In den letzten Tagen konnte man beobachten, wie Peter Sloterdijks Diktum von der Streßgesellschaft von den Medien mit Bravour umgesetzt wurde.
Die Rede ist von den vermeintlichen Einbrüchen auf den internationalen Aktienmärkten. Tatsächlich scheinen diese auf den ersten Blick dramatisch; Rückgänge der Indizes von 5–7% an einigen Börsen an einem Tag sind sicherlich ungewöhnlich. Aber das reicht nicht. Sie werden als halbe Apokalypse geschildert. Verbrauchermagazine geben rührende Ratschläge, die mit dem Begriff »Ruhe bewahren« zusammengefasst werden können.
Ein Ratschlag, der mit dem Hype, der da unablässig erzeugt wird, schwer in Einklang zu bringen ist. Da ist von Milliarden Euro die Rede, die »vernichtet« worden sind – ein hanebüchender Unsinn, weil die meisten Anleger ihre Aktien gehalten haben (s. u.). Da wird sich schnell an den höchsten Aktienkurs orientiert und ein imaginärer Verlust ausgerechnet.
Man nehme die BASF-Aktie.
Sie schloss heute mit einem Kurs von 52,11 €. Das entspricht in etwa dem Kurs vom Oktober 2010. Vor genau einem Jahr, am 09.08.2010, stand der Kurs bei 45,76 €. Wer damals gekauft hat und heute verkaufte hat also immer noch einen Gewinn von brutto 6,35 € pro Aktie gemacht (das sind mehr als 13%). Verglichen mit den Werten von vor zwei oder drei Jahren sähe die Rechnung noch viel besser aus.
Nicht ganz so günstig fällt die Analyse bei der Daimler-Aktie aus.
Eine Übersicht über die Gewinne und Verluste zu bestimmten Zeiten kann man hier sehen – wobei die Kurse fortlaufend aktualisiert werden.
Die Tabelle zeigt, dass es keine einheitliche Stimmung gibt; einige Unternehmen entwickeln im Vorjahrsvergleich satte Gewinne, andere größere Verluste. Zu berücksichtigen ist dabei, dass der DAX-Wert nicht einfach ein Mittel aus allen Kursen darstellt, sondern die Gewichtungen je nach Unternehmen unterschiedlich ausfallen.
An den Volumina erkennt man, wie viele Aktien am Tag gehandelt wurden. Die Gesamtzahl der BASF-Aktien beläuft sich auf 918.478.694. Hiervon wurden heute 14.928.292 gehandelt. Das sind gerade mal 1,6%. Laut Angaben der BASF wurden im Jahr 2010 im Schnitt 4,2 Mio. Aktien pro Tag gehandelt. Demnach wäre das Handelsvolumen 3,5 x höher als normal. Dennoch kann von einem Panikverkauf oder Panikumsätzen nicht die Rede sein.
Ähnlich sieht die Bilanz bei Daimler aus. Hier sind es knapp 1,4% (1.065.641.97 zu 14.717.062). Das durchschnittliche Handelsvolumen beträgt hier normalerweise 5,7 Mio. Aktien pro Tag.
Ist das nun schon die großen Krise? Problematisch ist, dass Aktien seit längerer Zeit leider immer weniger Indikator für den Wert eines Unternehmens sind. Stattdessen wird die Spekulation mit 2% des Aktienbestandes als meinungsbildend hochgejazzt und der Jargon der sogenannten »Analysten« mit Sachkenntnis verwechselt. Schon klar, dass Ökonomen derzeit die Nerven blank liegen haben. Aber gerade dann sollte man ein bisschen ruhiger analysieren statt dem Panikgeschrei einfach ein Forum zu bieten.
Danke, Gregor, für diese nüchterne Klarstellung. Ich frage mich ja schon seit Jahren, wen dieses tagtägliche Börsengebrabbel eigentlich interessiert, hat doch die große Mehrheit mit Aktiengeschäften nichts zu tun. Dass Börsenzocker, die auf kurzfristigen Profit aus sind, jeden Abend gebannt an den Lippen der Wahrsager von „Börse im Ersten“ o.ä. hängen, ist auch eher unwahrscheinlich. Milliardenverluste wegen der fallenden Kurse? Eine völlig unsinnige Darstellung, aber, so muss man doch fragen: Warum machen die das?
Mir fallen drei Gründe ein. Erstens ist eine solche Berichterstattung relativ einfach, weil sie sich an Zahlen orientiert, die man entsprechend aufbereiten kann. Zum anderen wird damit Aktualität simuliert. Und die Ereignisse sind von grosser Abstraktion – daher können sie sehr schön ausgeschmückt werden, ohne dass es hierüber Belege gibt. Lästige Recherche entfällt zumeist. So spricht man zum Beispiel immer von »Anlegern« – eine amorphe Gruppe, die selten genauer gefasst wird. In Wahrheit handelt es sich u. a. um Fonds- oder Versicherungsmanager, die versuchen bei niedrigen Zinsen irgendwo mehr zu bekommen. Der Boom an den Aktienmärkten nach 2008/2009 ist ja unter anderem darin zu sehen, dass man auf dem Kapitalmarkt zu halbwegs sicheren Konditionen kaum noch Geld anlagen kann (es sei denn, man geht sehr hohe Risiken ein).
Die Programmplanung in der ARD spricht ja Bände. Da folgt der werktägliche Börsenbericht auf die Wettervorhersage. Die Verwandtschaft zwischen den beiden Programmpunkten ist frappierend.
Wobei man der heutigen Wettervorhersage erheblich mehr vertrauen darf, da sie auf einer mittlerweile ziemlich ausgereiften empirische Erfahrung, auf Wissenschaft und hochmoderner Technik basiert. Börsenprophezeiungen hingegen basieren, so wird uns ja auch manchmal treuherzig erklärt, auf „Stimmung“ und „Phantasie“.
Dennoch ist erstaunlich, wie häufig sich der Wetterbericht »vor acht« (ARD; »meteomedia«) von dem der Tagesschau gegen 20.14 Uhr (»DWD«) unterscheidet.
Ein Bekannter von mir hat das Geschehen während des letzten Einbruchs genauer analysiert. Es ging etwa 9 Monate abwärts bis seitwärts, danach 2 Jahre bergauf. Zuerst verkaufen immer die Zocker, das ist dann die Phase, in der die Kurse in den Keller gehen, weil ja nur andere Zocker in dieser Zeit etwas kaufen. Die großen institutionellen Anleger tun gar nichts. Ihre Anteile sind so groß, dass sie sie sowieso nicht verkaufen können. Irgendwann sind dann die verbleibenden Papiere in starken und ruhigen Händen, die Talsohle ist erreicht. Einen Anstieg gibt es aber erst, wenn auch die Zocker wieder Vertrauen gefasst haben.
Das Irrsinnige ist, dass dieser ganze Aktienhandel mit dem Wert der Unternehmen gar nichts zu tun hat, weil – wie du ja geschrieben hast – immer nur wenige Prozent der Aktien ver- oder gekauft werden. Aber diese wenigen Prozent sorgen für die Nachrichten und machen es den Unternehmen unter Umständen schwer, frisches Geld für Investitionen aufzutreiben.
Der eigentliche Grund für die Krisen in den USA oder im Euroraum liegt aber viel tiefer: Mit dem von den Staaten geliehenen Geld wurden ja i.a. durchaus sinnvolle Dinge getan, es sind also reale Werte vorhanden – aber damit ist es nicht ausgestanden, sondern man muss die Renditeerwartungen von privaten Geldgebern bedienen. Wenn das Wachstum der realen Wirtschaft aber hinter den Zinserwartungen der Geldwirtschaft zurückbleibt, dann gibt es nur zwei Optionen: Man streicht die Forderungen oder man druckt Geld (steigert die Inflation).
Letztlich ist die eigentliche Ursache der Krise nur die Gier. In den USA ist das noch offensichtlicher als in Europa: Hier werden die Steuern von den Teeparteiverbrechern so niedrig gehalten, dass der Staat seine Aufgaben nicht mehr erfüllen kann. In Europa ist es etwas schwieriger, weil jeder Staat sich anders entwickelt, aber alle über die gemeinsame Währung aneinander gefesselt sind. Und über Japan redet derzeit niemand, obwohl die mit über 220% Staatsschulden viel stärker als z.B. die USA mit 100% oder Deutschland mit 80% des BIP verschuldet sind.
@Köppnick
Mit Deiner Diagnose des Aktienhandels stimme ich überein. Die BASF-Aktien ist gestern um fast 5% im Wert gefallen – das Handelsvolumen betrug jedoch nur 12 Mio. Aktien.
Ich weiss nicht, ob dieses Phänomen in der Wirtschaft einen Namen hat, aber es ist überall anzutreffen. Im Rohstoffhandel kann man mit minimalem Aufwand Preise (vorübergehend) abstürzen lassen, wenn man es geschickt anstellt. Umgekehrt ist das schon schwieriger, wie man an der Hunt-Affäre in den 70er Jahren sehen kann. Die zeigt im übrigen auch, wie solche Blasen mit eigentlich ganz einfachen Mitteln zum Platzen gebracht werden können.
Interessant ist, das diese von Dir beschriebenen Vorgänge von den Medien als Indizien für beispielsweise die Wirtschaftskraft von Unternehmen (oder sogar Volkswirtschaften) gesehen werden. Das sind sie ja höchstens indirekt. Gefährlich wird es, wenn die Aktivitäten dieser verhältnismäßig kleinen Schar von Spekulanten zu selbsterfüllenden Prophezeiungen mutieren. Über diesen Weg erreichen die Kursabstürze dann tatsächlich das Ziel, was ihnen medial zugesprochen wird.
Die Lösung wäre, dass man den Börsenhandel diversifiziert. Zum einen werden Unternehmen gemäss ihrer ökonomischen Kennzahlen von unabhängigen »Controllern« bewertet (nicht Rating-Agenturen – die sprechen die Sprache dessen, der sie bezahlt). Hierauf wird dann eine Art Kennzahl ermittelt, die unabhängig vom eigentlichen Aktienkurs ist und den realen Wert (annähernd) aufzeigt. Da die Mehrheit der Aktienpakete (bei seriösen Firmen) bei institutionellen Anlegern liegen, die andere Ziele als den kurzfristigen Reibach verfolgen, wäre der Parkettkurs nur noch sekundär und den Spekulanten vorbehalten. Diese könnte man mit einer Börsenumsatzsteuer ein bisschen den Spass verderben. Zwar sollte diese wenn möglich mindestens europaweit eingeführt werden, aber nur Not wäre sie auch nur in Deutschland möglich. Schon um diese psychologisch schlechten und hysterischen Nachrichten einzudämmen. (Zur Not könnte man sie ja in Europa nur in den Ländern einführen, die auf richtigen Seite Auto fahren.)
Den zweiten Teil Deiner Antwort sehe ich etwas anders. Länder wie Italien oder Griechenland haben sich sozusagen im Schatten des Euro billig Geld besorgt. Dies muss natürlich – unabhängig von den Erwartungen der Kreditgeber – zurückgezahlt werden, und sei es auch nur in Form der Zinszahlungen (wie das bei Deutschland bspw. der Fall ist; getilgt wird hier ja auch schon sehr lange nicht mehr). Somit muss der durch das geborgte Geld erwirtschaftete Ertrag höher liegen als die Zinsen, die man am Kapitalmarkt bezahlen muss. Das halte ich zunächst einmal nicht für falsch. Das Problem war nur, dass Teile der Gelder entweder versickert sind oder zur Bedienung kurzfristiger Verbindlichkeiten verwendet wurden (Gehälter der Staatsbediensteten). Somit musste man um die Zinsen zu bezahlen, wieder neue Kredite aufnehmen, usw.
Daher ist es auch ein Fehler, dass die EZB Staatsanleihen fragiler Natur aufkauft und die Gläubiger auszahlt. Das belohnt diese nachträglich noch. Es belohnt aber auch nachträglich das Vorgehen der Staaten. Jetzt werden die maroden Volkswirtschaften (besonders Griechenland) gezwungen zu sparen, was natürlich schnell unsinnig wird, weil gar kein Geld mehr da ist, das ausgegeben werden könnte. Gäbe man Griechenland jetzt wieder Geld, wäre der Effekt in einigen Jahren wieder genau so, es sei denn, man würde die nationale Souveränität des Landes einschränken und das Haushaltsrecht aufheben.
Der Sündenfall der USA wurde von Clinton begangen. Der hob in den 90er Jahren die mehr als 60 Jahre alte Regelung auf, dass Investmentbanken von »normalen« Banken getrennt werden müssen. Damit war der Weg frei, dass Banken irgendwann »systemrelevant« werden. Das wichtige Korrektiv des Kapitalismus, die Insolvenz, war quasi ausgeschlossen.
Nachdem die Bush-Regierung Fannie Mae und Freddie Mac unterstützt hatte, wollte man mit der Insolvenz von Lehman ein Zeichen setzen. Lehman war weitgehend nur Investmentbank geblieben. Aber schon bei AIG knickte die Bush-Regierung wieder ein.
Inzwischen sind die vermeintlichen Staats-Rettungen ja mehr oder weniger zu Rettungen der einheimischen banken geworden. Lässt man Griechenland in die Insolvenz gehen, würde dies in Frankreich und – in kleinerem Rahmen – auch Deutschland einige Banken vor große Probleme stellen.
»Das Brot essen die Bauern... «
Meiner Meinung nach fungiert diese Fixierung auf Börse – als ein immerhin in Zahlen abbildbarer, also vermeintlich objektiver Sachverhalt – als ein Ersatz-Indizes einer Gesellschaft, auf deren Komplexität man sich immer weniger einen Reim machen kann.
Eingeführt wurde das mit dem Aufkommen der Reklamesender bzw. NTV, die sich damit geben die Betulichkeit der ÖR (und mit noch ein paar weiteren aus den USA importierten Formatdetails) einen Anschein von Relevanz und Faktenorientiertheit zu geben versuchten. Außerdem muss man das wohl im Zusammenhang sehen mit den Powerpoint-Albernheiten seinerzeit, mit einer neuen Präsentierkultur und der »Visualisierung« der Dinge unter Beschleunigungs- und damit Verflachungseffekten. (Die berühmten »Fakten Fakten Fakten « bei Focus ohne weitere Informationstiefe.)
Aber noch etwas hängt an den Börsenkursen, und das ist die aberwitzige falsche Relevanz einer Sache, die sich – eigentlich längst bekannt – als durch und durch irreal herausgestellt hat. Jeder »Börsenfachmann« hat in seinem Repertoire – es gibt meist ja keine Erklärungen – , wie alles Börsengeschehen eigentlich »Psychologie« ist, »Intuition und Bauchgefühl«, wie hier die »Zukunftserwartungen« unter Schwarm- und Herdenphänomenen gehandelt werden.
Wenn aber so etwas in sich Verrücktes Klima und Handlungsrahmen sogar der internationalen Politik bestimmt muss ja was dran sein, oder? Auch wenn es tatsächlich auf die allermeisten Menschen auf Erden keine direkte Auswirkung hat. Der sich aber trotzdem die Entscheider unterwerfen und damit zu weitreichenden Entscheidungen sich gedrängt sehen, was wiederum bedeutet, dass die ganze Steuerung der Welt letztlich an einem Framwork aus Konventionen und HokusPokus hängt – was aber niemand ernsthaft gelten lassen kann, weshalb man sich umso mehr fixieren muss auf Pseudo-Rationalität, was deren Trends zum Trend mangels besserer Parameter verstärkt.
Dass die Wirtschaftswissenschaften sich auch immer mehr als Maya herausgestellt haben und eigentlich längst desavouiert sind – wie sich ja auch immer wieder zeigt, dass die ganzen Börsenanalysten eigentlich aus Kistallkugeln lesen und andauernd falsche Prognosen liefern und alles Fachwissen also nichts nutzt – unterstreicht das nur noch.
Und auch die Berichterstattung erzeugt eigentlich längst selber die Ereignisse – wie die Hilflosigkeit den absehbaren Aktionismus nach eingespielten Mustern erwarten lassen. Das Geld ist eigentlich nur mehr für die Banken und die unablässig anwachsende »Blase« von Arithmetik und »Information«, die gar nichts mehr besagen. (Wer versteht denn schon die Billionen, bei denen wir mittlerweile angelangt sind? Wieso gibt es keine richtigen »Schuldigen« mehr bei den Pleiten außer den kleinen Deppen, die sich zu Spekulationen mit Produkten haben hinreißen lassen, die dafür gemacht sind, dass niemand sie versteht? Usw.)
Die Kreisläufe laufen leer in sich selbst, und alle sind wir eigentlich zugleich »Griechenland«, das heißt pleite, wie auch Spielfiguren in einem Baudrillardschen, nicht mehr zu stoppenden »Hypersimulakrum«. Alle leben wir darin: In einer »Welt am Draht«.
Die »richtigen« Schuldigen...
gibt’s doch: Der griechische Staat; Berlusconi; der von Ihnen genannte Kleinsparer, der mal große Welt spielen wollte, Ackermann (der personifizierte Bösewicht mit dem weichen Akzent). Da der Journalismus sich zumeist jenseits jeglicher Sachkenntnis – nein: Neugier – bewegt, reichen diese Bilder meist als Futter. Tatsächlich bleiben die »Zocker«, die Spekulanten, seltsam anonym – niemand will es sein, selbst Ackermann erscheint als Biedermann. Ich erinnere mich an einen Bericht über ihn wo er in ein Deutsche-Bank-Büro in New York (oder Washington?) geht. Auf dem Tisch stand kein Computer!
Stattdessen: die backenprustenden »Devisenhändler«, von denen einer längst Talkshowmeriten genießt, obwohl seine Aussagen von jedem BWL-Studenten im ersten Semester sein könnten. Egal: es zählt – auch hier – die Authentizität, der Stallgeruch. Wenn nichts mehr geht, wird ein Jüngelchen vorgeführt, dass (s)eine Bank betrogen hat. Oder denken Sie an die Lehman-Angestellten, die im T‑Shirt und einem Pappkarton mit Kugelschreibern und Kaffeetasse aus der insolventen Bank kamen. Sie sahen einmal nicht mehr erhaben aus, sondern nur noch lächerlich; gestürzt von sich selber. Vielleicht musste nur deswegen diese Bank schließen – der Bilder wegen.
Ja, aber sind das überhaupt wirkliche „Schuldige“? Ihre Aufzählung ist schlüssig, aber zugleich kommen mir die Genannten vor wie einerseits Zauberlehrling und andererseits disparates Personal. Weil das „System“ so umfassend ist – und mit „Gier ist gut“ wären wir ja alle dabei – hat es kein eigenes wie auch kein eigentliches Gesicht.
(Und es ist auch mit dem guten alten Recht nicht greifbar. Wäre vielleicht interessant zu hören, was Giorgio Agamben dazu sagt.)
Ja, es sind »Schuldige« (also »Täter«), aber auch zugleich (oder wenigstens teilweise) »Opfer«. Also abermals ein Beleg dafür, dass solche – medial geschürten – plakativen Zuordnungen Prozesse und Entwicklungen einfach unzureichend kommentieren und damit – auch wieder so eine Invektive – »verharmlosen«.
Aber beschreibt Sloterdijk diese auf permanente Erregung ausgerichtete Gesellschaft nicht ziemlich genau? Dann bestünde die Umkehr in einer Verweigerung, sich affektiv beeinflussen zu lassen. Wäre dies eine Weltflucht oder – pathetisch ausgedrückt – Weltrettung? Denn die Macht der Erregungsmaschinen besteht ja nur darin, dass unter deren Hysterie Entscheidungen getroffen werden, deren Auswirkungen schwer überblickbar bleiben. Jeder Parlamentarier klagte über die tausende Seiten starke Gesetzesvorlage zu den »Rettungsschirmen«. Es ist eine Maxime eines Einkäufers in der Wirtschaft, sich nicht unter zeitlichen Druck setzen zu lassen.
In dieser Logik wären aber – Verzeihung! – auch KZ-Wärter »Opfer« (und zuallerletzt sind sie es wohl auch). Aber es gibt den Unterschied, und von daher müsste er auch gelten, dass man von einer Innenperspektive der Dinge auf einem ausreichenden Erkenntishöhe ist um die medialen Vereinfachungen ignorieren zu können, um dann doch verantwortlich zun handeln.
(Und, man entkommt hier vielleicht subtilen Pathosformeln nicht, aber es g i b t sie ja auch, die ausdrücklichen Aussteiger – die dann medial wieder zum Zeugen und Zuträger werden. Und – auch wenn ich mir damit selbst widerspreche – dann doch auch das einzelne Gesicht.)
Was ich merke, ist, dass sogar so jemanden wie mich, der sich weit weg eingerichtet hat und sich es meistens zu leisten können glaubt, die Dinge nurmehr zu verfolgen, dass sie mich ab einem bestimmten Punkt doch wieder »heiß« angehen müssen. Und diesen Punkt gibt es eigentlich in jedermann, und sowieso in den Handelnden.
Eigentlich würde ich Sloterdijk zustimmen mit dieser affektiven Enthaltsamkeit: Überhaupt müsste man die Dinge (die Welt) vielleicht vielmehr »schonen«. Doch ist dafür bei der sich überschlagenden Globalisierung wohl zu spät. Und man kommt anscheinend, will man ein gesellschaftliches Palaver organisieren, auch um diese Erregungsmaschinen nicht herum. Man müsste es vielleicht nur erstmal schaffen, den »Panikexperten« zu Wort zu entziehen. Aber die Adressierten, ihr Publikum, scheint mir oft schon viel weiter – zumindest in der Zurückhaltung vor der Erregbarkeit.
Was aber nicht ganz weggeht, ist wohl die gefühlte Dringlichkeit. Und wahrscheinlich wird sie immer wieder jemand bedienen.
Ich rede dieser Täter-Opfer-Dichotomie, die in vorauseilender Pseudo-Menschenfreundlichkeit alles gnadenlos (!) herunternivelliert in keinem Fall das Wort. Im Gegenteil: ich versuchte darzustellen, wie untauglich so etwas ist.
Und Sloterdijks »Du mußt dein Leben ändern« ist natürlich mehr als nur Absenz vom Tagesgeschwätz – es beinhaltet die Verpflichtung, sich nicht nur seines Verstandes zu bedienen, sondern diesen auch »einzusetzen« für andere.
Dann ist das doch eben der gemeinsame Punkt: Eine für jedermann weiter gefasstere Verantwortlichkeit. Jeder in seinem Bereich (wie ja de facto jede Tat ihren gesellschaftlichen Halo hat) statt in der propagierten, teils panisch verfassten Eigenützigkeit. Und übrigens nähert man sich da ja wieder einem leicht altmodischen Prinzip, das man ebenso bei Kant findet wie in der »Christlichkeit« ( eine auch ohne Kirche). Wenn man so will: Einfache »Verbindlichkeiten« gegen die allseitige Überschuldung.
Könnte man also solche Einfachheit gegen eine zahlengesteuerte Welt stellen? Vielleicht entscheidet es sich eben da? Aber wenn man auch immer davon kommen kann...