehmer einstellen.
Diese Interpretation war nie ganz realistisch, aber bestimmt nicht schädlich.
Die Populisten führen nun das Loyalitäts- oder Zugehörigkeitskriterium ein, ganz ähnlich wie es religiöse Gruppen tun, wo auch nicht jeder glauben darf, was er will.
Beispiel: Wenn der Präsident sagt, dass es die größte Kundgebung nach einer Amtseinführung vor dem Kapitol war, dann war das auch so, wenn es nicht stimmt.
Interessant sind die Reaktionen: einige lachen und applaudieren, einige zucken gelangweilt mit den Schultern (Quatsch!), und wieder andere reagieren mit allen »argumentativen Mitteln«, um den Untergang der amerikanischen Demokratie aufzuhalten.
Und doch sind die Wahrheitsverteidiger nicht neutral, sondern immer schon Gegner des republikanischen Präsidenten gewesen. Sie behaupten, politische Doppelköpfe zu sein, genau nach dem Konsens-Modell. Sie haben eine Hemisphäre für die Fakten, eine Hemisphäre für die Werte, und einen Hinterkopf für ihre Präferenzen. Und nur weil die Fakten und die Werte auf dem Spiel stehen, müssten sie jetzt reagieren. Nicht dass es um Parteilichkeiten geht...
Aber so einen Doppelkopf gibt es nicht, bzw. dieser Anspruch auf eine Schiedsrichter-Funktion ist dann doch recht durchsichtig. Ganz so neutral sind wir alle nicht. Unser Faktenwissen ist selektiert, von Anfang an. Das Gedächtnis weiß, was uns gefällt. Und wenn wir Analysen zu Rate ziehen, dann kann es sein, dass wir genau jene Analysen für objektiv halten, die unsere Vorurteile bestätigen, und nicht jene, die die beste Datengrundlage haben.
Der Journalismus ist gegenüber dem Populismus in einer Zwangslage: er kann den Teufel nicht mit dem Beelzebub austreiben. D.h. die ursprüngliche Versuchung des Boulevard (Aufmerksamkeit ist wichtiger als Inhalt) kann nicht einfach proaktiv verfolgt werden, weil sich damit ein run-to-the-bottom abzeichnet.
Andererseits ist der Journalismus auch keine ausgewiesene Bastion der Vernunft, sondern nur die Laien- bzw Alltagsvariante davon. D.h. wir gehen von Anfang an fehl wenn wir glauben, in der politischen Öffentlichkeit würde sich eine Art erkenntnistheoretischer Endkampf betreiben (und gewinnen) lassen. Solche Zuspitzungen sind mit Sicherheit ideologischer Natur.
Politik wird doch im Flachland gemacht.
Aber der Populismus ist insofern unbequem als er beweist, wie schwierig das manchmal ist. Und wie stark unsere »grüppchenhafte Natur« ist...
Bloms Rede bleibt sicherlich in einigen Punkten diffus, kleidet Offensichtliches und auch Bekanntes in Worte. Der ganze Text fußt auf der These, dass die Bedrohung der Demokratie real ist und dass sich Geschichte wiederholt. Man findet viele Artikel, die diese Sicht teilen, aber wie angemerkt, auch solche, die eine gegenteilige Meinung formulieren.
Ich meinte da eine Überschneidung zu metepsilonemas Kommentar gesehen zu haben, wobei ich auch nicht weiß, was genau mit „nicht verhandelbarem Tun“ gemeint ist.
Die Briefe von Hofmannsthals, der, wie ich las, Mitbegründer der Salzburger Festspiele war (wie passend), fand ich nicht nur mit Bezug auf die Bildbetrachtung, sondern auch auf Begriffe wie Heimat und Erinnerung (und deren Zusammenspiel) sehr lesenswert. Danke dafür.
Ich weiß nicht, wie ich es am besten ausdrücken kann, aber Texte wie diese, die Beobachtungen und Beschreibungen während der Reise durch Deutschland, insbesondere mit Blick auf die Menschen und „das Gemeinschaftsbildende“, haben auf mich auch eine erdende Wirkung. Denn so, wie die Suche nach dem Erinnerten in der Gegenwart zum Scheitern verurteilt ist, gestaltet sich vielleicht der Versuch, gesellschaftliche Rückschlüsse aus Kommentarspalten ziehen zu wollen.
Ich schließe mich deshalb dem Ruf nach Gelassenheit an, beobachte ich doch an mir selbst, wie sehr ich Auszeiten von Debatten, vielmehr der irrwitzigen Geschwindigkeit, in der sie geführt werden, brauche. Die Zeit, die ich bräuchte, um mein selektives (Fach-)Wissen zu überprüfen, zu hinterfragen und gegebenenfalls zu erweitern, ist zwar theoretisch vorhanden, wird aber dem nächsten Thema geopfert. Und so bewege ich mich dann schnell mal auf Schienen in Routinen, die es möglicherweise wert wären, aufgesprengt zu werden.
Ich muss in den Diskussionen auch an Reden von Václav Havel denken, die er 1990/91 hielt und die in dem Band „Angst vor der Freiheit“ versammelt sind. Er hielt im Juli 1990 eine Rede zur Eröffnung der Salzburger Festspiele. Er beschreibt darin den Zustand, den ihn und viele andere nach dem Zusammenbruch des totalitären Systems ergriffen hat, mit „eigenartig gelähmt“ und „katerartige[r] Leere“. „Wir sind wie Gefangene, die sich an das Gefängnis gewöhnt hatten, und, aus heiterem Himmel in die ersehnte Freiheit entlassen, nicht wissen, wie sie mit ihr umgehen sollen, und verzweifelt sind, weil sie sich ständig selbst entscheiden müssen.“ Er sieht einen verstärkten Sinn für Angst in diesem Raum, der sich „dauernd durch nationale oder gar nationalistische Selbstbestätigung“ wehrte. Ich glaube, dass in den ehemals totalitären Staaten diese Angst noch immer eine besondere Qualität hat.
Im selben Jahr hielt Havel in Oslo noch eine Rede zur „Anatomie des Hasses“, in der er vom Haß des Individuums zur Anziehungskraft und besonderen Gefahr des kollektiven oder auch Gruppenhasses referiert. Er spricht über die „Illusion der Rechtmäßigkeit“ und das„Gefühl einer kollektiven Rückendeckung.“ Er plädiert, den Hass „energisch [zu] bekämpfen“ und ihm „zu widerstehen“. Totschweigen ist keine Lösung, unnötiges, mediales Aufbauschen auch nicht. Die Ängste ernst nehmen, einander offen zuhören – viel mehr fällt mir nicht ein.
In der Politik wäre es von Vorteil, wenn es mal hieße, »wir haben« statt »wir müssen«, wenn das Gefühl des auf der Stelle tretens verschwände.
@die_kalte_Sophie
Dass wir alle »konditioniert« sind auf bestimmte »Fakten« und Einflüsse ist ja nicht schlimm. Entscheidend ist, dass wir uns dessen bewusst sind. Figuren wie Trump sind deshalb so faszinierend für Journalisten und Meinungsmacher, weil sie jegliche Dialektik außer Kraft setzen. Und dies, weil sie selber nichts anderes als sich und ihre Weltsicht gelten lassen.
Von Gadamer stammt das Wort, dass ein Gespräch nur »funktioniere« (meine Wortwahl) wenn beide Partner mindestens theoretisch akzeptieren, dass der andere Recht haben könnte. Trump negiert das nicht nur, sondern er stellt es offensiv in Zweifel. Die Gegner Trumps schwenken auf seine absolutistische Sicht der Dinge ein – nur dass sie es von der anderen Seite betrachten. Es ist wie bei einer Diskussion in der jeder dadurch Recht bekommen möchte, in dem er am lautesten ruft.
Insofern lassen »wir« uns von Trump (et. al.) an der Nase herumführen, in dem wir seinen Duktus ähnlich wie er erwidern.
@Krylow
Vielen Dank für die Rekurse auf Havel, die wirklich interessant sind. Er hatte sich ja als Präsident dem Nationalismus der Slowaken, der sehr aggressiv war, gebeugt und nachgegeben, weil er das Schicksal des damals auseinanderfallenden Jugoslawien nicht für die Tschechoslowakei riskieren wollte. Nach 1989/90 gab es ja sehr viele Beispiele, wie die wiedergewonnene politische Freiheit von nationalistischen Elementen genutzt wurde. Ich stimme mit Ihnen überein, dass das bis heute noch gilt. Was ich nicht verstanden habe war, dass sich diese Länder dann doch in die Europäische Union begeben haben. Es waren wohl ausschließlich ökonomische Gründe (Marktzugang). Die Diskrepanz zwischen einer supranational auftretenden EU und einer eher an Freihandel orientierten Union erleben wir derzeit als Zerreissprobe.
Die Formel vom »Hass bekämpfen« hören wir ja allüberall. Mein Problem ist, dass diese Bekämpfung häufig selber in Hass umschlägt. Etwa wenn in einer Demonstration gegen die Asyl- und Flüchtlingspolitik der CSU in München die Anfangsbuchstaben der beiden CSU-Protagonisten mit mit SS-Rune geschrieben werden. Das meine ich, wenn ich schreibe, dass man sich dem (niedrigen) Niveau derer, die man bekämpft, nicht anpassen sollte.
Ja, auch ich möchte den Empörungsroutinen entkommen. Ich kann es nur, wenn ich die Kiste abschalte. Ob das eine Lösung ist, weiß ich nicht.
Ich war ein paar Tage im Abseits. Kurz zu Blom, der die Zusammenhänge entweder nicht sieht oder bloß plaudern will. Er schreibt: »Die globale Wirtschaftsordnung ist zu einer bitteren Parodie der aufgeklärten Gedanken mutiert, auf die sie sich beruft. Sie ersetzt die Rationalität durch die Rationalisierung, den Universalismus durch den globalen Markt, die Freiheit des Menschen durch die Wahl der Konsumenten zwischen Produkten und die Gleichheit durch statistische Normierung. Bürgerrechte werden zu Garantieleistungen, denn in dieser Welt braucht man keinen Pass, sondern eine Kreditkarte.« Und verkennt, dass all das Resultat und nicht Gegensatz des Prozesses ist, den wir Aufklärung nennen. Wenn sich die Vernunft durch den Prozess der Aufklärung von allem entledigt (gereinigt) hat, was ihr noch angehaftet ist, z.B. einen Bezug zu verbindlichen Ideen, etwa der der Gerechtigkeit, die durch einen Rest an Mythizität diese Verbindlichkeit erreicht haben (vergleichbar der Strahlkraft den Religion oder Glauben besitzen, die aber durch Vernunfttätigkeit des Einzelnen einholbar und deutbar ist), dann bleibt ein Werkzeug über, das nur noch ein Mitteldenken gestattet. Daraus ist die Welt entstanden in der wir leben; Hass und Angst sind ihre Symptome, die nicht dadurch verschwinden, dass man sie bekämpft. Die unselige Rolle, die der Liberalismus dabei spielt, ist, dass er den Menschen auf die Verfolgung seiner Eigeninteressen beschränkt und davon etwas Gutes erwartet. Daraus entsteht vieles, aber sicherlich nichts von allgemeiner Verbindlichkeit, nichts was uns weiterhilft, der Prozess wird bloß weiter zementiert, denn nichts eignet sich besser für das Verfolgen der Eigeninteressen als eine formalisierte (instrumentelle) Vernunft; bei mir entstand beim Lesen der Eindruck, dass Blom in der Luft zappelt, das sieht man auch am Ende, als völlig unvermittelt Empathie und Sinnlichkeit auftauchen, deren Unterdrückung nicht dadurch verschwindet, dass man sie gleich einem Imperativ einfordert. Das Verlorene ist – ich folge noch immer Horkheimer und Adorno – nicht wieder herzustellen, es sei denn durch repressive Systeme wie wir sie aus dem 20. Jahrhundert kennen, die Repression ist deswegen notwendig, weil das Vergangene, das wieder aufgerichtet werden soll, aus sich heraus nicht mehr genügend Kraft besitzt (dass die Menschenrechte heute einerseits ein Machtinstrument geworden sind, andererseits als bloß auf Papier gekritzelt wirken, gleichsam Makulatur sind, ist auch eine Folge des beschriebenen Prozesses). Denken muss, den beiden folgend, ein mimetisches sein, vom Gefühl begleitet, die sinnliche Welt achtend, ja dieser sogar ein Primat einräumen, da das instrumentelle Denken diese beherrscht, verzerrt und missachtet (durch diese Herrschaftsausübung verdinglichen die Subjekte, entfremden sich von der Natur, von sich selbst, von ihrem Mitmenschen; die Vernunft ist ein Werkzeug, alles andere Objekt bzw. Mittel); Adorno findet das (oder etwas Vergleichbares) in der künstlerischen (ästhetischen) Wahrnehmung, die er zur Grundlage seiner Erkenntnistheorie macht. Der Künstler (oder der zur ästhetischen Wahrnehmung Befähigte) ist derjenige, der das andere, das nicht durch die gesellschaftliche Praktik Vorgegebene (Vorstrukturierte) überhaupt noch zu sehen vermag, nur er nimmt das Differente (Nichtidentische) wahr und achtete es, dadurch dass er sich selbst zurücknimmt und passiv, bloß wahrnehmend wird (das Subjekt ist für ihn immer schon gesellschaftlich strukturiert); dadurch gewinnt die Kunst (bzw. die Kunstwerke oder die künstlerische Tätigkeit ein gesellschaftskritisches Moment).
Ich glaube, dass die Trennung von Vernunft und Sinnlichkeit kaum zu leugnen ist, man könnte noch einmal anders formulieren und von einer Übertragung der instrumentellen Logik auf Bereiche sprechen, in denen sie nichts verloren hat, ein technisches Gerät kann und muss man wohl so betrachten, aber es verdeckt dann wieder die Tiefendimension der »Angelegenheit«. Man sieht das m.E. an etlichen Phänomenen wie der Verbreitung von Depression und Burnout oder an (sogenannten) verhaltensauffälligen Kindern, das hat alles mit dieser einseitigen, rationalen Bestimmung zu tun, die der anderen Seite nicht oder kaum mehr bewusst ist. Man kann überlegen, ob die Unfähigkeit ein Gespräch zu führen, nicht auch dadurch erklärt werden kann, dass dazu eben gehört einen anderen als Selbstzweck gelten lassen zu können. Jedenfalls ist, um noch einmal darauf zurückzukommen, der Text von Blom auch deshalb leer, weil die Wucht und die Gewalt, die Einseitigkeit, die nicht durch einen Imperativ überwunden werden kann (und der Imperativ bloß zeigt, das er ihrer nicht eingedenk ist) darin nicht auftauchen. Ich habe keine Lösung, sehe mich von all dem betroffen und versuche mir das vom Leib zu halten, wo es nur geht, nicht mitzumachen wo es mir möglich ist, sehr lange tat ich das intuitiv, habe ich bestimmte Dinge abgelehnt, weil sie mich befremdet haben (z.B. bin ich zu jener Praktik, die man »netzwerken« nennt, unfähig, ich hatte auch nie Lust das zu tun und sicherlich hat das auch mit meiner Unfähigkeit dazu zu tun; heute bin ich froh darüber, denn das systematische Aufbauen von Kontakten aus Gründen von Nützlichkeit ist eine instrumentelle Art meinen Mitmenschen zu begegnen).
Ich hatte beim Lesen des Kommentarstrangs den Eindruck, dass mein Satz, den Krylow zitierte, Blom zugesprochen wurde: »Das aber rächt sich und man muss wohl feststellen, dass viele Menschen den Zugang zu sich selbst im Sinne ihrer sinnlich-emotionalen Welt oder bedeutungsvollem (also: nicht verhandelbarem) Tun weitgehend verloren haben (man ist gestresst, in Eile, läuft von einem Termin zum anderen, man amüsiert sich, frisst und säuft, gegen jedes Maß und eben gegen sich selbst).« Was meine ich mit »nicht verhandelbarem Tun«? Eines, das für den Betreffenden, der es ausübt, bedeutungsvoll ist, das für sich stehen kann, das einen Selbstzweck darstellt, das ich nicht primär aus einer Nutzorientierung anstrebe und über das ich mich weigere eine solche auszubreiten. Das Wort »Steckenpferd« hat, auch wenn es vielleicht verniedlichend klingt, doch etwas von der Absurdität einer Bedeutung in sich, die man sich nicht erklären kann und die doch das eigene Tun lenkt. Das ist ein Rest an Mythizität, ein Eingenommensein, das man nicht preisgeben will, das manchmal tief in die eigene Kindheit zurückreicht und das sich aller Funktionalität zu entziehen weiß (ich vermute, dass Gregors Hinwendung zur Literatur, so einen Grund hat oder sich die Existenz dieses Blogs eben nicht darin erfüllt, dass er auf Aufmerksamkeitsmaximierung und Selbstdarstellung zielt). — Kinder, die zeichnen oder basteln, ohne dass ein Erwachsener sich thematisch in deren Tun einmischt, handeln nicht nur bedeutungsvoll, sondern auch ästhetisch, d.h. von ihren Sinnen geleitet, ihnen ist (im Sinne symbolischen Handelns) völlig selbstverständlich was vielen Erwachsenen fehlt, was sie über dem, wie ich einmal treffend gelesen habe, angeblich Lebensnotwendigen, verloren haben. Das zeigt unser Dilemma, ist aber zugleich noch ein Funke Hoffnung.