Es ist schon erstaunlich, wie sich Geschichte wiederholt. 1991, 1999, 2001, 2003 und jetzt 2011. Es sind Jahreszahlen der markantesten militärischen Interventionen des »Westens«. Man kann auch Krieg sagen, aber das klingt nicht so gut.
So unterschiedlich die Fälle sind und so differenziert man die Eingriffe bewerten muss – die medialen Muster, wie sich diese Konflikte darstellen, sind absolut identisch: Zunächst gibt es einen seit Jahren agierenden Autokraten (oder Diktator) in einem Land. Dieser tut irgendwann etwas, was sichtbar gegen unsere Vorstellungen von Moral verstößt. Wohl gemerkt: Er muss es sichtbar tun. Es reicht nicht, wenn er jahrzehntelang Abtrünnige in Gefängnissen foltern und umbringen lässt. Es reicht nicht, wenn er einen Geheimdienstapparat unterhält, der repressiv gegen die eigene Bevölkerung vorgeht. Es reicht auch nicht, wenn in wenigen Wochen bis zu einer Million Menschen umgebracht werden, und es ist keine Kamera dabei. Es muss etwas geschehen, was in die gängige Bilderwelt unserer Medien einfließt und als schrecklich, grausam, brutal oder menschenverachtend bezeichnet werden kann. Sogleich wird diese Figur zur persona non grata. Sogenannte Intellektuelle stellen dann Vergleiche an. Der griffigste Vergleich ist immer noch der mit Hitler. Oder er ist einfach ein »Irrer«. In jedem Fall ein »Schlächter«. Oder alles gleichzeitig.
Schnell finden sich willige Interventionisten. Die Neokonservativen der USA der 1970–2000er Jahre und die Grünen Europas sind in ihrem Interventionismus sehr ähnlich. Beide vertreten die Ideologie, dass am westlichen Wesen die Welt genesen muss. Schnell potenzieren sich die Ereignisse durch willige Helfer in den Medien zum scheinbar alternativlosen Handeln. Gegenargumente werden mit der Billigung der Taten des Despoten einfach gleichgesetzt. Der abtrünnige Standpunkt wird denunziert – darin sind sie denjenigen, die sie bekämpfen wollen, durchaus ebenbürtig. Es gibt nur noch schwarz oder weiß – wer nicht für sie ist, ist gegen sie.
2011, Libyen, Gaddafi. Seit Wochen erhalten wir Bilder vom Rebellengebiet im Osten des Landes. Innerhalb weniger Tage wurden dort die Institutionen des Gaddafi-Regimes beseitigt. Man wundert sich, dass die Leute so viele neue Fahnen haben. Wobei die Fahne diejenige des Königreichs Libyen der Vor-Gaddafi-Zeit ist. Sofort waren die Korrespondenten vor Ort. Niemand kommt auf die Idee zu behaupten, sie seien »embedded«. Niemand befragt, wie objektiv ihre Berichte sein können. Niemand fragt, was die Rebellengruppen nach der Beseitigung des Gaddafi-Regimes wollen. Niemand fragt nach den komplizierten Stammesstrukturen, die in diesem Land eine Rolle spielen. Niemand fragt, wer die Hintermänner und Führer der Aufstandsbewegung sind.
Die Reporter zeigen nur das, was sichtbar ist. Dabei ist klar, dass sie die tatsächlichen Kämpfe weder sehen noch zeigen können; so »embedded« sind sie auch nicht. Man zeigt uns Flak-Schützen, die auf ihrer Drehlafette Karussell fahren. Man zeigt bewaffnete Kämpfer, die die Luftbombardements von Gaddafis Armee beklagen. Man zeigt uns nicht, wie anfangs Schwarze im Osten Libyens pauschal verdächtigt wurden, Söldner Gaddafis zu sein und verprügelt wurden. Man zeigt uns Kämpfer, die den Westen um eine Flugverbotszone bitten, damit sie nicht mehr aus der Luft beschossen werden können. Indem man uns nichts anderes zeigt und nichts anderes zeigen kann, übernehmen wir diesen Wunsch natürlich selbstverständlich.
Die Situation in Libyen ist vertrackt. Das ist meistens schlecht für Medien, die radikal vereinfachen müssen. Die UNO hat nun in Rekordzeit eine Resolution hinbekommen, wie die Implementierung einer Flugverbotszone eingerichtet und durchgesetzt werden kann. Und gleich mehr. Deutschland hat sich bei der Abstimmung enthalten. Und das ganze Land ist entsetzt.
Entsetzt ist man nicht darüber, dass man immer noch libysches Öl kauft und bezahlt. Und das Geld auf Konten überweist, die man eigentlich »einfrieren« möchte. Entsetzt ist man nicht darüber, dass jemand vielleicht aus den Desastern in und um Afghanistan Lehren gezogen haben könnte: Wer in einen Krieg hineingeht, sollte immer wissen, wie er auch hinauskommt. Diese Bedenken werden von den Interventionsjournalisten, denen der Kriegsspeichel die Lefzen hinunterläuft, beiseite gewischt. Dabei sind die Parallelen frappierend (siehe oben).
Erstaunlich die skandalisierenden Reaktionen auf die Stimmenthaltung. Ich lese, dass man sich für Deutschland schämt. Soweit ist es schon gekommen, dass man sich für einen Außenminister schämt, der nicht mit Hurra-Gebrüll losballert? Flugs ist vom »deutschen Sonderweg« die Rede. Schröder hätte 2003 mindestens noch Frankreich auf seiner Seite gehabt. Als wäre die Nichtbeteiligung falsch gewesen, wenn Frankreich auf der Seite der USA gestanden hätte. Der nächste Einwand: Deutschland habe mit Russland und China gestimmt und sei dadurch desavouiert. Auch diese Aussage ist Unsinn. Es würde bedeuten, dass es einen Automatismus bei Abstimmungen gibt, der jenseits der Sache liegt. Der schärfste Vorwurf geht in Richtung »Bündnistreue«: Deutschland habe den Pfad der NATO, der EU, verlassen. Richtig ist, dass Westerwelles Aussage, man bringe der deutschen Entscheidung »Respekt« entgegen, Schönsprech ist. Die NATO ist ein Militärbündnis. Und bei Militär geht es nicht um Respekt, sondern um Gehorsam. Westerwelle hat nicht gedient; er kennt das Militär nicht. Eine abweichende Abstimmung ist eine Gehorsamsverweigerung. Das wird Deutschland tatsächlich noch teuer zu stehen kommen; irgendwann. Dauersitz im Weltsicherheitsrat adé. Und? Ist das schlimm?
Die Frage ist nur, wie man diese Gehorsamsverweigerung einstuft. Man könnte auch sagen, es sei eine Emanzipation. Oder, wie Roman Herzog mal sagte: »Wir brauchen eine Außenpolitik ohne Zähnefletschen und Tschingdarassabum, aber auch ohne Verkrampfungen.« Die Konditionierung, das Deutschlands Außenpolitik immer gewisser Vorgaben anderer zu entsprechen habe, sitzt tief. Sie hatte und hat ihren Grund und ihre Berechtigung. Aber sie darf nicht bedeuten, einfach nur blind zu folgen.
Gestern im Bundestag konnte man einen ekelhaften Stahlhelmpazifismus der Grünen bewundern. Ihnen geht es nicht um Bündnistreue. Die hatten sie schon 2003 nicht erkennen lassen. Ihnen geht es um die Durchsetzung ihrer Ideologie mit kriegerischen Mitteln. Sie verklären schon lange Kriege als »humanitäre« Aktion – und das, wie es ihnen beliebt. Dabei gehen sie längst über Clausewitz hinaus, der immer das Primat der Politik vorzog und den Krieg erst als letzten Ausweg ansah. Sie übersehen im aktuellen Fall gerne, dass ihre Politik mit dazu beigetragen hat, Gaddafi, einen Terroristen und Massenmörder, hoffähig zu machen.
Ihre Kriegslust lässt nach, sobald sich der Meinungsstrom ändert. Man kann das am Afghanistan-Einsatz sehen. Den haben sie seinerzeit beschlossen, und dies, unverantwortlicherweise, ohne über Ausstiegsszenarien nachzudenken. Jetzt ist er ihnen über und sie lehnen ihn aus vordergründig formalen Gründen ab. Wer anderen hier Wahlkampftaktik vorwirft, offenbart seine erbärmliche Gesinnung am deutlichsten: Natürlich ist ein Einsatz gegen Gaddafi in der Bevölkerung populär. Weil es so einfach scheint. Und natürlich hat man 2002 Wahlkampf mit dem potentiellen Irakkrieg gemacht. Basta.
Ich gestehe, ich habe keine Lösung, die sich in zwei Sätzen erklären ließe. Der Tyrannenmord scheint unmöglich zu sein. Auch in ihm steckt eine Anmaßung. Einen Frieden zur Jetztzeit und damit ein gespaltenes Libyen ist auch nicht im Interesse des Westens. Wenn der Westen das Öl nicht mehr nimmt, wird China keine Skrupel haben. Auch das ist kein Argument für oder gegen etwas, sondern eine Zustandsbeschreibung. Die UNO-Resolution zwingt fast schon dazu, den Krieg zu beginnen.
In Nicholson Bakers Buch »Menschenrauch« wird unter anderem Gandhis Pazifismus gegenüber Hitler dargestellt. Er kontrastiert mit Churchills fast akribischer Kriegslust. Dieses Buch zerreißt den Leser, der eindeutigen Parolen immer skeptisch gegenüber eingestellt ist. Das Buch zeigt aber, das Pazifismus nicht unbedingt eine Haltung für oder gegen den Krieg sein sollte. Er sollte in politischen Maßnahmen bestehen, die Konflikte antizipieren und im Vorfeld versuchen auszuräumen. Eine neue diplomatische Legitimation von jemandem wie Gaddafi hätte es niemals geben dürfen. Schröders und Sarkozys Fotos erinnern an Rumsfeld Handschlag mit Saddam Hussein. Diese Politik verursacht letztlich Kriege: Das Paktieren mit Diktatoren, die zwar nicht unsere Freunde sind, aber das tun, was wir wollen. Wir denken nicht zu Ende. Wir denken nicht, was passiert, wenn das Volk diese Leute nicht mehr will.
Eine vernünftige Außenpolitik verzichtet nicht auf Gewalt als Ultima Ratio. Sie verknüpft aber Zusammenhänge miteinander, wägt ab und entscheidet sich niemals aufgrund kurzfristiger Vorteile sondern hat die langfristigen Folgen ihrer Politik im Visier. Das ist in der Praxis sicherlich alles sehr kompliziert. Aber niemand hat gesagt, dass Politik einfach ist. Die Interventionisten werden weiterhin lohnende Ziele haben: Bahrein, Syrien, Jemen, Gaza. Sofern dort Kameras stehen und Reporter vor Ort sind. Ansonsten schweigen sie auch. Wie in Ruanda 1994, Darfur, der Elfenbeinküste.
Damit ist alles gesagt und die Dinge nehmen Ihren Lauf. Wandel durch Annäherung war mal eine Devise, als man mehr Zeit hatte und Politik nicht zum Tweet verkommen war. Wenn Sarkozy die Einheit MegaMerkel (180°-Wende) neu definiert, ersetzt Aktionismus Strategie und Standhaftigkeit (gemessen in MilliMappus, in manchen Gegenden auch MilliGabriel) wird zur Tumbheit umdefiniert. Mit Westerwelle einer Meinung sein fällt schwer, wir sind es aber immerhin aus verschiedenen Gründen.
Ja, dieses »Wandel durch Annäherung« – das ist, das war ein schöner Gedanke. Das war noch Politik mit Perspektive.
als man mehr Zeit hatte und Politik nicht zum Tweet verkommen war
Danke für den Artikel. Gibt zu denken. Ich bin uneinig bezüglich der Enthaltung, die Skepsis hinsichtlich einer militärischen Intervention teile ich allerdings. Ich habe Sie erneut verlinkt.
Peters Nebensatz hat mir Freude gemacht. Und die Einheit Megamerkel auch.
Ist aber auch nur geklaut.
Selbst bei uns spricht man davon, dass die Deutschen [...] im innenpolitischen Grab liegen [bleiben]. Mögen sie sanft ruhen, wünscht oder hofft man. Zur selben Zeit kommt es (angeblich) zu einer Auferstehung des Westens. Richtig ist eher, wie in einem der Kommentare angemerkt wird, dass ein (aber nicht nur der) französischer Präsident ein ziemlicher Wendehals ist.
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Grundsätzlich hast Du mit Deiner Conclusio völlig Recht, hier aber hilft sie uns nicht weiter: Diesmal sind nicht nur die üblichen Verdächtigen mit ihm Boot, auch die arabische Liga trägt den Einsatz mit. Und jemand der mit Söldnern gegen »sein« Volk vorgeht, hat tatsächlich sein Recht auf politische Macht verwirkt. Letztlich: Soll man warten, bis Berge von Toten zu beklagen sind, Kamera hin oder her, es ist gut möglich, dass das große Morden erst beginnt, wenn die Kampfhandlungen vorbei sind? Das hieße zumindest aus anderen Krisen gelernt zu haben.
Eine »Auferstehung des Westens« macht da Herr Fleischhacker aus. Dümmer geht’s ja fast nimmer. Und wenn dem so ist: Was ist mit Jemen, wo man von den oppositionellen Kräften schon Appelle vernahm, man möchte dort auch eingreifen? Was ist mit Bahrein, wo saudische Armee dem Machthaber beim Demonstrantenschießen helfen? Das Eingreifen in Afghanistan und dem Irak bezeichnet er als »schlecht geplant« und »halbherzig angelegt«. Ist der »Eingriff« (man beachte, wie immer das Wort Krieg vermieden wird) in Libyen denn besser geplant? Wohl kaum. Denn für etliche Szenarien, die nicht Ausgeburten häkelnder Friedensaktivisten sind, braucht man irgendwann Bodentruppen. Möchte vielleicht Herr Fleischhacker...?
Dass Deutschland ausgerechnet von österreichischen Medien ins »Grab« geschrieben wird, ist kurios. Waren es doch die Österreicher, die 1999 den NATO-Truppen die Überflugrechte zur Bombardierung Jugoslawiens nicht erteilten.
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Ich weiß nicht, ob in Gaddafis Flugzeugen Söldner sitzen. Eher wohl nicht. Ich weiß auch nicht, ob Gaddafi immer noch mit Söldnern diesen Angriffskrieg führt. Ich vermute eher nicht, da Söldner eigentlich unzuverlässig sind und schnell die Seiten wechseln. Du sagst, er habe sein Recht auf politische Macht verwirkt. Aber davon ist in der UNO-Resolution gar nicht die Rede. Was, wenn er tatsächlich einen Waffenstillstand akzeptiert? Dann muß man ihn an der Macht halten. Auch Saddam Hussein 1991 und Milosevic 1999 blieben an der Macht.
Im Moment spielt Gaddafi den Interventionisten in die Hände. Er tut so, als wäre er für den Waffenstillstand, seine Truppen greifen aber weiter an. Das zeigt seine Verwirrung.
Fleischhacker schafft manchmal gute Kommentare, dann haut er wieder fürchterlich daneben (generell verwendet er leider viel zu viel Anstrengung darauf originelle Formulierungen zu finden).
Man kann nur hoffen, dass das Verhalten Deutschlands zumindest etwas in der Richtung einer anderen Art von Politik bewirkt (wie Du sie ansprichst), dass eine Art Nachdenkprozess angestoßen wird. Diktatoren dürfen nicht mehr hofiert werden.
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In Libyen gibt es tatsächlich eine Opposition, die Gaddafis Platz einnehmen könnte, allerdings besteht die Gefahr, dass sie zerfällt, sobald Gaddafi »weg« ist. Vermutlich hat man sich aber über das Nachher nicht viele Gedanken gemacht; allerdings drängt die Zeit (das war im Fall des Irakkriegs anders).
Wir wissen relativ wenig, aber das sollte keine Ausrede sein. Söldner haben hier den Vorteil, dass sie keine Skrupel gegenüber der Bevölkerung kennen, Soldaten der regulären Armee laufen eher über (was ja auch passiert ist; die Rebellen hingegen können Söldnern kaum finanzielle Mittel bieten), sie schießen auf die eigenen Leute und haben vielleicht sogar Freunde oder Verwandte in den rebellierenden Städten.
Sollte Gaddafi einen Waffenstillstand akzeptieren, werden Wahlen auf kürzere oder längere Sicht ein Ziel werden (oder man teilt das Land, aber damit wird nur der nächste Konflikt vorbereitet).
Mein Problem ist folgendes: Es gab Krisen/Konflikte bei denen zugesehen wurde (Ruanda, z.B.), was fatale Folgen hatte; dann gibt es welche, die kaum Beachtung finden (keine Kameras, wie Du es formulierst); und dann gibt wiederum welche, denen die notwendige Aufmerksamkeit entgegengebracht wird. Unabhängig davon existiert die Pflicht (oder eine Art Gewissen) dazwischen gehen zu müssen, wenn eine bestimmte Eskalationsschwelle erreicht ist. Vielleicht hilft folgendes Bild: Ich beobachte, wie sich zwei Schüler streiten, vielleicht hin und her stoßen und beschimpfen. Na gut, denke ich mir, sollen sie. Was aber wenn einer von den beiden ein Messer auspackt? Dann ist zumindest ein Anruf bei der Polizei geboten. In Libyen ist es nicht so einfach, Ordnungskräfte zu legitimieren. Aber muss man trotz allem nicht versuchen die Konfliktparteien auseinander zu bringen? Ich weiß schon, dass ich da einige wirtschaftlich-politische Faktoren außer Acht lasse. Wenn in Europa schon von einer Mittelmeerunion gesprochen wird und jetzt ein Konflikt, zwar nicht in Europa, aber doch in unmittelbarer Nachbarschaft ausbricht, was soll man tun?
Hier ein Gespräch mit dem Rechtsphilosophen Reinhard Merkel zur Thematik (ca. 8 Minuten). Er erklärt auch, warum diese Parteinahme für eine Bürgerkriegspartei, die ja die Gewalt begonnen hat, problematisch ist.
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Zur Arabischen Liga: Dort sind nur Autokraten oder Diktatoren vertreten (selbst Ägypten und Tunesien sind keine in unserem Sinn demokratischen Staaten). Gaddafis aggressive Außenpolitik, sein pan-arabisches Anspruchsdenken war da schon immer ein Dorn im Auge. Auf den können und wollen sie gerne verzichten. Die Aufstände im Jemen, Syrien, Jordanien, Algerien und Bahrein zeigen, dass es sich selbe rum delegitimierte Herrscher handelt. Sie stimmen vermutlich dafür, damit man sie verschont.
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Ich bin nicht der Meinung, dass die Angelegenheit eilte. Ein Aspekt, der viel zu wenig berücksichtigt wurde besteht darin, dass die Rebellen die Gewalt begonnen haben. Wie konnte man glauben, dass die schnellen Eroberungen des Ostens von Gaddafi akzeptiert worden wären? Wie konnte es zu einer solchen Fehleinschätzung kommen? Wer sind die Leute, die hier aufgestanden sind? Man weiß viel zu wenig, um mit der geballten Militärmacht einzugreifen.
Die Rebellen hat man mehrere Wochen machen und sich von Siegesbotschaften blenden lassen. Was hat man unternommen? Nichts. Sarkozy hat die Leute als legitime Vertreter Libyens anerkennt. Niemand sprach vorwurfsvoll von einem Sonderweg Frankreichs – was es war. Wo blieben die Abgesandten der EU oder von sonstwem, die in Benghazi mit den Rebellen Kontakt aufsuchten? Wo waren die diplomatischen Bemühungen, auf Gaddafi einzuwirken?
Um Dein Schülerbeispiel aufzunehmen: Warum nicht reingehen, bevor einer das Messer zückt?
Natürlich kommt es jetzt sofort wieder zu den berühmten »Kollateralschäden«. Beide Seiten instrumentalisieren die Medien. Unser Glaube an die »chirurgischen« Präzisionswaffen ist hündisch. Längst dürfte Gaddafi seine Waffen entsprechend versteckt haben. Das kann, das wird Monate dauern. Und dann?
Zu Reinhard Merkel: Grundsätzlich ist seine Position zu präferieren, allerdings verwickelt er sich in den Widerspruch, dass er einerseits geheimdiplomatische Verhandlungen mit Gaddafi und den Rebellen führen will, um die Kampfhandlungen zu stoppen, andererseits aber ersteren für geistig nicht zurechnungsfähig oder gestört hält (ich kann mich an die genaue Formulierung nicht mehr erinnern). Natürlich probieren hätte man es können und müssen. Der primäre Gewaltverzicht zwischen Staaten als Basis des Völkerrechts, auf den er verweist, ist eminent wichtig. Ein zweiter Widerspruch ist m.E., dass er Gaddafi für obsolet erklärt – er sagt etwas wie »der Mann muss weg« – andererseits aber für eine neutrale Position plädiert; ich weiß schon, dass er das völkerrechtlich argumentiert (Verbot der Parteinahme in Bürgerkriegen), aber da bleibt schon eine kleine Seltsamkeit zurück: Ein Diktator, der weg gehört, der »sein« Volk unter der Knute hielt und jetzt wo es sich wehrt...
Aber Merkel hält Interventionen aus humanitärer Sicht prinzipiell rechtfertigbar.
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Es gibt wohl keine Demokratie im westlichen Sinn in der arabischen Liga, aber doch etliche Staaten, die man nicht so einfach wegklassifizieren kann oder sollte (Jordanien, Katar, Marokko, Libanon, u.a.). Ich weiß nicht warum sie sich entschieden haben, wie es taten, offiziell zumindest des Schutzes der Zivilbevölkerung wegen, den sie auch einfordern (ja, keinem wird Gaddafi abgehen, aber man wird sich nicht nur deswegen einfach dem Westen »anbiedern«, das wäre politisch auch nicht allzu klug).
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Zum Gewaltausbruch: Wie in Ägypten oder anderswo auch, hat sich in Libyen etwas wie ein »Frustpotenzial« aufgestaut, das jetzt schlicht und ergreifend ein Ventil gefunden hat, das ist nichts anderes, als wenn sich jemand nach Jahren gegen die Drangsalierung eines Klassenkollegen wehrt (gut, ich gebe zu das ist eine Interpretation der Ereignisse).
Ich meine es eilt, weil Menschen starben, sterben und es vermutlich noch mehr werden. Der Zeitdruck ergibt sich daraus, wie man die Entwicklung der Ereignisse fortschreibt (weiter denkt), was man in irgendeiner Form tun muss um die Lage beurteilen zu können (Werden die Kampfhandlungen bald vorüber sein? Wird das Morden nachher erst so richtig beginnen? etc.)
Man kann jetzt einwenden, dass das den Westen sonst auch nicht kümmert. Stimmt. Aber ist das tatsächlich ein Argument?
Ich gebe Dir aber völlig Recht, dass man längst alle anderen Wege hätte ausschöpfen müssen.
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Zum Schülerbeispiel: Man kann nicht immer dazwischen gehen, weil Staaten nun mal als souveräne Akteure gelten und man sie für kompetent ansieht gewisse Probleme selbst zu lösen (das zeigt dann auch einen Mangel des Bilds).
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Was dann passieren wird weiß ich nicht. Aber es kommt einem alles sehr bekannt vor, leider.
Ja, Merkels (gemeint ist der Rechtsphilosoph!) Widerspruch: Einerseits argumentiert er als Völkerrechtler, dann wieder als Politiker. Dass Gaddafi »weg« soll, steht in der Resolution nicht drin – theoretisch muss nach einem beiderseitigen (!) Waffenstillstand mit ihm verhandelt werden. Nur: Über was soll man denn verhandeln? Die Rebellen wollen keine Sezession – sie wollen die gesamte Herrschaft über das Land. Das geht nur ohne Gaddafi. Wer also die Rebellen unterstützt, ist Partei; Partei gegen Gaddafi. Hierin liegt der Widerspruch der Resolution, die ja nicht expressis verbis von einem Regimewechsel spricht.
Nach wie vor interessiert mich, warum sich der »Westen« um das Rebellentum in Libyen kümmert – und beispielsweise rund 200.000 Menschen in Darfur bis auf wenige Ausnahmen »hinnimmt«. Dies hat ausschließlich mit den medialen EInrichtungen zu tun. Ohne Kameras und der ausführlichen Berichterstattung gäbe es diese Intervention nicht. Daraus folgt, dass ein Kampf gegen eine wie auch immer gerichtete Zentralmacht nur dann Unterstützung erfährt, wenn über sie berichtet und die Folgen der Niederschlagung hysterisiert werden. Schließlich – und darauf weist ja Merkel hin – haben die Rebellen ja den Krieg begonnen (nicht unbedingt die Gewalt; die ging vom Gaddafi-Regime wohl auch schon vorher aus – zumindest gegen Abweichler).
Es scheint also so zu sein, dass man mit geschickter medialer Steuerung den westlichen Interventionismus auslösen kann. 1991 brauchte man noch verstärkend eine Lügnerin um Weltsicherheitsrat, die davon sprach, dass Saddam Husseins Soldaten Brutkästen in Kuwait abstellten. So plump läuft das heute nicht mehr ab. Rebellionen und Aufstände, die diesen Gesetzen nicht gehorchen, verpuffen. Die Legitimität wird nicht überprüft.
Hier ein Artikel vom »Newyorker«. Die Dame hat auch gewisse Fragen, zum Beispiel: »If our mission, as we are told, is to protect Libyans from their government, does that mission end only with a change, or enduring change of heart, on the part of the government, or with partition?« Wobei ein »change« m. W. gar nicht vorgesehen ist.
Die Legitimität wird nicht überprüft.
Dem Tenor Ihres Artikels mag ich zustimmen. Es verursacht mir auch ein Frösteln, was in dieser Mediokratie so möglich ist. Da wird mal eben der Verteidigungsminister geschasst, auf einmal ist’s ne Kleinigkeit die AKW’s abzuschalten oder Krieg zu führen (und über Nacht wird mal wieder ein Diktator vom Hoffierten zum Bombardierten).
[Was ich einschränkend jedoch anmerken wollte, ist aber vielleicht dass es mit der Legitimation doch allgemein so ist: Die Machthaber machen nun einmal was machbar ist – sei es weil Gott das so will oder »die Bevölkerung«, solange es durchsetzbar ist’s eben »legitim« – s. auch die Abschaltung der AKW’s am Parlament vorbei – plebs vult]
@phorkyas
Ich tendiere dazu, dass die Politiker immer mehr Getriebene von Medienwahrheiten oder von mir aus Pseudo-Wahrheiten, die durch Medien produziert werden, sind. Politik reagiert nur noch, obwohl sie scheinbar agiert. Dafür spricht die scheinbare Alternativlosigkeit (!). Man müsste das genau durchdenken.
@Gregor
Man könnte Gaddafi und seinem Clan einen Gang ins Exil anbieten (was man natürlich längst hätte tun können, siehe hier).
Ohne Kameras und der ausführlichen Berichterstattung gäbe es diese Intervention nicht.
Damit hast Du wohl Recht. Allerdings gilt das für die meisten politischen Belange in unseren Mediendemokratien: Probleme existieren erst, wenn sie allgemein bekannt werden, dann muss man als Politiker handeln (die paar Wissenden, die einen beim nächsten Urnengang nicht mehr wählen, können getrost hinten angestellt werden).
Ich vermag nicht zu sagen inwiefern man solche medialen Ereignisse steuern oder inszenieren kann (z.B. über Agenturmeldungen o.ä.) und wie viel dem Zufall überlassen bleibt (also gewisse Ereignisse – in diesem Fall in der arabischen Welt – zuvor »sensibilisieren«). Relativ sicher ist, dass die Berichterstattung an einem bestimmten Punkt abreißt und man zum nächsten Aufmerksamkeitsknoten »geführt« wird.
Hier einige Unstimmigkeiten der »Intervention« und die Gegenposition.
Allen Überlegungen zum Trotz: Die Realität lässt sich oft erst hinterher korrekt beurteilen, und nicht in dem Augenblick in dem man handeln müsste.
ohne kommentar
weil mir dazu jetzt die Zeit fehlt. Aber so viel: ich freue mich, dass Du diesen Beitrag geschrieben hast.
Und ich entdecke sehr viele Parallelen zur Medienfrage hinsichtlich Fukushima. Aber das ist vielleicht nicht zufällig...
@metepsilonema #13
Manfred Rotter schreibt:
Das ist alles richtig. Dann kommt jedoch ein Satz, der verräterisch ist:
Damit würde vorausgesetzt, dass es Ziel der »Internationalen Staatengemeinschaft« sei, die Opposition an die Macht zu bringen. Rotter gibt aber zu:
Das thematisiert ja auch Walzer: »Es ist völlig unklar, was mit dem Eingriff bezweckt werden sool. Ist das Ziel, das Scheitern der Rebellen zu verhindern und das zu tun, wozu sie selbst nicht im stande sind – nämlich Gaddafi zu stürzen? Oder will man die Kämpfe nur möglichst lang aufrechthalten, inder Hoffnung, dass die Rebellen sich durchsetzen und Gadaffi selbst stürzen? Oder will man nur einen dauerhaften Waffenstillstand erreichen?«
Weiter mit Rotter:
Avnerys Text fällt dagegen ab. Er gebraucht Vokabeln wie »Massenmord«, »skandalös« und »ungeheurlich«. Er ist emotionalisiert; er ist Partei. Prompt kommt natürlich wieder der absolut abseitige Vergleich zu Auschwitz. Schade, ich schätze Avnery eigentlich sehr.
Er übersieht, dass die UNO selten derart schnell reagiert hat wie im Falle Libyens. Er merkt gar nicht, wie sich sein Beispiel aus dem Spanischen Bürgerkrieg gegen die jetzige Intervention wenden lässt: Hier wird der Westen Partei für die Rebellen, deren Ziele vollkommen unklar sind. Die Rebellen sind ja keienswegs friedliche Demonstranten – wie die in Tunesien, Ägypten und auch Bahrein und dem Jemen. Hier sind Leute am Werk, die sich bewaffnet haben. Die Parallelen zu Jugoslawien und der Unterstützung des Westens der sezessionistischen Bewegungen ist frappierend.
Hier noch einmal Reinhard Merkel in einem FAZ-Artikel, der einigermaßen Furore erzeugt.
@steppenhund #16
Es ist offensichtlich ein Gesetz: Wo die Medien sind, wird Politik gemacht. Das ist erst einmal nichts Neues. Der Schluß hieraus ist jedoch ernüchternd: Die Probleme, die sie nicht bebildern, existieren nicht.
Was dann einem Versagen von Politik gleichkäme. Aber man muss vorsichtig sein und sich das einmal genau ansehen (sicherlich ist das bei einigen Themen so, aber nehmen die Medien nicht auch viel aus der politischen Sphäre auf?).
Ist es nicht eher so, dass ein Politiker im Normalfall geräuschlos arbeitet und nur Einzelthemen, bei denen er zu punkten glaubt, in die Öffentlichkeit zerrt, die anderen nur abarbeitet? Die Themen existieren also unabhängig von medialer Darstellung und sind wahrscheinlich dadurch auch einfacher lösbar.
Erst wenn ein medialer Furor entsteht, muss passend oder häufig kopflos reagiert werden. Damit schiebt man den schwarzen Peter auch deutlich in Richtung Medien. Vor allem die Meldungen, die nur mit der Phantasie des Lesers als Verstärker funktionieren, gehen mir furchtbar auf die Nerven. Z.B. die schlichten erklärungslosen weißer-Rauch‑, schwarzer-Rauch-Schlagzeilen bzgl. Fukushima sind unerträglich.
@Peter42 #18
Ich weiß nicht. manchmal glaube ich, dass die Medien nur ihre so häufig sinn- und ahnungslosen Hysterisierungen aufgrund der falschen Annahme btereiben, der Zuschauer/Leser/Hörer verlange dies. Dabei entsteht eine Kettenreaktion: Journalisten glauben, dass es die Leute interessiert. Daher werden bestimmte Nachrichten sehr weit nach oben positioniert. Dies wiederum führt dazu, dass es natürlich auch rezipiert wird. Das bestätigt dann wieder die Medienleute, usw.
In Wahrheit ist sehr vieles Desinformation oder einfach nur einseitig. Meist sogar unbeabsichtigt. Da werden mir Leute in einem Krankenhaus in Bengasi gezeigt. Sind dies nun »Zivilisten« oder »Kämpfer«? Keine Ahnung. Der Chefarzt geht mit dem Reporter in ein Nebengebäude, in dem Leichen liegen. Sie seien übel zugerichtet. Suggeriert wird, dass dies von Gaddafis Truppen sein soll. Aber auch hier unterbleibt die Frage, ob es sich um Zivilisten oder Kämpfer handelt. Es wird gesagt, dass den rebellen die Munition ausgeht. Die Resolution sieht allerdings ein Waffenembargo für das Land vor. Was hat dies für Auswirkungen auf den Kampf? Der Zuschauer wird nur mit oberflächlichem Seh-Futter versorgt.
Unsäglich diese Reportagesendungen in den ersten Tagen der Reaktorkatastrophe von Fukushima. Ein hysterischer Robert Hetkämper, nach dem der Reaktor praktisch stündlich vor der totalen Explosion stand. Immer Bilder, wie Leute mit Geigerzählern »abgehört« werden. Nie die Frage nach dem Resultat. So ist das alles überflüssig. Man bebildert rein schematisch Vorgänge. Die wahren Informationen unterbleiben zu Gunsten von irgendwelchen lächerlichen Momentaufnahmen.
@Peter42/Gregor #18 und #19
Ohne jetzt eine erkenntnistheoretische Diskussion beginnen zu wollen: Probleme existieren nur im Bewusstsein von Subjekten. Für den Prozess der allgemeinen Bewusstwerdung allerdings spielen die Medien als eine Art Verhandlungs- und Informationsplattform eine große Rolle. Es geht »nur« um die Frage wie viele Personen über einen Sachverhalt, ein Problem bescheid wissen (aber so weit stimmen wir ohnehin überein).
Politiker gehen an die Öffentlichkeit, wenn sie punkten wollen, einverstanden, aber ausschließlich? Ich glaube das nicht, weil auch Politikern bestimmte Themen »am Herzen« liegen, sie sich ihnen verschrieben haben und diese für wichtig halten. Darüber hinaus ist es auch ihre Aufgabe mit dem Bürger Kontakt zu suchen, den sie ja vertreten. Klar: Einen Gesetzesantrag oder eine ‑änderung schreibt am besten in Ruhe, aber ich kann mir zumindest vorstellen, dass die öffentliche Diskussion davor auch für Politiker neue Perspektiven ans Licht bringt. Letztlich ist es doch so, dass wir alle schon aus Gründen der eigenen Fehlbarkeit und Unvollständigkeit den anderen brauchen.
Ich habe mich aus der Fukushima-Berichterstattung mittlerweile verabschiedet und versuche das Relevante zu filtern. Irgendwie...
Natürlich wird auch manipuliert, aber vieles passiert einfach, weil man es tun kann – Konkurrenz spielt auch eine Rolle, natürlich, und Bedürfnisse (genauso wie Forschung, auch angewandte, durchgeführt wird, weil sie machbar ist).
@Gregor #15
Avnery extrapoliert seine persönliche Sicht zu weit, es gibt ja tatsächlich keine Hinweise auf bevorstehenden Völker- oder Massenmord (was ihn allerdings nicht ausschließt). Schutz der Zivilbevölkerung kann man in jedem bewaffneten Konflikt ins Feld führen.
Über Merkel muss ich noch nachdenken (auf jeden Fall ein sehr guter Artikel), seine Argumentation lässt sich auch auf den spanischen Bürgerkrieg anwenden: Man hätte nicht eingreifen dürfen, auch wenn abzusehen war, wer da an die Macht kommen wird. Kann Absehbarkeit nicht Einmischung erlauben? Dünnes Eis, ich weiß und keine Grundlage für Recht. Man könnte allerdings verzwickte Beispiele konstruieren: Was, wenn man die Ziele einer der beiden Parteien kennt und die tatsächlich zu Verbrechen wie Deportationen und Massenmord führen könnten, muss man trotzdem warten? Da kann ich Avernys Sicht schon ein wenig nachvollziehen, den entsprechenden Leuten stehen nach der Machtübernahme ganz andere Mittel zur Verfügung als vorher. Aber es mischt sich hier immer auch die historische Perspektive des Wissenden hinein.
Interessantes Interview mit dem Politologen Kaim und hier Anmerkungen zu Vertraktheit der Situation in Libyen.
Noch ein paar »Kleinigkeiten«
Ein nicht ganz illegitime Frage, die auch in einem Kommentar aufgeworfen wird, ist, inwieweit nicht das Gewicht zu Gunsten Gaddafis zuvor (Unterstützung durch den Westen, auch Waffenlieferungen?) verschoben wurde und man einen Krieg (oder zumindest eine Unterstützung der Rebellen) nicht durch diese Schieflage rechtfertigen könnte (wie wohl der Westen dabei alles andere als gut dasteht, weil er mit beiden Parteien gemeinsame Sache macht bzw. gemacht hat). Auch den Einsatz von Söldnern (wenn er denn entscheidend war/ist) könnte man für ein ähnliches Argument heran ziehen.
Auch zu der Frage ob es sich hier um einen Bürgerkrieg handelt, gibt es verschiedene Ansichten. Wenn man das Kriterium anlegt, dass es sich um eine rein innerstaatliche Auseinandersetzung handelt, dann wohl ja. Aber vielleicht übersieht man dann, dass der Widerstand gegen Gaddafi nicht damit zu fassen ist, ob genau definierte Ziele von Rebellen verfolgen werden, wie »sauber« sie selbst agieren oder ob sie den Kampf tatsächlich begonnen haben. Den Widerstand gegen Gaddafi für gerechtfertigt zu halten, muss nicht zwangsläufig eine Intervention im jetzigen Sinn bedeuten, das zeigt der Artikel ganz gut auf (und es wäre mir allemal lieber, als den Konflikt fortdauern zu lassen – das hätte eine Art dritter Weg sein können, zumindest als Versuch).
Mir hat der Artikel sehr gut gefallen. Ich verstehe nur nicht so ganz, warum er sich so stark auf die Grünen konzentriert. Sie haben gewiss ihren Anteil an den sogenannten »humanitären Einsätzen«. Aber Ihr Artikel beschreibt auch einen vorauseilenden Gehorsam der deutschen Öffentlichkeit, wenn sie über deutsche Außenpolitik debattiert. Deshalb muss man eigentlich alle nennen, die sich im Kriegsfall durch besondere Bündnistreue hervortun, ob SPD oder Union oder Grüne.
Aber wirklich spannend fand ich die Darstellung des Handelns der Medien. Denn mich hat das an den Kosovo-Krieg 1999 erinnert, als die Medien auch Gewehr bei Fuß unkritisch einen Krieg gewissermaßen an der »Heimatfront« mit unterstützten. Ich hatte damals den starken Eindruck, dass alle kritischen Stimmen, alle Einwände regelrecht weggeblockt worden sind. Die Art, wie man Serbien zum Feind stempelte, erschien mir propagandistisch. Nicht, dass ich Milosevic für einen Unschuldigen halte. Ich fand es nur erschreckend, dass ausgerechnet das öffentlich-rechtliche Fernsehen die Pfade des seriösen Journalismus verließ, um einseitig und emotionalisierend Stimmung für diesen Krieg zu machen. Eine wirklich kritische Auseinandersetzung mit der Kriegspolitik fand nicht statt. Sie wurde gar nicht erst zugelassen. Kritikern ist man über den Mund gefahren. Das war das schlimme, in einem Land, dass sich demokratisch nennt und sich längst geläutert von seiner unseligen undemokratischen Vorgeschichte wähnt. Ich teile Ihre Einschätzung, dass eine auf Frieden orientierte Außenpolitik nicht mit einem platten Pazifismus ohne Wenn und Aber verwechselt werden darf. Aber ich fand es 1999 und ich finde es 2011 ausgesprochen seltsam, wenn kritische Debatten gerade im Journalismus ausbleiben oder sogar unerwünscht zu sein scheinen.
Eigentlich haben Sie mit Ihrem zweiten Absatz ihre Frage aus dem ersten Absatz schon beantwortet. Die Grünen haben 1999 eine 180 Grad-Drehung begangen, was ihre Außen- und Sicherheitspolitik angeht, nur um neben der Schröder-SPD nicht wie ein Angsthase dazustehen. Jede Straßendirne verteidigt ihre Grundsätze mit mehr Engagement.
Die Konzentration auf die Grünen hängt auch damit zusammen, dass enttäuschte Liebe oft die schmerzlichste ist.
Die Enttäuschung über die Grünen ist nachvollziehbar. Die Enttäuschung über die SPD ist ja schon sprichwörtlich und bald ein Medienklischee.
Mehr noch bin ich aber enttäuscht von der mangelnden Debattenkultur. Dass solch platte Kriegstreiberei in Deutschland möglich ist, hat mich irritiert. Das Säbelrasseln der schreibenden Zunft hielt ich für ein historisches Phänomen aus der Zeit vor dem Ende des zweiten Weltkrieges. Aber spätestens seit 1999 gehört es auch in »modernen« Deutschland wieder zum Erscheinungsbild der Medien.
Die Medien sind damit kein Ort einer kritischen Öffentlichkeit mehr. Zumindest in wesentlichen Fragen versagen sie ganz dramatisch. Sie feiern den Tod Bin Ladens, ohne kritisch nachzufragen, ob die Aktion der Vereinigten Staaten gerechtfertigt war. Sie trommeln für den Krieg in Libyen und stützen sich dabei auf lückenhafte Informationen über das Geschehen dort. In der Frage der inneren Sicherheit beten sie allzuoft nach, was ihnen Politiker und Polizisten als vermeintlich alternativlose Grundrechtseingriffe vorbeten.
Man fragt sich wirklich, wo noch der Ort ist, um kritische Einwände hörbar zu machen. Die Medien wirken mir allzuoft wie Durchlauferhitzer für Politiker- und Lobbyisteninteressen.
Die medialen Parallelen von 1999 (Jugoslawien) mit 2011 (Libyen) sind in der Tat frappierend. Dennoch gibt es Unterschiede. Die FAZ stellte in einem grandiosen Artikel von Reinhard Merkel die Legitimation des Libyen-Einsatzes infrage. Das gab es 1999 in dieser Form nicht. Und was Sie über die Berichterstattung über Tod Bin Ladens sagen, stimmt so nicht. Es gab und gibt durchaus kritische Berichte in den Mainstreammedien über diese Aktion. In den »tagesthemen« gab es einen Kommentar von Schönenborn, der sein Befremden über den Jubel in den USA ausdrückte. Heute gibt’s eine »Presseclub«-Sendung, die das befragt. Vorher die »Phoenix«-Runde, usw.
Sie haben recht. In der Bin-Laden-Sache regte sich Kritik. Aber verzögert und das hatte mich geärgert. Als die Meldung vom Tode Bin Ladens frisch war, wurde sie lediglich reproduziert oder eher positiv begleitet (zumindest, was ich vom Hörfunk und von den Printmedien mitbekommen habe). Das Erstaunen über Angela Merkels Reaktion kam erst später. Ich selber war fassungslos, als ich die Statements der Kanzlerin und des Außenministers hörte. Ich konnte nicht begreifen, dass das nicht kritisch kommentiert worden ist. Aber einen Tag später hat es vielfältige kritische Kommentare gegeben. Insofern bin ich mit meiner Medienschelte etwas über das Ziel hinaus geschossen.
Man muss grundsätzlich zwischen der Wiedergabe von Ereignissen und der Reflexion über ein Ereignis unterscheiden. Dass die Ermordung Bin Ladens zunächst nur als Ereignis gemeldet wird, ist klar. Dass die Diskussion um die Rechtmäßigkeit dieses Vorgehens später erfolgt, ist auch klar.
Problematisch wird es in zwei Fällen: (1.) Wenn es vor lauter Ereignisberichterstattung keine Reflexion mehr gibt (zumeist bei Kriegs- bzw. Vorkriegsberichterstattung, die im Vorfeld eine Ausweglosigkeit suggerieren). Und (2.) wenn eine post-nachrichtliche Reflexion schlicht unterbleibt. Letzteres wird im Talkshow-Zeitalter kaum mehr der Fall sein. Man wird von Stellungnahmen jeder Art solange belästigt werden, bis wirklich jeder B‑Promi noch gehört wurde.