Ein Gespräch mit Emine Sevgi Özdamar
geführt von Leopold Federmair und Naoko Yuda
Das Gespräch findet im März 2013 in einem Café im Berliner Stadtteil Kreuzberg statt.1
Im Jahr 2009 haben Sie trotz Ihrer Flugangst die Einladung japanischer Universitäten angenommen, dort mehrere Lesungen zu halten. Wir wissen von Ihrer Verehrung für den Filmregisseur Yasujirō Ozu. War das ein Grund, nach Japan zu fahren?
Als ich das Grab von Yasujirō Ozu besuchte, habe ich geweint. Es war der Tag, an dem Barack Obama nach Japan kam.2 Ich musste meinen Koffer am Bahnhof deponieren, damit es am nächsten Tag kein Problem gab bei dem Verkehr, um zum Flughafen zu fahren, Rückflug nach Deutschland. Aber die Schließfächer waren alle verschlossen, man durfte nichts deponieren, damit keine Bomben hochgehen können. Eine Sicherheitsvorkehrung... Und dann sind wir mit meinem Koffer, es regnete auch, in die Stadt, wo Ozu begraben liegt, gefahren. Ich fragte meine Begleiterin, ob sie nicht die Besitzerin des Restaurants, wo wir gegessen hatten, ob sie die nicht bitten kann, den Koffer aufzubewahren. Und die Frau sagte ja. Wir sind zum Grab gegangen, es war eines der Gräber mit diesen unglaublich schönen japanischen Inschriften. Da habe ich gesehen, dass die Leute zu Ozus Grab hinpilgern wie zum Grab von Bertolt Brecht in Berlin. Auch Alkoholflaschen und Zigaretten hatten sie hingetan, wie bei Brecht.
Ich habe geweint. Ich habe an die Menschen in Ozus Filmen gedacht und besonders an seinen Film Die Reise nach Tokyo. Und ich habe an meine verstorbenen Eltern gedacht. Ich hatte mich vor ein paar Jahren in Sevilla hingelegt in einer heißen Nacht auf einem Balkon, dort war es sehr angenehm – eine Liebesgeschichte, klar. Da haben wir gemeinsam zum Himmel geschaut, und ich sagte: »Ach, wenn die Sterne unsere Toten wären, wen würdest du in den Himmel setzen?« Der europäische Himmel, und überhaupt der Himmel, besteht ja aus den Toten, die wir geliebt haben. Also zu unseren Lebzeiten, und früher... früher waren das für mich Büchner, Kleist, Brecht, bevor ich nach Deutschland kam, auch wenn ich sie gar nicht kennen gelernt habe, ist egal, die haben mich gemacht, die haben in meinem Leben einen Platz eingenommen. Und so war das für mich auch an der Grabstelle von Ozu.
Ich hatte sogar das Gefühl, dass die Filme von Ozu und Mizoguchi mir für meine Arbeit, für meine Romane eine besondere Kraft gegeben hätten. Weil ihre Filme, daß man keine Angst hat, keine Angst, Gefühle herzustellen, mich geprägt haben. Sei es Kurosawa, sei es Ozu, Mizoguchi oder Naruse. Plötzlich tauchen diese Künstler auf, wie aus dem Traum geboren, aus einem ganz anderen Land.
Heutzutage wissen in Japan leider viele junge Leute nicht mehr, wer diese Filmregisseure waren, sie kennen die Filme nicht.
Ja, das zeigte Wim Wenders auch, viele kennen ihn nicht... Dieser wunderbare Schauspieler, der immer in den Filmen von Ozu spielte, wie heißt er... ein älterer Mann.
Ryū Chishū? Wim Wenders hat seinen Film Tokyo-ga eigentlich über ihn gedreht.
Genau. Der stand dort irgendwo, und er wusste ganz genau, dass man ihn kannte, aber nur aus den neueren Fernsehserien. Man denkt gar nicht, wenn man so verliebt ist in Ozu, dass die jüngeren Generationen ihn gar nicht kennen.
Aber es ist doch ein bisschen schade. So wird das Kino vielleicht eines Tages aussterben.
Nein, aber es wird immer wieder Leute geben, wie in allen Generationen, die dann auch die älteren Sachen kennen. Vielleicht nicht mit zwanzig, aber mit dreißig oder so. Ich habe Ozu geliebt... Wie heißt der Schauspieler?
Ryū Chishū.
Wir haben das immer anders ausgesprochen. Ein wunderbarer Schauspieler. Der hat immer mit Ozu gearbeitet, auch als ganz junger Mann. An dem Tag, als wir an Ozus Grab waren, haben wir auch sein Haus besucht und mit den Nachbarn geredet. Eine Frau hat gerade die Scheiße von ihrem Hund von der Straße geputzt. Und dann sind wir wieder zu diesem Restaurant gegangen, wo wir den Koffer gelassen hatten, und haben dort eine Suppe gegessen, und die Frau sagte: »Ich kannte Ozu, er hat immer bei mir telefonisch Suppe bestellt, oder etwas anderes zum Essen.« Und da saß ein Mann bei seiner Suppe, und der sagte: »Ich kannte ihn, als ich ein Kind war.«
Wir sind hier in Kreuzberg, und vorhin habe ich in einem Restaurant gegessen, das heißt Bateau ivre. Es sieht gar nicht so türkisch aus hier, wie ich dachte.
Nein, Kreuzberg war nie türkisch, auch vor vierzig Jahren nicht. Das war immer sehr gemischt. Sogar die Hausbesetzer damals, junge Deutsche, haben auf Transparente geschrieben: »Türken, geht hier nicht weg, lasst uns mit den Deutschen nicht allein.« Kreuzberg war nie so richtig türkisch. Der deutsche Staat wollte, dass keine Gettos entstehen, und dann haben sie in den türkischen Pässen gestempelt, dass man hier nicht einziehen durfte, eben damit kein Getto entsteht. Berlin war sowieso ein Niemandsland. Wer nicht in Westdeutschland leben wollte, ich meine die Deutschen, ist ja nach Berlin gekommen. Alle waren in Berlin fremd. So war auch dieses Stadtviertel. Und jetzt wird es sogar langsam, ich bin mir nicht sicher, aber es wird langsam eine Art Greenwich Village hier, in Kreuzberg. Hier ist natürlich erst einmal ein symbolischer Ort, der Oranienplatz. Der wurde mit den Jahren ein Platz für Happenings. Und dann kommen viele Leute aus dem Ausland, um die Stadt erstmal hier zu erleben. Das ist so eine Art Test hier...Das war vor vierzig Jahren anders, aber so hat es sich entwickelt, weil die Türken Proleten waren oder die niedrigste Klasse, und dann sind die deutschen Linken hierher gekommen und haben angefangen, hier ihre 1. Mai-Feiern zu machen.
Und Sie wohnen schon lange in der Gegend?
Fünfzehn Jahre vielleicht. Ich kam hierher, um meinen letzten Roman, in dem es um das geteilte Berlin ging, zu schreiben: Seltsame Sterne starren zu Erde. Ich hab auch nicht unbedingt Kreuzberg gewählt, weil ich als Türkin hier leben musste, sondern ich ging hier immer zur Tanzgymnastik, und die Tänzerin sagte zu mir, ich kenne hier jemanden, der eine schöne Wohnung hat. Ich hab ja ein Trauma von den Umzügen, ich bin soviel umgezogen in meinem Leben, deswegen war mir eine möblierte, schöne Wohnung willkommen, die außerdem auf den Platz guckte und, was weiß ich, zwölf Fenster hatte. Ich war einverstanden, und so bin ich hier eingezogen. Dann hab ich gedacht: Mensch, wieso bin ich hier eingezogen? Es ist doch wie eine schlechte Fotokopie meines Landes. Aber mein Mann ist Deutscher, und er liebte es, hier zu sein, er sagte: »Bleiben wir hier. Das ist sehr lebendig, das ist sehr normal.« Ich wusste sowieso nicht, wo ich leben sollte. Früher, vor dem Fall der Mauer, hat sich die Stadt nie nach Klassen sortiert. Berlin-Mitte war nicht Mitte, so wie das heute gemeint ist. Unter dem sozialistischen oder, wie soll ich sagen, kommunistischen Regime waren die Leute nicht nach Klassen sortiert, sagte man, sondern alle konnten im gleichen Stadtteil leben, Ärzte genauso wie Arbeiter. Und hier war das so eine Art... Westberlin... Keiner glaubte, dass die Mauer wegkommen würde. Man wollte Westberlin auffüllen. Die Leute starben nach und nach, jetzt brauchte man Junge, damit man Westberlin halten konnte. Man hat den Leuten Privilegien angeboten. Kein Militärdienst, billige Wohnungen. Wir haben in den schönsten Wohnungen gewohnt, für hundert Euro – Euro gab’s nicht, aber Mark, 700 Mark für Achtzimmerwohnungen. Das war die Zeit, so eine Art Niemandsland, eine Stunde Null, oder zweite Stunde Null. Das war es wahrscheinlich, was die Leute hierher zog, immer noch, auch die Touristen, die Mauer, deutsch-deutsche Geschichte usw. Aber viele Leute von damals wollen ja gar nicht mehr hier wohnen, ganz egal, ob Ost oder West. Das war damals so ’ne Zeit für sich.
Bateau ivre habe ich auch erwähnt, weil es an Rimbaud erinnert. Und in Ihren Werken gibt es ja diese surrealistische Tradition, sozusagen.
Da hast du Recht. Rimbaud liebe ich, das ist ein Dichter, den ich über vierzig Jahre immer wieder lese. Baudelaire hab ich auch gelesen, aber Rimbaud... Sogar vorgestern hab ich ihn wieder gelesen und mich gefragt, ob ich ihn in meinem Roman, an dem ich schreibe, zitieren soll. Der spricht mich immer an, Rimbaud. Ich hab auch Buñuel sehr geliebt, aber nicht nur, weil er Surrealist ist, sondern einfach... seine Filme haben für mein Bewusstsein eine große Rolle gespielt, in den sechziger Jahren, und ich hab sogar von ihm geträumt, dass er mir etwas schenkt, Luis Buñuel, der Spanier, ein großartiger Filmemacher wie euer Ozu. Buñuel hat mir etwas geschenkt, das hatte er für Weihnachten gebastelt, einen Adventkalender, und darunter war so eine Uhr, die noch tickte, die hatte er selber gemacht und mir geschenkt und ich habe die Uhr an die Wand gehängt, und dort tickte sie. Das habe ich einmal geträumt und nie vergessen. Ich habe natürlich seine Häuser besucht, alle Orte, an denen er wohnte, in Spanien, auch wo seine Eltern wohnten. Wenn ich heute noch Filme gucke, dann Ozu und Buñuel. Wenn ich dann Sehnsucht habe nach dem, was uns gemacht hat, wer uns gemacht hat... sie gehen nie verloren. Also bei mir Ozu, auch Mizoguchi, und Buñuel. Die anderen, die man geliebt hat, sogar Fellini, die verblassen. Die Geschichte sortiert immer, die Geschichte zeigt, wer für dich zu den Klassikern gehört.
Ich habe auch einmal einen Traum mit Brecht gehabt. Ich war ganz am Anfang, als ich an der Volksbühne arbeitete mit dem Brecht-Schüler Benno Besson. Ich träumte, dass ich in einem Schiff bin, ein türkisches Schiff, auf dem türkische Faschisten singen. Es ist eine sehr bedrohliche Atmosphäre, und ich bin die einzige Frau. Die singen hinter mir, und ich will mich retten, und plötzlich befinde ich mich in einem schrägen Raum, wie eine Theaterbühne, also schräg, und da ist ein Bett wie von van Gogh gemalt, wirklich, alles mischt sich so, und da lag Brecht und neben ihm war ein Stuhl, darauf saß Brechts Frau Helene Weigel. Und ich rannte zu ihr, ich rettete mich sozusagen vor den türkischen Faschisten, rannte zu ihr und sagte: »Weck Brecht, ich muss mit ihm reden«, und sie sagte zu mir: »Siehst du nicht, er ist tot.« Ich sagte: »Nein, er ist nicht tot, er schläft.« Sie weckte ihn, wirklich, und er wurde wach, und ich sagte: »Brecht, gib mir etwas von dir, eine Krawatte oder einen Kopfkissenbezug.« Ich wollte also ein Geschenk, wollte etwas von ihm besitzen.
Hat er Ihnen etwas gegeben?
Ja, er gab mir seine Krawatte. Ich hab sogar, als ich den Kleist-Preis bekam am Brecht-Theater, am Berliner Ensemble, den Ort habe nicht ich ausgesucht, sondern die Preisverleiher, da hab ich den Zuschauern von diesem Traum erzählt.
Spielt Brecht immer noch die gleiche Rolle für Sie?
Immer noch. Ob man ihn mehr oder weniger oft aufführt, ist für mich nicht so wichtig. Es geht um das Bewusstsein, das er uns vermittelt hat. Er war ein großartiger Dichter und ein großartiger reflektierender Mensch. Was mir heutzutage öfters in der Welt oder in den Medien und unter den Menschen, die ich treffe, fehlt... Die gibt es sicher auch, reflektierende Menschen, aber die Leute sind so gefangen genommen heutzutage, dass sie gute Menschen sein sollen oder multikulturell, weißt du, da gibt es all die Schablonen, an die muss man sich anpassen. Aber es ist doch viel schöner, wenn einer reflektiert und zum Beispiel nicht »guter Mensch« sagt, sondern Der gute Mensch von Sezuan schreibt. Der gute Mensch von Sezuan ist ja weder gut noch schlecht, sondern ein Mensch wird mit seinen Bedingungen beschrieben und gezeigt, und das ist fantastisch. Aber heutzutage fehlt mir das, zum Beispiel, dass einer so reflektieren kann. Außerdem war er ein großartiger antifaschistischer Mensch. Ich kam ja gerade aus dem türkischen – sagen wir... vielleicht Faschismus, mit den ganz müde gewordenen Wörtern. Denn in der Diktatur leidet zuerst die Sprache. Du musst manche Wörter verstecken, du darfst nicht reden, musst etwas unter der Zunge... behalten. Es deformiert sich, und mit der Deformierung der Sprache deformiert sich auch der Mensch. Er wird verlogen, und... wer weiß, was aus ihm wird. Wenn du dich nicht richtig äußern darfst, wie du denkst, und wenn du dich nicht weiterentwickeln kannst. So war es in der Türkei, als der Militärputsch kam und die Leute, die ihre Sprache entwickelt hatten, um sich richtig zu äußern, die mussten das plötzlich wieder rückgängig machen. In dieser Phase hat mir Brecht sehr geholfen. Denn er hat ja vor uns, vor uns Türken, eine körperliche Erfahrung mit dem Faschismus gemacht. Und natürlich Sätze geschrieben, denn körperliche Erfahrung ist die kräftigste Erfahrung, und da hat er Sachen gesagt, die uns in der Türkei, vierzig oder fünfzig Jahre später, geholfen haben.
In Die Brücke vom Goldenen Horn kommen zwei Lehrer von der Schauspielschule vor, der eine spielt mehr mit dem Kopf, der andere mit dem Körper. Wie spielen Sie selbst auf der Bühne, vom Kopf her, oder mehr körperlich?
Das mussten wir auch erstmal ausprobieren, bis Kopf und Körper zusammen kommen konnten. Aber was ich heute denke, für uns war es wichtig, dass der eine an die These glaubte, und der andere an die andere. Dazwischen probierst du mal dies, probierst du mal jenes. Und so kommt es zur Reifung, das Ganze ist ja nicht einseitig. Der eine ist Brechtianer, der andere Stanislawskianer... Wahrscheinlich entspricht es dem menschlichen Bedürfnis, dass mal so ein System entsteht, dann wieder so eines. Das ist aber nicht schlecht, später hab ich kapiert, das war gut so. Aber deine Frage war anders, nicht? Wie das auf der Bühne ist...
Ganz einfach gesagt: Was haben Sie gemacht? Sind Sie mehr in die eine oder in die andere Richtung gegangen?
Nachdem diese, sagen wir, körperliche Erfahrung sich übertrieben hatte, indem man Stanislawski übertrieben hat, ist man gerne zu Brecht gelaufen. Aber ich habe gehört, dass Brecht – das hat mir Besson gesagt, mein Lehrer, dass also Brecht gesagt hätte, irgendwann, »jetzt kann man mit den Gefühlen anfangen«. Ist klar, alle extremen Sachen verbrauchen sich. Für mich war es schön, beide Sachen kennen gelernt zu haben.
Wir sind bei der Lektüre Ihrer Romane auf die Idee gekommen, dass alle drei zusammen eine Art Entwicklungsroman bilden könnten. Und eigentlich gibt es ja auch so etwas wie eine »theatralische Sendung« der Sevgi Özdamar.3
Das finde ich sehr schön. Denn es ist wie eine Inszenierung, Inszenierung einer Realität. Also man will die Realität verändern, und wenn man das will, also in meinem Fall, wo ich vom Theater komme, inszeniere ich mich. In den drei Romanen ist der fil, wie nennt man das, der rote Faden ist das Theater. Auch und besonders in der Brücke vom Goldenen Horn, weil es da ja ganz direkt dargestellt wird. Und natürlich in den Seltsamen Sternen, da wird ja... Westberlin, Ostberlin... Aber dort, in der Brücke, wo sie Schauspielerin wird, da entsteht es ja erst.
Dort ist auch der entscheidende Moment, wo ihre Entwicklungen stattfinden.
Natürlich. Sie ist eine junge Frau... Alles, Sexualität, Kunst, Surrealismus, entsteht da.
Intellektuelle Entwicklung, aber auch erotische, sinnliche Entwicklung. Beides ist wichtig.
Unbedingt.
Im Wilhelm Meister ist das eigentlich auch so.
Ja, ohne das geht’s nicht, jetzt bezogen auf meine Protagonistin, sie muss ja diese Männer kennen lernen. Das sagt sie ja auch, dass sie auf die andere Seite des Berges gehen möchte, damit sie das kennen lernt. Wo sie diese sexuelle Revolte macht im Roman, damit sie die Männer kennen lernt, um ihrer selbst willen und auch um der Kunst willen. Weil man ihr gesagt hat, du kannst eine tolle Schauspielerin werden, wenn du mit Männern ins Bett gehst.
Wir schrecken uns manchmal, weil das oft so plötzlich geht.
Ja, das liegt auch an der Zeit. Das ist ’68. Mir passte das gerade, bei meinem Fragen um das Leben, oder Sexualität. Wir hatten auch viel Hilfe. Die Männer waren modern, also die, die wir trafen. Wir hatten keine Probleme, sondern sie fanden das toll, dass ein Mädchen das macht, das gehörte zur Revolution.
Ja, die Männer freuen sich, dass die Frauen aufblühen.
Die will auch kein Kind machen, will nicht heiraten, nicht viel Geld haben, sondern sie macht das für sich selbst. Das musste auch für die Männer befreiend sein... Dass ich kein Kind wollte, hatte aber auch einen anderen Grund, weil meine Großmutter hatte sieben Kinder verloren, nur mein Vater ist am Leben geblieben. Und ich war ihr Kind, als ich klein war. Sie ist mit mir auf die Friedhöfe gegangen, daher kommt diese Friedhofsliebe von mir, deswegen war ich auch bei Ozu auf dem Friedhof. Das waren unsere Spaziergänge. Sie hat immer so ganz tragische Geschichten auf der Straße zusammengesammelt und nach Hause gebracht. Sie wollte Menschen helfen, das war eine ganz süße Frau. Ich liebte meine Großmutter sehr. Als ich fünfzehn war und meine Brüste kamen, da dachte ich: Mensch, wenn ich jetzt ein Kind kriege und mein Kind stirbt... Ich war traumatisiert. Ich hätte das vielleicht gemacht, wenn da nicht die ’68er Bewegung gewesen wäre. Da war das Trauma von der Großmutter, einer ländlichen Frau, die ihre Kinder verloren hat, und dann kommt noch die ’68er Bewegung. Ideologisch wurde gesagt: Erst die Welt verbessern, und dann Kinder machen. Alles zusammen geht nicht. Also hab ich kein Kind bekommen. Hab ich auch nicht bereut, nie. Trotzdem, ich liebe Kinder, ich liebe meine Neffen, die Kinder meiner Freunde... Aber ich musste nicht selber welche haben. Dafür waren wir nicht in die Welt gekommen. Unser Schicksal war ein anderes.
Wenn man acht Kinder hat, ist es schwer, Bücher zu schreiben.
Im Leben gibt es ja viele mögliche Leben: eine Menge Kinder haben, oder Bücher schreiben, oder Schauspielerin werden, oder das alles zusammen. Natürlich wird man neugierig: Was wäre dann, wenn das so wäre...
Was war eigentlich wichtiger für Sie, Schauspielerin sein oder Bücher schreiben?
Weißt du, ich hab ja mein Land verlassen... verlassen müssen, und die Sprache verlassen müssen. Und wenn die Sprache nicht da ist... Du kannst ja schwer, sagen wir, Penthesilea spielen. In der Türkei hatte es ja wunderbar angefangen mit meiner Theaterkarriere, mit Hauptrollen. Und dann bin ich hierher nach Deutschland gekommen. In Deutschland gab es ja auch nicht solche Theatergruppen wie die von Peter Brook in Paris, wo zum Beispiel eine schwarze Frau Königin Ubu spielte. Das war in Deutschland unmöglich. Hier waren alle türkischen Frauen Putzfrauen. Ich konnte mir nur Rollen erfinden, in denen ich Putzfrau war. Ich habe nur Frauen mit Kopftuch gespielt, dabei war ich eine schöne Frau. In Filmen habe ich mitgespielt, alles Frauen mit Kopftüchern, auch am Theater, Putzfrauen. Aber ich war einverstanden. Ach, nur einmal habe ich in dem Brechtstück In Dickicht der Städte gespielt, Mai Garga, eine wunderbare Rolle. Regisseur Kneidl war mutig. Es war ein großer Erfolg. Und bei Ruth Berghaus spielte ich die Andromache in den Troerinnen an der Frankfurter Oper, aber dann wieder nur Kopftuchrollen. Das hab ich aber nie kritisiert.
Schade ist es doch, Sie haben so schöne Haare, und die mussten Sie dann verstecken.
Ja, ja, das ist so passiert, ich hab mich darüber lustig gemacht. Es ging eben nicht anders. Später, in Paris, hab ich schon gute Rollen gespielt, in Drei Schwestern zum Beispiel, von Tschechow, weil mein Regisseur Langhoff nach Paris ging, und dort konnte ich etwa in den Troerinnen eine Hekuba spielen. Aber in Deutschland war das unmöglich. Ich war in einem Stück von Thomas Brasch, Lieber Georg, da erfand ich eine Figur, die immer die Bühne putzte, und dann schrieben die Kritiker von einer »emsigen türkischen Putzfrau auf der Bühne«. Da hat das Theater, Claus Peymann damals, geantwortet: Was fällt euch denn ein, das ist eine tolle Künstlerin, die zeichnen kann, und da hat sie eben diese Rolle gespielt. Normalerweise hätten sie ja schreiben müssen: Türkische Putzfrau, gespielt von Özdamar. Haben sie aber nicht gemacht. Die sagten: Da war ’ne türkische Putzfrau. Hermann Beil, der Dramaturg, hat die Geschichte in seiner Laudatio erzählt, als ich den Kleist-Preis erhielt. Er sagte: Normalerweise hätte sie Rollen spielen müssen wie Penthesilea oder Iphigenie, und dann erzählte er diese Anekdote, dass ich in Bochum in dem Stück von Anfang bis zum Ende auf der Bühne war und eine Putzfrau gespielt habe und von den Kritikern als »emsige Putzfrau« bezeichnet wurde. Nur Theater heute nicht, denn die wussten ja, dass ich Künstlerin bin, und haben sogar meine Zeichnungen veröffentlicht. Aber so war es. Und ich hab mich immer lustig gemacht. Ich war nie beleidigt. Ich habe sofort einen Monolog geschrieben: Karriere einer Putzfrau. Erinnerungen an Deutschland.
Vielleicht eine dumme Frage: Hätten Sie es geschafft, Penthesilea zu spielen?
In Deutsch, meinst du?
Ja, auf Deutsch.
Da brauchst du eine Theatergruppe, die das akzeptiert.
Es ist eine der schwierigsten Rollen.
Ich habe schon akzeptiert, daß die Schauspielerei mit der Sprache zu tun hat. Deswegen hatte ich stumme Rollen, mit denen war ich einverstanden. Aber ich machte Zeichnungen oder Collagen oder Marionetten, das heißt, ich hab mir andere Mittel verschafft, um mich zu äußern, weil... die Sprache war nicht mehr da. Und ich verstehe auch, dass man in Deutschland noch nicht daran gewöhnt war. Heutzutage gibt es Theater, wo die Türken alle Rollen unter sich spielen. Das war aber die Zeit, es war so ungewöhnlich, nicht wahr, aber das habe ich akzeptiert. Ich habe immer so weiter gemacht, manchmal gespielt, mal gezeichnet, mal ein Theaterstück geschrieben, mal inszeniert, und dann Romane geschrieben und so weiter...
Vor ein Paar Jahren haben drei Frauen mein Leben als Theaterstück inszeniert an der Volksbühne. Ich hab denen vorgeschlagen, einen Transvestiten zu engagieren, der mich spielen sollte. Sowas ganz Fremdes, nicht? Da wollte sogar der Fassbinder-Schauspieler, Volker Spengler, mich spielen. Sie nahmen einen Homosexuellen und eine Frau und haben denen meine Haare gemacht und meine Kleider gegeben. Und dann war da eine Firma, wo sie immer geputzt haben, also Kopftuchfrau spielten, und dann kam ich als Schriftstellerin in einem Interview vor auf der Leinwand, das war lustig. Ich glaube, René Pollesch, der Regisseur von der Volksbühne, hat vorgeschlagen, das zu thematisieren, dass ich eine Künstlerin bin und immer eine Kopftuchfrau spielen musste. Das haben sie dann auch so gemacht.
In Paris haben Sie die Stücke auf Französisch gespielt?
Ja, mit wunderbaren französischen... mit den Star-Schauspielern. Mit Matthias Langhoff als Regisseur im Théâtre de la Ville, oder in Bobigny, auch in Nanterre im Théâtre des Amandiers. Da kam auch die Isabelle Huppert zu uns. Das haben wir so gemacht in Paris... Immer so auf die Reise gegangen. [Da die Musik im Café lauter geworden ist, ruft Özdamar den Besitzer, einen Türken, damit er sie leiser stellt.] Danke! Ja, ich komme immer hierher, es ist das einzige Café, in das ich gehe.
In Ihren Büchern erzählen sie oft von Ihrer Großmutter. Was war ihre Haltung zu Ihrer Theaterarbeit?
Sie kam zur Premiere des Stücks von Peter Weiß in Istanbul, wo ich die weibliche Hauptrolle, Charlotte Corday, spielte, Die Verfolgung und Ermordung Marats. Sie kam da, um mich zu sehen... also, ich hab sie hingebracht. Sie saß da und sah zu, und später sagte sie mir, es hat ihr gut gefallen, aber sie hätte mich nicht gesehen, wo war ich denn. Klar, sie hatte recht, denn du bist ja eine Figur und nicht du selbst. Und als naive Frau, ich meine »naiv« positiv, hat sie das gar nicht verstanden, auch wenn sie mich vielleicht erkannt hat.
Aber stolz war sie schon?
Sie war keine bürgerliche Frau... Sie fand das alles schön, sie liebte die Menschen. Sie küsste auch fremde Leute im Bus. Was auf ihrem Weg war, liebte sie. Meine Mutter war vielleicht stolz auf mich, aber meine Großmutter hat ganz normal reagiert.
Der Wilhelm Meister von Goethe geht auch zuerst zum Theater, aber er bleibt am Ende nicht dabei.
Glaubst du, dass Goethe sich im Roman selbst inszeniert hat, wie ich mich selber inszeniert habe?
Es ist schon viel Autobiographisches dabei.
Heiner Müller, glaube ich, hat gesagt, dass jede Figur in einem Theaterstück, dass jede Figur, die du schreibst, autobiographisch ist. Hinter jeder Figur – Frau, Mann, Kind, Esel – steht der Autor. Und wenn du »ich« schreibst, kann es manchmal vielleicht gar nicht autobiographisch sein. Ich kann sehr leicht »ich« sagen, denn wenn wir Hamlet spielen am Theater oder Ophelia, wir sagen immer »ich«. Kein Problem, ich zu sagen, für mich. Ich kann sehr schwer in der dritten Person schreiben. Früher hab ich durch meine Brecht-Liebe in meinen Tagebüchern mich manchmal verfremden wollen: »Min sagte.....« usw. Das hat mir dann nicht mehr so gefallen. Die andere Form, wo du in der Ich-Form alles erzählst, was dir peinlich vorkommt, fand ich als Schreibprozess besser, weil es offener ist. In meinen Büchern, wenn ich »ich« sage, ist es manchmal autobiographisch, manchmal überhaupt nicht. Das ist eine Inszenierung, wie am Theater. Am Theater kuckst du dir erstmal das Bühnenbild an, damit deine Figuren da drin spielen können. Zum Beispiel in Die Brücke vom Goldenen Horn, da spricht sie von einer bestimmten Straße, das ist autobiographisch. Aber dann die Bäckerei, der Laden, die Bäckerin...
Ach so?
Du denkst, das ist real, weil es inszeniert ist, und du siehst es wie in einem Film. Meine Figur braucht das, damit sie die Hitze, die Wärme, die Kälte herstellen kann, die Straße, die kalte Straße, die warme, und dann diese komische Frau mit dem komischen Kopf, und dann die Schlagzeilen, die sie4 auswendig lernt. Das hab ich in Wirklichkeit nie gemacht, nie. Ich wusste, dass ich einen Roman schreiben werde über eine bestimmte Zeit, 1968, die Geschichte muss immer anwesend sein, und wenn ich meiner Protagonistin diese Eigenschaft gebe, dass sie immer die Schlagzeilen in der Zeitung auswendig lernt, dann kann die Zeit selbstverständlich, aber durch ihre persönliche Eigenschaft, nicht durch die Schriftstellerin, sondern durch die Eigenschaft der Figur kann die Zeit präsent sein. Solche Schlagzeilen, wie dass Kennedy tot ist, oder was weiß ich...
Sie lassen in ihrem Roman Die Brücke vom goldenen Horn die Protagonistin und ihre Mutter in Shakespeare-Sätzen reden.
Weil es um Theater geht, da müssen die Mutter und sie mit Shakespeare-Sätzen reden. Das Mädchen spricht am Anfang des Romans nur Shakespeare-Sätze, weil sie in einem Shakespearestück spielt. Einfach um zu zeigen, dass es ums Theater gehen wird, oder um die Theaterbesessenheit dieses Mädchens. Das muss gar nicht wirklich geschehen sein, wie denn auch, wie sollte sie mit ihrer Mutter so reden... Aber das macht Spaß, ich sehe, wie die Leser das lieben. Weißt du, du musst beim Schreiben ein Gefühl untersuchen. Was ist ein Gefühl? Wenn dein Gefühl dir das sagt, so, jetzt muss die Mutter und die Tochter so reden, dann lässt du sie so reden, damit es so eine Art shakespearischen Anfang gibt. Und dann die Zugfahrt, die Frauen, die ihre Strümpfe runtergerollt haben– nur ein Bild, das musst du bildhaft machen. Was ist denn eine Reise sonst? Das ist für dich vielleicht wichtig, aber für den Zuschauer, den Leser nicht. Aber wenn du Bilder herstellst, dass die Frauen ihre Strümpfe runtergerollt haben, dass die Gummibänder, wie soll ich sagen, Spuren an ihrer Haut hinterlassen haben, so Frauenstrümpfe, die machen Einschnitte vom Gummi in der Haut... Und ihre Beobachtung auch, also wie das anfängt – das meine Ich mit dem »Inszenieren«. Okay, ich bin nach Deutschland gekommen mit achtzehn. Ich weiß jetzt nicht mehr, ob der Zug zwei Tage brauchte oder drei, aber diese Zugfahrt musste ich nach vierzig Jahren neu herstellen. Gut, die Reise ist autobiographisch, aber die Bilder bei der Reise musste ich neu erfinden, das ist die Reise am Tisch.
Am Ende des Romans ist eine Szene mit einer Schlange und Rauch in der Flasche, das ist nicht wirklich geschehen, oder?
Nein. Das ist erstmal die Arbeitslosigkeit, und das gequälte Tier – was heißt gequältes Tier, ich will ja nicht über Tiere reden, aber... Es ist so eine Art trauriges Bild von einem Land, wo der arbeitslose Mann mit Hilfe seiner Phantasie noch etwas erfinden möchte, wo der Hahn über dem Feuer... Das ist auch ein bisschen die Situation der Menschen, die in der Flasche stecken. Das sind die letzten Bilder, die sie aus ihrem Land mitnimmt auf diese Zugreise, und es sind auch nicht unbedingt tolle Bilder. Es sind gequälte Bilder in einem vom Militär gequälten Land und ein Mann, der phantasiert, wie man Geld verdienen kann, oder so. Ob er wirklich etwas verdient, weiß ich nicht.
Das ist auch symbolisch gemeint, oder?
Natürlich, ja. So wie die Zeitungschlagzeile auch, wo Franco tot ist. Das ist ja nicht geschehen, als ich in den Zug einsteige, genau in dem Moment. Romane sind Konstruktionen. Es ist eine Reise am Tisch. Du hast ein Bedürfnis, du hast Notizen, vielleicht zwei Seiten Notizen, und dann setzt du dich hin. Da hast du zum Beispiel eine Notiz, »im Zug nach Europa«, sagen wir, und jetzt musst du das inszenieren. Das ist ja die wesentliche Arbeit beim Schreiben. Das ist vielleicht auch der Grund, weshalb Schriftsteller dranbleiben, weil sie es selber zuerst nicht wissen, nur beim Schreiben erfahren sie es. Wo du sagst: Hu, Mann, was! Die Frau hat so einen schiefen Kopf! Da freust du dich plötzlich... Verstehst du, das ist eine neue Realität. Du machst die Realität, du veränderst die Realität, die dir nicht passt, die du nicht liebst, und dann ist es deine Realität.
Aber es ist trotzdem auch Erinnerungsarbeit in diesen Büchern, oder?
Man möchte etwas in Erinnerung rufen, die Toten zum Beispiel, die Berliner Straßen, der Schnee, was weiß ich, die Kälte, oder die Figuren, diese Einsamkeit oder diese Freundschaft. Ja, natürlich, Erinnerung, und dann aber die Erinnerung noch mal inszenieren, für die Leser, für die Menschen, die das lesen werden. Für dich erstmal, und dann für die anderen. Und wie schön, wenn es klappt.
Und jetzt schreiben Sie wieder an einem Roman?
Ist wieder ein Roman. Das läuft ein bisschen langsam, genau wie bei meinem ersten Roman, an der Das Leben ist eine Karawanserei hab ich sechs Jahre gearbeitet. Bei dem jetzt bin ich auch daran seit anderthalb Jahren.
Können Sie nicht sagen, wann er fertig wird?
Nein, kann ich wirklich nicht. Ich hab auch gesagt: Ich habe Zeit. Wenn du an frühere Zeiten denkst... Wie viele Bücher hat Joyce geschrieben? Sagen wir, fünf. Damals war Büchermachen teuer, heutzutage ist es billig, und du hast einen Verlag, angenommen, du hast Erfolg, und der Verleger... Du hast gerade ein Buch rausgebracht, bist gerade aus diesem Wörtergefängnis raus, und da fragt der dich: Wann schreibst du wieder eins? Das darf man nicht erlauben. Du hast ja aus einem starken Bedürfnis Bücher geschrieben. Und dann kommen die und wollen das nächste... weil sie das vielleicht wie eine Fabrik sehen, wie in der Produktion. Ich will das aber nicht, dass die Leute sich in meine Arbeit einmischen.
Das ist eine Maschinerie geworden.
Die Hauptsache ist dein Bedürfnis, dass du für dich erstmal schreibst. Ein Buch ist ein Vogel, den lässt du frei und weißt nicht, an welchem Fenster der anklopfen wird. Manche machen Fenster auf und nehmen ihn rein. Das sind deine Leser, deine heimlichen Leser, denn die gibt es. Ich hab immer enormes Vertrauen zu den Lesern. Die sind da.
Ihr erster Roman Das Leben ist eine Karawanserei wurde in den USA in die Liste 1001 Books You Must Read Before You Die aufgenommen, neben Kafka und Camus. Kennen Sie viele Leser? Schreiben Ihnen die Leser?
Schreiben, ja. Oder sie kommen zu meinen Lesungen, in vielen Ländern machen sie Doktorarbeiten über meine Bücher. In New York gibt es einen Özdamar-Fanclub bei den Germanisten. Lesungen mache ich noch immer, trotzdem meine Bücher alt sind, und es gibt ständig neue Übersetzungen in andere Sprache.
Es ist eben doch nicht alles so zeitabhängig, auf die Aktualität bezogen.
Die Zeit sortiert. Man muss ruhig bleiben. Es gab mal einen Bären, einen kleinen Bären, der hieß Knut, er lebt nicht mehr. Ich sage immer, wenn jemand sagt: »Ach, Sie sind so berühmt, Frau Özdamar...«, dann sag ich: »Knut ist berühmter.« Also, ganz ruhig bleiben, du kannst nur nach deinem Bedürfnis gehen und das machen. Das findet immer seinen Weg, findet immer Menschen. Früher war die Schriftstellerfigur anders, eher so ein Prophet, zum Beispiel in der Zeit von Tschechow, oder Krieg und Frieden, darauf hat mich meine russische Übersetzerin hingewiesen, Marina Korenewa. Ich liebe diese Schriftsteller und ihre Haltung, Tschechow, Tolstoi, Dostojewski... Ich kenne das auch aus der Türkei, von den Dichtern, den Schriftstellern. Die wollten etwas tun, weil die Leute selbst nicht den Mund aufmachen durften. Diese Schriftstellerfigur ist langsam nicht mehr da, dieser Prophet. Das hat sich verändert.
Gibt es da nicht eine gesellschaftliche Rückentwicklung? Im Vergleich zu der Zeit, die Sie in Die Brücke vom Goldenen Horn beschreiben? Da gab es doch eine Aufbruchstimmung, trotz Militärputsch usw.
Man wollte sich verändern... Ja, natürlich. Sich entwickeln. Der Mensch will sich ja entwickeln. Der Mensch kommt auf die Welt. Ein Junge, der in einem Slum wohnt, der erfährt zwar, was er ist, aber nicht, was er sein könnte. Dass man ihm die Chance nicht gibt, zu erfahren, was er sonst noch sein könnte. Denn darum geht es. Auch in Die Brücke vom Goldenen Horn, das Mädchen ist erstmal naiv. Und dann... Sie entwickelt sich. Die Brücke ist ja wie zwei Romane. Dieses Bewusstsein, und dann das nächste Bewusstsein. Weil sie sich entwickelt, deshalb habe ich ja auch dieses System gewählt im Roman, also dass es wie zwei Romane ist.
Es gibt Stellen, wo auf einmal zwei Figuren da sind, aus einer werden zwei.
Ja, aus einer werden zwei Hauptfiguren und zwei Romane. Das ist ganz bewusst so gemacht. Das hat mit dieser Zeit zu tun, wie sie plötzlich sich verändert, wie sie mit der Zeit geht. Und dann natürlich der große Sprung. Es ist ja kein Roman, wo die Frau... ich weiß nicht, Liebesgeschichte oder so. Nein, es ist auch eine Zeitgeschichte, und in dieser Zeit passierte ja viel. Du bist ein Produkt dieser Zeit, das heißt, du kannst dich verändern.
Es gibt eine Szene, wo die Ich-Erzählerin ihr altes Ich ins Meer wirft, auf dem Schiff in Istanbul. Manche Leser haben da vielleicht Schwierigkeiten.
Kann sein, dass manche da eine Abwehr haben wegen dem Kind. Aber Schriftsteller müssen diese Dinge sagen. Denn es wird immer sensible Menschen geben in dieser Welt, noch in hundert Jahren wahrscheinlich, auch wenn wir davon ausgehen, dass wir da schon tot sind, die anderen sind auch tot, aber es wird immer ganz sensible Menschen und widerständige Menschen geben. Das meine ich auch mit dem »heimlichen Leser«. Die sind überall, auch in ganz kleinen Orten, sensible Menschen, und auf die muß man vertrauen. Auf das, was du erzählen möchtest, und auf diese Menschen.
Wahrscheinlich werden diese Menschen nie die Mehrheit sein.
Ich fand vorigen Sommer in der Türkei in einer kleinen Stadt, in einem ganz kleinen Laden mit alten Büchern, ein Taschenbuch von Wolfgang Hilbig. Was für eine Freude, Wolfgang Hilbig...
In Die Brücke vom Goldenen Horn hat die Erzählerin im Wohnheim eine Freundin, die auch den Traum hat, Schauspielerin zu werden. Wissen Sie, ob sie den Traum verwirklicht hat?
Du gehst immer davon aus, daß es autobiographisch ist... Ja, ich hatte eine interessante Freundin, die redete auch davon, Schauspielerin zu werden, aber sie ist nicht Schauspielerin geworden. Sie hat zwei Kinder gemacht. Aber das ist nicht die Rezzan vom Buch, in Wirklichkeit heißt sie Suzan. Ja, das ist auch so eine Inszenierung. Es gab einen türkischen Germanisten, Sargut Sölcün, der in Essen Professor war, der lebt leider nicht mehr, ist letztes Jahr gestorben. Der hat eine sehr schöne Arbeit über das Buch geschrieben, in der er erzählt, wie ich meine Protagonistin als Harlekin inszeniere, wie in der Commedia dell’arte, als Harlekin, der durch die Zeit geht. Und da ist Rezzan natürlich eine wichtige Figur. Aber das ist vielleicht eine Freundin, die im Kopf geblieben ist, die schön war, die auch was wollte, und dann inszenierst du sie auch. Wenn du über mich schreiben willst, musst du an Theater denken, an Theaterfiguren. Da ist ein Theaterstück, und dann kommt ein Regisseur, der inszeniert anders als das Stück, Schauspieler machen auch was Neues. Es ist eine Art Reichtum des Inszenierens, das sammelt sich. Einerseits schreibst du, aber andererseits denkst du beim Schreiben ans Theater, ans Bühnenbild, an die Figuren, Dialoge, Atmosphäre, Lichtwechsel, wie am Theater.
Haben Sie eigentlich literarische Texte von sich selbst ins Türkische übersetzt? Oder macht das jemand anderer?
Ich habe meine Bücher in Deutsch geschrieben. Es wäre für mich sehr schwer, sie ins Türkische zu übersetzen. Das ist ein ganz anderer Rhythmus, da schreibst du dann was Neues. Du bist auf eine Reise gegangen in eine andere Sprache, die deutsche Sprache. Dein Körper ist ja schon rhythmisiert mit der deutschen Sprache. Du machst in Deutschland ein Fenster auf und du hörst nicht türkisch, du hörst keinen türkischen Straßenverkäufer [spricht im Singsang türkischer Straßenverkäufer]. Du gehst in eine deutsche Bäckerei, und die Frau mag dich und sagt: »Hallooo« [schmeichelnder Tonfall]. Weißt du, das ist wirklich körperlich. Die deutsche Sprache kommt in deinen Körper rein. Und da ist es für mich sehr schwierig, in Türkisch diesen Rhythmus wieder zu finden. Dann würde ich das neu schreiben. Also, das geht gar nicht. Da ist es mir lieber, zu sagen, ach, das Türkische ist wie Englisch oder Französisch, oder Katalanisch, Italienisch, Polnisch... Meine Bücher sind ja in 19 Sprachen übersetzt... Arabisch... Da kann ich mich ja auch nicht einmischen. Die Übersetzer gehen auf ihre eigene Reise. Einer meiner Lieblingsübersetzer, ein Spanier, Miguel Sáenz, wir haben mit ihm so ’ne Art Abend gehabt im Instituto Cervantes, das Thema war »Schriftsteller und ihre Übersetzer«. Da habe ich gesagt, ja, Übersetzen ist für mich so wie in der Musik, du schreibst sie, als Schriftsteller, und der nimmt diese Musik auf und musiziert noch mal. Und Miguel erzählte wiederum, eine wunderbare Sache: »Man sagt, dass ein Buch, das in einer bestimmten Sprache herausgekommen ist, allein ist, ein einsames Buch ist. Erst wenn es in andere Sprachen übersetzt wird, wird es ein vollständiges Buch.« Das fand ich phantastisch. Seitdem denke ich auch so. Wenn eins meiner Bücher in Arabisch kommt oder Russisch, oder Griechisch. Die Übersetzer machen ihre Reise, und das Buch wird vollständig... Das ist ein schönes Bild für mich. Ob das wirklich so ist, weiß ich nicht, aber es hat mir sehr gut gefallen.
Demnach ist der Text eine Partitur, und erst durch die Interpretation bekommt er sein volles Leben.
Ja, genau wie du sagst. Aber mich selber übersetzen, ich hab mal versucht, eine Seite von mir ins Türkische zu übersetzen, das geht gar nicht, Wort für Wort. Nein, der andere Interpret ist wichtiger.
[Das Gespräch dreht sich eine Weile um Übersetzungsfragen, mit Beispielen aus dem Französischen. Özdamar erinnert sich an ihre Zeit in Frankreich, wo sie Theaterarbeit machte.]
Ich kam dann nach Deutschland zurück, in Bochum arbeitete ich bei dem Claus Peymann, und in einer Premierenfeier war Luc Bondy da, der jüdische Regisseur, und er war natürlich ein Casanova, und irgendwann schnappte er sich mich auch, und wir haben sehr geflirtet, sehr geküsst und hinter der Bühne was gemacht, das war sehr schön. Und ich erzählte ihm von dem Ozu, dass ich nächsten Tag nach Paris fahren würde und mich freue, in Paris wieder Filme... ich weiß nicht mehr genau, aber irgendwie ging es um Ozu und Mizoguchi. Da sagte der Bondy: »Du, weißt du, dass mir in Deutschland kein Mensch von Ozu oder Mizoguchi redet, außer Handke und du.«
In Frankreich sind die alten Filme durch die Reprisen, oder hieß das Retrospektiven?, präsent, wo wir drei Filme oder alle Filme eines Regisseurs hintereinander sahen, Ozu-Reprise, Mizoguchi-Reprise... Die Franzosen hatten schon eine Kinokultur, als die Deutschen ihre Filmemacher...in der Nazi-Zeit verloren, vertrieben haben. Erich Strohheim, Fritz Lang, Sternberg, Ophüls, die sind abgehauen von diesem Land. Da ist ein großes Loch entstanden. Wenn diese wunderbaren Leute damals hier geblieben wären. Ich hab sogar das Gefühl gehabt, als ich in Paris war und die Friedhöfe besuchen konnte, um Edith Piaf zum Beispiel zu besuchen, da hab ich gedacht: Mensch, stell dir vor, in Deutschland gibt’s einen Friedhof, wo Erich Mühsam oder Kurt Tucholsky, ich weiß nicht, ob er hier begraben ist, vielleicht... Peter Lorre oder die anderen, Lang, Strohheim oder Walter Benjamin, ob die hier liegen. Du hast deine Toten auch nicht mehr hier in Deutschland. Natürlich gibt es in Frankreich solche Wörter wie »Reprise«, denn da ist Jean Vigo, Godard, da ist Truffaut, da ist Eustache, da ist eine Kultur, die nicht kaputtgegangen ist, über Filme auch. In Frankreich werden sie mehr über Ozu wissen, ich bin sicher, auch heute noch, denn das ist eine Kultur, das braucht ein Fundament.
War Akira Kurosawa in Deutschland nicht bekannt?
Doch. Aber der machte damals noch Filme, in den Achtzigern. Und Herbert Achternbusch hat ein wunderbares Interview gemacht mit Kurosawa. Weil Achternbusch ihn liebte und auch ein ganz großartiger, bayerischer Schriftsteller und Filmemacher ist – er lebt noch –, ein ganz anarchistischer, herrlicher Künstler. Ein großartiger Typ, der ist mit der Kamera in die bayerischen Bierzelte reingegangen als bayerischer Polizist kostümiert. Es gab damals ein paar Künstler, die ganz anarchistische Sachen gemacht haben. Und Achternbusch liebte Kurosawa. Wir haben ja immer Achternbusch gespielt bei Peymann. Achternbusch kam auch zu seiner Premiere, Kuschwarda City hieß das Stück, und die Zuschauer, das waren sehr gute Zuschauer am Bochumer Schauspielhaus, damals das beste Theater von Deutschland, Zadek war da, vorher, und in der Peymann-Zeit hab ich da gearbeitet. Also es war Kuschwarda City von Achternbusch, manche Zuschauer waren unruhig und schrien »buh!«, weil der Text so anarchistisch war, da kam der Achternbusch auf die Bühne, und einer der Schauspieler kämpfte noch mit den Zuschauern und sagte: »Du, ich hab Mitleid mit dir. Ja, ich hab Mitleid mit dem Leben, und du nicht.« Und Achternbusch nahm ein kleines Messer aus seiner Tasche, schnitt seine Fingernägel, schmiss sie so ins Publikum und sagte: »Das kriegt ihr von mir«. Ja, so war das, wunderbar...
© Leopold Federmair
Hier ist das Gespräch als Download (pdf)
Einige wenige Ergänzungen und Änderungen wurden in einem weiteren Gespräch zwischen Emine Sevgi Özdamar und Naoko Yuda im Oktober 2013 in Berlin besprochen. ↩
Im September 2009 - G.K. ↩
Die Frage bezieht sich auf Goethes Wilhelm Meister-Romane, besonders auf den ersten Roman, Wilhelm Meisters theatralische Sendung. ↩
Die Ich-Erzählerin des Romans. ↩