(← I)
Den Ogura-Schrein wollte ich noch nicht aufgeben. Es gab, laut Karte, die ich diesmal wohlweislich einsteckte, noch einen anderen Zubringer zu dieser schnurgeraden, am Ende nur noch strichlierten Straße. Ich fuhr also los, lernte wieder ein paar Ortschaften kennen, kam an einem uralten mächtigen Blockhaus vorbei, das vor vielen Jahren als Gemischtwarenladen gedient haben mußte, und sah wenig später die langgezogenen flachen Gebäude aus demselben dunklen Holz, das Gelände umgeben von Stacheldraht, hinter dem Haupttor ein Soldat. Wie selten begegne ich hier Soldaten, fast erfreut es mein pazifistisches Herz. Nun, das japanische Militär ist friedliebend, es dient gemäß der Verfassung von 1947 nur der Selbstverteidigung. Die Kaserne hatte den letzten Krieg heil überstanden, dreißig Kilometer entfernt war eine Atombombe explodiert, ob die Krieger es damals, am 6. August, überhaupt mitbekamen?
Vom Ogura-Schrein jedoch keine Spur. Ich fuhr einen Kilometer weit zurück, nahm aufs Geratewohl einen Reisfeldweg, tambomichi, kam an einer Volksschule vorbei und dann wirklich auf die ersehnte schnurgerade, recht breite, nach zwei, drei Kilometern nicht mehr asphaltierte, durch Kiefernwälder schneidende Straße, die zweifellos von den Soldaten gebaut worden war. Weiter drüben, in südwestlicher Richtung, hatte ich letztes Jahr ein ähnliches Gebiet durchquert. Damals war ich einem einsamen Golfspieler begegnet, jetzt war es ein Motocrossfahrer, den ich eine Zeitlang vor mir herrattern sah und bald nur noch hörte, wie er sich auf Seitenstraßen entfernte, wieder näherkam, endlich doch entfernte. Der Boden war lehmig, zuerst gelb, dann braun, schließlich rot, und ich dachte wieder einmal an das Land der Guaraní, an die rote Erde und die – bis hin zur Hauptstadt und dem Anwesen von Doktor Francia, dem Diktator (dem Augusto Roa Bastos ein naturgemäß ambivalentes Denkmal gesetzt hat) – recht bescheidenen, zurückhaltenden Siedlungen (auch die Hauptstadt ein Dorf), die ich wohl nie mehr wiedersehen werde.
Ich machte vor einem bivio halt. Wenn ich an eine Weggabelung komme, fällt mir immer zuerst das italienische ein, das ich schöner finde, als würde es eine magische Wirkung verströmen, schöner als die deutsche »Weggabelung«, obwohl »Gabelung« im Grunde genommen viel besser klingt; wahrscheinlich deshalb, weil das erste Mal, daß mich eine solche Gabelung regelrecht begeisterte, in Sizilien war, am bivio, dem Doppelweg oder Zwieweg zwischen Agrigento und Palermo, den ich irrtümlich in südlicher statt in nördlicher Richtung nahm, worüber ich mich damals eben noch begeistern konnte.
Rückblickend muß ich mir eingestehen, daß es falsch war, nach rechts abzubiegen. Ich hätte bei meiner Idee der Schnurgeradheit bleiben und geradeaus weitergehen sollen. Andererseits war es richtig, denn ohne wahrhaft falsche Entscheidungen gibt es kein Verirren und nicht die damit verbundenen Entdeckungen. Mein Gedanke war, daß nur der bezeichnete Weg zielführend sein konnte. Der Weg geradeaus, der weiter oben im Bergwald anscheinend doch eine Kurve machte, war nicht beschildert, auf der rechten Seite dagegen las ich etwas von Ogura, allerdings war da kein Zeichen für jinja, Schrein, nur irgendetwas mit Wasser, Wasserlauf. Ogura war zweifellos der Ortsname, in Japan gar nicht so selten, auch die berühmte alte Sammlung der hundert Gedichte trägt diesen Namen, Ogura hyakunin isshu, weil sie in einem (damals wahrscheinlich ländlichen) Stadtteil von Kyoto erstellt worden war.
Wie der geneigte Leser hinlänglich weiß, suche ich schon seit geraumer Zeit keine Katastrophenorte mehr auf. Wenn man aber nicht um sie herumkommt… Nach der Gabelung ging es eine kurze Strecke steil bergab, wie in ein Loch, und dann war da ein Brückchen mit rissigem, leicht abgesunkenem Belag, und der Durchfluß an der Bergseite mit grauen, zur Straße hin abgesägten Baumstämmen und Ästen, einem regelrechten Totholzknäuel verstopft. Die Brücke konnte ich gefahrlos überqueren, doch alsbald fand ich mich in einer zerzausten und gezeichneten Landschaft wieder. Das Gefühl, als ich mich darin bewegte, war ein wenig anders als sonst, denn es hatte hier kein zentrales Ereignis gegeben, keinen großen Bruch, bei dem die oberste Hautschicht der Erde ein nachgibt (unerheblich, planetarisch betrachtet), vielmehr glich die aus Flachstücken, Steilhängen und welligen Abschnitten zusammengesetzte Gegend einem Schlachtfeld, wo nach allen Richtungen Scharmützel stattgefunden hatten, aber nicht die eine große Schlacht. Hier und dort war etwas verändert, umgestürzt, gekappt, durchgeschnitten, niedergedrückt, aufgebäumt, fortgekullert, verstreut, die kleinen Erdbrüche und Verschlammungen auch schon wieder halb verwachsen, der Pilgerweg, eine Zeitlang recht breit, zwei oder drei Serpentinen ausführend, so daß ich immer noch glaubte, an seinem Ende würde ich den Ogura-Schrein finden, nicht wiederhergestellt, nur wenige Spuren von ordnenden, räumenden Menschenhänden, auch deshalb diese schöne Mischung aus Chaos und Struktur. Als Sinnbild dieses wunderlichen Zustands oder Gefühls erschien mir der eine abgebrochene Baum am Ende einer kleinen Schlucht, an dessen Stamm ich einen getrockneten und verfestigten, hellen Schlammantel bemerkte, ähnlich wie bei den alten Zeughäusern, deren Lehmwände zwischen Holzpfosten sich manchmal zeigten, und über dieser Verschalung die letzten Spritzer, die damals aus der Lawine gesprungen waren, ebenfalls verfestigt, eine Halsspirale in einer Höhe, daß ich sie gerade noch mit meinen ausgestreckten Armen berühren konnte.
Ich folgte dem Pilgerweg. Über Stock und Stein, oft beschwerlich, dann wieder frei, befreit von einer inneren Last. Über den Weg bogen sich dornige Stauden, die ich unwillkürlich beiseite drückte. Ein Dorn drang in die Kuppe meines Zeigefingers, und ich begann zu bluten. Ich steckte den Finger in den Mund, um zu saugen, aber das Blut hörte nicht auf, zu fließen. Das hatte ich erwartet, denn seit Jahren verströme ich mich, und ich sehe den Tag kommen, da nichts von mir bleibt. Stigmatisiert von den Katastrophen des Lebens wie der Körper der Landschaft, doch im Unterschied zu mir wird sie bleiben, und so ist es recht. Der Weg, vorhin noch eine befahrbare Straße, wurde zum Pfad, verschwand zeitweise unter Geröll; ich stieg ins Bachbett hinunter, wo ein Rinnsal dahinplätscherte, fand schließlich den Weg wieder. Die Vorstellung, hier oben könnte irgendwo der Ogura-Schrein liegen, mußte ich aufgeben. Einmal sagte mir ein Grenzstein, wo ich mich aufhielt, im Westen von…, ich habe es nicht notiert, möglicherweise konnte man den Bergkamm, dem ich mich näherte, überqueren, dann wäre ich im Osten – oder Norden? – von…
Ein letzter Zwieweg, bivio. Ein Weg, der kein Weg war, und das zweifach. Die Bergflanken hier dicht bewachsen, die Bäume nicht allzu hoch, das Gefälle immer steiler. Hier war das Erdreich intakt, erst weiter unten hatte es nachgegeben, aber die Pfade, die sich an einem Felsen gabelten, der mich zum Hinsetzen und Schreiben einlud, verliefen sich im Gestrüpp. Vielleicht gab es doch kein Durchkommen nach Higashi-Irgendwo? War der Ogura-Schrein nur eine Phantasie, ein Fehler auf der Landkarte? Es blieb mir nichts anderes übrig, als aufzugeben; das heißt kehrtzumachen, den dornigen Pilgerweg hinunter. Ein Pilgerweg ins Nichts.
Kurz nach dem emblematischen Baum mit dem Schlammantel macht der Weg, der hier wieder breiter wird, eine scharfe Biegung, und dort breitet sich dann, zwischen Bachbett und Straße, ein handtellerartiges Plateau aus. Baumteile lagen kreuz und quer, das war nichts Besonderes, doch als ich mich näherte, kam mir der Gedanke, der Ogura-Schrein könnte sich an dieser Stelle befunden haben und sei während der Unwetter von einer Lawine zerstört worden. Genauer bedacht, sprach nichts dafür, das Holz war unbearbeitet, sogenanntes Totholz, kein einziger Dachziegel dazwischen, kein Steinlöwe, kein Torso, nichts. Dann aber, genauer betrachtet, fiel mir etwas Rötliches auf, eine Figur, nein, zwei brüderliche Figuren, Zwillinge, die auf einer unmerklichen Böschung, an einem niedrigen Erdwall saßen und lächelten, oder gar lachten. Von Gras und Gestrüpp umrankt, waren sie vom Weg her kaum auszumachen. Lachten sie über mich? Lächelten sie mir zu? Unter ihnen zeigten zwei dünne Rohre aus dem Wall, durch die je ein dünner Wasserfaden fiel, der eine Armlänge tiefer in einer Rinne weiterfloß, und seitlich sah ich nun auch ein altes hölzernes Brunnendach mit Bambusrohr liegen, dessen Stützpfeiler abgebrochen war.
Die Statuetten waren zwei fröhliche Götter, oder einer einziger, zweifaltiger Gott. Sie saßen auf einem umgelegten Fäßchen, dessen Deckel mit weiteren Motiven verziert war, einer Schildkröte, einem über den Wellen fliegenden Kranich, mehreren Sonnenblumengesichtern (oder Margeriten). Kein Fisch. Ebisu, der Schutzgott der Fischer, hat meistens einen dabei, wie der in Ebisu, Tokyo, vor dem Bahnhof, an dem ich, als ich noch Fernreisen machte, oft vorbeispaziert bin. Die zwei Brüder hier sahen sich ähnlich, sehr ähnlich, der eine vielleicht eine Spur rundlicher, der andere etwas kleiner, beide verschmitzt, Krähenfüße an den Augenwinkeln. Der eine trug einen Beutel, oder nein, vielleicht war es doch ein Fisch, der Schwanz hing nach hinten über die Schulter, und der andere saß da als Fischergehilfe. Der erste trug ein Barett auf dem Kopf, der andere eine Mütze mit angedeutetem Zipfel. Vielleicht war der größere Daikoku, der solche Kopfbedeckungen vorzog, während Ebisu lieber spitzige trug. Daikoku sorgt, wenn er uns gewogen war, für gute Ernten und schützt uns vor Hochwasser; er sorgt dafür, daß nicht zuviel und nicht zuwenig Wasser auf die Felder kommt.
Einen Momentlang verspürte ich den Impuls, dem kleineren, Ebisu, die Adidas-Mütze, die ich jetzt im Rucksack trug, auf den Kopf zu setzen, als Opfergabe. Aber doppelt bedeckt? Meinem geplagten Kopf war eine einzige Mütze schon zu schwer. Die lustigen Kumpane waren beide Glücksgötter, und ich fragte mich, ob ihre Schutzkraft im vor zweieinhalb Jahren eingetretenen Ernstfall etwa nicht ausgereicht hatte. Oder doch? Alles hätte viel schlimmer kommen können. Haben wir nicht immer Glück im Unglück? Außer dann, wenn wir uns die Suppe selbst einbrocken, da gibt es kein Halten, die Dämme brechen.
Ich ging zu einem der beiden Rohre und kostete von dem Wasser: Es war kalt und köstlich. Ogura-Quelle, das war wohl die Bedeutung des Zeichens beim ersten bivio gewesen. Ich machte kehrt, und mit dem übernächsten Schritt stieg ich über ein kleines, silbrig und grün leuchtendes Quadrat. Kein Frosch, nein, die schlafen um diese Jahreszeit. Ich bückte mich; es war ein ungebrauchtes Kondom, eine nicht geöffnete, ziemlich frisch aussehende Packung. Ritter Sport, kann man im Supermarkt kaufen. Nein, Okamoto. Der Junge hat wohl kein Glück gehabt?
Oder doch?
Eben!
© Leopold Federmair