TAGEBUCHAUFZEICHNUNGEN APRIL/MAI 1984
Am 23. April, Montag, die Fahrt ins Waldviertel. Rastenberg als Ziel, unterwegs Mittagessen in Gföhl, im Forellenhof. Nahe Rastenberg der kleine Ort Loschberg, Noras1 Haus besichtigt, darin ein Zimmer für mich – und das ist es! Ich hab’s gefunden! Bin so glücklich! Mein Schreibraum ist gefunden! Großzügig + hell + freundlich – und der Blick auf die herrliche Landschaft! Werde hier, glaube ich, GUT arbeiten können. Auch die ganze Umgebung gefällt mir besonders, kannte das Waldviertel überhaupt nicht. Und Christiane Singer2, Noras Schwägerin, als Beinahe-Nachbarin, in Rastenberg; sie hin und wieder zu treffen wäre ja auch nicht schlecht...Werde in etwa 2 Wochen hierher ziehen...3
Am 7. Mai, Montag, am Morgen den Station Wagon im Pelzhaus Liska abgeholt, Lillians Auto ist nicht fahrtüchtig, eventuell irreparabel. Ich hatte gestern das Meiste bereits in Kisten verstaut, Bananenkisten von der Firma Meinl bekommen. / Packe noch das Wichtigste zusammen. L. kommt nach, wir fahren nach Loschberg. (...) Auspacken noch nicht, nur das Deponieren der Kisten. Meine Nachbarin und Schlüsselverwalterin heißt Frau Würstel. Mein schöner Raum! / Rückfahrt nach Wien, Abgeben des Autos (400 Schilling Benzin verbraucht) und noch 1½ Stunden mit L. in der Stadt unterwegs. (...) Regen, Traurigkeit, L. bringt mich zum Abschied noch zum Taxi, fahre in den 20. Bezirk, Brigittaplatz, Bus um 15h50 nach Rastenberg – lange Fahrt durch hefigen Regen, bin streckenweise einziger Fahrgast. In Gföhl kurzer Aufenthalt. H.C.4 und seine Irene betreten gerade in diesem Moment die Telefon-Hütte neben der Haltestelle. Ich wußte: H.C. hat nahebei ein Haus, aber daß wir uns so wiedersehen? Durchbreche mein Preußentum, steige aus, werde von H.C. und Irene sofort zum Bleiben aufgefordert. Fahren zu ihnen nach Hause, komme in einen Bauernhof, Michael Korth5 auch dazu, kenne ihn aus Salzburger Tagen.
Verbringen viele gute Stunden miteinander. Irenes dicker, sehr ländlicher bzw. bäuerlicher Bruder auch dabei. Und H.C. erklärt mir sofort: so wie in dieser Küche habe es bei seiner Großmutter ausgesehen – zeigt mir das Schlafzimmer, auch das ganz bäuerlich. Verstehe plötzlich seine Liebe zu Irene: sie weckt in ihm die Liebe zur eigenen Herkunft + Kindheit, zu seiner bäuerlichen Vergangenheit. Er stammt außerdem aus der Nähe von hier, an der tschechischen Grenze, nördlich von hier, aber unweit. Er sagt, das Waldviertel, das sei ja eigentlich Böhmen. Und Budweis ist die nächste größere Stadt. Und Prag näher als Salzburg. Es wird gleich Wein getrunken, später kocht dann Irene Wiener Schnitzel und für mich – aus koscheren Gründen – eine herrliche Hühnerleber mit Basilikum.
H.C. war Soldat im 2.Weltkrieg – und zwar strafversetzt, hat besonders Schreckliches erlebt, er will darüber nicht sprechen. Frage ihn, warum er darüber nie geschrieben habe? Nein, nein, ganz unmöglich, darüber könne man doch nicht schreiben! Das sei doch nicht auszudrücken, in Sprache! Wie ich so etwas denken könne?? Da versage jede Form des Ausdrucks. H.C. erzählt auch Erinnerungen an die Schulzeit in Wien, Dollfuß- und Schuschnigg-Zeit. Sprechen auch ad Franz Werfel, den H.C. als Lyriker sehr schätzt. Als Korth fortgeht, bleiben wir noch eine Weile im Haus, Irene hat mir ihren Gemüsegarten gezeigt – und dann fährt sie mich nach Loschberg, der dicke Bruder und H.C. kommen mit. H.C. sehr herzlich, und sehr, sehr JUNG in seinem Wesen! Fahren via Rastenberg, kehren dort in einem Gasthaus ein, in Schloßnähe, an der Wand ein Mobil-Kalender mit nackter Frau. Weiteres ad Krieg...und Irene spricht über Ebensee, wo sie aufwuchs, ein KZ befand sich dort, ihre Mutter hat die Toten gesehen. H.C. stellt fest: bei kahlgeschorenen Schädeln ist das Grauen abstrakter, nicht so fürchterlich, wie das Sehen eines Toten, der seine Haupthaare noch hat. (Irenes Mutter entsetzte sich erst, als ein toter Deutscher, das Haar intakt, den Fluß hinabgeschwommen kam -) H.C. hat Erdgruben ausgeschaufelt, für Tote. Ich wage nicht zu fragen, ob das für gefallene Soldaten, oder aber auch für ermordete Juden geschah. H.C. hat polnische Stetls gekannt, dort Erlebnisse gehabt – aber ob er bei einem Pogrom dabei war, das sagt er nicht. Bzw. ich frage ihn nicht. H.C.’s Satz, wohl in der Trunkenheit bereits, das, was an Hitlers Verbrechen schlimmer sei als der Tod der 6 Millionen, sei der Umstand, daß Hitler die Juden zu einem Kriegervolk gemacht habe...(!)6
Unsere Weiterfahrt – nach Loschberg. (Zwischen Gföhl und Rastenberg spielte eine Mahler-Sinfonie am Radio. Eigenartiger »Zufall«...7 ) Lade die drei noch zu mir, in meinen schönen Raum – H.C. zeige ich FW-Photos – Almas Photoalbum gefällt ihm so sehr – finde das einen schönen Beginn, den »besten« Lyriker deutscher Sprache der Gegenwart zum Einstand für meine Arbeit »gefunden« zu haben. Er fiel mir zu. Sehe das als gutes Omen – durchaus. Bin etwas trunken, als die Besucher mich um ½ 12h verlassen. (...) Gehe recht glücklich – in ziemlicher Kälte – zu Bett. Dreigeteilte Matratze, leider –
© Peter Stephan Jungk
Gemeint ist Nora Gräfin Herberstein, die mir ihr Landhaus in Loschberg, im Waldviertel (ca. 100km von Wien entfernt) für die Dauer meiner Arbeit an der Biografie Franz Werfels zur Verfügung stellte. ↩
Die französische Schriftstellerin (1943 – 2007) war mit einem der Söhne von Nora Herberstein, dem Architekten Giorgio Thurn-Valsassina verheiratet und lebte mit ihm auf dem Stammschloss seiner Familie, in Rastenberg. ↩
Im Jahr 2004 kam im "profil" in Wien ein Artikel heraus, der das Recherche-Ergebnis beinhaltete, dass Nora Gräfin Herberstein und ihre Mutter sich in der Anschluss-Zeit jüdisches Eigentum angeeignet hatten. Das ist natürlich doppelbödig auch aus dem Grund, da Nora mir Gutes tun wollte, mir ihr Haus fast ohne Miete zur Verfügung zu stellen. Christiane Singer, die Jüdin war, wusste wahrscheinlich nichts von dieser Vergangenheit ihrer Schwiegermutter und der Großmutter ihres Mannes! ↩
Der Dichter H.C. Artmann (1921 - 2000), mein langjähriger Freund, lebte damals zeitweise mit seiner um vierzig Jahre jüngeren Freundin Irene Schrempf im Waldviertel. ↩
Der 1946 geborene Schriftsteller, Sänger und Librettist lebt nach wie vor im Waldviertel. ↩
Rückblickend, dreißig Jahre später, wundere ich mich, H.C. Artmann für diese Bemerkung nicht mit allem Nachdruck kritisiert zu haben. Meine Hochachtung vor ihm war offenbar größer, als mein Zorn über solchen Unfug. Die Tatsache, dass die Bemerkung unter Alkoholeinfluss fiel, nimmt ihr nichts von ihrer Hässlichkeit. ↩
Nach Monaten der Auseinandersetzung mit Alma Mahler, der späteren Ehefrau Franz Werfels und nach meinen Begegnungen mit Anna Mahler, vgl. "Auf der Wellencouch", empfand ich dies als Wink des Schicksals - am Vortag des Beginns der Arbeit an der Werfel-Biografie. ↩