In vielen Nachbetrachtungen zur Bundestagswahl gibt es eine nicht unbedeutende Menge von Menschen, die das Ergebnis als ein Signal für »Wandel« sehen. Noch einen Tag nach der Wahl sprachen die Grünen von einem »Auftrag« zur Erneuerung des Landes und schwadronierten von einer »Klimaregierung« (was immer das bedeuten soll).
Immer noch kann man die Plakate sehen. Auf einem lächelt Claudia Roth und darunter steht »Veränderung schafft Halt.« Das kann nur jemand behaupten, der mit Diäten und – vor allem! – großzügigen Pensionsansprüchen für den Rest seines Lebens abgesichert ist. Handwerksmeister, Industriearbeiter, die Altenpflegerin oder die sich in Teilzeitanstellungen durch das Lebens hangelnde promovierte Geisteswissenschaftlerin – sie alle werden unter »Veränderung« etwas anderes verstehen und haben inzwischen die Erfahrung gemacht, dass Veränderungen vor allem eines sind: Transformationen, die mehr oder weniger ohne ihre Einflussnahme neue Lebensverhältnisse bieten.
Zwanzig Meter weiter lese ich auf einem anderen Plakat: »Kommt, wir bauen das neue Europa«. Auch dies eher ein Anliegen einer Minderheit. Kleinunternehmer stöhnen beispielsweise unter den bürokratischen Schöpfungen, die alljährlich aus Brüssel neu hinzukommen. Verheißungen werden rasch zu Drohungen. Und wie war das 1989/90 mit dem »Haus Europa«, das mit dem Fall der Mauer nun paradiesische Zustände bescheren sollte? (Und am Ende gab es ein Konvolut mit dem Namen »Verfassung der Europäischen Union« nebst Anhängen, in dem immerhin geregelt ist, wie Tabakabfälle einheitlich entsorgt werden.)
Den Vogel hat jedoch meines Erachtens ein Plakat mit Robert Habeck abgeschossen. Dort steht: »Züge, Schulen, Internet – Ein Land, das einfach funktioniert.« Abgesehen davon, dass niemand wissen konnte, dass der Zugverkehr durch das Machtgehabe eines Kleingewerkschaftsführers einige Wochen nicht funktionierte, rätsele ich heute noch, was dieses Plakat ausdrücken soll. Ist der Status quo beschrieben? Wird also ausgesagt, dass dieses Land »einfach funktioniert«? Ist dies dann das Verdienst der Grünen? Oder soll damit gesagt werden, dass wenig funktioniert und das man die Grünen wählen muss, damit Abhilfe geschaffen wird?
Aber ist es nicht eine Selbstverständlichkeit in einer hochtechnisierten Gesellschaft wie Deutschland, dass »Züge, Schulen, Internet« funktionieren? Ist es schon »Wandel« oder gar »Erneuerung«, solche Trivialitäten, die man eher in das Jahr 1953 verorten würde (ohne Internet natürlich) als Kernziele einer Politik formulieren zu müssen? Detail am Rande: Der Punkt »Schulen« ist weitgehend der bundespolitischen Einflussnahme entzogen. Hier haben die Länder die Verantwortung und aktuell regieren die Grünen in 10 von 16 Bundesländern mit, in einem davon sogar stellen sie den Ministerpräsidenten. Und das die Schulen »funktionieren« kann man ja wirklich nicht behaupten
Ich will jetzt gar nicht die zahlreichen Plakate mit den »Klima«-Bezügen heranziehen. Meine These geht dahin, dass die Grünen in ihren Plakaten eine dezidiert andere Botschaft signalisierten als Annalena Baerbock dies verbal in ihren Auftritten verkündete. Denn hier gab es eine Aufbruchsrhetorik, die fundamentale Änderungen ansprach (ohne diese genau auszufüllen).
Und dies hat am Ende große Teile der Wähler abgeschreckt. Gewohnt am Delegationsmodus, der 16 Jahre durch Angela Merkel praktiziert wurde, brauchte sich der eigentlich blasse und politisch profillose Olaf Scholz nur als Sachverwalter des »Weiter so« + einiger kleinen Veränderungen zu präsentieren. Die sprichwörtlichen »Stellschrauben«, die Baerbock als ungenügend empfand. Scholz verkörperte mit sich auftürmenden Worthülsen, die ein Höchstmaß an Beruhigung ausstrahlten und seinem Habitus perfekt Gerhard Schröders Wahlkampfslogan von 1998: »Wir wollen nicht alles anders, aber vieles besser machen.« Und selbst wenn Scholz einmal von Zukunftsprojekten spricht, hat strahlt dies nie fundamentale Veränderung für den Lebensstil des Mittelschicht-Wählers aus. Die Babyboomer seift er mit einem – nicht einzuhaltenden – Versprechen ein, dass die Renten auf dem bisherigen Niveau praktisch für alle Zeit bleiben werden.
Ursprünglich wollte wohl Armin Laschet einen solchen Beruhigungswahlkampf machen. Aber man wähnte sich zu lange siegesgewiss, ließ die Sache schleifen. Laschets Rhetorik (in anderer Art unzulänglich wie die von Baerbock), sein Jonglieren zwischen Merkel-Nachfolge und Eigenständigkeit – es wirkte schlingernd, halbherzig, kopflos. Hinzu kamen seine Patzer, das Lachen, als der Bundespräsident nach der Flut sprach (das dieser vorher bei Laschets Rede ebenfalls gelacht hatte interessierte merkwürdigerweise niemanden).
Helmut Kohl gewann 1990 die ersten gesamtdeutschen Wahlen damit, dass er den Ostdeutschen versprach, sie in den Westen zu überführen. Über die Folgen (die Privatisierungen und deren Verwerfungen) sprach er nicht. Die hat er dann einfach gemacht. Wie auch Gerhard Schröder viele Jahre später die »Agenda 2010«. Hätten sie damals diese Veränderungen thematisiert, wären sie nicht gewählt worden.
»Bereit, weil Ihr es seid« lautete der Hauptslogan der Grünen. 85,2% sind nicht bereit. Das kann man beklagen. Aber zunächst einmal sollte man es zur Kenntnis nehmen.
Wandel, Veränderung? Ich habe die Wahl in Deutschland verfolgt, wie jene meiner Heimatstadt Graz, Österreich. In Tschechien, ich lebe seit 1991 in Prag, steht am 8. und 9. Oktober die Wahl zum tschechischen Abgeordnetenhaus 2021 auf der Tagesordnung.
Ich fühle europäisch und habe in Österreich, Deutschland, Tschechien insgesamt mehr als 45 Arbeitsjahre in die Systeme eingezahlt, ohne Unterbrechung. Der große Unterschied – zur aktiven Phase – wo mich der jeweilige Staat immer sofort an meine Pfichten erinnerte, fand ich mich im Rentenalter mit der Situation konfrontiert: als Antragstellerin musste ich mich durch einen Paragraphendschungel in drei verschiedenen Ländern und EU-Richtlinien die sich ständig ändern wälzen ohne Unterstützung zu erhalten.Das Verweisen auf die jeweils andere Stelle ohne wirkliche Information. Auf die Auszahlung der österreichischen Rente wartete ich zehn Monate, auf die tschechische sechs Monate, auf die deutsche drei Monate. Hätte ich nicht in Voraussicht darauf nicht schon vor zehn Jahren alle meine Kosten reduziert, inklusive dessen in eine kleine Wohnung gewechselt zu haben, und hätte ich nicht Ersparnisse gehabt, wo wäre ich gelandet? Warum pocht der Staat immer auf seine Rechte, die ich immer in erfüllt habe und kommt so zögernd seinen Verpflichtungen nach?
In Graz wurden die Gemeinderatswahlen (Wahlbeteiligung 54%) meines Erachtens nicht durch die Partei KPÖ (28,84%) gewonnen sondern durch das 30 jährige Wirken von Elke Kahr, die immer ein offenes Ohr für die Nöte jener gehabt hat, hinter denen keine Lobby steht. Solange die smarten Überflieger, die allein ihr Eigeninteresse im Blickfeld haben und es mit allen Mitteln schaffen, an der Macht bleiben wird sich nichts ändern.
Bürokratien werden ja seltener dadurch besser, dass sie größere Einheiten mit ihren Vorschriften überziehen. Ihre Erfahrungen mit den jeweiligen Rentensystemen wären bei einer einheitlichen EU-Behörden vermutlich ähnlich, nur, dass es statt drei nur eine Behörde geben würde. Sobald ein bürokratisches Verfahren vom »Normallfall« abweicht, sind diese Leute überfordert.
Die Diskrepanz zwischen Rechten und Pflichten bei staatlichen Behörden ist in der Tat merkwürdig. Es wird sich nie ändern.
Die Wahl der Kommunistin zur Bürgermeisterin in Graz habe ich aus dem Augenwinkel mitbekommen. Das Argumentm sie habe sich um die Nöte der Menschen gekümmert, finde ich interessant, weil es auf der anderen politischen Seite stets als »Populismus« angesehen wird. In Ostdeutschland wurde die dort zum großen Teil rechtsextreme AfD bei der Bundestagswahl in einigen Bundesländern die stärkste Partei. Hier hat die AfD die einstige SED-Nachfolgepartie PDS bzw. »Linke« als Protest abgelöst. Während man den Linken noch nachsagte, dass sie sich um die Menschen kümmere, deklariert man die Wähler der AfD jetzt als Nazis. In Wahrheit sind große Teile dieser Wähler schlichtweg Verzweifelte. Ich halte solche Entwicklungen für gefährlich.