(← IV)
Noch ein Nachspiel
Es war immer noch früh, und so beschloß ich, in Mitaki auszusteigen. Seit langem will ich mir diesen, wie ich oft sagen hörte, spirituellen Ort ansehen. Ich war schon einmal hier gewesen, oder doch in der Nähe, mit meiner Tochter, als sie klein war. Der Name Mitaki bedeutet »drei Wasserfälle«. Schon damals hatte ich mir gesagt, ich möchte doch zu gern wissen, ob es sich um einen dreiteiligen Wasserfall handelt oder wirklich um drei voneinander getrennte, verschiedene. Der Aufstieg bis zur heiligen Zone ist etwas mühsam, nicht so sehr wegen der Steilheit des Geländes als wegen des Asphalts und den sich gar so hinziehenden Kurven. Die Besucher kommen im Auto hierher, einige wenige auch im Linienbus. Es gibt da wieder einmal eine Gabelung, links geht es zum Waldspielplatz und zum Naturmuseum für Kinder, rechts zum Tempe lareal. Yokohatte sich naturgemäß für das Spiel entschieden, gegen buddhistische Beschaulichkeit, und sie war so oft die lange, dem Gelände sich anschmiegende blaue Rutsche hinuntergeglitten und hatte sämtliche Geschicklichkeitsparcours, Kletterwände und Hängebrücken ausprobiert, bis sie völlig erschöpft und es Zeit zur Heimreise war.
Diesmal war ich von Anfang an geschwächt, weil mein Magen in letzter Zeit wenig vertrug und mich die Wälle von Bairin auch etwas Kraft gekostet hatten. Also gedachte ich, nachdem ich in den Tempelbezirk eingetreten war, die Gelegenheit zu nützen und in dem Teehaus gleich nach dem Eingang Udon zu essen, das würde mein Magen vertragen. Pech gehabt, urekiri, ausverkauft, keine Nudeln; Macha und japanische Süßigkeiten kamen leider nicht in Frage. Es war ein Lokal ähnlich dem pseudofranzösischen Café, das ich vor Monaten in Onomichi besucht hatte, wunderbar in die Landschaft gefügt, aus demselben Stoff, Holz und Stein und Fensterglas, das wie ein Windspiel klirrte, halb verborgen im Wald, aus dem Bergdunkel heraus schimmernd, die Gäste erleuchtend, von weltlicher Sorge befreiend. Nächstes Mal… Noch ein Plan, Café bei den Pflaumenbäumen, dann bei den Wasserfällen, einfach so, zum Vergnügen, ohne geistlichen Anspruch, wie es meine Tochter liebte, als sie klein war, und wie wir alle es lieben sollten. Kinder als Vorbild für Erwachsene, das predige ich jetzt schon seit fünfzehn Jahren.
Das Besondere am Tempelbezirk von Mitaki ist, daß er von Göttern und Vorfahren, von Figuren aus Stein und Holz bewohnt scheint, anders als sonst meist in ähnlichen Arealen, wo man sich ob der schieren Menge des Eindrucks einer Invasion nie ganz erwehren kann. Hier aber wohnten sie wirklich, die Gottheiten und heiligmäßigen Leute, seit jeher und für alle Zeit. Es war ihr Bereich, sie traten sacht oder überraschend aus dem Dickicht hervor (ohne sich von der Stelle zu rühren) oder verbargen sich, zogen sich zurück, sahen dir freundlich auf die Nase, auf die Knie, lächelten über die Pilger, hießen sie willkommen oder zeigten sich gleichgültig. Oder dankbar, geduldig dankend wie die Schar der von einem orangefarbenen Moos bedeckten Kannons, die von alten Leuten, unter ihnen Greise, eifrig mit Wasser besprüht wurden. Nun ja, die die Ewigkeit nahen spüren, sie suchen die Nähe zu den Tempeln, zu deren dramatis personae, in dessen Reihen sie bald treten werden. Eine Statue werden, immer habe ich das vermeiden wollen, habe es als schönen Kampf erklärt und deklariert, aber nach und nach lehren mich die spirituellen Erfahrungen, daß es darauf ankommt, einen sanften Übergang ins Steinerne zu finden. Nicht Tier werden, sondern mineralisch. Anorganisch, der alte Mann aus der Berggasse zu Wien hatte dafür ein Theoriechen bereit.
Wobei die Anorganischen ihr eigenes Leben haben und hegen, und nicht nur wegen des Moosmantels, sondern durch ihren Blick, der nicht unbedingt aus ihrem Gesicht, ihrem Auge kommen muß, sondern auch von der Schulter, dem Knie, den Ellbogen ausgehen kann. Von überall, denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht. So fühlen wir uns geheißen und auch schon halb geborgen, doch dann werden wir wieder auf den Weg gesandt, zurück in die Pflicht, aus der Freiheit entlassen.
Am Fuß eines der Wasserfälle, also vor dem Becken, das er dort bildete, standen einige Mönche, auch sie hatten die Ränge des Anorganischen längst erreicht. Sie harrten dort aus mit ihren Sandalen, waren im Vergleich zu ihren bescheidenen Leben auf die doppelte Größe gewachsen, mindestens, und ließen die kleinen Drachen und Dämonen, die sich zu Ungeheuern aufplusterten oder zu lustigen Pokémons, ihren Schabernack treiben – alles nur Spiel, steinernes und hölzernes Kagura, oder auch schon Kabuki als Konzession an den Zeitgeist. Erwachsensein, alt aussehen, hat schon auch Vorteile, man wird in andere Spiele hineingezogen; ich bin sicher, daß meine Tochter inzwischen Verständnis hat, oder nein, daß sie mitgehen, das heißt mitmachen wird, nächstes Mal, auf der Reise in die Pflaumen-Wasserfall-Welt, baitaki, 梅滝, wenn ich so sagen darf.
Ach ja, die Wasserfälle. Es sind wirklich deren drei. Ziemlich lang, nicht sehr breit, aber das ändert sich bestimmt in der Regenzeit. Keine Zerstörungen hier, vielleicht ist der ganze Bezirk, so steil er aufwärts und abwärts zieht, in der großen Mulde, dem inneren der Bergfalte hier geschützt. Oder die buddhistischen Götter sind mächtiger als die shintoistischen. Ich weiß es nicht. Wie immer am Fuß von Wasserfällen, sobald man sich auch nur ein paar Minuten aufhält, steigt ein Gefühl der Ewigkeit auf, das Staunen darüber, daß sie hier Wirklichkeit ist, weil immer wieder etwas, ein Schwall, ein Teilstück, ein Tropfen, ein Moment, nachkommt, ersetzt, wiederholt und bestärkt, viel gleichmäßiger als die vergehende Zeit, die ringsum zum Stillstand kommt, so daß man sich ungern lösen möchte. Und das andere, der seltsame Drang, hinter den Vorhang zu gehen, so schmal er auch sein mag, was würde sich dahinter befinden, eine andere, zugleich transparente und opake Welt? »Er verschwand hinter dem Wasserfall…« Und wer schreibt, was ich jetzt schreibe? Richtig, es ist ein leerer Brief an die Leere, die der 滝 (taki) gleichsam, immer nur gleichsam verkörpert.
Ich löste mich und ging weiter, den Berg hinan, den Tempelbezirk zurücklassend. Alte Frauen am Stock kamen mir entgegen, zufrieden, daß sie es schafften. Ein Kleinkind auf den Schultern des Vaters. Eine anderes, das durch den Wald brüllte, nachdem es hingefallen war. Ja, es war Sonntag – schon wieder, dachte ich. Und mein eigenes Keuchen, das mir die Bewegung erleichterte, ohne es hätte ich kehrtmachen müssen. Ich hatte Hunger, die Oberschenkel schmerzten, die Knie waren weich. An der Weggabelung ging ich nach links, in Richtung Küste, das Hinterland mit dem vermutlich höheren Gipfel würde mich überfordern. Ich paßte mich an, bedachte die Kräfteverhältnisse, gab aber nicht auf. Es war jetzt nicht Zeit zum Aufgeben.
Eine Familie mit zwei kleinen Kindern kam von einer anderen Seite herauf, erreichte den Gipfel gleichzeitig mit mir. Der Vater machte die Kleinen auf einen Specht aufmerksam, der sich nicht in seiner Klopf- und Hackarbeit stören ließ, als wir uns ihm näherten, ich als unvorsichtiger Onkel, beinahe wäre ich abgerutscht, nur wegen dem Bild. Es war hier felsig, und eine ganze Weile saßen wir dann, alle fünfe, auf einem korpulenten, wellenförmig gerillten Block, unseren Blick schweifen lassend über das Häusermeer, zu den Sandplätze vor den Schulgebäuden und den Flußbrücken, die gottseidank alle noch standen und befahrbar waren, zu den Hochhäusern und Bahngeleisen und nach Ekicity, zu den Riesentürmen, die aus dem ehemaligen Marktgelände wuchsen, und weiter zum blauen Meer, zu den Inseln, die sich mehr oder weniger abrupt erhoben, zum Hijiyama, der vor vieltausend Jahren selbst eine Insel gewesen war, zu den Lagerflächen des Hafens und nach Etajima, wo ich mir bald einmal neue Stiefeletten kaufen wollte, und nach Miyajima, das von der blendenden Sonne nahezu ausgelöscht wurde.
Sehr fern hörte ich ein Schiff tuten, und bald auch schon die jauchzenden, fragenden, mitunter heulenden Kinderstimmen, die das Vergnügen verrieten, das die Kinder dem Lernen und der Beschaulichkeit vorzogen, mit einer Unbekümmertheit, als wollten sie sagen: Aber wir lernen doch hier, seht ihr denn nicht, ihr Erwachsenen, daß sich Vergnügen und Beschaulichkeit, Weltliches und Spirituelles gar nicht so sehr gar nicht so ausschließen, wie ihr es uns eintrichtern wollt? Aber Yoko, sie ist ja schon groß und wie alle ihres Alters eingespannt in die Lernmühle: Ob sie einmal, bald einmal – bevor es zu spät ist – Zeit haben wird für ihren Vater und für das beschauliche Vergnügen?
© Leopold Federmair