I. Mockumentary
II. Ernst Nolte als Spiritus rector
III. Die Buchversteher
Ein Buch mit einem geradezu kathedralen Überbau: »Reading-Room« der FAZ (ein hässlicher Anglizismus – dennoch: hörenswert das Lesen von Christian Berkel), Marginalienband mit Interviews, Graphiken und textinterpretatorischem Rüstzeug, eigene Webseite (noch ausführlichere Dokumente als im Marginalienband), und fast jedes Feuilleton äussert sich. Und wenn man das Buch mit seinen fast 1.400 Seiten vor sich liegen hat und in den Händen wiegt, dann fragt man sich, ob die Erwartungen ob dieses Monumentalismus überhaupt eingelöst werden können. Oder ob da nicht ein Autor Opfer seiner eigenen Hybris wird.
»Die Wohlgesinnten« sind die fiktiven Memoiren von Dr. Maximillian Aue, Jahrgang 1913, deutsch-französischer Herkunft, promovierter Jurist und am Ende, 1945, SS-Obersturmbannführer. Aue ist Ich-Erzähler, was als »neu« in Bezug auf die »Täterperspektive« hingestellt wird. Das stimmt in dieser Absolutheit natürlich nicht und wird nicht besser, in dem man es dauernd wiederholt. Jeder zweite Krimi schiebt heutzutage den Täter und dessen Motivation in den Vordergrund – meist als Brechung zum Alltag des Kommissars. Hinsichtlich der Shoa stimmt das auch nicht. Man kann nicht so tun, als sei die »Sprache der Täter« zu erfinden. Es gibt sie längst – sowohl im Original, als auch in zahlreichen Fiktionen, die längst in die Weltliteratur und ‑dramatik eingeflossen sind.
Und auch im anspruchsvollen Kino hat man in den letzten Jahren die Tätersprache als radikale Darstellungsmöglichkeit »entdeckt«. Erinnert sei nur an Lutz Hachmeisters »Goebbels-Experiment« und Romuald Karmakars »Himmler Projekt«. Beide Filme bedingen allerdings mehr als nur residuale historische Kenntnisse beim Zuseher (was als Problem auch für die »Tätersprache« in literarischen Werken gilt).
Ein Schriftsteller, der eine Figur wie Aue konstruiert, geht ein grosses Risiko ein: Führt nicht irgendwann die statische Erzählperspektive zu einer zu starken Identifikation? Ist das Wechselspiel beim Leser zwischen Reflexion und Identifikation gar intendiert? Oder tritt das Gegenteil ein und der Leser ekelt sich vor der Brutalität und Empathielosigkeit der Figur und liest irgendwann nicht mehr weiter? Stumpfen sie den Leser gar ab? Oder entsteht eher eine Art Sog des Weiterlesens?
Littell erzählt (abgesehen vom Eingangskapitel) sehr konventionell; chronologisch. Es gibt gelegentlich Rückblenden Aues auf seine Kinder- und Jugendzeit, die als Epiphanien daherkommen. Als er beispielsweise vom Schreien eines russischen Soldaten berichtet, der mit einem Bauchschuss getroffen nach seiner Mutter brüllt, phantasiert er seinen Hass auf seine Mutter (und seinen Stiefvater) herbei, stösst Beschimpfungen über die Anmassung aus, überhaupt geboren zu sein (von fern winkt Littell – und nicht nur hier! – mit dem Zaunpfahl des Existenzialismus [offensichtlich will er Parallelen zwischen Existenzialismus und Nationalsozialismus aufzeigen]) und erinnert sich daran, auf das einzige Mutterbild als Jüngling ejakuliert zu haben bzw. seine Freunde angeleitet zu haben, hierauf zu ejakulieren. Oder die ständigen, wohligen, immer erotisch gefärbten Kindheitserinnerungen über die gemeinsamen Unternehmungen mit seiner so verehrten Zwillingsschwester.
Banalität des Beschreibens
Aber halt. Oben steht, Littell erzähle. Littells Aue erzählt? Nein. Genau das macht er nicht. Und das ist das Kardinalproblem dieses Buches: Littell lässt Aue nicht erzählen, sondern berichten. Und das mit einer ermüdenden Detailversessenheit. Streckenweise liest sich das wie ein Zeugenbericht. Ein Zeugnis vor dem jüngsten Gericht des Lesers, der auch noch ab und zu angesprochen wird? Unter Weglassung jeglicher entlastender »Beweise«? Eine Feuerzangenbowle des Massenmordens? Nein, eher eine schier unendliche Suada der Banalität des Beschreibens.
Zwei Mal wird diese Detaillastigkeit kurz durchbrochen. Einmal, als es um die »Posener Rede« Himmlers geht, als plötzlich in langen Schachtelsätzen, fast ein bisschen hysterisch eine Rechtfertigung zu erkennen ist (weil Himmler hier unverschlüsselt von »Vernichtung« spricht und nicht mehr in Euphemismen redet) und einmal, Seite 1088, als Aue selber seiner bürokratischer Einzelheiten überdrüssig geworden scheint und verspricht, dieses langweilige Datumschieben zu unterlassen – um dann in kurzer Zeit im normalen Duktus zurückzufallen.
Ähnlich wie Bret Easton Ellis’ Massenmörder Bateman immer die entsprechenden Markenartikel seinen jeweiligen Gesprächs‑, Geschäfts- (und Sexual-) Partnern zuordnet (eine weitere Gemeinsamkeit liegt in beider obsessiver Faszination weiblicher Vaginae gegenüber – während Bateman die seiner Mordopfer im Kühlschrank stapelt, imaginiert Aue sie beim Anblick hilfloser Gefangener eines Konzentrationslagers oder der Frau des Lagerkommandanten), so beschreibt Aue die Personen, die er trifft physiognomisch genau, betitelt sie korrekt und rubriziert sie mit Dienstgrad und Dienststellung in die entsprechende Organisation, Rang und Verwaltungsebene ein. Zwar heisst es, dass ihm die ganzen Rangordnungsrituale der SS suspekt seien, aber kurz vorher spricht Aue – wie selbstverständlich – vom Prinzip der doppelten Unterordnung. Das Gespinst, welches sich da auftut, ist schwer zu entwirren, vermittelt jedoch durch die Bestimmtheit des Vortrags Authentizität. Derart eingestellt, wird der Leser zunächst einmal zwangsweise zum Kumpanen, der (mangels Gelegenheit) die Urteile und Einordnungen zunächst einmal übernimmt.
Aue – ein multifunktionaler »Zelig«?
Problematisch wird dieses Vorgehen, wenn Aue auf Persönlichkeiten der Zeitgeschichte trifft, was sehr häufig geschieht, weil Aue auch fast überall »embedded« ist: Babi Jar; Kaukasus; Stalingrad; Berlin; Auschwitz; Mittelbau; Posener Rede – immer auf der Höhe des jeweiligen Massakers oder Ereignisses.
Littells Verfahren geht auf Kosten der Hauptfigur Aue, die trotz ihrer Anlagen seltsam konturlos, ja blass bleibt. Klaus Theweleit, der das Buch vehement gegen Kritik in Schutz nimmt, sieht in dieser charakterologischen Verkümmerung der Figur einen Ausweis von »Multifunktionalität«. Für ihn ist es ein Kunstgriff Littells, der damit alle Facetten des Krieges und der Vernichtung aufzeigen will. Eine Charakterstudie, so unterstellt Theweleit, sei von Littell gar nicht intendiert worden. Er macht Aue damit zu einer Art Leonhart Zelig, jenem omnipräsenten, chamäleonhaften Mockumentary-Helden Woody Allens. Demzufolge wäre Aue eine Art »Mann ohne Charakter« – was er aber dezidiert genau nicht ist, denn Aues Privatleben »erleben« wir als Leser sehr wohl (und damit ist nicht nur seine Sexualität gemeint). Aue bekommt sehr wohl Eigenschaften zugewiesen, die ihn genau nicht zum bloss »simultanen Ort der Beobachtung« (Goedart Palm) machen, sondern zum Menschen aus Fleisch und Blut (und Kot und Sperma).
Ständig produziert das Buch dokumentarisch verbrämte historische »Wahrheit«. So trifft sich Aue mehrfach mit Himmler (»mein Reichsführer«), verkehrt in der Familie von Adolf Eichmann, mit der französischen Rechten (Rebatet, Maurras, Brasillach), wird einige Zeit zum Verbündeten Speers – und beisst am Ende im Führerbunker bei einer Ordensverleihung Hitler in die Nase. Und auch die Gruppenführer, Standartenführer, Kommandanten und Adjutanten – alles Personen, die tatsächlich existiert haben: Blobel, Bierkamp, Brandt, Globocnik, Höß, Pohl, Rasch, Ohlendorf – und wie sie auch immer heissen (all diese Massenmörder fein säuberlich galeriert als Diashow) und denen Littell durch die Figur Aue Handlungen, Gefühlsregungen, Reden, Aktionen, Intrigen und Rechtfertigungen »andichtet«. Von den Hauptprotagonisten im Buch sind nur sein »Freund« Thomas Hauser (der Aue mindestens dreimal das Leben rettet und am Ende doch von ihm erschlagen wird, um dessen Papiere für eine neue Identität als französischer Fremdarbeiter zu erlangen) und die »graue Eminenz« Mandelbrod fiktive Figuren (abgesehen von Aues Familie).
Wohl gemerkt: Littell legt hier historischen Figuren Sätze in den Mund, die sie zu der fiktiven Figur Aue gesagt haben und die mehr als ein Händeschütteln oder Armhochstrecken hinausgehen. Somit entsteht mindestens oberflächlich, aber auch suggestiv der Eindruck, dass die fiktiven Memoiren eben nicht fiktiv sind, sondern tatsächlich echte Sachverhalte und Dialoge wiedergeben. Littell macht sich nicht die Mühe der Verfremdung. Das bei solchen Büchern ansonsten übliche »Wer ist wer«-Ratespielchen entfällt. Warum macht er das? Die Gefahr ist gross, setzt er sich doch der Kritik von Historikern aus, die im ein oder anderen Fall Diskrepanzen zur zeitgeschichtlichen Figur erkennen mögen. Dass dies bislang nicht aufgetreten ist, mag mit der Kürze der Zeit, in der das Buch erst in deutscher Sprache vorliegt, zu erklären sein. Vielleicht hat Littell auch gut recherchiert (obwohl das nie ein Qualitätskriterium von Literatur ist).
All das geht leicht unter in diesem suggestiven Beschreibungsfuror, der die Probleme und Verstrickungen einer unmittelbaren hinter einer Front verlaufenden bürokratischen Administration zeigt, die sich einem perversen Ziel verschrieben hat und die durch die Aufsplitterung in unterschiedlichste Organisationen und Unterorganisationen in oft kurios anmutende Kompetenzprobleme kommt. Exemplarisch zeigt sich das Ende 1942 in der Frage, ob die kaukasischen Bergjuden als rassische Juden zu betrachten sind und entsprechend »behandelt« (ergo: vernichtet) werden sollen – oder ob sie, wie dies Vertreter der Wehrmacht verfechten, als ethnisch und rassisch eher der einheimischen kaukasischen, in viele Ethnien zerfallenden Bevölkerung zu betrachten sind und somit mit in eine integrative Besatzungspolitik eingebunden werden sollen.
Auf hunderten Seiten werden die Entscheidungsfindungsprozesse, die administrativen und institutionalisierten Akte hierzu aufgefächert- sowohl auf der Ebene der entsprechende Ämter und Behörden, als auch auf der privaten Ebene, in dem eine Freundschaft zwischen Aue und dem unkonventionellen Sprachforscher Voss ausgebreitet wird (der allerdings vor Beendigung des »Entscheidungsprozesses« ums Leben kommt). Littell gelingt es hier durchaus, den ganzen inhärenten Wahnsinn dieser Ideologie zu illustrieren. Sogar eine »Expertin« aus Berlin wird hinter die Front eingeflogen und »forscht« wochenlang (ihr Urteil stand allerdings schon vorher fest). Als Aue, der einer Intrige ausgesetzt ist (man streut das Gerücht einer homoerotischen Beziehung zu Voss – was nicht stimmt), in einem Vortrag auf einer zu diesem Thema einberufenen Konferenz sich dezidiert von den Thesen seines Vorgesetzen absetzt (der als SS-Kommandant natürlich auf Vernichtung plädiert – schon, um bessere Zahlen präsentieren zu können) und für eine andere Sichtweise eintritt, wird er von diesem in den Kessel von Stalingrad versetzt, was nach Lage der Dinge einem Todesurteil gleichkommt.
Der scheitelaugige Zyklop
Spätestens hier wird Aue zu einer Figur, mit der man wenigstens partiell Mitleid empfinden könnte. Littell – davon kann man ausgehen – provoziert dies natürlich, um den Leser vielleicht aus dem bequemen Sessel der Freund-Feind-Dichotomie aufzuscheuchen. Da aber retrospektiv erzählt wird, ist der Spannungsbogen nicht gegeben, d. h. es ist vorher klar, dass Aue überlebt.
Geradezu abenteuerlich allerdings wie dies geschieht: Er übersteht einen Kopfdurchschuss (der Leser bekommt –zig Seiten wirrste Assoziationen vorgesetzt, ohne dies zunächst zu erfahren), wird von Thomas in eines der letzten Flugzeuge verbracht, die noch ausfliegen und er wacht mit einem zyklopischen Scheitelauge im Kopf auf, einer klaffenden Vagina gleich, welches ihm partiell synästhetische Eigenschaften verleiht (und gelegentlich in den Wahn zu treiben droht, etwa, als er Hitler mit Schläfenlocken und Rabbinerschal halluziniert), wird befördert, mit einem Orden behängt und nach der Rekonvaleszenz (die er in einem SS-Pflegeheim, in einem Berliner Hotel, in Paris und bei seiner Mutter verbringt) zeigt sich abermals eine einengende, stetig präsente und irgendwie allwissende Bürokratiemaschine. Aue versucht krampfhaft über sein Beziehungsgeflecht auf eine Position in Frankreich versetzt zu werden, wo er in keinem Fall mit der »Judenfrage« konfrontiert wird. Aber er scheitert in diesem Dschungel…[der] streng darwinistische[n] Prinzipien, der die Individualisierung derart negiert und fügt sich den in ihm gesetzten Erwartungen anderer – um der »Karriere« willen und wird in den Stab um Himmler versetzt.
Diese bis zur Erschöpfung verwandte Beschreibungssprache – oberflächlich dem Protagonisten zuzuschreiben, aber letztlich von Littell initialisiert – kann mehrerlei bedeuten: Zum einen soll uns damit etwas über die Persönlichkeit des Dr. Maximillian Aue mitgeteilt werden. Vielleicht sollen wir glauben, es handele sich um einen pedantischen, ein wenig elitären, arroganten SS-Parvenue, der – wie so viele andere – seine Einsätze als Sprungbrett begreift, um in der Zeit nach dem Krieg mit entsprechender Reputation dazustehen. Die Bürokratie im Nacken spürend, fügt man sich in den unangenehmen Dingen, um der »grossen Sache« zu dienen und zum Sieg zu verhelfen. Aue wäre demnach ein mehr oder weniger angepasster Opportunist – was nicht ganz stimmt, da er mindestens zwei Mal keine »Gefälligkeitsberichte« schreibt, die Thesen enthalten, die man an gehobener Stelle lesen will, sondern ein autarkes Urteil zeigen (später versteht er auch das besser).
Zum anderen könnte es sich aber um einen Effekt Littels handeln, mit der das Grauen, welches uns durch die Person Aue suggeriert werden soll, noch zu verstärken. Dieser »Verstärker« wäre demnach die von fast jeglicher Empathie befreite, kalte Sprache (die allerdings vor der eigenen Larmoyanz in Stalingrad nicht besteht, als er in Tränen ausbricht ob seiner schier ausweglosen Situation).
Anzeichen für diese Funktion gibt es insbesondere auf den ersten rund 200 Seiten. Aue ist in der Ukraine stationiert und mit Logistik und Berichtswesen über die planmässige (und »logistisch« nicht ganz einfache) Vernichtung von Juden beschäftigt. Dieses Massaker wird später als das von »Babi Jar« in die Geschichte eingehen. Eine Szene ist hier symptomatisch. Als er einem Exekutionskommando befohlen ist – längst werden auch Frauen und Kinder hingerichtet – kommt aus dem Pulk ein kleines Mädchen auf ihn zugelaufen und sucht seinen Schutz. Aue beruhigt das Mädchen, streichelt es sogar, reicht es aber schliesslich einem SS-Mann mit den Worten »Seien sie lieb zu ihr.« weiter. Aue bekommt darauf hin eine schreckliche Wut im Bauch, entfernt sich vom Ort des Grauens, geht in den Wald – und beginnt dort die erotischen Walderlebnisse einer Kindheit zu imaginieren.
Oder der ukrainisch-jüdische Junge, der so grossartig göttlich Klavier spielt. Wir hatten vorher erfahren, dass Aue als Kind das Klavierspielen nach anfänglichem Eifer aus Faulheit schnell aufgegeben hatte. Der Junge wird nun zur Projektionsfigur Aues und für eine kurze Strecke im Roman so etwas wie Aues Echo (Nepomuk Schneidewein). Und als dem Jungen eines Tages bei einem Unfall eine Hand zerquetscht wird und damit schlagartig »vollkommen unnütz« geworden war, da er für die Klavieruntermalung in der Offiziersmesse nicht mehr eingesetzt werden kann, wird er sofort ermordet und die von Aue angeforderten Partituren seiner Lieblingskomponisten kommen zu spät (und der Schmerz um die verpasste Gelegenheit [sic!] ist schon da).
Erzählungsimpotenz
Beide Szenen machen sich in der (sicherlich unausweichlichen) Verfilmung bestimmt gut. Man kann sich den bebenden Aue (Brad Pitt?) vorstellen, der wegschauen will, es vor lauter grausiger Faszination aber nicht kann, während die Geigen zum grossen Todesrequiem aufspielen. Aber selbst in diesen doch eigentlichen bewegenden Szenen versagt die Sprache. So spricht vieles für die These einer virulenten Erzählungsimpotenz Littells.
Seine Sprache ist dem Gegenstand nicht gewachsen. Sie ist schlecht. Eine derart beschreibende Sprache muss schneidend sein, messerscharf und darf nicht am Ende die Episoden des Rauchens mit denen als Notschütze im Exekutionsgraben gleichsetzen. Littells Sprache ist »nur« cool. Es ist nicht die Sprache Aues, die da vorgeschoben werden kann (jeder Autor bleibt für die Sprache seiner Protagonisten »verantwortlich«) – es ist das sprachliche Unvermögen des Autors, welches ein herausragendes literarisches Werk verhindert.
Deutlich sichtbar wird dies, weil sich Littell nicht auf die Darstellung – die Erzählung! – des »Monsters« beschränkt, der – natürlich – durch seine Intelligenz und Eloquenz (die sich oft genug als banale Geschwätzigkeit entpuppt) einerseits an Schrecken verliert, andererseits jedoch – ein bekanntes Muster – durch diese Verschlagenheit noch dämonischer wirken soll. Aber dieser Dämonie vertraut der Autor nicht. Die »Banalität des Bösen«, wie sie sich »zeigen« könnte, reicht ihm nicht aus, da hat Marcus Born vollkommen recht.
Aue wird aufgepeppt. Und so wird aus ihm ein Homosexueller (inklusive ausschweifender Schilderungen und einem Loblied auf den männlichen Analverkehr), der nur eine Frau geliebt hat in seinem Leben – seine Zwillingsschwester Una, die er seit Kindertagen inzestuös begehrt (und diesen Inzest mindestens einmal vollzogen hat). Und letztlich ist es die Homosexualität Aues, die ihn in den SD und die SS treibt – er wird 1937 bei einer Streife festgenommen und entkommt nur knapp der Anklage als »Hundertfünfundsiebziger«. Im Verhör wird er (von Thomas Hauser, seinem späteren »Freund«) – ja, was? erpresst? genötigt? – und die »Karriere« ist vorgezeichnet.
Aber auch die Sexualität Aues sprachlich zu orchestrieren, scheitert. Die Orgasmen, die er sich von bereitwilligen Männern (meist Kellnern), besorgen lässt, kommen über die Beschreibung als Kugel aus weissem Licht kaum heraus. Einmal zertrümmert er dabei noch sein Spiegelbild, als sich plötzlich das Bild seiner Mutter über sein Gesicht schiebt. Das Vokabular ist bei aller Lust an der Ausschweifung arg dünn. Unas Brüste sind immer schwer, sein Penis ist entweder Geschlecht oder Schwanz und das Sperma tritt meist in Fontänen aus.
Der Gipfel der Sprachfolter zeigt sich in dem von vielen Kritikern (und dem Autor selber) als Nukleus bezeichneten Kapitel gegen Ende des Buches, als Aue das Haus seiner Schwester (und ihres Mannes) besucht, beide jedoch nicht antrifft und sich dort einige Wochen häuslich einrichtet, obwohl immer mit einem Einmarsch der »Russen« zu rechnen ist. Aue verfällt dort in einen phantasmagorischen Sexual- und Masturbationsrausch, der dem Leser über mehr als 60 Seiten zugemutet wird, in dem er unzählige Male seine (abwesende) Schwester beschläft, ihre Vulva untersucht, nebenbei philosophische Gespräche führt und seine koprophilen Neigungen auslebt. Orgiastischer Höhepunkt ist dann der Verkehr mit einem Baumstumpf, den er entsprechend präpariert, damit sein Anus penetriert werden kann.
Die polymorph-perverse Sexualität Aues (deren Kenntnis dem Leser einen Wissensvorteil gibt, wenn Aue mit den Granden der SS parliert), die fiktiven Dialoge mit Persönlichkeiten der Zeitgeschichte und der unklare Tod seiner Mutter und des Stiefvaters während seines Besuches (Aue vermag sich an nichts mehr zu erinnern – er hat im Delirium die beiden ermordet und wird dafür bis zum Ende von zwei Polizisten – den »Wohlgesinnten« – verfolgt) – all dies ist aufgepfropft.
Und auch Aues psychosomatisches Vomieren (in Stalingrad wird daraus vorübergehend ein exzessiver Durchfall), welches einen weichen Kern unter der harten Schale suggerieren soll: Zeigt sich nicht gerade darin, dass Aue die Exekutionen, diese Bilder der mitleidlosen Vernichtung menschlichen Lebens, die er dem Leser im Kamingeplauder zumutet, als zwar als Unglück, aber notwendig und unvermeindlich einstuft eben doch nicht so »glatt« verarbeitet? Hiermit soll der Figur offensichtlich der dringend fehlende doppelte Boden eingezogen werden.
Aber das Buch fällt auseinander. Denn entweder wir haben einen bemitleidenswerten Protagonisten, der mehr oder weniger Getriebener einer Bürokratie ist oder wir haben den kalten Dämon, der aus Überzeugung und ohne Reue handelt – oder den perversen Lüstling, der seinen Dienst als Mittel zum Zweck einer Karriere nach dem Krieg betrachtet. Aber Littell kann sich nicht entscheiden. Er will alles – vielleicht sogar noch einen multifunktionalen Mann ohne Eigenschaften. Und er scheitert, weil inmitten dieses Authentizitätsberges diese Figur nicht zur Entfaltung kommt.
II. Ernst Nolte als Spiritus rector
Littells Dr. Maximillian Aue ist noch in anderer Hinsicht eine – freundlich ausgedrückt – ambivalente Figur: Durch Ausschnitte und Wortgeplänkel aus den weltanschaulichen Salons des Nationalsozialismus wird insinuiert, dass es so etwas wie einen »guten Nationalsozialismus« gegeben habe. Aue wird zu seinem Prototypen; desjenigen, der einer intellektuell untermauerten Ideologie anhing (Aues grösstes Kompliment für den anderen ist, dass er ein wirklicher Nationalsozialist sei), die leider nur um die Komponente des rassischen Wahnsinns diskreditiert. Diese Deutung bietet sich unter anderem in der Wiedergabe eines Gespräches in Stalingrad an, welches Aue mit einem hohen sowjetischen Politkommissar führt.
Der Kommissar macht eloquent die Parallelen zwischen dem Bolschewismus und dem Nationalsozialismus aus: »Im Endeffekt sind unsere beiden Systeme gar nicht so verschieden […] Wo der Kommunismus nach der klassenlosen Gesellschaft strebt, predigt ihr die Volksgemeinschaft, was im Grunde genau das Gleiche ist, nur auf eure Grenzen beschränkt. Wo Marx im Proletariat den Träger der Wahrheit erblickt, ist für euch die sogenannte deutsche Rasse die proletarische Rasse, die Verkörperung des Guten und der Moral; infolgedessen habt ihr den Klassenkampf durch den proletarischen Kampf Deutschlands gegen die kapitalistischen Staaten ersetzt. Auch wirtschaftlich sind eure Ideen nur ein verzerrter Abklatsch unserer Werte…Wo Marx seine Werttheorie auf die Arbeit gründete, hat euer Hitler erklärt, dass die deutsche Mark, obwohl nicht goldgedeckt, mehr als Gold wert sei…So ist das Geld für euch zum Fetisch geworden, der die Produktionskapazität eures Landes repräsentiert – eine vollkommene Verirrung…Eure Verantwortlichen predigen nach wie vor das freie Unternehmertum, doch eure Industrien sind alle einem strikten Plan unterworfen und ihre Gewinne auf sechs Prozent beschränkt, den Rest eignet sich der Staat zusätzlich zur Produktion an.« Die einzige Ausnahme, so der Kommissar, sei die »Ersetzung der Klasse durch die Rasse, die zu eurem proletarischen Rassismus führt«, was ein kompletter Unsinn sei.
Das grundsätzlich Gemeinsame beider »Weltanschauungen«: »Sie sind beide im Wesentlichen deterministisch; zwar rassischer Determinismus bei euch, wirtschaftlicher Determinismus bei uns, aber eben doch Determinismus. Beide glauben wir, dass der Mensch sein Schicksal nicht frei wählt, sondern dass es ihm von der Natur oder der Geschichte auferlegt wird. Und beide schliessen wir daraus, dass es objektive Feinde gibt, dass bestimmte Kategorien von Menschen legitimerweise beseitigt werden können und müssen, nicht aufgrund dessen, was sie tun oder sogar denken, sondern aufgrund dessen, was sie sind. In dieser Hinsicht unterscheiden wir uns nur durch die Definition der Kategorien: Für euch sind es die Juden, die Zigeuner, die Polen und, wenn ich mich nicht täusche, sogar die Geisteskranken; für uns die Kulaken, die Bourgeois, die Parteiabweichler. Im Grunde ist es ein und dasselbe; beide lehnen wir den Homo oeconomicus der Kapitalisten ab – den egoistischen, individualistischen Menschen, der in seiner Illusion von Freiheit gefangen ist – und propagieren stattdessen den Homo faber: …den Menschen, den es zu machen gilt, denn der kommunistische Mensch muss noch geschaffen und erzogen werden, genau wie euer vollkommener Nationalsozialist. Und dieser zu schaffende Mensch rechtfertigt die unbarmherzige Liquidation all derer, die unerziehbar sind…«
Aue ist angetan von dieser Argumentation. Im Stillen bewundert er tatsächlich den Bolschewismus für sein kompromissloses Durchgreifen gegenüber Abtrünnigen. Auch die Formulierung, dass der Nationalsozialismus eine Häresie des Marxismus sei, stösst bei Aue auf Interesse. Der Unterschied zwischen den beiden Parteien wird heruntergebrochen auf die Feststellung, dass der Bolschewismus »das Wohl der gesamten Menschheit will«, während der Nationalsozialismus »egoistisch ist, nur das Wohl der Deutschen will.«
Dieses Wortgeklingel in den Stalingrad-Ruinen (der Kommissar wird nach diesem Gespräch wieder »entfernt« – und jedem ist klar, was mit ihm geschieht), ist mehr als nur eine Episode. Mit den Parallelen zwischen Nationalsozialismus und Bolschewismus legt Littell einem sowjetischen Politkommissar die These Ernst Noltes von 1986 fast in den Mund: »War nicht der ‘Klassenmord’ der Bolschewiki das logische und faktische Prius des ‘Rassenmords’ der Nationalsozialisten? Sind Hitlers geheimste Handlungen nicht gerade auch dadurch zu erklären, daß er den ‘Rattenkäfig’ nicht vergessen hatte? Rührte Auschwitz vielleicht in seinen Ursprüngen aus einer Vergangenheit her, die nicht vergehen wollte?« Aus diesem Text ergab sich seinerzeit der sogenannte Historikerstreit.
Geschichtsklitterungen
Littell restauriert hier eine Art von Nachkriegstrostparadigma der »getäuschten« Generation(en), dass nicht alles so schlecht gewesen sei und nur das exzessive Beharren in der »Judenfrage« der Fehler, eine Art Ausrutscher gewesen sei. Auschwitz nur eine Reaktion auf die Gulags (Noltes Obsession, wie Götz Aly bemerkte). Und auch wenn es sich um einen Roman handelt: Das ist eine brandgefährliche Position, zumal sie ohne Brechung – auch im weiteren Verlauf des Buches – virulent bleibt.
Und auch vor einer Geschichtsfälschung macht Littell nicht Halt: Die »graue Eminenz« hinter all den Dingen, eine Art Rollstuhlbuddha mit Katzen und blonden Assistentinnen, die sich SS-Offizieren auch schon einmal gerne anbieten, jener Dr. Mandelbrod und sein Assistent Leland (beide Ende April 1945 bereit, ihre Dienste an Stalin anzudienen) – nicht das diese Kunstfiguren immer wieder eingeschoben werden ist das Arge. Nein, das hier suggeriert wird, dass hinter Hitler und Himmler »dunkle Mächte« (auch noch mit einem jüdischen Namen [hierauf gehen Aue/Littell allerdings ein]) stehen, unterstützt es doch eine später oft vernommene Verschwörungstheorie, dass Hitler eben selbst getäuscht geworden sei oder nicht anders gekonnt habe.
Als Aue dann ab Mitte 1943 in den Stab Himmlers kommt und in einer Zwitterposition zwischen SS und Speers Ministerium die Häftlinge vermehrt in die Industrie einbinden möchte um den Frontlinien »Nachschub« aus der Heimat zu verschaffen und sich daher für bessere Lagerbedingungen, mehr Verpflegung und vernünftige Behandlung der Häftlinge einsetzen soll, zeigt sich einerseits die Verbohrtheit und Statik einer Bürokratie, die irgendwann nur um ihrer selbst willen zu existieren scheint, andererseits aber die inzwischen zum Dogma mutierte rassenideologische Durchdringung der entsprechenden Entscheidungsträger, die einzig in der Vernichtung dieser Menschen ihre Aufgabe sehen.
Um Aue diesbezüglich nicht zu sehr als Lichtgestalt erscheinen zu lassen, werden ihm diese sexuellen Perversionen oktroyiert, die – damit die Literaturexegese was zum Entdecken hat – mit allen möglichen Allegorien garniert werden (von de Sade über Bataille bis Houellebecq). So wird Reflexion über und Identifikation mit der Figur verhindert. Aber, und da hat Marcus Born abermals den richtigen Punkt benannt, die Möglichkeit einer Identifikation wäre notwendig gewesen, um die eingangs so grossmaulig aufgeworfene Behauptung Aues (die auch Littells Doktrin sein dürfte), jeder hätte es ihm gleichgetan, für sich beantworten zu können (übrigens auch keine unbedingt innovative These). Die Distanzierung, die beim Leser einsetzt, verhindert diese Auseinandersetzung und macht es leicht, sich diesen Kerl vom Leib zu halten (und Neurechten erleichtert es, die Ideologie des Nationalsozialismus zu »retten«).
Dr. Maximillian Aue weiss natürlich um sein Handeln – um nicht »Schuld« zu sagen. Er ist intelligent. Er ist belesen. Er formuliert Kants kategorischen Imperativ zum »Führer-Imperativ« um. Er verehrt Ernst Jünger (der einen Cameoauftritt hat). All das wirft Littell in die Waagschale. Und Aue ist – auch das wird dem Leser schon auf den ersten Seiten mitgeteilt – ohne Reue. »Reue ist etwas für kleine Kinder«, sagte Eichmann in Jerusalem. Ohne Reue bedeutet hier aber auch: ohne Rechtfertigung. Aue sieht sich spezifisch nicht als ein Rädchen im Getriebe. Seine Herangehensweise – und auch die vieler, die in diesem Buch beschrieben werden – ist die einer (pervertierten) Form von »Pflichterfüllung«; von Notwendigkeit (diese Vokabel fällt immer wieder fallbeilartig). Aue ist – das ist folgerichtig – überzeugt von der »Kollektivschuld« der Deutschen am Geschehenen. Für ihn ist der »Führer« letztlich der Vollstrecker des Volkswillens. Somit ist am Ende jeder schuldig, da auch in seinem Namen agiert wurde.
Littell paraphrasiert Hilberg.
Littells Aue hängt dem Lager der funktionalistischen Geschichtsschreibung der Historiker an, die besagt, die Judenvernichtung sei sozusagen »ein unglaubliches Zusammentreffen der Absichten, ein übereinstimmendes Gedankenlesen einer weit ausgreifenden Bürokratie« (Raul Hilberg) gewesen und nicht einem vorher gefertigten Plan entsprungen. Es sei, so Aue, ein grotesker Irrtum, alle unsere Fehler nur dem Antisemitismus anzulasten, was er mit der parallelen Vernichtung beispielsweise von Geisteskranken, »Zigeunern« und Millionen von Russen und Polen begründet. Littell übernimmt hier fast ohne Veränderung Hilbergs These, was er im Gespräch Pierre Nora bestätigt (ein Dokument geradezu abstossender Liebedienerei, in dem Nora, der immerhin als Historiker geführt wird, auf die vollkommen abwegige Idee kommt, Littell sympathisiere mit Goldhagens These des »eliminatorischen Antisemitismus«, was exakt das Gegenteil dessen ist, was Littell beabsichtigt). Die intentionale Geschichtschreibung, die sich unter anderem auf Hitlers »Mein Kampf« bezieht, und einen grösser angelegten Plan sieht, kommt nicht vor.
Ungelöst (weil ungestellt) bleibt die Frage, warum ein Schriftsteller, der sich ja primär fiktional am Gegenstand »abarbeitet«, überhaupt die eine oder andere These vertreten soll.
Westentaschenpsychologisierend fügt Littell noch einige zusätzliche Interpretationskrücken hinzu. Die Deutschen hätten, so ein Gedanke Aues, die Juden aus einer Art Selbsthass ermordet – sie seien ihnen inzwischen viel zu ähnlich geworden; alle den Juden zugeschriebenen negativen Eigenschaften habe man inzwischen mehr oder weniger perfekt übernommen und sei inzwischen kaum noch zu unterscheiden. Aber, so die Aussage, man hasse natürlich nichts so sehr wie das, was [einem] am meisten gleicht.
Und ein andermal glaubt Aue, es sei eine rein technische »Aktion« gewesen, was dort geschehen sei – man habe einfach eine Aufgabe gesucht und die Judenvernichtung sei eben eine solche gewesen. Der Autor scheint letzterer These, die eine rohe Prolongation von Raul Hilbergs Quintessenz ist, selber anzuhängen – in Interviews (die nicht dem Buch angelastet werden dürfen) spricht er gar davon, den Holocaust »dejudaisieren« zu wollen – was in Verbindung mit obiger Aussage nichts anderes wäre, als die Millionen Toten zu Kollateralschäden gelangweilter Bürokraten zu erklären. Nicht nur deshalb hat Harald Welzer recht, wenn er meint, dieses Buch erklimme eine neue »Eskalationsstufe der Nazi-Faszination«. Und »nichts, was in diesem Buch steht«, so Welzer, »bringt irgendetwas Neues, inhaltlich wie ästhetisch.« Ja, wie sollte es auch irgendetwas Neues bringen? Nur, weil clevere Werbestrategen und sich dienstbeflissen zeigende Literaturkritiker (und ein gross irrender Jorge Semprún – ein Hoch auf ihn!) Littell zum Deus ex machina deklarieren?
Womit wir bei der Rezeption angekommen sind. Die Heftigkeit der feuilletonistischen Diskussionen verwundern nicht. Die scharfen Kritiker des Buches werden einer »idiosynkratische(n) Literaturkritik« zugeordnet, die den »den pittoresken Glanz« als »ästhetisches Apriori benötigt, weil anders diese Welt nicht sein darf« und »im Widerstand gegen dieses Werk auf die Aporien und Vorurteile ihrer eigenen Disziplin« stösst (Goedart Palm).
Der Gedanke, dass man den Gegenstand der Kritik aufgrund der Tatsache, dass man dessen Ästhetik nicht wahrhaben wolle, ablehne, wird nicht belegt. Er ist auch unzutreffend, genau so, als würde man behaupten, die perverse Sexualität Aues sei die des Autors selber. Dabei spielt es übrigens auch keine Rolle, mit welchen Vorschusslorbeeren oder Werbeaussagen das Buch bedacht wurde (auch nicht von wem). Dass das Buch voreilig und grossmaulig als »Jahrhundertroman« apostrophiert wurde, darf bei der nüchternen Beurteilung keine Rolle spielen.
Das Scheitern dieses Buches liegt demzufolge nicht darin, dass eine bestimmte Erwartungshaltung nicht eingelöst werden konnte. Die Argumente, warum »Die Wohlgesinnten« missraten sind, wurden vorgebracht. Sie finden sich innerhalb des Buches und nicht ausserhalb.
Littell hat genügend Potemkinsche Pappkulissen für Germanisten und Romanisten und Kaffeesatzdeuter aufgebaut. Wer die Besprechung im Literaturclub des Schweizer Fernsehens gesehen hat, weiss, was gemeint ist. Corina Carduff und insbesondere Stefan Zweifel hoben mit dem Besteckkasten ihrer literatur- und kulturhistorischen Deutungsmaschinerie zur grossen Verteidigungsrede aus – die jedoch meistens darin gipfelte, den Kritikern mangelndes Verständnis zu attestieren. (Zweifels unkritische Besprechung spricht sogar vom »Tabubruch« – die übliche letzte Zuflucht, wenn das argumentative Kaminfeuer längst ausgegangen ist.)
In feierlich-frömmelndem Ton wurden Parallelen zu Aischylos und der Elektra-Tragödie konstruiert, Aue flugs zum »mythologischen Helden« gemacht, gleichzeitig natürlich die bereits erwähnten »Diskurse« um Bataille und de Sade bemüht (sie hatten in der Eile Genet vergessen). Stefan Zweifel verstieg sich gar zu der Mutmassung, Max Aue und Thomas Hauser seien vielleicht aus der tatsächlichen Figur Max Thomas destilliert – ohne vermutlich einmal nachzuschlagen, dass diese Figur rein gar nichts historisches mit den beiden fiktiven Figuren mehr gemein hätte. Und schon in den beiden Anfangssätzen sieht Zweifel Verweise auf François Villon und – natürlich – Céline. Nur: Was nutzt das? Wie unwichtig, unbedeutend und lächerlich ist ein Buch, in dem fast jeder Satz nur durch kontextuelle Verweise auf andere literarische Werke seine Bedeutung bekommt und eine Art eklektizistisches Mosaik darstellt?
Theweleit, der Musterschüler
Iris Radisch war in der Fernsehsendung sichtlich um Schadensbegrenzung bemüht. Ihre Besprechung in der »ZEIT« hatte eine grosse Diskussion ausgelöst. Die dort geäusserte brachiale Ablehnung veranlasste Klaus Theweleit zu suggerieren, die negative Haltung beruhe auf einer Art Kränkung, der man anders nicht gerecht werden könne. Daher die Ablehnung. »Man will das nicht« redet Theweleit den Kritikern ein – verlagert Ursache und Wirkung und delektriert sich am Überlegenheitsgefühl des Buchverstehers.
Ihm sei klar gewesen, so Theweleit, solch ein Buch »müsse« man lesen. Nach den ersten zweieinhalb Zeilen weiss er, dass der Autor »nicht zu den schlechtesten zählt« (das Buch hat rund 45.000 Zeilen) und nach 700 Seiten ist er sicher – »das geht nur so«. Leider sagt er nicht, was denn genau »gehen« soll.
Wie ein neues Evangelium empfängt Sisyphos Theweleit Littells Kaminplausch und hebt es in den Himmel deutscher (!) Geschichtsbewältigung. Als heilige das Thema die Form. In dem er jede kritische Reflexion derart niederkartätscht und das Buch für sakrosankt erklärt, verspielt er nicht nur seine intellektuelle Redlichkeit, sondern verspottet auch jahrzehntelange Arbeit diverser Historiker.
Da ihm keine griffigen Argumente für das Buch einfallen zeiht er rasch Radisch des journalistischen Rassismus. Am Ende entblödet er sich nicht im abgestandenen, moralinsauren Altachtundsechziger-Jargon von der »Fortsetzung der gewohnten deutschen Verdrängungen« zu lamentieren. Welche Bücher hat er nicht gelesen, die das locker ins Dunkel stellen, was Littell hier als Skandalon wohl inszeniert hat?
Ein Beispiel: Bereits 1960 (sieben Jahre vor Littells Geburt) gab es im deutschen Fernsehen in der episodisch angelegten Reihe »Am grünen Strand der Spree« (nach den Büchern von Hans Scholz) den Film »Tagebuch des Jürgen Willms«, in dem Massenexekutionen durch SS und Wehrmacht in quälenden Szenen mit minutenlangem Maschinengewehrfeuer gezeigt wurden – ohne Rücksicht, ohne Entschuldigung, ohne Ausflüchte. Die Premiere hatte rund zwölf Millionen Zuschauer. Er wurde mehrfach wiederholt; vor allem in den 70er Jahren. Dieser Film ist heute noch schwer anzuschauen, obwohl auf Splatterszenen weitgehend verzichtet wurde.
Weist Theweleit aus Unkenntnis der zahllosen fiktionalen Literatur diesem Buch einen Rang zu, der bei Lichte betrachtet vollkommen deplaziert ist? Oder will sich nur einer als didaktischer Musterschüler deutschen Bewältigungsfurors profilieren, der alle Hürden nonchalant aus dem Weg räumt, um seinen gesinnungsästhetischen Heiligenschein aufzupolieren?
Dieses Buch stösst weder an die Grenzen der Literatur, noch an die der Literaturkritik. Meine Ablehnung resultiert auch nicht aus einer irgendwie gearteten »Kränkung«; ein absurder Gedanke, ungefähr dem des Geisterfahrers ähnlich, der in einem Anfall von Hybris konstatiert, nur er habe die korrekte Richtung eingeschlagen und alle anderen Fahrzeuge, die ihm entgegenkommen, seien die Geisterfahrer.
Deutlich zeigt sich, dass die blosse Aneinanderreihung historischer Ereignisse noch lange keine geschichtliche Aufarbeitung darstellt (eigentlich eine Banalität). Auch in dieser Hinsicht ist das Buch unwirksam. Das polyphone Kompositionsverfahren von Walter Kempowskis »Echolot«-Projekt ist deutlich illustrativer. Statt sich zu freuen, dass die deutsche Literaturkritik nicht mehr in einen Automatismus weihevollen Raunens beim Thema »Holocaust« verfällt und eilfertig Gesinnungsurteile blanko unterschreibt, sondern ästhetische und sprachliche Impotenz trotz aufwendig und aufdringlich eingestreuter Bedeutungsmaschinerie als solche entlarvt und die wohlkalkulierte Provokationen erkennt, wird sie beschimpft. Als sei der Überbringer der schlechten Nachricht für diese verantwortlich.
Nein, liebe Leute, dieser Kaiser ist nackt!
Herzlichen Dank für diese ausführliche Rezension
Zwar erlaube ich mir gerne das doppelte Vergnügen, a) eine bestimmte Literatur, die das gehobene Feuilleton für diskussionswürdig hält und b) tausendseitige Bücher , zu ignorieren, wurde in diesem Falle aber ein wenig verunsichert.
Hermann Kant hat in »Ossietzky« 7/08 neben den vielen Mängeln dem Buch auch »außerordentliche Meriten« zugesprochen. Er meint, der Autor habe eine Täter-Stimme für uns hörbar gemacht und zwar »ohne eine Apologetik, die Aussichten bei uns hätte, und ohne auch nur einen Funken Verständnis aus uns zu schlagen. Im Gegenteil, man hält nun alles für möglich und richtet sich etwas wacher darauf ein.« Nach Ihrer sorgfältigen Rezension, Herr Keuschnig, scheint mir bei Kant ein wenig Wunschdenken mitzuspielen. Wie dem auch sei, da ich ohnehin »alles für möglich halte«, würde auch aus dieser Qualität kein Lesemotiv entstehen.
Also, mit gutem Gewissen vorm Lesen bewahrt.
Ich bin beeindruckt.
Eine lange und klare Rezension (die sich nicht in unverständlichen Formulierungen verliert, also irgendwie selbst »Literatur« sein will, die aber auch in keinster Weise trivial daherkommt).
Was mich interessiert, auch im Kontrast zu den Rezensionen in Frankreich: Wie sehr kann eine Übersetzung (dazu habe ich eigentlich noch gar nichts gelesen) die Rezeption eines Buches beeinflussen? Der persönlicher Stil eines Autors lässt sich sicher schwer in eine andere Sprache übertragen. Andererseits: Man müsste dem Übersetzer schon Böswilligkeit oder Ahnungslosigkeit unterstellen, mag man ihn für die von Dir angebrachte Kritik – im Wesentlichen die auf einer beschreibenden Ebene »hängen bleibende« Sprache, also quasi mangelnde Literarizität – verantwortlich machen.
Und richtig ist (Du schreibst es ja, und Theweleit ignoriert es): Warum werden in einem literarischen Werk, die Thesen des Autors explizit gemacht (zumindest nach Theweleits Deutung), wenn genau damit die Literarizität zerstört wird?
Übersetzung
Littell schreibt zwei offene Briefe an seine Übersetzer. Im ersten legt er wesentliche Punkte fest – im zweiten ein Detail, welches – meiner Meinung nach – lächerlich ist, aber vielleicht exemplarisch zu betrachten sein könnte.
Ich habe keine Kritik über die Übersetzung von Hainer Körber gelesen. Ich bewundere ihn für seine Arbeit und glaube, er hat Littells Intentionen sehr wohl kongenial umgesetzt.
Warum das Buch in Frankreich so erfolgreich war, versucht Harpprecht in der ZEIT zu untersuchen. Ich kann nicht beurteilen, ob er Recht hat. Wenn es stimmt, müsste dieses Buch bei der Geilheit der Briten über Nazi-Themen in Grossbritannien ein Riesenerfolg werden.
@kranich05 / Ich bin immer skeptisch...
wenn ich jemanden vor dem Lesen eines Buches bewahrt haben soll. Im Zweifel: immer lesen und sich selbst ein Urteil bilden.
Das Kant-Urteil verstehe ich nicht. Wenn man der Figur kein »Verständnis« entgegenbringen kann, dann hat dieses Buch ja keinerlei Auswirkungen gehabt. Denn das man einen SS-Obersturmbannführer vor der Lektüre zunächst einmal nicht mit grosser Sympathie begegnet, ist irgendwie logisch. Wenn diese Antipathie jedoch im Laufe des Buches gesteigert bzw. gefestigt wird, so ist dies nichts Neues. Als Effekt übrigens zu wenig – ich mag keine dichotomischen Weltbilder (es ist meistens komplizierter).
Und auch, warum man jetzt, durch die Lektüre des Buches, plötzlich »alles für möglich« halten soll, erschliesst sich mir auch nicht. Dafür brauche ich dieses Buch nicht (sondern vielleicht andere).
Gratulation und [off topic]
Die Buchkritiken werden ja immer besser. Ich bin da momentan etwas zögerlich im Lesen. Ich habe gestern das Bad wieder freigeräumt und drei Bücher entdeckt, zu deren Lesen ich seit Weihnachten nicht mehr gekommen bin.
Statt dessen arbeite ich mich zZ freakisch weg – und das in mehreren Dimensionen. Managen, Programmieren und Lernen.
Aber das gehört auch mal dazu. Jedenfalls macht mir die Arbeit doch einen Höllenspass.
Ja, und ich bitte um ein kurzes Mail mit Telefonnummer, damit ich mich von Düsseldorf aus rühren kann.
Schade
Eigentlich finde ich dieses Literatur-Experiment (das so neu, wie du aufgezeigt hast, nun doch nicht ist) ja ganz interessant, könnte mir sogar vorstellen es zu kaufen. Aber wenn es ein Buch nötig hat, von der FAZ monatelang mit einer so durchschaubaren PR-Kampagne beworben zu werden, dann kann es doch schon von Grund auf nicht lesenswert sein, oder?
Warum?
Diese Kausalität vermag mir nicht einzuleuchten. Was hat die Kampagne der FAZ oder von irgendjemand anderem mit der Qualität eines »Produktes« zu tun? Es sei denn, man unterstellt, dass diese ausufernde Werbung gemacht wurde, weil die »Qualität« eher bescheiden ist.
Die Werbetrommel wurde wohl ob des ausserordentlichen Erfolges in Frankreich gerührt und – vermutlich – hat der Verlag einen ordentlichen Batzen Geld für die Rechte bezahlt. Dass das Buch bei der Kritik mehrheitlich durchgefallen ist, war sicherlich nicht eingeplant.
Respekt
lieber Keuschnig, zu Ihrer Littell-Rezension. Habe aufmerksam verfolgt, was Herbst da mit seinen Notaten angefangen hat und habe ihn schließlich beim Lesen »überholt«. Wobei ich immer mehr zu der Auffassung kam, daß es sich nicht lohne, die Geschichte (also die Lesenotate) bis zum Schluß durchzuhalten.
Richtig ärgerlich ist bei Littell das Endkapitel, das zur reinen Stilblütenlese entartet, als hätten Übersetzer und Lektor die Lust verloren. Schade um Littell – es beginnt wie ein großer Wurf und verheddert sich in Details.
Nach dem Lesen im FAZ-»Reading-Room« hatte ich keine Lust mehr auf das Buch. Dann hatte ich die Notate von ANH gelesen und wollte mir ein vollständiges Urteil bilden. Das Buch entfaltete bei mir während des Lesens sehr wohl eine gewisse Dynamik, ein Interesse (ich würde es aber nicht Sog nennen – die Distanz war immer da) und ich bin auf eine fast kindliche Weise froh, es zu Ende gelesen zu haben.
»Stilblütenlese« ist eine sehr schöne und zutreffende Formulierung.
haben Sie gesehen, wie der Aufbau-Verlag mit seinem Merle trittbrettelt: http://www.amazon.de/Tod-mein-Beruf-Aufbau-Taschenb%C3%BCcher/dp/3746612128/ref=sr_1_1?ie=UTF8&s=books&qid=1209632424&sr=8–1? Auch ein Stück Rezeptionsgeschichte.
Ja.
statt das buch fertig zu lesen
hab ich jetzt doch diese kritik gelesen. da es mir mittlerweile ebenfalls immer weniger gefällt, reicht das ja vielleicht vollkommen;-)