Gestern Heribert Prantl im Interview in »Kulturzeit«. Er beklagt, dass der Staat den Bürger überall bevormundet und die »Freiheit« durch überzogene »Präventionsmassnahmen« einschränkt. Prantl versuchte eine Differenzierung – die Schäuble-Gesetzesentwürfe (die tatsächlich eine grundlegende Neudefinition des Rechtsverständnisses dieses Staates bedeuten würden) nicht in einen Topf zu schmeissen mit Rauchverbot und Diätdiskussion. Dass die Süddeutsche Zeitung wesentlichen Anteil an der alarmistischen »Deutschland-ist-zu-dick«-Diskussion durch Zitierung einer dubiosen Studie hat, wurde übrigens nicht thematisiert.
Vergessen wurde in dem Gespräch (und in der allgemeinen Diskussion um einen angeblichen »Tugendterror« [exemplarisch Jens Jessen in der ZEIT]), die Ursachen zu erforschen. Sie liegt u. a. darin, dass der Bürger, der auf seine »Freiheiten« pocht (also beispielsweise auf die Freiheit, sich ungesund zu ernähren oder zu rauchen), in einem anderen Zusammenhang durchaus nach einem »starken Staat« ruft. Diese Ambivalenz, für den eigenen Lebensstil grösstmögliche Freiheiten zu beanspruchen, bei anderen jedoch durchaus Reglementierungen das Wort zu reden, wird durch die Medien noch befeuert.
Wenn der Tod eines vernachlässigten Kindes in Bremen beklagt wird, erhebt sich überall der Ruf nach verstärkten Kontrollen entsprechend überforderter Eltern (beispielsweise durch das Jugendamt), um solche Verwahrlosungen möglichst schon präventiv zu verhindern. Ist die Entrüstungsmaschinerie dann nach einigen Wochen abgekühlt, schwenkt die Berichterstattung um und redet von Bevormundung der Eltern, der durch regelmässige behördliche Besuche entstünde.
Verschwiegen wird die Kausalität zwischen der (berechtigten) Entrüstung über den Einzelfall und die Notwendigkeiten, diese Einzelfälle dann entsprechend wirksam anzugehen. Vereinfacht ausgedrückt, kann es zur zwei Möglichkeiten geben: Entweder der Staat (also wir alle) nimmt die »Einzelfälle« (beispielsweise von vernachlässigten Kindern) in Kauf und lässt von Kontrollen (und/oder Sanktionen) ab – oder man versucht durch flächendeckende »Prävention«, die ja auch Hilfe darstellt, dem jeweiligen Phänomen beizukommen – freilich mit den Konsequenzen, die solche Mechanismen nach sich ziehen können.
Vergessen wird dabei, dass der Ruf nach einem »starken Staat« immer situativ aufkommt, und zwar dann, wenn Einzelphänomene medial aufgeplustert (und verallgemeinert) werden, so dass das Gefühl eines kollektiven Notstands aufkommt. Diese »Aufarbeitung« ist meistens affektheischend, d. h. ohne jeglichen Tiefgang und befriedigt – insbesondere durch die Boulevard-Medien (aber nicht nur diese) – niedere Instinkte.
Mit der Zeit entsteht so der Eindruck der permanenten Bedrohung; beispielsweise von Kindern durch Sexualstraftäter. Das die reale Zahl dieser Verbrechen rückläufig ist, wird nicht kommuniziert; der gegenteilige Eindruck herrscht vor, da inzwischen jede Straftat ausführliche Berichterstattung nach sich zieht.
Noch gravierender zeigt sich das Problem in der sogenannten »Antiterrorbekämpfung«. Mit Methoden, die tatsächlich an das permanent geschürte Kriegsszenario aus Orwells »1984« erinnern, wird seit Jahren der Bevölkerung eine Bedrohungslage suggeriert, der angeblich nur mit »umfassenden Massnahmen« beizukommen ist. Vieles spricht aber dafür, dass etliche derjenigen, die sich heute gegen diese teilweise grundgesetzwidrigen Vorhaben aussprechen, im Falle eines ersten Anschlags den fehlenden Schutz des Staates reklamieren.
Eher linksgerichtete Globalisierungsgegner fordern u. U. härtere Gesetze und Strafen gegen Rechtsradikale. Überängstliche S‑Bahn-Fahrer plädieren für nächtliche Zugbegleitungen – sind aber gleichzeitig gegen Videoüberwachungen. Verunsicherte Eltern wittern bei jedem Erwachsenen auf dem Spielplatz einen potentiellen Kinderschänder – beklagen aber andererseits die »soziale Kälte« in unserer Gesellschaft. Übergewichtige Verbraucher monieren, dass auf den Lebensmittelpackungen nicht alle Werte exakt aufgeführt sind – im gleichen Moment kullern die Kartoffelchipstüten in den Einkaufswagen. Bürger beschimpfen die politische Klasse – geben aber zu, in den letzten Jahren nicht einmal zur Wahl gegangen zu sein.
Alles nur Klischees? Nein, nicht nur. Die Widersprüchlichkeiten liessen sich beliebig fortsetzen. In nahezu jedem Magazin-Beitrag im öffentlich-rechtlichen Fernsehen gibt es derartige Doppelzüngigkeiten. Wer als Medienvertreter »Tugendterror« beklagt, vergisst, dass er selber die öffentliche Meinung entsprechend manipuliert hat. Sie scheinen dann gelegentlich überrascht über die Wirkung und ihres Alarmismus – um dann nach einigen Monaten die »Gegenbewegung« einzuläuten.
Die Politik hat häufig nicht die Kraft, den saisonalen Strömungen zu widerstehen. Das führt dazu, dass die Errichtung von Krippenplätzen für Kleinkinder monatelang zur Schicksalsfrage der Bundesrepublik hochstilisiert wurde – ohne beispielsweise zu fragen, wo die Jobs für die Frauen sind, die sie durch die Krippenplätze besetzen sollen. Im gleichen Zeitraum wurde dann zum Beispiel über Bildung nicht geredet. Die Saison kommt erst noch. Es gibt ja auch noch einen Sommer.
Systemimmanente Schwäche?
»Politik hat häufig nicht die Kraft, den saisonalen Strömungen zu widerstehen“
Je perfekter die pluralistische Illusion, desto effektiver die Kontrolle.
Meinen Sie nicht eher die Schwäche der systemimmanenten Argumentation (und zwar sowohl von seiten der Politiker als auch der Medien)?
Nicht wirklich
gemeint war die elegante Methode Land und Leute bei Laune (=passiv und folgsam) zu halten: Einen Rahmen der »akzeptablen Diskussion« vorgeben und in den Grenzen dieser Vorgabe eine möglichst lebendige und vielseitige Diskussion fördern. Ist es nur eine Frage der Zeit bis sich die daraus resultierende Illusion einer pluralistischen Gesellschaft in den Köpfen der Menschen verselbstständigt und die künstlich geschaffenen Grenzen durch den Prozess der „freien Meinungsbildung“ noch weiter verstärkt werden? Diese Betrachtungsweise würde nahelegen, dass besagte fruchtlose, doppeldeutige Debatte (und zwar sowohl von seiten der Politiker als auch der Medien) weder belang- noch harmlos ist.
Aber vielleicht ist es ja genau das, was Sie sagen wollten.
Nicht unbedingt
Ich glaube, dass die Politik nur noch teilweise den Diskurs vorgibt. Die Rolle des Treibers haben die Medien übernommen. Jede innerparteiliche Diskussion wird als »Streit«; jeder sachliche Dissens als »Bruch« benannt. Vor lauter Superlativen des Scheiterns (oder – seltener – des Siegens) kommt keine sachliche Betrachtung mehr auf.
Insofern sind (fast) alle Diskussionen systemimmanent. Beispiel: »Globalisierungsgegner« befragte man in einer Sendung, wogegen sie genau demonstrieren. Statt mit ihnen in einen Diskurs zu treten, also diejenigen zu befragen, die sich wortgewaltig ausdrücken können, nahm man diejenigen, die bei der Frage in eine ohnmachtsähnliche Stille und dümmliches Gestammel verfallen – die typischen Mitläufertypen, die es überall gibt.
Ich glaube allerdings nicht, dass dies eine »Methode« darstellt. So abgefeimt sind zumindest grosse Teile der politischen Klasse gar nicht (und auch nicht der Medien, die oft auch nur dem Massengeschmack hinterherhecheln). Sie sind selber Getriebene, die fast überängstlich auf die nächste Wahl oder die grössere Auflage / Quote schielend notwendige (politische) Schritte nicht machen und sich in Floskeln ergiessen.
Macht die Politik einmal was, dann wird so lange nach Einzelfällen gesucht, bis die Massnahme selber abgeschwächt, angepasst oder umgewandelt wird.
Was ich quer durch alle Parteien (und gesellschaftlcihe Gruppen) vermisse, ist die klare Ausdifferenzierung eines (gesellschafts)politischen Programms, welches dann diskursiv und offensiv vertreten wird – im Wettbewerb mit anderen Modellen. Das geht zugegebenermassen in einer Grossen Koalition per se sehr schlecht.
Aber auch schon vorher galt: Die Parteien (aber nicht nur sie) suchen nach einer Mehrheit in der Bevölkerung – und richten dann ihr Programm nach dieser Mehrheit aus (die im übrigen durchaus Stimmungen unterworfen ist). Das simuliert dann so etwas wie Volksnähe oder gar Pluralismus, ist aber in Wirklichkeit nur demoskopische Prostitution. Man mag damit mittelfristig ein paar Wahlen gewinnen – langfristig wenden sich die Wähler vor soviel Anbiederung dann ab.
Aktuelle Umfragen belegen, dass jeder zweite Amerikaner den Klimawandel als zentrales Thema und Aufgabe für die kommenden Dekaden versteht, was sicherlich auch auf eine breit angelegte Kampagne der amerikanischen Massenmedien zurückzuführen ist. Ohne diese Unterstützung wäre Herr Gore kaum zum Blauen Engel der Nation geworden, der nächste Präsident(-enanwärter) wird dieser Tatsache Rechnung tragen müssen. Allein auf das Wie? darf man gespannt sein.
Trotzdem haben Sie mit ihrer Einschätzung, dass sich das bei uns (derzeit) umgekehrt verhält, m.E. durchaus recht. Der Kern meiner Aussage ist jedoch, dass Rahmen und Richtung des Diskurses nur (noch) teilweise von Politik und Medien vorgegeben werden, dass mir die Ambivalenzgesellschaft wie die ohnmachtsähnliche Stille des nicht ganz überraschend mit einer Kamera konfrontierten Demonstranten erscheint.
Ganz klar, abgefeimtes Handeln setzt direkten Vorsatz voraus, den man so nur im hinreichend begründeten Fall unterstellen darf. Ist aber auch gar nicht erforderlich, es langt ja – ganz ihrer Meinung – irgendwie mitzuspielen. Ganze Bevölkerungsschichten arbeiten unter Missachtung der eigenen Gesundheit nur auf ein Privileg hin: ein bisschen mitspielen dürfen. Die Schlussfolgerung zur Methodik erscheint mir insofern als zulässig, als dass der Chefredakteur eines auflagenstarken Blattes und der Vorzeigepolitiker einer mehrheitsfähigen Partei eine wesentliche Gemeinsamkeit haben: In ihrer Funktion als Spitzen-Manager sind beide fremdbestimmt und bei Nichtgefallen austauschbar.
Ach ja 1), freilich kann man (besser: einige wenige) Fragen auch subtil und wortgewaltig auskontern. Leider schalten 90% nach Verlust der ersten Worte, also ca. 20 Sekunden später, zum nächsten Kanal weiter.
Ach ja 2), für den hochakademischen Elfenbeinturm gilt das so natürlich nicht. Dafür ist diesem z.B. im letzten Chomski (weil wir’s von dem schon mal hatten) der Zynismus ob der gegenwärtigen Situation nicht nur von außerhalb des Buchladens anzusehen.
Gruss