Die neue Bi­got­te­rie

So­ge­nann­te Po­stings, al­so meist pseud­onym for­mu­lier­te Kom­men­ta­re von Informations­konsumenten im In­ter­net, ha­ben kei­ne Be­deu­tung, auch wenn sich die so­ge­nann­ten Po­ster, wenn sie mit ih­ren Mei­nun­gen und Ge­füh­len in die Öf­fent­lich­keit ge­hen, wich­tig vor­kom­men mö­gen. Aus die­sem Grund ist es mir ziem­lich egal, wenn ei­nes mei­ner Po­stings zen­su­riert wird. Die Zen­sur, die man in der zwei­ten Hälf­te des 20. Jahr­hun­derts für über­holt hielt, ein hi­sto­ri­sches Phä­no­men, ist im 21. Jahr­hun­dert wie­der­ge­kehrt. In der Re­gel wird sie au­to­ma­tisch vor­ge­nom­men, al­so von Ma­schi­nen, die den In­halt der Tex­te nicht wirk­lich ver­ste­hen kön­nen, son­dern auf Reiz­wör­ter und de­ren Kom­bi­na­tio­nen re­agie­ren.

Mei­ne Kom­men­ta­re wer­den öf­ters am öf­fent­li­chen Er­schei­nen ge­hin­dert, und in der Re­gel ver­ges­se ich den Vor­fall gleich wie­der. Neu­lich aber setz­te sich die er­lit­te­ne Zen­sur in mei­nem Kopf fest, weil sie mir viel­sa­gend schien. Es ging im so­ge­nann­ten Fo­rum, das den alt­ehr­wür­di­gen rö­mi­schen, auf die grie­chi­sche De­mo­kra­tie zu­rück­ver­wei­sen­den Na­men nicht ver­dient, um Pä­do­phi­lie, ein The­ma, das im In­ter­net kaum je mit Ver­nunft­grün­den be­spro­chen wird. Den Wort­laut mei­nes Po­stings ha­be ich nicht in Er­in­ne­rung, aber ich er­wähn­te un­ter Klar­na­men – die Ano- und Pseud­ony­mi­tät leh­ne ich für mich per­sön­lich ab – mei­ne Er­fah­rung, daß sich mei­ne klei­ne Toch­ter für mei­nen Pe­nis in­ter­es­siert. Ich bin über­zeugt, daß ähn­li­che Er­fah­run­gen die mei­sten Vä­ter ma­chen, aus­ge­nom­men die be­son­ders ver­schäm­ten, die sich ih­ren Kin­dern nie­mals nackt zei­gen. Nur die­se ei­ne Tat­sa­che ha­be ich im Po­sting kurz, oh­ne Emo­tio­na­li­sie­rung und oh­ne »schmut­zi­ge Wör­ter«, er­wähnt. Nicht ge­schrie­ben ha­be ich, daß ich ge­ge­be­nen­falls Be­rüh­run­gen mei­nes Ge­schlechts­teils durch mei­ne Toch­ter zu­las­se und daß mei­ne Emp­fin­dung da­bei am­bi­va­lent ist: zu­nächst gar nicht un­an­ge­nehm, in ei­ner zwei­ten, ver­mut­lich moral­geleiteten Re­ak­ti­on dann aber doch. Mein Kör­per re­agiert da­bei nicht so, wie er bei der Be­rüh­rung durch mei­ne Frau re­agiert. Das er­leich­tert mich grund­sätz­lich und be­stä­tigt: Ich bin nicht pä­do­phil und ha­be kei­ne Nei­gung zum In­zest. Ich bin aber auch froh, daß ich das in Er­fah­rung brin­gen konn­te – em­pi­risch über­prü­fen, wür­de ein Wis­sen­schaft­ler sa­gen. Al­les, was mich um­gibt, macht mich neu­gie­rig; neu­gie­rig wie mei­ne Toch­ter, von der ich im­mer wie­der ei­ni­ges ler­nen kann.

Al­so gut: je­nes Po­sting wur­de ge­löscht, es konn­te in der Ta­ges­zei­tung Der Stan­dard nicht öf­fent­lich wer­den. War­um? Stand ich im Be­griff, mich ei­nes Ver­ge­hens schul­dig zu ma­chen? Hät­te ich die Ge­füh­le von je­man­dem ver­let­zen kön­nen? Ich glau­be nicht. Viel­mehr glau­be ich, daß der hier ge­schil­der­te Zen­sur­fall stell­ver­tre­tend für ei­ne all­ge­mei­ne, durch die herr­schen­den Mas­sen­me­di­en still­schwei­gend zum ver­bind­li­chen Stan­dard ge­mach­te Prü­de­rie steht, die an den Vik­to­ria­nis­mus des 19. Jahr­hun­derts ge­mahnt. Die­ser Stan­dard be­stimmt so­wohl das rea­le Ver­hal­ten der Be­völ­ke­rung als auch die vir­tu­el­len Wel­ten und di­gi­ta­li­sier­ten Dis­kur­se. Es ist un­mög­lich ge­wor­den, über Phä­no­me­ne, die zu den grund­le­gen­den mensch­li­chen Er­fah­rungs­be­rei­chen ge­hö­ren, un­be­fan­gen zu spre­chen. Wer es tut, hat mit Vor­wür­fen, An­schul­di­gun­gen, Shits­torms, Dro­hun­gen – und na­tür­lich mit Zen­sur zu rech­nen. Die Un­be­fan­gen­heit, das Stau­nen, das Fra­gen­stel­len oh­ne Ant­wor­ten vor­weg­zu­neh­men, ist nicht nur ver­pönt, es wird in be­stimm­ten Fäl­len kri­mi­na­li­siert.

Dies ist die ei­ne Sei­te der Me­dail­le; die an­de­re Sei­te wi­der­spricht ihr dia­me­tral. Die all­täg­li­chen, me­di­en- und com­pu­ter­be­stimm­ten Le­bens­ver­hält­nis­se der Bür­ger in den so­ge­nann­ten ent­wickel­ten Län­dern sind in ei­nem un­er­hör­ten Maß ero­ti­siert, se­xua­li­siert, por­no­gra­phi­siert. Wer­bung, die den Kon­sum im­mer und im­mer aufs Neue an­kur­beln soll, kann auf ero­ti­sche Sti­mu­lie­rung schon lan­ge nicht mehr ver­zich­ten. Im Ver­lauf ei­ni­ger Jahr­zehn­te wur­de der ge­sam­te öf­fent­li­che Raum se­xua­li­siert. Im 21. Jahr­hun­dert ha­ben sich die Din­ge nun buch­stäb­lich ver­schärft. Es ist ein of­fe­nes Ge­heim­nis, das vie­le nicht gern hö­ren: Der Lö­wen­an­teil des im In­ter­net an­ge­bo­te­nen und kon­su­mier­ten Stoffs, der dort zir­ku­lie­ren­den Da­ten, Dienst­lei­stun­gen und Emo­tio­nen, ist por­no­gra­phi­scher Na­tur. Ver­tre­ter der zeit­ge­nös­si­schen Prü­de­rie mö­gen mir ra­ten, ich sol­le mei­nen Pe­nis lie­ber vor mei­ner Toch­ter ver­stecken – ih­re Neu­gier wird sie den­noch be­frie­di­gen, und zwar ziem­lich bald, bei man­chen Kin­dern ge­schieht es schon im Kin­der­gar­ten­al­ter, da­für sorgt die all­gemeine Zu­gäng­lich­keit der al­ler­mei­sten In­ter­net­sei­ten (mit­samt der Un­mög­lich­keit, ziel­gruppenorientierte Fil­ter ein­zu­bau­en).

Ich ru­fe nicht nach Zen­sur, aber Tat­sa­che ist, daß das In­ter­net – wahr­schein­lich für al­le Zei­ten – por­no­gra­phie­ver­seucht ist und die vir­tu­el­len Spiel­wel­ten ge­walt­ver­seucht sind, wäh­rend ich an­de­rer­seits in ei­nem halb­wegs se­riö­sen Fo­rum das Wort »Pe­nis« nicht ge­brau­chen darf. Die all­täg­li­chen, me­di­en­be­stimm­ten Le­bens­ver­hält­nis­se sind zu­tiefst schi­zo­phren, und sie sind, wie es scheint, heil­los schi­zo­phren. Der Durch­schnitts­bür­ger ist heu­te zu­gleich prü­de und dau­er­er­regt, wo nicht por­no­gra­phie­ver­seucht. Ver­folgt man die Po­stings der Po­ster zum The­ma Por­no­gra­phie, was durch­aus lehr­reich ist, kommt man zum Schluß, daß kaum je­mand be­reit ist, hier­in über­haupt ei­ne Pro­ble­ma­tik zu er­ken­nen. Toll, daß man sich das al­les rein­zie­hen kann – man muß ja nicht! So sehr sich die selbst­ernannten Kin­der­schüt­zer beim The­ma Pä­do­phi­lie em­pö­ren, so trä­ge, denk­faul, be­schwichtigend sind sie, wenn es um In­ter­net­por­no­gra­phie geht. Daß hier ge­wal­ti­ge Sucht­ge­fah­ren lie­gen, wird schlicht ge­leug­net. Und daß das in­di­vi­du­el­le Ver­hal­ten im Um­gang mit dem an­de­ren (oder dem­sel­ben) Ge­schlecht da­durch ge­prägt und dau­er­haft ver­än­dert wer­den könn­te, oh­ne daß dies den Ak­teu­ren auch nur zu Be­wußt­sein kommt, wird über­haupt nicht in Er­wä­gung ge­zo­gen. Über war­nen­de Stim­men macht man sich lu­stig, oft mit dem bi­got­ten Hu­mor, den man noch aus den al­ten Zei­ten kennt.

Schi­zo­phre­nie ist ein grund­le­gen­des Merk­mal je­der Art von Bi­got­te­rie. Über die Fest­stellung hin­aus läßt sich nicht viel von ihr sa­gen. Da sie kei­nen Wi­der­spruch ent­fal­tet, son­dern nur ei­ne Sei­te hin­ter ei­ner an­de­ren ver­steckt, ist sie so un­frucht­bar, so ste­ril. Das ein­zi­ge, was et­was ge­gen sie aus­rich­ten könn­te, ist Of­fen­heit und Wahr­haf­tig­keit: ei­ne Hal­tung, für die der Bo­den trocken ge­wor­den ist.

39 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. Zen­sur kommt al­lent­hal­ben vor. Ich ha­be (sub­ver­siv in­ve­sti­ga­tiv) schon mit rechts­extre­men Ge­dan­ken­gut öf­fent­lich ex­pe­ri­men­tiert, und bin na­tür­lich auch öf­ter raus­ge­flo­gen.
    Die Auf­re­gung um die Pä­do­phi­lie ha­be ich auch ver­folgt, aber nicht sub­ver­siv be­glei­tet. Es ist ei­ne un­heil­ba­re Per­ver­si­on, al­so ei­ne ern­ste Sa­che. Dass die Ge­sell­schaft enor­me Schwie­rig­kei­ten hat, Per­ver­si­on und se­xu­el­le Iden­ti­tät ab­zu­gren­zen, ist klar. Die Norm ist weg, und da­mit ist (wie der Volks­mund sagt:) Po­len wie­der of­fen.
    Die Ar­gu­men­ta­ti­on um ei­ne schi­zo­ide Prü­de­rie wür­de ich da­hin­ge­hend ab­schwä­chen, dass die Scham-Gren­ze in plu­ra­len Ge­sell­schaf­ten nicht mehr ein­deu­tig zu fas­sen ist. Die Se­xua­li­sie­rung schrei­tet so­zu­sa­gen im Dis­senz vor­an, dar­in liegt für mich aber kein Se­gen (Oh, Viel­falt!), son­dern ein Fluch der Spät­mo­der­ne. Al­ler­dings un­ter­schei­de ich strikt zwi­schen der Kon­junk­tur der »Ob­szö­ni­tät«, in Wor­ten, in Bil­dern, in Bit-Streams, und der nor­ma­ti­ven Er­schüt­te­rung, wel­che die An­er­ken­nung der Ho­mo­se­xua­li­tät be­wirkt hat. Wie ge­sagt: da­mit wur­de die Dif­fe­renz »Nor­ma­li­tät« – Per­ver­si­on au­ßer Kraft ge­setzt, denn es macht schlicht kei­nen in­tel­li­gen­ten Sinn, wenn man sagt, Ho­mo­se­xua­li­tät sei nor­mal. Nicht mal, wenn man ein Ho­mo ist...

  2. Die An­mer­kung, dass es et­was ueber­all und zu al­len Zei­ten gibt und ge­ge­ben hat, toernt mich im­mer ein biss­chen ab. Klar doch, al­les gibt es ueber­all im­mer schon. Aber die Fra­ge ist doch, wel­che – even­tu­ell neue – Qua­li­taet das Phae­no­men hier und jetzt hat. Na­tuer­lich auch, was sei­ne Vor­ge­schich­te und sein Kon­text ist. Schlei­chen­de Ver­aen­de­run­gen, nicht im­mer gleich sicht­ba­re Trans­for­ma­tio­nen. Di­gi­ta­le Zen­sur ver­sucht in den west­li­chen Ge­sell­schaf­ten, ein Mi­ni­mum an Zi­vi­li­siert­heit zu si­chern, waeh­rend die Im­pul­se vie­ler Kon­su­men­ten – als Per­so­nen wer­den die Per­so­nen ja nicht mehr ge­se­hen – zu­neh­mend zur un­be­herrsch­ten Trie­b­ent­la­dung ge­hen und die­se Ent­wick­lung von den Maerk­ten ge­foer­dert wird. Sie­he Shits­torm, Kauf­sucht, De­mo­kra­tie als Der-Kun­de-ist-Koe­nig-Hal­tung usw. Ein Pro­blem da­bei ist, dass die Zen­sur oft ge­gen ih­re ei­ge­nen In­ten­tio­nen wirk­sam wird, nicht zu­letzt aus tech­nisch-me­dia­len Gruen­den. Wie soll man die gan­ze Flut aus (ueber­wie­gend) Schei­sse be­wael­ti­gen? In Gross­bri­tan­ni­en darf Por­no­gra­phie nicht mehr au­to­ma­tisch an die Kun­den der Ser­ver wei­ter­ge­reicht wer­den. Dem Ver­neh­men nach funk­tio­niert das mo­ral­be­dach­te Sy­stem dort auch nicht rich­tig.
    Bei der er­waehn­ten oesterr. Ta­ges­zei­tung, On­line­aus­ga­be, ha­be ich in­zwi­schen auf­ge­hoert, mit­zu­re­den. Da­vor hat­te ich eben­falls ex­pe­ri­men­tiert, und zwar um her­aus­zu­fin­den, wes­halb mei­ne Idee, den Be­griff Ver­bre­chen ge­gen die Mensch­heit (bzw. Mensch­lich­keit – cri­mes against hu­ma­ni­ty) zu ueber­den­ken an­laess­lich der Er­mor­dung von 43 me­xi­ka­ni­schen Stu­den­ten vor ei­ni­gen Wo­chen, nicht oder nur ver­zoe­gert pu­blik wer­den kann. Die­ses Ver­bre­chen er­in­nert in sei­ner tech­ni­schen Aus­fueh­rung an die Ver­bre­chen von Ausch­witz. Mei­ne Kom­men­ta­re ha­be ich in ver­schie­de­ner Art for­mu­liert, aus­fuehr­lich oder knapp, aber im­mer sach­lich. Ei­ni­ges da­von ist mit zehn Stun­den Ver­spae­tung er­schie­nen, an­de­res gar nicht.
    Im Grun­de ist es bei der herr­schen­den Po­sting­flut voel­lig egal, ob sol­che Kom­men­ta­re er­schei­nen oder nicht. Mich kuem­mert es auch gar nicht. Wenn ich ernst­haft Stel­lung neh­men oder ein­grei­fen will, muss ich es an­ders­wo tun. (Und Be­gleit­schrei­ben, so klein das Pu­bli­kum ist, ist da im­mer noch ei­ne bes­se­re Adres­se als die­se Mas­sen­un­ter­hal­tungs­or­ga­ne.) Es kuem­mert mich nicht, aber der Sym­pto­ma­tik schen­ke ich doch Be­ach­tung.
    Wi­der­spruch zwi­schen Mo­ra­lis­mus und Se­xua­li­sie­rung; Un­moeg­lich­keit, neue For­men der Un­mensch­lich­keit oef­fent­lich zu dis­ku­tie­ren und be­griff­lich fas­sen; Heu­che­lei in Sa­chen Men­schen­rech­te und De­mo­kra­tie. Dar­um ging(e) es mir.

  3. Ich woll­te nur ab­schwä­chen, nicht wi­der­spre­chen. Ich se­he den Neu­en Mo­ra­lis­mus we­sent­lich als Ver­grö­be­rung. Die »ganz gro­ßen« Skan­da­le kön­nen nur mit ganz gro­ßen Vo­ka­beln (Be­grif­fen) beschrieben/berichtet wer­den. Da schließt sich das (vor­weg ge­nom­me­ne) öf­fent­li­che In­ter­es­se mit den Axio­men der Auf­merk­sam­keits-Öko­no­mie im Zeit­al­ter der Über­in­for­ma­ti­on kurz. Ein Prag­ma­tis­mus, der zu­gun­sten der Por­ta­le Sinn macht. Ich bin es ehr­lich leid.
    Was viel­leicht zu kurz kam: es muss ei­ne Ver­bin­dung zwi­schen gro­ben Maß­stä­ben, gro­ber Wahr­neh­mung und Zen­sur ge­ben, denn es gibt schlicht­weg nur drei Grün­de zu zen­sie­ren: ‑je­mand sagt et­was Ab­scheu­li­ches; ‑je­mand sagt et­was, was an­de­re für »ab­scheu­lich« hal­ten könn­ten; je­mand sagt et­was, was der Zen­sor für ab­scheu­lich er­ach­tet, aber nur weil er es falsch ver­steht. Zwi­schen Fall (1) und Fall (3) kann der Be­su­cher (Po­ster) nicht un­ter­schei­den. Das ge­schieht hin­ter dem Vor­hang.
    Mei­ne Ver­mu­tung: die Ver­dum­mung er­greift auch die Por­tal-Be­trei­ber, wenn die Be­grif­fe im­mer nur von der Stan­ge sein dür­fen (Ist es nö­tig, um Men­schen »für dumm zu ver­kau­fen«, sel­ber in­tel­li­gent zu sein?! Ei­gent­lich nicht...)

  4. Sie kön­nen si­cher sein, dass Ih­re Kom­men­ta­re beim Stan­dard letzt­end­lich per Hand aus­sor­tiert wur­den; man geht dort so vor, dass zu­erst au­to­ma­tisch ge­fil­tert wird und was üb­rig bleibt, dann ma­nu­ell ge­sich­tet wird; bei heik­len The­men sich­tet man nur ma­nu­ell (sie­he faq: Fra­ge 3, Fra­ge 4 und Fra­ge 10). Ich ge­he da­von aus, dass ei­ne Dis­kus­si­on über Kin­der­por­no­gra­phie hei­kel ist.

    Ich ha­be zu Pseud­ony­men und zur Zen­sur an­de­re An­sich­ten: Er­ste­res kann zum Glück je­der (noch) hal­ten, wie er will. Ein Pseud­onym schützt mei­ne Pri­vat­sphä­re und mei­ne Per­son; sie geht mit zu­neh­men­dem Maß ver­lo­ren, ist aber es­sen­ti­ell, weil sie uns Bür­ger ge­gen­über Staat und Öko­no­mie als un- oder we­ni­ger ver­füg­bar er­hält (es stellt ein Stück weit Frei­heit si­cher). Des­wei­te­ren er­schwe­re ich da­mit das Er­stel­len von Per­sön­lich­keits­pro­fi­len und das Da­ten­sam­meln; si­cher­lich: Man kann her­aus­fin­den wer hin­ter ei­nem Pseud­onym steckt und man ver­hin­dert die­se Din­ge nicht im Prin­zip; aber es ist ein ge­wis­ses Hin­der­nis. — Zu­dem spie­len Sen­si­bi­li­tä­ten, per­sön­li­che und be­ruf­li­che Hin­ter­grün­de wo­mög­lich ei­ne Rol­le. Aus­schla­ge­bend ist für mich, dass Pseud­onym und Per­son par­al­lel ge­führt wer­den und nicht für je­des Po­sting ein neu­es er­stellt wird; für das, was je­mand sagt oder ist, spielt der tat­säch­li­che Na­me kei­ne Rol­le.

    Im stren­gen Sinn ist Zen­sur ein staat­li­cher Vor­gang, aber man kann ihn mit Ein­schrän­kun­gen wohl auf mei­nungs­bil­den­de Me­di­en über­tra­gen: Ich se­he die Mög­lich­keit ein Po­sting zu ver­fas­sen, als Ein­la­dung und Aus­stel­lung von An­greif­bar­keit an, als Ehr­lich­keit und Mit­tel des öf­fent­li­chen Dis­kur­ses. Ein Me­di­um, wie et­wa die FAZ, das Kom­men­ta­re zen­siert, die Feh­ler in Ar­ti­keln nach­wei­sen, wie auf die­sem Blog mehr­fach durch den In­ha­ber be­legt wur­de, zeigt ein ei­gen­tüm­li­ches, ja schi­zo­phre­nes Selbst­ver­ständ­nis. Dar­über hin­aus ge­be ich mir Mü­he, wenn ich ein Po­sting ver­fas­se und är­ge­re mich wenn es nicht er­scheint (da ich nicht sehr häu­fig bei Me­di­en Po­stings ver­fas­se, kam das fast nie vor). Kurz­um: Po­stings spie­geln al­le Pro­ble­me und al­le Vor­tei­le des de­mo­kra­ti­schen Dis­kur­ses und sie er­schei­nen in Me­di­en, die sich als des­sen Ga­ran­ten ver­ste­hen.

    Was in dem Text zu kurz kommt, ist, dass im Netz Pri­va­tes und Öf­fent­li­ches in ein­an­der flie­ßen, dar­über hin­aus »ge­nui­ne Post­mo­der­ne«, al­so die un­gleich­zei­ti­ge Gleich­zei­tig­keit von bei­na­he al­lem im Netz Rea­li­tät wird: Dar­aus er­ge­ben sich die oben an­ge­führ­ten und dis­ku­tier­ten Pro­ble­me zu Tei­len von selbst: Un­se­re Maß­stä­be, un­se­re Mo­ral, ge­rät ins Wan­ken, weil sie macht­los ist, weil sie nicht mehr zu ord­nen und zu ver­ban­nen ver­mag.

    Viel­leicht re­sul­tie­ren die neue Höf­lich­keit oder Bür­ger­lich­keit, die po­li­ti­sche Kor­rekt­heit oder eben Bi­got­te­rie – sie al­le sind doch schi­zo­phren – aus die­ser Her­aus­for­de­rung, zu­min­dest dann, wenn un­se­re Ge­sell­schaft und Zeit tat­säch­lich auch jen­seits des Net­zes durch die­se un­gleich­zei­ti­ge Gleich­zei­tig­keit ge­kenn­zeich­net sein soll­te (viel­leicht ge­nügt auch schon ein Über­maß an dem ei­nen oder an­dern). — Es wä­re der Ver­such, Pro­ble­me und Ge­fähr­dun­gen aus­zu­blen­den und gleich­zei­tig die Sta­bi­li­tät des Ich zu er­hal­ten. Ge­ra­de die Se­xua­li­sie­rung ruft Ab­wehr­re­ak­tio­nen her­vor, die sich dann der­ge­stalt for­mu­lie­ren.

    Hin­ter der Heu­che­lei in Sa­chen De­mo­kra­tie und Men­schen­rech­ten ste­hen meist hand­fe­ste In­ter­es­sen von Staa­ten.

    Ich hat­te vor ei­ni­ger Zeit, als Nicht-Va­ter, ein ähn­li­ches Er­leb­nis: Ein klei­ner Jun­ge, ei­ner al­lein er­zie­hen­den Mut­ter, den ich gut ken­ne und der mich im­mer wie­der be­sucht, er­zähl­te mir im­mer wie­der von sei­nem Pe­nis, zeig­te ihn mir so­gar, frag­te mich über mei­nen und lief mir so­gar aufs WC nach um ihn se­hen zu kön­nen: Das war mir zu­nächst sehr un­an­ge­nehm, weil es nicht ein­mal mein Kind war, be­ru­higt hat mich ich aber das Aus­blei­ben se­xu­el­ler Er­re­gung mei­ner­seits. Ich dach­te mir: Gut, der klei­ne (noch nicht fünf Jah­re al­te) »Mann« ent­deckt ge­ra­de sei­ne Se­xua­li­tät, stellt Fra­gen, ist neu­gie­rig und dem woll­te ich nicht im Weg ste­hen. Ich zeig­te ihm, was er se­hen woll­te, er stell­te noch ei­ne Fra­ge und war zu­frie­den. Ir­gend­wann er­zähl­te er, dass er sei­nen Pe­nis (er ver­wen­de­te na­tür­lich ein an­de­res Wort) nicht mehr brau­chen wür­de, er sei ver­klebt und et­was müs­se weg­ge­schnit­ten wer­den. — Ihm war an­ge­kün­digt wor­den, dass er be­schnit­ten wer­den soll­te und das hat­te ihn (viel­leicht ne­ben der nor­ma­len Neu­gier­de) wo­chen­lang be­schäf­tigt.

  5. Als mein Nef­fe noch Kind war schau­ten wir ei­ne Fol­ge von Mr. Be­an, in dem die­ser Sketch aus­ge­strahlt wur­de. Es geht dar­um, dass die Queen ein herr­schaft­li­ches Haus be­sucht und da­bei auch das Per­so­nal be­grüsst, wo­zu Mr. Be­an ge­hört. Die­ser be­merkt plötz­lich, dass der Reiß­ver­schluss sei­nes Ho­sen­schlit­zes de­fekt ist und die­ser sich nicht mehr schlie­ßen lässt. Beim Abend­essen frag­ten die El­tern was wir ge­macht hät­ten. Mein Nef­fe er­zäh­le er­zähl­te ziem­lich auf­ge­regt: »Wir ha­ben xxx Pe­nis an­ge­guckt«, wo er zu­nächst mei­nen Na­men nann­te. Die Ge­sich­ter ver­stei­ner­ten. Dann re­la­ti­vier­te er, dass wir Mr. Be­ans Pe­nis an­ge­schaut hät­ten. Mit be­hut­sa­mer Hil­fe klär­te er die Sa­che dann sel­ber auf, dass es eben nur so aus­ge­schaut ha­be. (Zum Glück gab es noch ei­nen »Zeu­gen«, der mit­ge­schaut hat­te...)

  6. Um die im Aus­gangs­text an­ge­spro­che­ne Dis­kre­panz noch ein­mal zu ver­deut­li­chen, sei auf die­sen Ar­ti­kel in­klu­si­ve Links im Stan­dard ver­wie­sen.

    Auf der ei­nen Sei­te wird die Se­xua­li­sie­rung der Öf­fent­lich­keit to­le­riert, ja ge­för­dert, auf der an­de­ren kann oder will man sen­si­ble und schwie­ri­ge The­men, wie Pä­do­phi­lie oder das Ver­hält­nis von Se­xua­li­tät und Kin­dern nicht aus­schöp­fend dis­ku­tie­ren, da­hin­ge­hend, dass man »im Zwei­fels­fall« eher »zen­siert«. Das deu­tet ent­we­der auf Ab­wehr­me­cha­nis­men, ge­wis­se Un­fä­hig­kei­ten oder Dys­funk­tio­na­li­tä­ten öf­fent­li­cher Dis­kus­sio­nen hin oder eben Ta­bus (die m.E. aber durch­aus ih­re Be­rech­ti­gung ha­ben kön­nen).

  7. @metepsilomena
    Die­se Ar­gu­men­te zu­gun­sten der Pseud­ony­mi­tät le­se ich häu­fig. Mir per­sön­lich wür­de es ge­nü­gen, daß hin­ter ei­nem Pseud­onym ei­ne Iden­ti­tät er­kenn­bar ist (wie bei me­tep­si­lo­me­na der Fall). Die mei­sten pseud­ony­men Po­ster nüt­zen ih­re Un­er­kenn­bar­keit aber, um ih­re Iden­ti­tät auf­zu­bre­chen, zu mul­ti­pli­zie­ren oder zu ver­wi­schen. Was frü­her ein Zei­chen der Avan­gar­den war, näm­lich Iden­ti­tät zu un­ter­lau­fen, ist un­ter di­gi­tal-mas­sen­me­dia­len Be­din­gun­gen zu ei­nem fri­vo­len Spiel ge­wor­den, das es den In­di­vi­du­en er­mög­licht, sich von al­ler Ver­ant­wor­tung für von ih­nen Ab­ge­son­der­tes frei­zu­ma­chen. Die Er­geb­nis­se sol­chen Sich-Äu­ßerns sind mei­stens nicht »avant­gar­di­stisch«, sie die­nen in er­ster Li­nie der Trie­b­ent­la­dung, sind Aus­druck da­von (und als sol­cher bis zu ei­nem ge­wis­sen Grad auch von In­ter­es­se).
    Ich hal­te trotz al­lem da­für, daß Ver­ant­wort­lich­keit stär­ker ein­ge­for­dert ist, wenn sich der Be­tref­fen­de of­fen äu­ßert, d. h., im di­gi­ta­len Jar­gon, mit Klar­na­men. Für das Schutz­be­dürf­nis, das me­tep­si­lo­me­na eben­falls an­führt, ha­be ich ei­ner­seits Ver­ständ­nis, an­de­rer­seits fra­ge ich mich, in wel­chen Zei­ten wir le­ben, wenn freie Mei­nungs­äu­ße­run­gen psy­chi­schen oder phy­si­schen Ter­ror be­fürch­ten las­sen. Wenn es tat­säch­lich die­se rea­le Ver­wil­de­rung gibt, dann muß doch drin­gend An­hil­fe ge­schaf­fen wer­den, im rea­len Be­reich und nicht im sym­bo­li­schen oder vir­tu­el­len. Das aber wird nicht in der Ano- und Pseud­ony­mi­tät ge­lin­gen.
    Es wird eher so sein, daß die User, al­so die di­gi­ta­len Kon­su­men­ten, sich heil­los über­schät­zen. Es wird doch zu je­dem Furz mil­lio­nen­fach kom­men­tiert, wer will all dem ernst­haft nach­ge­hen? Wel­cher Ar­beit­ge­ber, Staats­schü­ter, Nach­bar oder per­sön­li­che Feind wird sich durch so ein Dickicht schla­gen? In der durch di­gi­ta­le Kom­mu­ni­ka­ti­ons­tech­nik er­mög­lich­ten Rie­sen­mas­se wird die ein­zel­ne Mei­nung, schein­bar de­mo­kra­tisch auf­ge­wer­tet, tat­säch­lich ins Bo­den­lo­se ent­wer­tet.

  8. Ich stim­me zu, dass man (auch) an­ders Ab­hil­fe schaf­fen muss. Ver­ant­wor­tung ist eben­so in Ord­nung und ich fin­de Trie­b­ent­la­stung zwar nicht ver­dam­mens­wert, aber sie muss nicht re­gel­mä­ßig an Or­ten der öf­fent­li­chen Dis­kus­si­on statt­fin­den. — Den­noch: Viel­leicht ist das ein Übel, das man in Kauf neh­men muss. Es passt nicht ganz hier­her, aber Wah­len sind in De­mo­kra­tien aus gu­ten Grün­den an­ony­mi­siert (man kann nach­voll­zie­hen wer ge­wählt hat, aber nicht was), man könn­te hier doch die­sel­ben Ar­gu­men­te ins Feld füh­ren.

    Dies et­wa ist Ge­schich­te. Was kom­men wird, wis­sen wir nicht, aber der Zu­griff auf Pri­va­tes ist ein Fak­tum, von Sei­ten der Öko­no­mie, der Ge­heim­dien­ste oder Hackern. Und es wird zu Zwecken der Dis­kre­di­tie­rung ein­ge­setzt wer­den und für an­de­res auch. Viel­leicht bin ich da über­emp­find­lich, aber dass nach ei­nem Be­wer­bungs­ge­spräch je­mand über goog­le oder pro­fi­ler­stel­len­de Such­ma­schi­nen mei­ne po­li­ti­schen An­sich­ten und et­li­che pri­va­te De­tails er­fah­ren kann, will ich ein­fach nicht (ich könn­te na­tür­lich schwei­gen, ja). —Ich fürch­te Klar­na­men spie­len den fal­schen Leu­ten in die Hän­de.

    Ich ha­be auch im­mer ge­dacht, dass die im­mensen Da­ten­men­gen nicht hand­hab­bar sind, ich wur­de ei­nes bes­se­ren be­lehrt (ich glau­be wir al­le). Es geht auch nicht nur dar­um, dass je­mand et­was über mich er­fährt, es geht dar­um, dass all die­se Da­ten auch falsch ver­knüpft wer­den, es lan­den dann Men­schen auf Flug­ver­bots­li­sten, durch ir­gend­wel­che Zu­fäl­le für die sie nichts kön­nen oder sie be­kom­men ei­nen Kre­dit nicht, weil je­mand ei­nen ähn­li­chen Na­men hat­te (mir ist et­was Ähn­li­ches schon pas­siert). — Kün­di­gun­gen we­gen Face­book­po­stings gab es be­reits und Stra­ßen­zü­ge wer­den nur nicht auf Per­so­nen­ebe­ne ka­te­go­ri­siert und ge­ra­stert, weil das ge­setz­lich un­ter­sagt ist (man könn­te es und das öko­no­mi­sche In­ter­es­se dar­an ist vor­han­den).

  9. Er­gänzt sei noch, dass ich das über ei­ni­ge Jah­re hin­weg an­ders ge­hal­ten und vor al­lem in ei­nem Dis­kus­si­ons­fo­rum mit Klar­na­men ge­schrie­ben ha­be (je­der dort ver­fass­te Kom­men­tar war über goog­le auf­find­bar). Mit dem Start mei­nes Blogs ha­be ich das dann auf­ge­ge­ben.

  10. @metepsilomena
    Vor kur­zem ging ei­ne Mel­dung durch die öster­rei­chi­schen Me­di­en: ei­ne PR-Fir­ma hat­te für meh­re­re Kun­den ei­ne gro­ße Zahl von Po­stings ver­fas­sen und an ein­schlä­gi­ge Fo­ren schicken las­sen. Die Kun­den wa­ren gro­ße, fi­nanz­kräf­ti­ge Fir­men so­wie ei­ne alt­ein­ge­ses­se­ne po­li­ti­sche Par­tei. Freie Mit­ar­bei­ter der Fir­ma hat­ten, selbst­ver­ständ­lich un­ter Pseud­onym, ca. 100.000 »fal­sche« Kom­men­ta­re ge­schrie­ben (mit Rechts­schreib­feh­lern, da­mit es ech­ter aus­sieht) und ver­schickt. Al­so Fakes, um es in heu­ti­gem Deutsch zu sa­gen. Auf Nach­fra­gen von Jour­na­li­sten fand die Fir­ma an die­sem Vor­ge­hen kei­ner­lei ethi­sche Be­denk­lich­kei­ten. Die Lü­ge ist im Wer­be­ge­schäft und of­fen­bar auch beim nor­ma­len Kon­su­men­ten (sprich User) ein völ­lig nor­ma­les Mit­tel, oder so­gar die vor­her­herr­schen­de Le­bens­form.
    Mein per­sön­li­cher Schluß dar­aus: Ich traue dem, was an »de­mo­kra­ti­scher Mei­nung« ver­öf­fent­licht wird, we­ni­ger denn je. Es in­ter­es­siert mich nur mehr, wenn ich gei­sti­ge und psy­chi­sche Ver­fas­sung des Durch­schnitts­bür­gers stu­die­ren will. Mein Ent­schluß, in den Mas­sen­me­di­en nichts mehr zu äu­ßern (es sei denn als Au­tor), ist da­durch be­stärkt.
    Fo­ren wie Be­gleit­schrei­ben in­ter­es­sie­ren mich aber wei­ter. Wich­ti­ge Fak­to­ren da­bei sind die Über­schau­bar­keit – wie in der al­ten grie­chi­schen Ago­ra oder auch im bür­ger­li­chen Sa­lon. Am Ver­hal­ten Keu­sch­nigs (eben­falls ein Pseud­onym, aber klar iden­ti­fi­zier­bar) schät­ze ich, daß er sich nicht bloß wie ein Mo­de­ra­tor ver­hält, den man auch au­to­ma­ti­sie­ren könn­te, son­dern wie ein Gast­ge­ber in ei­nem Sa­lon. Wenn je­mand ge­gen wich­ti­ge Re­geln ver­stößt oder das Fo­rum mehr stört als be­rei­chert, bit­tet er ihn, zu ge­hen. Und wenn je­mand will­kom­men ist, drückt er es eben­falls aus. Die­ses Ver­hal­ten hat et­was von der ana­lo­gen, der wirk­li­chen Welt. Ich fin­de es wich­tig, daß et­was da­von in di­gi­ta­len Räu­men be­wahrt wird. Wo nicht, setzt sich die­se neue, an­ar­chi­sche, un­ethi­sche, zu­gleich dau­er­er­reg­te und mo­ra­lin­saure »Dis­kus­si­ons­kul­tur« durch.

  11. @Leopold – Schö­ner Bei­trag. Ha­be ex­akt die­sel­be Ad­ap­ti­on hin­ter mir. Erst Neu­gier, Par­ti­zi­pa­ti­on, dann Är­ger, Di­stanz, zu­letzt die Me­ta-Ebe­ne Be­ob­ach­tung, durch­aus mit Ge­winn.
    Was mir auf­ge­fal­len ist: der Be­griff »Ver­trau­en«. Völ­lig zu­recht, denn die de­mo­kra­ti­sche Öf­fent­lich­keit setzt ein Min­dest­maß an Ver­trau­en vor­aus. Das war mir schon als ganz jun­ger Mensch be­wusst. Dann muss­te ich fest­stel­len, dass in der theo­re­ti­schen Re­fle­xi­on die­ser o.ä. Be­grif­fe kei­ne Rol­le spie­len. Und ich muss­te fest­stel­len, dass je­de links-la­sti­ge Ana­ly­se den Ant­ago­nis­mus Ka­pi­tal-Bür­ger­lich­keit be­tont, al­so die Wirt­schaft­in­ter­es­sen als »Fremd­in­ter­es­sen« und De­mo­kra­tie-Ge­fähr­dung ein­stuft. Da­bei ist der »Wi­der­streit« (Kant), al­so der be­wusst ant­ago­ni­sti­sche Mei­nungs­wett­be­werb der ei­gent­li­che De­mo­kra­tie-Ver­brau­cher (inkl. der Ab­grün­de in den Fo­ren). Der Ka­pi­ta­lis­mus kann sich längst nicht so viel Miss­trau­en lei­sten wie die De­mo­kra­tie tag­täg­lich auf­wirft.
    Will sa­gen, bald schon war mir klar, dass an al­len Ecken und En­den ge­trickst und ge­fremd­wör­telt wird, wenn’s ans Öf­fent­li­che geht. Mit Scho­pen­hau­er: mir kam die di­stin­gu­ier­te Dik­ti­on des ty­pi­schen De­mo­kra­ten (Jour­na­list, In­tel­lek­tu­el­ler, Funk­tio­när) aus­ge­spro­chen un­deutsch vor...
    Flieg ich jetzt raus, Ge­org?!

  12. @Leopold Fe­der­mair
    Lei­der wird heu­te vie­ler­orts ähn­lich ge­ar­bei­tet; nicht dass ich die­se Prak­ti­ken gut­hei­ße, aber man über­sieht da­bei, wie de­mo­kra­ti­sche Dis­kur­se funk­tio­nie­ren: Wenn man sich dar­an er­in­nert, re­la­ti­viert sich das Pro­blem von selbst: Ent­schei­dend ist nicht, wer et­was sagt oder was er sagt, son­dern die Ar­gu­men­te die er ver­wen­det; die Struk­tur, die Lo­gik sei­ner Äu­ße­rung, die Be­le­ge, die er an­führt und die Form (bei of­fen­sicht­li­chen Recht­schreib­feh­lern, hin­ge­wor­fe­nen Halb­sät­zen, soll­te man skep­tisch wer­den). Dann kann man fra­gen, was für ei­ne Schil­de­rung vor­liegt und ob sie über­prüft wer­den kann (bin ich ge­zwun­gen der Quel­le zu ver­trau­en oder nicht?), usw. Dar­an ist Ge­schrie­be­nes in der öf­fent­li­chen Dis­kus­si­on zu mes­sen oder soll­te es ge­mes­sen wer­den: Mei­nung ist völ­lig un­in­ter­es­sant (al­ler­dings: nicht un­be­deu­tend).

    Der Text der das The­ma auf die Ta­ges­ord­nung ge­setzt hat, fin­det sich dort(für die die ihn noch nicht ken­nen); in der SZ wur­de das kurz da­nach auch auf­ge­grif­fen, glau­be ich.

    Sie ha­ben völ­lig recht, dass die Dis­kus­si­on hier (und auch an an­de­ren Or­ten) weit »ge­winn­brin­gen­der« ist: Man hat ähn­li­che In­ter­es­sen, legt auf ähn­li­che Din­ge wert und kennt ein­an­der (viel­leicht nicht per­sön­lich, aber durch das was man schreibt und das was mit­schwingt). Um­fang und Grö­ße spie­len auch ei­ne Rol­le. Es hat nur ei­nen (gra­vie­ren­den) Nach­teil: Man schmort, wie Gre­gor das auch im­mer wie­der aus­drückt, im ei­ge­nen Saft (Wi­der­spruch und An­ti­the­sen sind et­was Wich­ti­ges, kom­men aber eher von au­ßen oder »Neu­zu­gän­gen«).

    Viel­leicht kann man das Stan­dard-Fo­rum mit ei­ner Fahrt in der U‑Bahn oder der Stra­ßen­bahn ver­glei­chen: Dort wo vie­le Men­schen zu­fäl­lig oder des­sel­ben Be­dürf­nis we­gen zu­sam­men­kom­men, rem­pelt man ein­an­der oder tritt dem an­de­ren auf die Fü­ße. Manch­mal ist man auch freund­lich, sonst be­sten­falls höf­lich. Ich glau­be den­noch, dass bei­des ge­braucht wird, al­ler­dings nicht von al­len (Zwang gibt es in die­ser Hin­sicht ja zum Glück nicht).

  13. @Leopold Fe­der­mair: Der Ar­ti­kel tauch­te auch in mei­ner Link­li­ste auf und ich war zu­nächst auch so em­pört wie Sie. Mitt­ler­wei­le hat die Em­pö­rung nicht nur ab­ge­nom­men, son­dern sich bei­na­he ins Ge­gen­teil ver­kehrt. – Grund war zu­nächst, dass ich über den Wi­ki­pe­dia­ein­trag zu »Cla­queur« stol­per­te und die Viel­falt der Auf­ga­ben führ­te mir noch ein­mal sinn­fäl­lig vor Au­gen, wie lan­ge der Mensch schon »so­cial en­gi­nee­ring« be­treibt, das geht eben auch ganz ana­log... Und viel­leicht ist der Ar­ti­kel ja selbst auch ein Bei­spiel; weil er de­zent auch die­se FAZ-Ak­kor­de der Di­gi­tal­apo­ka­lyp­se an­klin­gen lässt, dass die di­gi­tal-so­zia­len Klick­wer­ke uns all­mäh­lich in Cy­borgs mor­phen. Das ver­mark­tet sich in kul­tu­rel­len Mi­leus (auch des In­ter­nets) doch ganz gut.

    Die Skep­sis mag ge­ne­rell an­ge­bracht sein.. Und auch ihr Un­wohl­sein ge­gen­über der Mas­se (Kier­ke­gaard: »Die Men­ge ist die Un­wahr­heit«) kann ich nach­voll­zie­hen, aber ein Stück­weit muss man das in ei­ner De­mo­kra­tie doch aus­hal­ten, auch wenn es be­que­mer wä­re die Mas­sen­kul­tur und das al­les als Le­ben im fal­schen ab­zu­tun.

    PS. Aus dem Wi­ki­pe­dia­ein­trag zu »Cla­queur«: «Die Auf­ga­ben der Claque wur­den auf spe­zia­li­sier­te Per­so­nen ver­teilt. Im Ein­zel­nen gab es:

    Chauf­feurs (Hei­zer): Sie stan­den tags­über vor den An­kün­di­gun­gen und hat­ten das Stück vor den Um­ste­hen­den zu lo­ben.
    Cha­touilleurs (Kitz­ler): Sie äu­ßer­ten sich vor An­fang der Vor­stel­lung und in den Pau­sen po­si­tiv über die Dar­bie­tun­gen.
    Con­nais­seurs (Ken­ner): Sie hat­ten die Auf­ga­be, wäh­rend der Vor­stel­lung po­si­ti­ve Be­mer­kun­gen fal­len zu las­sen.
    Ri­eurs (La­cher): Sie hat­ten die Um­sit­zen­den mit ih­rem „spon­ta­nen“ Ge­läch­ter an­zu­stecken.
    Pleu­r­eurs (Heu­ler): Ih­re Auf­ga­be war es, wäh­rend rüh­ren­der Sze­nen zu schluch­zen.
    Ta­pa­ge­urs (Auf­se­hen­ma­cher): Sie hat­ten hef­tig zu ap­plau­die­ren.
    Bis­seurs („Noch­ma­ler“, „Zugabe“-Rufer): Sie rie­fen nach der Vor­stel­lung „Da ca­po“ und „Zu­ga­be“.»

  14. [Ich muss ge­ra­de an die Fern­seh­se­ri­en (»Ko­mö­di­en«) den­ken, in de­nen kurz nach ei­nem Witz oder ei­ner ko­mi­schen Si­tua­ti­on, Ge­läch­ter ein­ge­spielt wird. — Das passt im Grun­de auch hier­her, ist aber für je­den er­kenn­bar.]

  15. Vie­len Dank für das Kom­pli­ment mit dem Gast­ge­ber des Sa­lons. Ein Sa­lon, der we­ni­ge Wort­mel­dun­gen hat und da­mit zwangs­läu­fig das Ge­gen­ge­wicht zu den Fo­ren des Stan­dard oder hei­se sein muss. Ich glau­be, hier­in liegt auch der Punkt: In klei­nen und klein­sten Fo­ren kön­nen Dis­kus­sio­nen noch ge­führt wer­den. Wenn es 600 oder mehr Kom­men­ta­re gibt (von viel­leicht 80 oder mehr Per­so­nen) ist das nicht mehr mög­lich, weil die ein­zel­nen Dis­kus­si­ons­ver­äste­lun­gen nicht mehr nach­voll­zieh­bar sind, selbst wenn es noch um das je­wei­li­ge The­ma ge­hen soll­te. Selbst sol­che sehr gu­ten Blogs wie wies­aus­sieht kommt da an Gren­zen, weil es im­mer ge­nü­gend Leu­te gibt, die vor­bei kom­men­tie­ren und zwar nicht frucht­bar, son­dern eher furcht­bar. Es ent­steht dann ei­ne Ka­ko­pho­nie, vor der ich ganz schnell ka­pi­tu­lie­re.

    In­ter­es­sant ist, dass Be­stre­bun­gen von Fo­rums­be­trei­bern, die­se Knäu­el zu ent­wir­ren, fast re­gel­mä­ssig mit Em­pö­rung ab­ge­wie­sen wer­den, wie hier. (Röt­zer ist für mich zwar nicht Ernst zu neh­men, aber die Ar­gu­men­te sind im­mer die glei­chen.) Da­bei gibt es nur ei­nen Grund, dem Stö­rer und Troll wei­ter­hin ein Feld zu ge­ben: zur Ab­re­ak­ti­on dunk­ler Ge­dan­ken, als Af­fekt­ab­bau. In­so­fern wä­ren sol­che Fo­ren psy­cho­po­li­ti­sche Raum­in­stal­la­tio­nen, am ehe­sten viel­leicht ver­gleich­bar mit Box­sport­ver­ei­nen, in de­nen la­bi­le Ju­gend­li­che über den Um­weg des in­sti­tu­tio­nell ge­re­gel­ten Faust­kampfs ein ge­wis­ses ge­sell­schaft­li­ches Rüst­zeug er­wer­ben. Der Un­ter­schied: Box­grup­pen ha­ben sehr gu­te Er­fol­ge zu ver­zeich­nen; die Trol­le in den Fo­ren blei­ben es­ka­la­ti­ons­be­reit.

  16. @metepsilomena
    Ich wür­de das An­ony­mi­täts­prin­zip bei de­mo­kra­ti­schen Wah­len nicht mit Stel­lung­nah­men in an­de­ren Kon­tex­ten in Zu­sam­men­hang brin­gen. Das Ar­gu­ment ist mir manch­mal un­ter­ge­kom­men, in über­zo­ge­ner Form: Wer sich für Klar­na­men aus­spricht, un­ter­gräbt die De­mo­kra­tie. Dis­kus­sio­nen sind aber kei­ne Ab­stim­mun­gen. Bei er­ste­ren geht es um in­di­vi­du­el­le Äu­ße­run­gen, even­tu­ell um Über­zeu­gung. Bei zwei­te­ren geht es dar­um, die Mei­nungs­struk­tur ei­ner Ge­samt­heit (al­le Wahl­be­rech­tig­ten...) zu er­fas­sen.

    (Das rea­le Le­ben hält mich oft ta­ge­lang von der di­gi­tal world fern, des­halb dann mei­ne ver­spä­te­te Re­ak­ti­on. Auch ein Pro­blem des Di­gi­ta­len: daß man sich dau­ernd zur sog. Echt­zeit ge­drängt fühlt.)

  17. @Phorkyas
    De­mo­kra­tie war mir jahr­zehn­te­lang ei­ne Selbst­ver­ständ­lich­keit. In letz­ter Zeit nicht mehr so ganz, ich fra­ge mich in be­stimm­ten Fäl­len, ob De­mo­kra­tie ziel­füh­rend ist oder ob nicht an­de­re Kri­te­ri­en wich­ti­ger sind. Es gibt in der west­li­chen Welt ei­nen un­be­wuß­ten Re­flex, et­wa in dem Sinn: Haupt­sa­che De­mo­kra­tie, dann wird al­les gut.
    »Ge­ris­sen« (so wür­de ich es in der Re­al­welt nen­nen) hat es mich ein­mal, als Keu­sch­nig die Be­mer­kung mach­te, De­mo­kra­tie sei in ge­wis­ser Wei­se im­mer mit Po­pu­lis­mus ver­bun­den. Es kommt na­tür­lich auf die De­fi­ni­ti­on der bei­den Be­grif­fe an. Zahl­lo­se Fo­ren­dis­ku­tie­rer, die sog. User, füh­len sich heu­te als Re­prä­sen­tan­ten von De­mo­kra­tie. Ich be­ob­ach­te aber, daß ihr Kom­mu­ni­ka­ti­ons­ver­hal­ten eher dem kom­mer­zi­el­len »Der Kun­de ist König«-Prinzip ver­pflich­tet ist als der An­nä­he­rung an das, was man frü­her als Wahr­heit be­zeich­net hat. 30, 40 Jah­re Neo­li­be­ra­lis­mus ha­ben die west­li­che De­mo­kra­tie tief­grei­fend ver­än­dert. Viel­leicht ist mehr Skep­sis an­ge­bracht.

  18. Chri­stoph Möl­lers hat ein­mal for­mu­liert, dass Po­pu­lis­mus und De­mo­kra­tie zu un­ter­schei­den, aber nicht zu tren­nen sind. Für ihn sind po­pu­li­sti­sche Strö­mun­gen, die sich bspw. in Me­di­en, an Stamm­ti­schen oder auf der Stra­ße äu­ßern nicht Be­weis für ei­ne »Mehr­heit«. (Die hef­tig ge­führ­te Dis­kus­si­on um den Stutt­gar­ter Flug­ha­fen gibt ihm da bspw. Recht: Al­le Me­di­en sug­ge­rier­ten im Vor­feld, dass die Be­völ­ke­rung da­ge­gen ist – bei der Ab­stim­mung stell­te sich dann das Ge­gen­teil her­aus.) Für Möl­lers be­steht ei­ne De­mo­kra­tie vor al­lem aus in frei­en Wah­len her­vor­ge­gan­ge­nen und ent­spre­chend ver­wal­te­ten In­sti­tu­tio­nen, die am En­de ver­läss­lich Mehr­hei­ten ab­bil­den, nach de­nen sich po­li­ti­sche Ent­schei­dun­gen ori­en­tie­ren. Das Pro­blem ist, ob po­pu­li­sti­sche Strö­mun­gen von po­li­ti­schen Man­dats­trä­gern auf­ge­nom­men, ver­stärkt oder igno­riert und kon­ter­ka­riert wer­den. Da Po­li­ti­ker auf Mehr­hei­ten an­ge­wie­sen sind, müs­sen sie ba­lan­cie­ren. Igno­rie­ren sie al­le sich bil­den­den po­pu­li­sti­schen Strö­mun­gen (das kann in al­le po­li­ti­sche Rich­tun­gen ge­hen), wer­den sie schnell als ab­ge­ho­ben und eli­tär an­ge­se­hen. Ge­ben sie aus Grün­den der Macht­be­schaf­fung den Strö­mun­gen wil­lig nach, sind sie »Po­pu­li­sten«. Den­noch kann kein Po­li­ti­ker ge­gen mäch­ti­ge Wil­lens­äu­ße­run­gen der Mas­se agie­ren (hier spie­len die Me­di­en ei­ne wich­ti­ge Rol­le). Wo­hin ei­ne eli­tä­re Po­li­tik führt, kann man an­hand der EU in Deutsch­land se­hen: Das The­ma wur­de jah­re­lang par­tei­über­grei­fend nicht dis­ku­tiert und per se wur­den al­le Ent­wick­lun­gen ge­gen durch­aus »po­pu­li­sti­sche« Strö­mun­gen um­ge­setzt. Das Re­sul­tat sol­cher Po­li­tik zeigt sich in Pro­test­par­tei­en, die sich an­geb­lich au­ßer­halb des po­li­ti­schen Spek­trums ver­or­ten (in Wahr­heit ist das na­tür­lich ein Mär­chen) und dem Volk nach dem Mund re­den. Ge­nau dies ge­schieht im­mer häu­fi­ger: Par­tei­en ge­ben sich kei­ne Pro­gram­ma­tik für die sie dann wer­ben, son­dern scan­nen Mei­nungs­strö­me ab, die sie va­ri­ie­ren und dann über­neh­men. Ich be­haup­te, dass das im­ma­nent ist für Me­di­en­de­mo­kra­tien.

    Es gibt im üb­ri­gen Un­ter­su­chun­gen, die die Un­sin­nig­keit zei­gen, in sich neu kon­sti­tu­ie­ren­den Staa­ten, die ge­ra­de ei­ne Dik­ta­tur ab­ge­schüt­telt ha­ben, als Er­stes Wah­len ab­zu­hal­ten. Ei­ner der Grün­de ist, dass es oft ge­nug kei­ne po­li­ti­sche In­fra­struk­tur gibt und auch kein ent­spre­chen­des Per­so­nal. In Deutsch­land wur­de erst 1949 im Bund ge­wählt; vor­her wur­den In­sti­tu­tio­nen und Grund­la­gen ge­schaf­fen. Heu­te drängt der We­sten zu­meist über­eilt auf »freie Wah­len«; in Wirk­lich­keit ist das rei­ne Sym­bol­po­li­tik.

  19. @Gregor
    Ich fin­de die­se Dis­kre­panz zwi­schen wie­es­aus­sieht und Be­gleit­schrei­ben in­ter­es­sant, kann sie aber nicht er­klä­ren (Ist das nur Zu­fall? Hängt es an den Per­so­nen selbst? An der The­ma­tik, die hier doch brei­ter ist?).

    @Leopold Fe­der­mair
    Für bei­des (Pseud­ony­me und Wahl) gilt doch: Ent­we­der ist et­was zu be­fürch­ten oder nicht; die Kon­se­quen­zen kön­nen in bei­den Fäl­len in­di­vi­du­ell sein oder ein »Kol­lek­tiv« (wel­cher Grö­ße auch im­mer) be­tref­fen (die­je­ni­gen die »falsch« wäh­len ver­lie­ren Woh­nung oder Be­ruf, müs­sen bei Äm­tern län­ger war­ten, be­kom­men kei­ne För­de­run­gen, ... die­se Kon­se­quen­zen sind für po­li­ti­sche Äu­ße­run­gen, die auf Per­so­nen be­zo­gen wer­den kön­nen eben­so denk­bar; da­zu kom­men dann noch die oben be­reits er­wähn­ten [mög­li­chen] Kon­se­quen­zen).

    Ja, Ak­tua­li­tät ist ein Pro­blem der di­gi­ta­len Welt im Spe­zi­el­len und der Mo­der­ne im All­ge­mei­nen. — Mich stört es nicht ein paar Ta­ge zu war­ten.

    Zur De­mo­kra­tie: Ich ken­ne kein »bes­se­res« Sy­stem als un­se­re De­mo­kra­tien (Men­schen­rech­te, Ge­wal­ten­tei­lung, Min­der­hei­ten­schutz, Kon­sens­fin­dung, ...). Das be­deu­tet aber nicht, dass sie per­fekt sind oder nicht miss­braucht wer­den kön­nen, et­wa durch In­ter­es­sen ver­zerrt, weil die­se sich nicht dem üb­li­chen Gang der Din­ge fü­gen, son­dern die Hin­ter­tü­re neh­men. Die öf­fent­li­che Dis­kus­si­on braucht »Po­pu­la­ri­sie­rung«, al­so Ver­ein­fa­chung, die aber kei­ne Kom­ple­xi­täts­re­du­zie­rung dar­stel­len soll­te (de­mo­kra­ti­sche Ent­schei­dungs­fin­dung und Dis­kurs sind kei­ne wis­sen­schaft­li­chen An­ge­le­gen­hei­ten, fu­ßen aber u.a. auf ih­ren Er­geb­nis­sen; wie man zu dis­ku­tie­ren hat, ver­bie­tet un­se­re De­mo­kra­tie vor­zu­schrei­ben, was die sy­ste­ma­ti­schen Ver­ein­fa­cher in ihr Recht setzt ... ich weiß dar­aus kei­nen Aus­weg).

  20. @ Leo­pold
    In der Tat, es gibt kei­nen Aus­weg. Die »sy­ste­ma­ti­schen« Ver­ein­fa­cher be­stim­men das dis­kur­si­ve Mi­lieu, es ist die De­mo­kra­tie mit­nich­ten philosopher’s dar­ling. Ich neh­me die Sa­che über­dies per­sön­lich und sa­ge (mir): Un­nö­tig, da mit zu ver­han­deln. Das all­ge­mei­ne Ni­veau ist zur Be­ur­tei­lung der Er­run­gen­schaf­ten des We­stens sehr viel wich­ti­ger als die Idea­li­sie­rung. Über­haupt gibt es zwi­schen ei­ner rea­li­sti­schen Ein­schät­zung und ei­ner idea­li­sti­schen Be­schrei­bung, et­wa durch ei­nen Funk­tio­när, ei­nen Him­mel wei­ten Un­ter­schied. Für den ei­nen ist die Wahr­heit wich­tig, für den an­de­ren der Er­halt der so­zia­len Kon­struk­ti­on.
    Ne­bu­lös wird die gan­ze Sa­che, wenn In­tel­lek­tu­el­le dar­an ge­hen, ei­ne ge­misch­te Ein­schät­zung vor­zu­neh­men. Dann weiß man ei­gent­lich gar nicht mehr, was man da­von hal­ten soll. Ab­schaf­fung?! In­ter­ne Kri­tik?! Dia­lek­tik?!
    Nö, De­mo­kra­tie ist ein­fach nur... selbst­be­grün­dend. Sie braucht im­grun­de kei­ne Le­gi­ti­ma­ti­on.

  21. @die kal­te So­phie
    Dass De­mo­kra­tie selbst­be­grün­dend und per se oh­ne Le­gi­ti­ma­ti­on ist, fin­de ich in­ter­es­sant. Wä­re sie dann im­mer das rich­ti­ge? Ist das nicht – par­don – ei­ne ty­pisch eu­ro­zen­tri­sti­sche Sicht? Müs­sen wir dann Dis­si­den­ten wie bspw. in Chi­na per se un­ter­stüt­zen, auch wenn es zu Bür­ger­krie­gen führt? Und was sa­gen wir den Stam­mes­füh­rern in Af­gha­ni­stan, die die­se Le­gi­ti­ma­ti­on nicht gel­ten las­sen?

    Will sa­gen: De­mo­kra­tie ist im­mer dort oh­ne Le­gi­ti­ma­ti­ons­druck, wo sie be­reits in­stal­liert ist. Sie ist dann (noch­mals par­don) al­ter­na­tiv­los. Aber sie kann nicht Ge­sell­schafts­sy­ste­men, die seit ‑zig Ge­ne­ra­tio­nen in an­de­ren po­li­ti­schen For­men le­ben, ok­troy­iert wer­den. Über­trie­ben for­mu­liert: De­mo­kra­tie hat sich in Eu­ro­pa im Lau­fe der Jahr­hun­der­te in evo­lu­tio­nä­ren wie auch re­vo­lu­tio­nä­ren Pro­zes­sen her­aus­ge­bil­det. Im 20. Jahr­hun­dert be­durf­te es da­für zwei­er schreck­li­cher Krie­ge. De­ren Ziel war nicht De­mo­kra­tie, aber es war das Re­sul­tat.

  22. @ Gre­gor
    Ex­akt das, was ich sa­gen wür­de. De­mo­kra­tie le­gi­ti­miert sich a po­ste­rio­ri, und ist des­halb kein Ex­port-Schla­ger.
    Müs­sen wir den Dis­si­den­ten hel­fen?! Ja und nein. Dis­si­den­ten ha­ben das Recht, po­li­ti­sches Asyl zu be­an­tra­gen. Das geht nicht über mei­nen Schreib­tisch, oder rührt an mein de­mo­kra­ti­sches Selbst­ver­ständ­nis. Ge­le­gent­lich sieht es ja so aus, als sei der de­mo­kra­ti­sche Mensch der un­glück­lich­ste von al­len. Denn er kann ja kei­ne Ru­he fin­den, so­lan­ge noch ein Mensch auf der Welt auf­grund sei­ner po­li­ti­schen Über­zeu­gun­gen ver­folgt wird. Aber das sind sehr be­wusst plat­zier­te Über­trei­bun­gen, die ei­ne »to­ta­le Em­pa­thie« in An­spruch neh­men. Wer ga­ran­tiert mir denn, dass der Dis­si­dent nicht ein que­ru­lan­tes A***loch ist, der die Wer­te ge­gen den Strich liest?! Kei­ner. Es gibt kein Hel­den­sche­ma »für« De­mo­kra­tie, ge­gen »Au­to­ri­ta­ris­mus«, das ei­ne ge­ne­rel­le Gül­tig­keit auf­weist. Es kommt, wie es so schön heißt, dar­auf an...
    De fac­to, wird ein sol­ches Hel­den­sche­ma na­tür­lich kom­mu­ni­ziert, und man hö­re und stau­ne, so­gar be­son­ders gern bei Aus­län­dern an­ge­wen­det. Das wie­der­um er­klärt sich leicht: Wir sind in Deutsch­land.

  23. @metepsilomena
    Ein bes­se­res als das de­mo­kra­ti­sche Sy­stem wüß­te ich auch nicht – und oh­ne »Sy­stem« wer­den wir wohl nicht aus­kom­men. In der De­mo­kra­tie wählt man mei­stens ein klei­ne­res Übel, und De­mo­kra­tie ist an sich das klei­ne­re Übel. Nichts für Idea­li­sten (@Sophie).

    @Keuschnig
    Für die mei­sten Par­tei­en gilt, und zwar in im­mer stär­ke­rem Maß (auch für die Grü­nen): Sie ha­ben, wol­len und brau­chen kein Pro­gramm. Das heißt aber, daß sie kei­nen län­ger­fri­sti­gen Per­spek­ti­ven fol­gen. An­de­rer­seits wä­re ei­ne lang­fri­sti­ge Po­li­tik in vie­len Be­lan­gen, zum Bei­spiel Um­welt- und En­er­gie­po­li­tik, un­be­dingt nö­tig. Das Schlag­wort »Nach­hal­tig­keit«, das hin und wie­der fällt, ist in den mei­sten Fäl­len nur ein wei­te­rer po­pu­li­sti­scher Slo­gan.
    Statt des­sen wer­den Mei­nungs­strö­me ab­ge­scannt – das neh­me ich auch so wahr. Die­se Strö­me wer­den wie­der­um über die Me­di­en ver­mit­telt (auch den Po­li­ti­kern und den PR-Agen­tu­ren, die ih­nen vor­ge­schal­tet sind). Aber spie­geln die Me­di­en Mei­nungs­strö­me wi­der, oder er­zeu­gen sie sie? Oder ge­nau­er: Er­zeu­gen sie viel­leicht nur sol­che Sach­ver­halts­dar­stel­lun­gen und Ur­tei­le, die leicht kon­su­mier­bar und des­halb gut ver­käuf­lich sind? Der Neo­li­be­ra­lis­mus hat al­le Ebe­nen im Griff, das All­tags­le­ben der Bür­ger und ihr Den­ken, die Me­di­en, die Po­li­tik. Ziel ist je­weils der kurz­fri­sti­ge, quan­ti­ta­tiv, d.h. mei­stens fi­nan­zi­ell, zu be­mes­sen­de Er­folg.

  24. @Leopold Fe­der­mair
    Ich tue mich schwer mit dem Ru­brum »Neo­li­be­ra­lis­mus« – zum ei­nen, weil er ei­gent­lich et­was an­de­res be­deu­tet, zum an­de­ren weil da­mit der Be­griff der Li­be­ra­lis­mus m. E. un­zu­läs­sig dis­kre­di­tiert wird. Aber egal, dar­auf kommt es nicht an.

    »Nach­hal­tig­keit« ist da­hin­ge­hend kein Kri­te­ri­um, mit dem sich po­li­tisch Wah­len ge­win­nen las­sen, weil es kei­nen un­mit­tel­ba­ren Ef­fekt gibt. Wenn die Steu­ern ge­senkt oder er­höht, Glüh­bir­nen ver­bo­ten oder neue Schul­for­men im­ple­men­tiert wer­den – dann sind die Aus­wir­kun­gen (so ba­nal sie auch sein mö­gen) un­mit­tel­bar greif­bar. Die SPD hat mit Schrö­der 1998 den Wahl­kampf u. a. da­mit ge­won­nen, dass man ei­ne Zu­zah­lung zu Me­di­ka­men­ten, die die Kohl-Re­gie­rung be­schlos­sen hat­te, wie­der zu­rück­nahm. Ich glau­be, die Sum­me, die man da ma­xi­mal spa­ren konn­ten wa­ren da­mals 4 oder 8 Mark (2 bzw. 4 Eu­ro). Aber das war so­fort nach­prüf­bar. Was Men­schen fehlt – dar­über ha­be ich neu­lich noch et­was ge­le­sen – ist die Ab­strak­ti­on, Zu­künf­ti­ges in das ak­tu­el­len Han­deln hin­ein­zu­neh­men.

    Die Fra­ge ob Me­di­en Mei­nungs­strö­me er­zeu­gen oder nur ab­bil­den ist m. E. ein­deu­tig: In der Re­gel for­cie­ren sie Mei­nungs­strö­me, spit­zen zu, ver­ein­fa­chen oder – sel­te­ner – ver­harm­lo­sen. Bei­des stellt sich im­mer mehr als un­gut her­aus, weil Pro­ble­ma­ti­ken un­zu­läs­sig ver­ein­facht wer­den. Das hat mit den (an­geb­li­chen ) Ge­setz­mä­ßig­kei­ten von Me­di­en zu tun: Ge­hört, ge­se­hen, ge­le­sen wird nur das­je­ni­ge, dass sich poin­tiert gibt und über­zeich­net. Das wie­der­um dürf­te sei­ne Ur­sa­che in der Fül­le der un­ter­schied­li­chen Me­di­en ha­ben, die um Auf­merk­sam­keit buh­len und da­bei im­mer ver­sucht sind, die an­de­re Schlag­zei­le zu über­tref­fen.

  25. De­mo­kra­tie steht mit der eu­ro­päi­schen und spä­ter auch ame­ri­ka­ni­schen Ge­schich­te in Ver­bin­dung; sie wur­de spä­te­stens mit dem Aus­klang des 20. Jahr­hun­derts aus un­ter­schied­lich­sten Grün­den als die Staats­form an­ge­se­hen, die auch au­ßer­halb so­ge­nann­ter west­li­cher Ge­sell­schaf­ten an­zu­stre­ben und zu im­ple­men­tie­ren wä­re (das war teil­wei­se ein Miss­ver­ständ­nis [auch im Zu­ge der Re­de vom En­de der Ge­schich­te], ist ei­ne eu­ro- oder west­lich zen­trier­te Sicht, eben: ahi­sto­risch, idea­li­siert und mit Macht­an­sprü­chen ver­knüpft, al­so ei­gent­lich ko­lo­ni­al ge­dacht [Af­gha­ni­stan, Irak, Ukrai­ne]).

    Me­di­en er­zeu­gen letzt­end­lich und ge­mein­sam mit un­se­rem Ge­hirn Rea­li­tä­ten, je nach­dem wel­che man nutzt und wel­che nicht, was man an­er­kennt oder ver­wirft und dem was ir­gend­wie un­be­merkt (un­be­wusst) wei­ter wirkt; das war schon im­mer so, weil man vie­les was man wis­sen möch­te oder muss, nicht durch ei­ge­ne An­schau­ung prü­fen kann, son­dern auf Ver­mitt­lung an­ge­wie­sen ist; heu­te al­ler­dings hat die Prä­senz und die Nut­zung elek­tro­ni­scher (di­gi­ta­ler) Me­di­en ein Aus­maß an­ge­nom­men, das frü­her nicht denk­bar war (und ei­ne ei­ge­ne Dy­na­mik ent­fal­tet).

    Der Be­griff »Neo­li­be­ra­lis­mus« ist ein Kampf­be­griff ge­wor­den, der für ei­nen ra­di­ka­len Li­be­ra­lis­mus steht, für mög­lichst we­nig Staat und gro­ße in­di­vi­du­el­le und öko­no­mi­sche Frei­heit: Hi­sto­risch ge­se­hen ist das we­nig ver­ständ­lich und es scheint auch den of­fen­sicht­li­chen In­ter­es­sen der­je­ni­gen zu wi­der­spre­chen, die den Be­griff ver­wen­den (der Neo­li­be­ra­lis­mus war zu­min­dest auch die Idee so­zia­le Ge­dan­ken mit dem frei­en Markt zu ver­bin­den; heu­te wür­de man noch »öko« an­hän­gen). Für Leu­te, die Po­si­tio­nen na­he des Li­ber­ta­ris­mus ver­tre­ten, ist der Neo­li­be­ra­lis­mus (hi­sto­risch ge­se­hen) »Links­ab­weich­ler­tum« (weil er ei­nen Zu­satz zum Li­be­ra­lis­mus dar­stellt, der nicht be­nö­tigt wird, eben »neu« ist).

    Wie auch im­mer: Die­je­ni­gen die für Frei­heit ein­tre­ten, müs­sen (oder müss­ten) sich da­mit aus­ein­an­der­set­zen wie Frei­heits­kon­flik­te ge­löst wer­den kön­nen. Dar­an sind sie zu mes­sen. Und das be­deu­tet auch, dass man über Kon­zep­te nach­den­ken muss (»Wer­te«), die jen­seits der Frei­heit Be­rech­ti­gung ha­ben und die­se Kon­flik­te lö­sen.

  26. Da muss ich wi­der­spre­chen: der Be­griff »Neo­li­be­ra­lis­mus« war nie ein de­si­gna­ti­ver Be­griff, son­dern von An­fang an ein kri­ti­scher, bzw. po­le­mi­scher Be­griff, zu­nächst ge­gen Mor­ton Fried­man. Er ist nicht mal am­bi­va­lent, und nie als Be­zeich­nung ei­ner Wirt­schafts­po­li­tik ge­braucht wor­den, für die man selbst ger­ne ein­tre­ten wür­de. Neo­li­be­ral sind im­mer die an­de­ren...

  27. Ich ver­wen­de den Be­griff »Neo­li­be­ra­lis­mus«, um ei­ne Ideo­lo­gie zu be­zeich­nen, die sich zur Le­gi­ti­mie­rung ei­ner be­stimm­ten Wirt­schafts­po­li­tik her­aus­ge­bil­det hat. Die­se Wirt­schafts­po­li­tik wur­de in der Ära That­cher und Rea­gan be­gon­nen und in zahl­rei­chen west­li­chen Län­dern oh­ne gro­ße Un­ter­bre­chun­gen, na­tür­lich mit Ad­ap­tio­nen, bis heu­te fort­ge­setzt. Die Ideo­lo­gie, die ich mei­ne, hat sich von An­fang an als ideo­lo­gie­frei (in die­sem sinn »frei­heit­lich«) aus­ge­ge­ben. Und sie ging und geht ein­her mit der Kom­mer­zia­li­sie­rung von kul­tu­rel­len Pro­duk­ten, die ih­rer­seits zu ei­nem im­mer be­deu­ten­de­ren Wirt­schafts­fak­tor wur­den und wer­den. Ei­ne Au­torin hat in ei­nem frü­hen Rück­blick auf die An­fän­ge des Neo­li­be­ra­lis­mus von »Ter­ror der Öko­no­mie« ge­spro­chen. An­fang des 21. Jahr­hun­derts kann man viel­leicht spe­zi­fi­zie­ren: Ter­ror der Fi­nanz­wirt­schaft. Was m. E. zu we­nig be­merkt wird, ist, daß die­se ideo­lo­gie­freie Ideo­lo­gie oh­ne di­ri­gi­sti­sche Maß­nah­men in die Denk- und Ver­hal­tens­wei­sen der Mas­sen ein­ge­sickert ist. Oft auch in die Köp­fe von Leu­ten, die ih­rem Selbst­ver­ständ­nis nach »ge­gen« den Neo­li­be­ra­lis­mus sind. Für die Pra­xis von De­mo­kra­tie hat das na­tür­lich ge­wis­se Fol­gen.
    Ob das Wort »Neo­li­be­ra­lis­mus« an­ge­mes­sen ist für die Be­schrei­bung die­ser Pro­zes­se, weiß ich nicht. Mit »li­be­ral« wur­de in der Ge­schich­te schon al­ler­lei ver­bun­den wor­den.

  28. Das ist ne gu­te Be­schrei­bung. Ins­be­son­de­re die Glatt­ei­sig­keit, die al­le Va­ri­an­ten des Frei­heits­be­griffs in­zwi­schen be­kom­men ha­ben. Ich ste­he mit all die­sen Be­grif­fen auf Kriegs­fuß und be­nut­ze kei­ne die­ser Vo­ka­beln: Wer »Frei­heit« sagt, be­trügt.
    Auch rich­tig: das Den­ken, die Prio­ri­tä­ten ha­ben sich »ideo­lo­gie­frei« ver­än­dert, d.h. die Ein­wir­kung ei­ner Ideo­lo­gie lässt sich nur in­di­rekt be­le­gen. Sie tritt nicht ex­pli­zit auf. Frei­heit ist wich­tig für die Wirt­schaft; die Er­for­der­nis­se der De­mo­kra­tie ste­hen hint­an. Wo­zu war die­ses Teil­nah­me-Sy­stem gleich noch­mal gut, das fragt man sich all­mäh­lich... Braucht man das, nur weil es al­ter­na­tiv­los ist?!

  29. Wie ge­sagt: Wer für Frei­heit ein­tritt, soll­te auch an­füh­ren wie er Frei­heits­kon­flik­te lö­sen möch­te; tut er das nicht, ver­tritt er den ei­ge­nen Vor­teil oder die In­ter­es­sen ir­gend­ei­ner Kli­en­tel.

    —–

    Zu et­was, das mir zur Aus­gangs­the­ma­tik zu pas­sen scheint: In der öster­rei­chi­schen Pres­se wur­de un­längst ein Ar­ti­kel zur Kin­der­er­zie­hung ver­öf­fent­licht, der ei­ni­gen Wir­bel her­vor­ge­ru­fen hat (das Ver­sa­gen in­ter­ner Kon­trol­le hat vor ei­ni­ger Zeit die NZZ ein­ge­stan­den, nun die Pres­se).

    Ich fin­de den Um­gang mit die­sem Text selt­sam, an­de­rer­seits aber auch wie­der lo­gisch, durch­aus im Sinn des Wi­der­spruchs der oben ge­äu­ßert wird, wir ha­ben ei­ne ho­he Prä­senz von Ge­walt­dar­stel­lun­gen in Ki­no, Fern­se­hen, Nach­rich­ten und Com­pu­ter­spie­len, kön­nen aber kaum da­mit um­ge­hen, wenn sich je­mand – durch­aus ent­ge­gen dem ge­sell­schaft­li­chen Kon­sens – für den Ein­satz von mo­de­ra­ter Ge­walt als ul­ti­ma ra­tio in der Kin­des­er­zie­hung aus­spricht (Stel­lung­nah­men auch dort und dort; an­geb­lich wur­den auch Klei­nig­kei­ten nach­träg­lich ge­än­dert).

    Man fin­det ei­ni­ge ab­wä­gen­de po­stings un­ter der Stel­lung­nah­me der Re­dak­ti­on, aber auch vie­le, die ich als selbst­ge­recht oder bi­gott be­schrei­ben wür­de; es scheint mir, dass we­ni­ge, das, was der Ar­ti­kel auch an­spricht, tat­säch­lich nach­voll­zie­hen oder ge­nau ge­nug le­sen, wie wohl ich da­mit nicht sa­ge, dass ich dem Au­tor über­all zu­stim­me: Tat­säch­lich aber muss ein Kind, das nicht als Er­wach­se­ner an ei­ner Per­sön­lich­keits­stö­rung lei­den soll, ler­nen wo und was Gren­zen sind und wel­che Kon­se­quen­zen sein Han­deln hat (wo­für glau­be ich, die Stra­fe ste­hen soll). Man­che for­dern, so scheint es, ei­ne Art hei­le Welt, die nur ein Be­trug sein kann (Schmerz, Trä­nen, Ent­beh­rung und Ent­täu­schung sind nicht im­mer zu ver­hin­dern und ste­hen meist in Zu­sam­men­hang mit ei­nem Lern­vor­gang [dass ich ein­mal als Kind auf ei­ne hei­ße Herd­plat­te ge­grif­fen ha­be, weiß ich heu­te noch]). Dass Kon­se­quenz im Um­gang mit Kin­dern wich­tig ist, kann man kaum leug­nen, dass es Si­tua­tio­nen gibt, mit de­nen man prak­tisch kaum fer­tig wird, auch nicht: Was tut man, wenn ein Kind ei­ne Milch­schnit­te, die man ihm auf­ge­macht hat, wut­ent­brannt auf den Bo­den wirft und ei­ne neue for­dert, bloß weil die beim Öff­nen in der Mit­te aus­ein­an­der ge­bro­chen ist? Ihm ei­ne neue brin­gen?

    Ich mei­ne nicht, dass man es schla­gen soll, aber al­le die sich da recht wohl­feil zu Wort mel­den, könn­ten das mal prak­tisch er­läu­tern.

  30. Ei­ne nach­denk­li­che­re Be­trach­tung im Pro­fil:

    »Der Tod ei­nes durch ei­ne sie­dend-hei­ße Straf­du­sche mal­trä­tier­ten Mäd­chens lö­ste in der Wie­ner Twit­ter-Bubble evi­den­ter­ma­ßen we­ni­ger Fu­ror aus als Gre­bers Text. Die­se wah­re Tra­gö­die wur­de in an­de­ren Fo­ren ab­ge­han­delt – wo schlech­ter ver­dient und ge­lebt wird: in den Le­ser­brief­spal­ten von „Heu­te“ und „Kro­ne“. Die ein­zi­ge Ge­mein­sam­keit der Fäl­le be­stand in der Kri­tik an der man­geln­den Här­te des Staats­an­walts ge­gen­über dem je­wei­li­gen Kinds­va­ter.«

    Es ist schon in­ter­es­sant und bei­na­he be­äng­sti­gend wie da Me­cha­nis­men grei­fen und sich ver­stär­ken; in Zu­kunft wird man war­ten müs­sen, bis sich der Sturm ge­legt und die Ka­ra­wa­ne wei­ter ist, um über­haupt noch dis­ku­tie­ren zu kön­nen (oder sich wo an­ders hin zu­rück­zie­hen müs­sen). — Und was da al­les auf der Strecke bleibt: Be­dacht, Ar­gu­ment, Ver­nunft, Ge­nau­ig­keit, Le­se­ver­mö­gen, Nach­den­ken, ... ge­ra­de weil der Text am­bi­va­lent ist und ja, ei­nen Nor­men­ver­stoß be­inhal­tet (der auch zu­recht kri­ti­siert wird). — Kön­nen die­se Mo­men­te von Fremd­heit, die Kon­fron­ta­ti­on mit et­was an­de­rem, von ei­ner an­geb­lich li­be­ra­len Ge­sell­schaft nicht er­tra­gen wer­den? Müss­ten sie das nicht? Hie­ße das an­dern­falls nicht bei­na­he glei­ches mit glei­chem zu ver­gel­ten?

  31. Re­flex­haft, ar­cha­isch, trieb­ge­bun­den, so kom­men mir vie­le der Ant­wor­ten vor; ei­ne un­be­wuss­te »Fehl­funk­ti­on« von de­mo­kra­ti­scher Öf­fent­lich­keit (so wie Dem­ago­gie und Po­pu­lis­mus be­wuss­te sind).

  32. Zu Gre­ber und dem Sturm-Ge­zwit­scher: es gibt The­men, die ha­ben den Je­der­mann-Sta­tus. Da­zu ge­hö­ren: Sex, Krieg, Ver­bre­chen, Geld, Nah­rungs­mit­tel, etc. Da gibt es (im Prin­zip) kei­ne Schich­ten, Par­tei­en, oder Welt­an­schau­ungs­frak­tio­nen, das ist ein »of­fe­nes Feld«, wie der Dich­ter sagt.
    Wenn’s um Er­zie­hung geht, und ein Ver­bre­chen im Kon­text vor­kommt, ist na­tür­lich der Teu­fel los. Der ein­zi­ge Aspekt, den auch ich von an­de­ren Me­di­en-Er­eig­nis­sen her ken­ne, ist der Kon­flikt zwi­schen »Ver­bie­tern« (non-nor­ma­tiv) und »Er­lau­bern« (nor­ma­tiv). In der Tat ist die Ma­trix ein biss­chen Schi­zo... Wir ken­nen sie all­zu gut. Vor 100 Jah­ren war das noch kei­ne Über-Kreuz-Kom­mu­ni­ka­ti­on. Spä­te­stens mit Ha­ber­mas (als Da­tum) ha­ben die re­ak­tio­nä­ren Kräf­te ei­ne neue Stra­te­gie ent­deckt. Und ja, dar­in liegt auch ei­ne der größ­ten Her­aus­for­de­run­gen für den Li­be­ra­lis­mus. Sprich: der Feind steht nun im ei­ge­nen La­ger.
    Mit Nietz­sche, würd ich so sa­gen: die li­be­ra­le Ge­sell­schaft ver­tei­digt die An­ar­chie des gu­ten Ge­wis­sens. Je­dem Macht­pro­blem (Er­zie­hung) geht sie aus dem Weg, oder be­kämpft die ak­ti­ven Kräf­te mit Po­le­mik, Lärm, De­nun­zia­ti­on.

  33. Die­sen Ar­ti­kel in der Pres­se – Ver­fas­ser ist ein be­stall­ter Re­dak­teur der Zei­tung! – ha­be ich nun ge­le­sen. Man muß es zu­nächst ein­mal in al­ler Klar­heit fest­stel­len: Gre­ber ver­tei­digt Ge­walt ge­gen Kin­der als Er­zie­hungs­mit­tel. Da­nach aber emp­fiehlt sich, wie me­tep­si­lo­me­na be­tont, ge­naue und ab­wä­gen­de Lek­tü­re. Tat­säch­lich kann auch ich vie­les von dem, was da ge­schrie­ben wird, un­ter­schrei­ben, vor al­lem die ein­lei­ten­den Be­mer­kun­gen. Blo­ßes Lais­sez-fai­re ist kei­ne Er­zie­hung, nützt den Kin­dern nicht und ist ei­nes der Struk­tur­pro­ble­me in den Ge­sell­schaf­ten west­li­chen Typs.
    Al­ler­dings hat es mich gleich zu Be­ginn mei­ner Lek­tü­re ge­ris­sen (pas­siert bei auf­merk­sa­mem Le­sen häu­fig). Der Mann be­zeich­net sein ach so wun­der­ba­res Kind als »pfle­ge­leicht«. Ge­wiß, ei­ne flott hin­ge­wor­fe­ne, in der Um­gangs­spra­che heut­zu­ta­ge ver­brei­te­te Flos­kel – was an­de­res soll man er­war­ten von der Jour­nail­le, die es ein­ge­stan­de­ner­ma­ßen viel zu ei­lig hat, um Sprach­be­wußt­sein wal­ten zu las­sen. Als »pfle­ge­leicht« wür­de ich Ge­brauchs­ge­gen­stän­de be­zeich­nen, aber kei­ne Men­schen. Der be­wußt­lo­se Ge­brauch von Flos­keln sagt et­was über Men­schen. Mir ist die osten­ta­ti­ve Kin­der­freund­lich­keit Gre­bers so­fort su­spekt ge­wor­den. Ich glau­be ihm nach der Lek­tü­re sei­nes Ar­ti­kel nicht, daß die Er­zie­hung in sei­nem Haus so wun­der­bar glatt (in­klu­si­ve klei­ner Ge­walt­an­wen­dun­gen) ab­läuft, wie er vor­gibt. Mein Bi­got­te­rie­ver­dacht hat sich nach dem En­de der Lek­tü­re er­här­tet. Da fin­de ich un­be­wuß­te Selbst­wi­der­sprü­che, her­vor­lu­gen­de Schi­zo­phre­nie (@Sophie). Gre­ber legt sich sei­nen klei­nen Sohn über die Schen­kel, um ihn – na­tür­lich nur »leicht«, eh klar! – zu ver­soh­len. Die Hand­lung wird aber so­gleich ab­ge­bro­chen, Va­ter und Kind la­chen dar­über. Was ist das, wenn nicht In­kon­se­quenz? Die­sel­be In­kon­se­quenz, die er an­de­ren El­tern vor­wirft. Wer macht sich da zum Clown, wenn nicht Gre­ber? Was für ein Er­zie­hungs­mit­tel soll die­se Lu­stig­keit sein?
    Ich le­se und über­den­ke sol­che Stel­lung­nah­men wie die des Pres­se-Re­dak­teurs oh­ne dau­ern­den Be­zug auf theo­re­ti­sche, ideo­lo­gi­sche usw. Fra­gen. Ich bin selbst Va­ter, mei­ne Toch­ter ist jetzt acht Jah­re alt. Ich ha­be sie nie ge­schla­gen, an den Oh­ren ge­zo­gen, ver­sohlt. An­ders als Ger­ber (oder wie er heißt) fin­de ich die­se Mit­tel nicht an­ge­mes­sen. Vor al­lem aber: Ich kann mir mich als vor­sätz­li­chen Ge­walt­tä­ter ge­gen­über ei­nem Kind nicht vor­stel­len und ha­be mich in ei­nem in­zwi­schen schon recht lan­gen Er­wach­se­nen­le­ben nie in die­ser Form be­tä­tigt. Ich kann mein Kind nicht schla­gen. (Ein­mal wur­de es von mir so­gar ge­for­dert. Ab­ge­lehnt! Un­mög­lich!)
    Was ich al­ler­dings ver­ste­hen kann, ist Ge­walt­an­wen­dung im Af­fekt. Das Zu­sam­men­le­ben mit man­chen Kin­dern ist schwie­rig, ner­ven­auf­rei­bend, an­stren­gend. Wenn ich mei­nem Kind zum Bei­spiel sa­ge, es soll sich be­ei­len (was ich mei­stens nicht gern tue, aber je grö­ßer sie wer­den, Schu­le etc., de­sto häu­fi­ger ist es »not­wen­dig«), kann es sein, daß ich es schub­se, wenn es mei­ner Auf­for­de­rung nicht nach­kommt. Auch sol­che Hand­lun­gen sind nicht »gut«, al­ler­dings ver­ständ­lich, kaum je­mand wird von sich sa­gen kön­nen, er hät­te so­was nie ge­tan oder wer­de es nie tun. Die Gren­zen zwi­schen Auf­for­dern, Schub­sen, Ge­walt­an­wen­dung sind frei­lich un­klar, es gibt da ei­ne Zo­ne des Über­gangs. Ge­nau­so we­nig wün­schens­wert wie Ge­walt im Um­gang mit Kin­dern fin­de ich die Ten­denz zur Un­kör­per­lich­keit, die der bi­got­te Mo­ra­lis­mus des 21. Jahr­hun­derts för­dert.
    Wie ge­sagt, ich be­zie­he mich hier auf Hand­lun­gen im Af­fekt. Vor­sätz­li­che Ge­walt­an­wen­dung als Er­zie­hungs­mit­tel ge­gen­über Kin­dern ist ab­zu­leh­nen, die ent­spre­chen­de Norm soll­te ge­sell­schaft­li­che (und recht­li­che) Gül­tig­keit ha­ben.

  34. Er­zie­hung ist pas­sé, das ist des Pu­dels Kern. Er­zie­hung war, als die Mut­ter noch zu­hau­se war. Es war ei­ne Auf­ga­be. Die sog. Er­zie­hung wird heu­te von den Dis­zi­pli­nar­mäch­ten (Fou­cault) vor­ge­nom­men, die Or­ga­ni­sa­ti­on der Ge­sell­schaft lässt nichts an­de­res mehr zu. Des­halb lacht der Re­dak­teur: weil er weiß, dass er sich nicht drumm küm­mern muss. Er­zie­hung ist »leicht« ge­wor­den.
    Al­ler­dings soll­te man nicht ver­ges­sen, dass die El­tern­schaft ei­ne »Rol­len­auf­ga­be« und kein »Brut­pfle­ge­pro­gramm« ist. Al­le El­tern sind an­ge­lern­te Hilfs­kräf­te. Die an­fal­len­de Rol­len­di­stanz (Nach­den­ken über Er­zie­hung) greift heu­te schnel­ler als vor 40–50 Jah­ren. Da­zu kom­men die Pa­ra­dig­men der Kör­per­lo­sig­keit und Ge­walt­frei­heit. In­tel­lek­tu­el­le Al­bern­heit und Un­red­lich­keit sind des­halb vor­pro­gram­miert.

  35. @Sophie
    Daß Er­zie­hung ob­so­let wird, glau­be ich nicht. Aus dem ein­fa­chen Grund, daß El­tern ja mit ih­rer »Brut« zu­sam­men­le­ben müs­sen. Das kann un­ter Um­stän­den die Höl­le sein.
    End­gül­tig von ex­tra­fa­mi­liä­ren Dis­zi­pli­nar­mäch­ten über­nom­men wird die Er­zie­hung der Ein­zel­nen erst dann, wenn die Kin­der in An­stal­ten ge­steckt wer­den, auch nachts, am Wo­chen­en­de, in den Fe­ri­en. Es gibt der­zeit Ten­den­zen in die­se Rich­tung, aber auch in die ge­gen­tei­li­ge.
    Da­bei muß ich mir selbst ein­wen­den, daß durch den heu­ti­gen Dau­er­zu­griff der kom­mu­ni­ka­ti­ons­tech­ni­schen Me­di­en auf die Pri­vat­sphä­re Kin­der ru­hig­ge­stellt wer­den kön­nen. Zwei­jäh­ri­ge Zom­bies vor dem Bild­schirm, das darf ich hin und wie­der in ge­wis­sen Wohn­zim­mern oder im Zug be­ob­ach­ten. Selbst El­tern, die selbst­be­stimm­ten Er­zie­hungs­leit­li­ni­en zu fol­gen vor­ge­ben, schlie­ßen ih­re Kin­der an ir­gend­ein Me­di­um an, weil sie Ru­he wol­len. Viel­leicht soll­te man den Herrn Gre­ber fra­gen, wie er’s mit Game­boy und In­ter­net hält. Gret­chen­fra­ge.
    Sol­len die Ge­sell­schaf­ten, in de­nen wir le­ben, nicht ganz ver­kom­men (die Aus­sicht be­steht, da ge­be ich Ih­nen recht), wer­den Er­zie­hung und Bil­dung ernst­haf­ter als bis­her zum The­ma ge­macht wer­den müs­sen. Jen­seits von all den (Pseudo-)Reformen und Re­for­men der Re­for­men des Sy­stems, in dem man im­mer sel­te­ner auf Lehr­per­so­nen trifft, die die­sen Na­men ver­die­nen.
    Auch De­mo­kra­tie, wenn man über­haupt dar­an fest­hal­ten will, wird sich in Zu­kunft mit der Bil­dungs­fra­ge kurz­schlie­ßen müs­sen. Sol­len se­kun­dä­re und pri­mä­re An­alpha­be­ten über das all­ge­mei­ne Schick­sal be­stim­men, nur weil sie die Mehr­heit sind?

  36. Ich glau­be auch, dass Er­zie­hung nicht ob­so­let ist. Aber sie wird im­mer mehr als Ein­griff in die Per­sön­lich­keit ge­deu­tet wer­den. In mei­ner wei­te­ren Um­ge­bung gilt es schon als Ein­griff, wenn der 7jährige kein Smart­phone hat. Man hat dann Angst, er wer­de in­ner­halb der Schul­klas­sen­ge­mein­schaft nicht mehr ernst ge­nom­men. Statt Kin­dern ein ge­sun­des Selbst­be­wusst­sein mit­zu­ge­ben, wel­ches ih­nen er­mög­li­chen könn­te auf der­lei »An­grif­fe« sou­ve­rän zu re­agie­ren, gibt man dem Main­stream nach. Da ich sel­ber kei­ne Kin­der ha­be und nicht weiss, wie ich mich ver­hal­ten wür­de, hö­re ich lie­ber auf.

    Die weit­aus in­ter­es­san­te­re Fra­ge ist, ob das de­mo­kra­ti­sche Stimm­recht an ei­nen ge­wis­sen Grad an Bil­dung ge­kop­pelt wer­den soll­te. Das ist »ein wei­tes Feld«. Prak­tisch ist ei­ne sol­che Ver­knüp­fung un­mög­lich, da Gleich­heit ein ein es­sen­ti­el­ler Be­stand­teil des­sen ist, was wir De­mo­kra­tie nen­nen. Al­les an­de­re wä­re ein Rück­fall in ei­ne Art Drei­klas­sen­wahl­recht.

    Der Trend geht üb­ri­gens in die an­de­re Rich­tung: Der Ge­dan­ke greift um sich, auch min­der­jäh­ri­gen Kin­dern über ih­re El­tern Stimm­rech­te zu­zu­ge­ste­hen.

    Der Ge­dan­ke, die Bil­dung zu ver­bes­sern, klingt gut, aber auch hier ist die Ten­denz da­hin­ge­hend, dass, um be­stimm­te po­li­ti­sche Zie­le zu er­rei­chen (so­und­so­viel Pro­zent ei­nes Jahr­gangs sol­len die Ma­tu­ra er­lan­gen), das Ni­veau eher nach un­ten ge­drückt wird.

  37. Ich glau­be auch, daß ei­ne en­ge Ver­knüp­fung von Bil­dung und Zu­gang zu de­mo­kra­ti­schen Ent­schei­dun­gen prak­tisch nicht durch­führ­bar ist. Man wird nicht mehr tun kön­nen, als Auf­klä­rung zu för­dern und den neu­en Ge­ge­ben­hei­ten an­zu­pas­sen. Al­les in al­lem geht der Trend aber in die Ge­gen­rich­tung. Was soll un­ser­eins – no­lens vo­lens bil­den wir ei­ne Eli­te – an­ge­sichts sol­cher Di­lem­ma­ta an­fan­gen, au­ßer, sie im­mer wie­der be­dau­ernd fest­zu­stel­len? An die­sem Punkt ist mir die Bit­ter­keit der Kal­ten So­phie dann doch ver­ständ­lich. (Eli­as Ca­net­ti be­kann­te sich im fort­ge­schrit­te­nen Al­ter zu sol­cher Bit­ter­keit.)

    Trotz­dem, noch ein­mal: Sieht man sich di­ver­se Über­le­gun­gen zu ei­ner Welt­de­mo­kra­tie an, so steht die For­de­rung »One per­son, one vo­te« im Zen­trum. In der glo­ba­len Per­spek­ti­ve zeigt sich aber noch deut­li­cher als in der na­tio­na­len (oder eu­ro­päi­schen), daß die Vor­aus­set­zun­gen für de­mo­kra­ti­sches Ab­stim­men ex­trem un­ter­schied­lich sind. Ei­ne Welt­de­mo­kra­tie wird erst dann prak­tisch durch­führ­bar sein, wenn es ei­ne an­nä­hern­de Gleich­heit (ja!) der Vor­aus­set­zun­gen (Bil­dung, Wis­sen, Zu­gang zu In­for­ma­ti­on, aber auch Le­bens­be­din­gun­gen) ge­ge­ben ist.

    Die Sen­kung des Min­dest­al­ters für Wah­len, in Öster­reich der­zeit bei 16 Jah­ren, fin­de ich auch nicht sinn­voll. Mei­nes Er­ach­tens soll­ten Kin­der und auch Ju­gend­li­che vom po­li­ti­schen Sy­stem ver­schont blei­ben. Was na­tür­lich nicht ge­gen po­li­ti­sche Bil­dung auch schon in frü­hem Al­ter spricht. Bei klei­ne­ren Kin­dern stel­le ich fest, daß sie an dem, was Po­li­tik im en­ge­ren Sinn ist, kein In­ter­es­se ha­ben, und die­se In­ter­es­se­lo­sig­keit fin­de ich manch­mal ge­ra­de­zu vor­bild­lich. Kin­der ha­ben sehr wohl In­ter­es­se an be­stimm­ten po­li­ti­schen Fra­ge­stel­lun­gen, Pro­ble­men usw., z. B. die Um­welt be­tref­fend. Trotz­dem wür­de ich ih­nen nicht un­be­dingt Ta­ges­zei­tun­gen für Kin­der, die’s in­zwi­schen auch gibt, vor die Na­se hal­ten. Re­den, Schau­en, Hö­ren ist wich­ti­ger.

  38. Ich bin mir in­zwi­schen nicht mehr sehr si­cher, ob Bil­dung al­lei­ne vor po­li­ti­schen, so­zia­lem oder öko­no­mi­schen Ex­tre­mis­mus wirk­lich schützt. Zwar lässt sich die lan­ge ver­brei­te­te The­se, die Na­zis hät­ten sich vor al­lem zu­nächst aus dem Mit­tel­stand und Bür­ger­tum re­kru­tiert, viel­leicht in die­ser Ab­so­lut­heit nicht mehr auf­recht er­hal­ten. Tat­sa­che ist aber, dass Bil­dung und In­tel­li­genz nicht per se ei­ne Si­cher­heit für ei­ne de­mo­kra­ti­sche Ge­sin­nung dar­stellt.

    In der re­prä­sen­ta­ti­ven De­mo­kra­tie geht man ein­fach da­von aus, dass die ex­tre­men An­sich­ten durch die rei­ne Mas­se an »ver­nünf­ti­gen« Stim­men re­la­ti­viert wird und die Mehr­heit am En­de als ein ra­tio­na­les Er­geb­nis vor­lie­gen wird. Da­mit emo­tio­na­le Strö­mun­gen nicht doch ein ver­zerr­tes Er­geb­nis pro­du­zie­ren, sind zahl­rei­che Si­cher­heits­me­cha­nis­men im po­li­ti­schen Sy­stem ein­ge­baut (zwei­te Par­la­ments­kam­mer; Ge­wal­ten­tei­lung, usw). Pro­ble­ma­tisch wird es im­mer dann, wenn Macht­struk­tu­ren auf meh­re­ren Ebe­nen so­zu­sa­gen »gleich­ge­schal­tet« sind, d. h. wenn die Macht­kon­trol­le de­nen ob­liegt, die die Macht sel­ber ha­ben (z. B. so­ge­nann­te Gro­ße Ko­ali­tio­nen).

    Der Ruf nach bes­se­rer Bil­dung ist in so­ge­nann­ten Drit­te-Welt-Län­dern von Re­le­vanz und auch un­be­dingt not­wen­dig. In In­du­strie­ge­sell­schaf­ten führt dies da­zu, Bil­dung quan­ti­ta­tiv zu in­ter­pre­tie­ren. Da ist dann plötz­lich wich­tig, wie hoch die Ab­itur­quo­te in Bun­des­land X ist – und zwar un­ab­hän­gig da­von, wel­che Qua­li­tät die­ses Ab­itur noch hat.

  39. Er­zie­hung ist wohl, von Grund­sät­zen ab­ge­se­hen, ei­ne An­ge­le­gen­heit die sich aus dem Wech­sel­spiel von »Er­zie­her« und »Er­zo­ge­nem« er­gibt, da­her im­mer in­di­vi­du­ell und evo­lu­tiv (al­so of­fen) ist und bei­de Sei­ten ver­än­dert (er­zieht), wes­we­gen al­le staat­li­chen In­sti­tu­tio­nen, von Ru­di­men­tä­rem ab­ge­se­hen, hier­an schei­tern müs­sen.

    Ich he­ge manch­mal die Hoff­nung, dass viel­leicht nur je­ne »üb­rig blei­ben« und zur Wahl ge­hen, die ein In­ter­es­se an Po­li­tik ha­ben und sich mit ihr be­schäf­ti­gen. Das ist zwar aus re­prä­sen­ta­ti­ven Ge­sichts­punk­ten ei­ne Ka­ta­stro­phe, könn­te aber trotz­dem ei­ne sinn­vol­le Po­li­tik be­deu­ten (ob­wohl es ein Spe­zi­al­fall ist, kommt mir da die oft nied­ri­ge Be­tei­li­gung bei den di­rekt­de­mo­kra­ti­schen Ent­schei­dun­gen in der Schweiz, in­klu­si­ve Er­geb­nis­se, in den Sinn).

    Ich ver­ste­he Bil­dung als ei­nen im Er­geb­nis of­fen­blei­ben­den Pro­zess (ge­bil­det zu sein ist ei­ne Apo­rie); Mit­ge­fühl, Em­pa­thie und In­tel­li­genz sind da­mit nicht not­wen­dig ver­knüpft. — Es gibt in­tel­li­gen­te Men­schen, die »rand­stän­di­ge« Par­tei­en wäh­len, ei­nen Vor­gang den an­de­re, we­ni­ger in­tel­li­gen­te, als in­tel­lek­tu­el­le Selbst­auf­ga­be an­se­hen wür­den (In­tel­li­genz und In­tel­lekt sind et­was an­de­res als Ver­nunft; Mo­ti­ve eben­so; aber all das spielt in der Po­li­tik ei­ne Rol­le).

    De­mo­kra­tie ist aber auch, glau­be ich, lo­gisch und fol­ge­rich­tig, wenn man im Sin­ne der Mo­der­ne vom In­di­vi­du­um aus denkt und den Staat (die Ge­mein­schaft) als Sum­me in­di­vi­du­el­ler Rech­te und Ver­ant­wor­tun­gen be­greift: Da kommt man an der grund­sätz­li­chen Idee, dass al­le ge­mein­sam über die An­ge­le­gen­hei­ten, die al­le be­tref­fen, in ir­gend­ei­ner Form (di­rekt oder re­prä­sen­ta­tiv) be­fin­den, gar nicht vor­bei.