Charlotte Roches Schlampenpalaver »Schoßgebete«, der neue Neo-Realismus der Literaturkritik und ein kleiner Ausflug
»Schoßgebete« berichtet von drei Tagen aus dem Leben der Elizabeth Kiehl (33), die mit ihrem Mann Georg (50) und 7jähriger Tochter Liza in einer »anale[n] Wohnung« in einer deutschen Großstadt in der »Jonathan-Safran-Foer-Ära« (d. i. die Gegenwart) lebt. Lizas Vater ist Elizabeths Fast-Ehemann Stefan. Fast-Ehemann, weil drei Brüder von Elizabeth bei der Anreise zur Hochzeit tödlich verunglückten; die Mutter wurde schwerverletzt. Die Hochzeit wurde abgesagt; die Beziehung zerbrach. Liza wurde, wie Elizabeth erzählt, praktisch als letztes Miteinander zwischen den beiden gezeugt. Fast gleichzeitig lernte Elizabeth den Galeristen Georg kennen, der damals noch mit einer anderen Frau verheiratet war und Vater vom fast gleichaltrigen Max ist. (Die Verwandtschaftsverhältnisse von Elizabeth sind noch komplizierter, weil ihre Mutter Liz mit drei Männern verheiratet war.)
Durch den Tod der Brüder traumatisiert, geht Elizabeth seit acht Jahren dreimal pro Woche zur Psychotherapeutin Frau Drescher, die sie Agnetha nennt (nach einer optischen Ähnlichkeit mit der ABBA-Sängerin). Diese drei Therapiestunden (Dienstag, Mittwoch, Donnerstag) sind so etwas wie die Scharniere dieses Buches. Ansonsten gibt es nur noch Heizdeckensex mit Georg (gleich zu Beginn am Dienstag), Diagnose und Behandlung von Fadenwürmen (die das After-Jucken Lizas erklären), ein Essen in einem italienischen Restaurant, ein Abend mit Porno-Film und indischem Fastfood-Essen und schließlich der Besuch eines Bordells nebst Dreier (am Donnerstag). Diese chronologisch erzählten Ereignisse werden von Überlegungen und Rückblenden der Ich-Erzählerin unterbrochen, die entweder um Sex oder den Unfalltod ihrer drei Brüder kreisen und – das noch mehr – den Folgen für sie. Man erfährt, dass sich Elizabeth von ihrer Mutter und ihrem Vater losgesagt hat. Der Unfall hatte ihrer ohnehin schon problematischen »Alkoholikerfamilie« (»Blut ist dicker als Alkohol«) und ihrem »scheißkomplizierte[n] Patchwork-Leben« den »letzten Rest gegeben«: »Keiner hat danach Kontakt zu keinem.«
So weit, so logisch. Aber Elizabeth will jetzt auch noch ihre beste Freundin Cathrin verstoßen. Am Ende des Buches enterbt sie Cathrin sogar, die vorher im Testament bedacht worden war. Elizabeth lebt nur noch für ihren Mann und ihr Kind. Sie liebt Georg einerseits abgöttisch, jubiliert, dass das (sexuelle) Interesse nach sieben Jahren noch nicht nachgelassen habe, konstatiert jedoch gleichzeitig, dass die »Luft raus« sei. Daher wünscht sie sich sexuelle Verhältnisse mit anderen Männern (gerne älter; wegen ihres »Vaterkomplexes«). Da sie auf Georgs Wünsche hinsichtlich der Bordellbesuche eingeht, fordert sie nun auch Freiheiten für sich ein. Sie möchte aus dem »Monogamiegefängnis« der Ehe ausbrechen – wenn möglich »offiziell«. Das Buch endet mit der Aussicht auf ein Einlenken Georgs (und birgt bereits den Keim einer Fortsetzung).
Elizabeth kultiviert einen neurotischen Bio- und Umweltschutz-Tick (allerdings mit einigen Inkonsequenzen – natürlich ist dies absichtsvoll eine der stumpfen Widerhaken, die im Buch verborgen sind), ist zur Vegetarierin konvertiert und äußert sich als radikale Atheistin. In ihrer Familie herrscht ein veritabler Antiamerikanismus (hierauf ist sie stolz, auch wenn sie vielleicht nicht weiß, dass ihr neuer »Gott«, Jonathan Safran Foer, Amerikaner ist). Elizabeth will Liza »frei« erziehen und etabliert zugleich feste Regeln – alles zu ihrem Wohl. Sie möchte dem Kind das bieten, was ihr als Scheidungskind nicht zuteil wurde. Beim Sex mit Georg wird sie von der Lustfeindlichkeit des Alice-Schwarzer-Feminismus auf der einen und ihrer Mutter auf der anderen Seite gepeinigt. Sie versteht es für sich, das Bedienen des Mannes (»Sexdienerin«) als Macht über diesen Mann zu interpretieren. In einer Mischung aus Trotz, Wollust und schlechtem Gewissen frönt sie ihrem Sexualleben, welches detailliert ausbreitet wird und konstituierend für das Verhältnis zu ihrem Mann ist. Ein Zusammensein mit einem Mann ohne Sex ist für sie unvorstellbar.
Too much information
Die sogenannten Sexszenen bestehen aus einer Mischung aus vulgärem Porno-Jargon, technischer Beschreibung und einem gespielt-naiven Lolita-Ton. Es mag Männer geben, die letzteres mit Verruchtheit verwechseln. Manch amüsante Episode kommt vor; man liest ganz gerne wie sie ihren Mann der Lüge überführt, während ihrer Abwesenheit die Pornofilme doch gesehen zu haben. Zu oft driftet Roche dann aber in einen eher kumpelhaft-deftigen Kiezhumor ab etwa wenn sie ihren Mann ab und an zu einer »Hafenrundfahrt« (guess what) einlädt. Wenn dann Elizabeth ihr Gesicht (!) in Georgs Hoden »vergräbt« (hätte man nicht von einem solchen anatomischen Wunder gehört?) wird es dann unfreiwillig komisch.
Ist »Schoßgebete« nun ein pornografisches Buch? Die Autorin erreicht mit diesen Beschreibungen eher das Gegenteil dessen, was Pornografie eigentlich bezweckt. Demzufolge ist es keine, sondern einfach nur Trash. Was »Schoßgebete« im übrigen von Elfriede Jelineks im Vergleich hierzu großartigen Buch »Lust« (aus dem Jahr 1989) – damals als »weiblicher Porno« von der Autorin bezeichnet – unterscheidet. Man sollte bei Roche nicht in die (so offensichtlich ausgelegte) Empörungsfalle tappen.
Elizabeth plappert nicht nur alles fast ungefiltert heraus, sondern interpretiert auch noch ihr Verhalten mit küchenpsychologischen Deutungen – dabei zitiert und paraphrasiert sie ihre Therapeutin laufend. Indem sie mit einer Mischung aus Einfältigkeit, Inbrunst und Kalkül ihr Innerstes nach Außen stülpt, indem sie den Leser an ihren Komplexen, Hypochondrien, Eigentümlichkeiten, Kontrollfixierungen, Wahnvorstellungen und Panikattacken teilhaben lässt, werden alle Ereignisse ordnungslos gleichrangig – ob Analsex nach einer Abtreibung (der »beste Sex aller Zeiten«, wie sie frohlockt, »auf dem Grab unseres ungeborenen Kindes«), das Fahren mit dem Aufzug oder das Aufbrühen eines Morgenkaffees (»Kaffee machen ist schwerer als Blasen«). So wird der Leser zwangsläufig zum Voyeur der Innensicht eines »Scherbenhaufens« (Selbstcharakterisierung Elizabeth Kiehl) gemacht. Am Ende weiß man lauter Dinge, die man wirklich nicht wissen möchte. Und da die geborene Engländerin Elizabeth ständig englische Floskeln einbindet, möchte man ihr ein herzhaftes »too much information« nachrufen.
In dieser schonungslos-absichtsvollen Offenheit eines ungehemmten »Schlampenpalavers« werden Personen und Ereignisse immer geheimnisloser. Da hilft auch die gelegentliche Ansprache des Lesers mit einem rustikalen »Fickt euch alle« nicht viel: Schon früh stellt sich ob dieser Spirale der Nichtigkeiten eine bleierne Ödnis ein. Selbst der fürchterliche Schicksalsschlag des Unfalltods der drei Brüder überfordert zumeist die erzählerischen Fähigkeiten der Autorin und wird mit ein paar läppischen Adjektiven (»malle«, »verrückt«) oder einer Suada auf den »beschissenen« christlichen Glauben garniert. Eine Ausnahme bildet die Passage, als Elizabeth die schwer verletzte Mutter in einem Krankenhaus in Belgien besucht und sich auf deren Betreuung einrichtet. Ansonsten ist das Buch über weite Strecken ein Beleg wie man laufend redet ohne etwas zu sagen.
Die Realismus-Trick
Warum reüssiert so etwas? Vielleicht sieht sich Felicitas von Lovenberg (»Verliebe dich oft, verlobe dich selten, heirate nie? Die Sehnsucht nach der romantischen Liebe«) ja als eine Art Seelenverwandte von Charlotte Roche und schraubte deshalb das Feuilleton der FAZ mit einer Lobhudelei nebst Interview vorübergehend(?) auf Brigitte-Niveau herunter. Wobei man ihr mindestens eine nüchterne Gegenstimme hätte zur Seite stellen sollen. (Aber vielleicht wird der Feuilleton-Chef nach einigen Jahren ja auch hier schreiben, dass man sich geirrt habe.) Die Zustimmungen anderer Kritiker gründen sich teilweise auf nur partielle Lektüre (Verena Auffermann, die von zwei Therapiesitzungen im Roman spricht – es sind aber drei), teilweise dürfte sie den Verflechtungen der Autorin in der Branche geschuldet sein.
Aber das erklärt diese fast groteske Affirmation nur zum Teil. Es zeigt sich ein Effekt, der immer deutlicher die Literaturkritik bestimmt und schon im »Fall« Hegemann übermächtig herausbrach: die Beurteilung eines Prosatextes aufgrund des in ihm vorhandenen bzw. assoziierbaren Anteils von Realismus. Insbesondere bei Romanen mit einem Ich-Erzähler (oder einer Ich-Erzählerin) wird nach autobiografischen Parallelen fast mit kriminologischer Intensität gesucht. Je größer die Übereinstimmungen sind, desto höher die »Authentizität«, die diesem Werk zugesprochen wird und desto verzückter die Urteile. Wobei Authentizität in der Eile mit Wahrhaftigkeit verwechselt wird. Sprache? Eine ästhetische Einordnung? Ist scheinbar gestrig. Schlimmer als diese protzige Betroffenheitsliteratur ist nur noch diese erbärmliche Betroffenheitskritik, die Adjektive wie »schonungslos« und »offen« als Qualitätskriterien etabliert.
Der Grund für diese Hinwendung zu dieser Form eines autobiografischen Neo-Realismus liegt in der sehr einfachen Nachvollziehbarkeit, die zudem leicht vermittelbar ist. Während man für ästhetische Analysen Zeit braucht und dem Leser Erläuterungen und Begründungen geben muss, ist ein Abscannen biografischer Details (nebst den dann offensichtlichen Differenzen!) sehr einfach. Die meisten Autoren liegen dabei längst wie offene Bücher vor ihren Richtern – anders bekommen sie kaum noch Zugang in die Feuilleton-Walhalla. Die Konzentration auf das Geschriebene, den »Text« – losgelöst von biografischen Details – erscheint da wie eine Zumutung.
»Schoßgebete« bietet die autobiografische Lesart auf dem Silbertablett. Es lebt aus der Versuchung, Ich-Erzählerin und Autorin (und deren Familie) gleichzusetzen. Daher ist Roches Pochen auf eine zweite Ebene, die in der Figur Elizabeth Kiehl stecken soll, bigott. Schon der Vorname der Hauptfigur ist Roches zweiter Vorname nachgebildet. Der abgedruckte Hinweis, Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen seien rein zufällig, ist lächerlich. Dieses wohlfeile Dementi soll nur rechtlichen Schritten die Nahrung entziehen (die Protagonisten wären klug beraten, das Buch nicht dadurch noch mehr medial aufzublasen).
Man kann leicht zeigen, dass Roche durchaus Wert auf die Übereinstimmung mit den biografischen Details legt – beispielsweise in dem sie bewusst deutliche Parallelen zwischen Ereignissen und Figuren im Buch und in ihrem Leben setzt (Alter; Lebensverhältnisse; der Unfall der drei Brüder nebst medialer Darstellung; bis hinein in den Erzählduktus, der ihre Oralität wiedergibt). Bei jeder in Interviews aufkommenden peinlichen Situation weist sie dann brüsk diese Parallelität weit von sich. Wäre dieses Buch gute Literatur, wäre sich die Frage nach Übereinstimmung zwischen Hauptfigur und Autorin sekundär. Erst später könnte man, wenn überhaupt, Parallelen herausdestillieren. Eine Aufgabe für Literaturwissenschaftler, die große Kontexte aufzeigen.
Immunisierungsstrategien
Indem Roche kaum Verfremdungen einsetzt (bzw. diese derart platt sind, wie aus der »Bild«-Zeitung die »Druck«-Zeitung zu machen oder das Alter ihres ältesten Bruders von 21 auf 24 zu setzen), spielt sie mit der Authentizität. Der Trick besteht darin, dass sie einerseits diese Übereinstimmungen nahelegt und aktiv kommuniziert (dass dies der Verlag tut, ist irrelevant) und andererseits auf Fiktionalität rekurrieren kann – die es mit Sicherheit geben wird, allerdings wird sie überlagert durch die Eindeutigkeit der Übereinstimmungen mit der Realität – exakt das Gegenteil dessen, was ein fiktionales Werk eigentlich ausmacht.
So weist Roche beispielsweise darauf hin, dass Elizabeths Mutter (die im Laufe des Buches mit Invektiven nahezu überschüttet wird) nicht ihre Mutter »abbildet«. Dennoch stimmen viele der »fiktiven Mutter« zugeschriebenen Eigenschaften in verblüffender Weise mit denen der »richtigen« Mutter (Liz Busch) überein. Dieses Vorgehen ist wohlgesetzt und bereitet den Nährboden für jene Art von kalkulierter Skandalisierung, die manche Medien dann sehr gerne breittreten. Dadurch wirkt die Trennung zwischen Erzählerin und Autorin ziemlich zwanghaft und, wenn Roche dann auf »Kunst« rekurriert, fast peinlich: »Wenn ich ein Buch schreibe, dann versuche ich aus meinem Schmerz Kunst zu machen. Ich habe penibel darauf geachtet, keine familiären Gefühle zu verletzen. Das ist Fiktion, basierend auf einer wahren Tatsache.«
Das »System Roche« basiert auf diesem lächerlichen Katz-und-Maus-Spiel zwischen Fiktionalisierung und Realismus. Man täusche sich nicht: Es handelt sich um eine Methode, Literatur zu simulieren. Dies nicht einmal thematisiert, sondern goutiert zu haben, ist ein großes Versagen der Literaturkritik.
Die Methode ist im Übrigen durchaus unzureichend umgesetzt. Mehrfach wird die Deckungsgleichheit zwischen Roche und Kiehl geradezu vorausgesetzt. Am deutlichsten in der Szene, als die »Druck«-Zeitung bei Kiehl anruft und das Foto des Autowracks am nächsten Tag effekthascherisch publiziert. Hier wird schlichtweg vorausgesetzt, dass der Leser die (damalige) Musikjournalistin und Fernsehmoderatorin Charlotte Roche mit Elizabeth Kiehl gleichsetzt. Ansonsten wäre zu fragen, wer diese Frau Kiehl denn war/ist, dass die derartig bedrängt wird und offensichtlich für Boulevard-Medien interessant ist. Im gesamten Buch gibt es hierzu keinen Hinweis. Es bleibt bei der nichtssagenden Einlassung, sie habe ihr »Hobby zum Beruf« gemacht.
So ist auch Kiehls Kampf gegen die »Drecksschreibtischtäter« der »Druck«-Zeitung, die Rachedrohungen gegen den Herausgeber nebst Ächtung aller Käufer derart aufreizend parallel zu Roches öffentlichem Auftreten, dass es fast schon eine Verdummung der Leser darstellt, hier zwischen den Figuren trennen zu sollen. Dabei verwendet Roche den Unfall ihrer Brüder als Folie für ihren Widerstand gegen die »Bild«-Zeitung – ein Unterfangen, das den Roman en passant immunisieren soll gegen Kritik. Wer gegen die »Bild«-Zeitung ist, darf einfach keine schlechten Bücher schreiben – so die platte Schlussfolgerung, die dem dichotomischen Weltbild Kiehls (Roches? – egal!) entspricht. Da hilft es auch nicht, dass die Protagonistin des Romans von diesem Vorgehen durchaus weiß: »Ich muss mir die Welt in Gut und Böse einteilen, weil ich sonst unfähig werde, politisch zu sein.«
Kleiner Ausflug zu einer »Übriggebliebenen«
Nur wenige Aufrechte widersetzen sich den Huldigungen der Meute. Der Einwand, hier falle eine Branche auf eine geschickt geschmierte PR-Maschine herein ist nur eine partielle Erklärung, die zur Frage Anlass gäbe, warum diese Werbemaschine überhaupt verfängt. Vieles spricht dafür, dass der Ausspruch Ruthard Stäbleins, der Erscheinungstag der »Schoßgebete« sei nicht nur der »schwarze Montag« für die Aktienmärkte, sondern auch für die Branche der Literaturkritik gewesen, mehr ist als nur ein wohlformuliert-resignierender Aphorismus. Eine Auseinandersetzung mit »Schoßgebete« als Literatur, eine Analyse der Sprache, Hinweise auf ähnliche Bücher in der Vergangenheit – all dies fand bisher kaum statt. Warum nicht? Weil es zu kompliziert ist? Weil einfach schöner ist, Teil eines Hypes zu sein und damit auch einmal im Mittelpunkt zu stehen? Verkauft sich die Literaturkritik um der schnöden 15 Minuten Aufmerksamkeit willen?
Wie wenig Bezug auf die Literatur der 70er und 80er Jahre genommen wird. Liegt es daran, dass man diese nicht mehr kennt? Wundern würde es nicht, outete sich doch kürzlich eine Literaturwissenschaftlerin öffentlich, erst jetzt mit einem Buch von Heinrich von Kleist in Kontakt gekommen zu sein (es war »Michael Kohlhaas«) und mit einer Bestellung der Gesamtausgabe dies nun schnell nachholen zu wollen. Dabei gab es eine Autorin, die in ihrer ungestümen Vehemenz mit Charlotte Roche durchaus konkurrieren kann – und dabei eine Schriftstellerin war. Matthias Matussek beschrieb diese Frau in einer Reportage aus dem Jahr 1988 anlässlich des Erscheinens ihres Buches »Bitteres Wasser« wie folgt:
- »Es ist eine Art Überschuß an roher Mitteilungswut, an ungeformtem Redezwang, der den Leser mit sich zieht. Ein Buch wie hingesprochen, ohne alle Versuche, die sprachlichen Dürftigkeiten kosmetisch zu glätten oder herauszulektorieren. Ein im besten Sinne peinliches Buch, deplaziert, bizarr in den Schöner-schreiben-schöner-leben-Welten der achtziger Jahre.« Ihr Buch sei, so Matussek, auf eine »ungelenke Art schön«. Die Autorin erschien ihm damals wie »eine Übriggebliebene. Eine der letzten, die ihre aufklärerische Aggressivität gerettet haben.«
Die Rede ist von Karin Struck (1947–2006), die 1973 mit ihrem Erstling »Klassenliebe« einen kometenhaften Aufstieg feierte. Dieses Buch gilt heute als eines der Gründungswerke der sogenannten »Neuen Innerlichkeit« (bzw. »Neuen Subjektivität«) – ein Begriff, der infolge seiner Ungenauigkeit schon wenig später fast nur noch denunziatorisch verwendet wurde. Strucks »Klassenliebe« ist ein in Tagebuchform gefasster Assoziationsstrom der Studentin »Karin«, die ihre gesellschaftliche Position in der Bundesrepublik suchte. Es ist eine wilde Suada, zum Teil in schonungslos derbem Ton. »Ein Buch wie eine Person«, überschrieb der unvergessene Reinhart Baumgart seine Besprechung im »Spiegel«. »Klassenliebe« ist von großer intellektueller Radikalität – gegen eindimensionale Denk- und Sprachmuster rebellierend und gegen die im »linken« Mainstream wahrgenommenen Zwangsbeglücker. Dabei galt Struck kurzzeitig auch als Ikone des Feminismus – übrigens ein ziemliches Missverständnis. Bei aller autobiografischen Verknüpfung zwischen Autorin und Geschriebenem handelt es sich dennoch um einen künstlichen, ergo literarischen Text. Authentizität diente hier als Basislager, von dem die Expedition in das Reich der Literatur begann und nicht, wie im modernen Neo-Realismus, als Ziel.
1983 schrieb Christian Schultz-Gerstein über die Rezeption der Literaturkritik nach Strucks dritten Roman »Lieben« 1977. Ihr Stern war inzwischen gesunken: » ‘Der totale Mangel an Diskretion’ wurde nun gerügt, ‘Karin Strucks Offenheit’ als ‘unerträglich kokett’ abqualifiziert, man wollte ‘dieses wehleidige Gezeter’ nicht länger hören, ‘die Wortwut einer Trend-Schreiberin’ ging den Kritikern auf die Nerven…«
Mimi und Elizabeth
Heute scheinen diese Attribute (wieder?) bestsellerfähig, wie man bei Roche sieht. Wenngleich man attestieren muss, dass Strucks Bücher bei allen vielleicht formalen Problemen nur schwer eine literarische Qualität abzusprechen war. Die Lektüre ihres vielleicht schönsten Romans, »Glut und Asche«, geschrieben zwischen 1983 und 1985, veröffentlicht 1988, zeigt beim genauen Lesen interessante Parallelen mit Roches »Schoßgebeten«.
Die Hauptfigur bei Struck heißt Mimi; eine Frau von Ende 20/Anfang 30. Sie arbeitet als Künstlermodell. Vordergründig wird die Geschichte ihrer beiden Liebschaften zu einem »Antinoos« genannten Mann, einem »Augenmenschen«, und Ulrich erzählt. Mimi ist weitgehend Einzelgängerin; nur ihrer besten Freundin Renée vertraut sie sich an. Soweit die Differenzen. Die motivischen Übereinstimmungen sind allerdings verblüffend: Wie Elizabeth hat Mimi eine fast paranoide Angst, beobachtet zu werden. Beide Figuren sprechen mindestens teilweise dem Alkohol exzessiv zu. In beiden Romanen gibt es eine Andeutung eines sexuellen Mißbrauchs als Kind. Und auch Mimi spielt einmal mit dem Gedanken, sich in die Tiefe zu stürzen. Während dies bei Roche aufgesetzt wirkt, erzählt Struck diese Situationen verstörend.
Beide Frauen sind fertig mit dem von ihnen als lustfeindlich wahrgenommenen Feminismus und interpretieren und leben ihre Sexualität nicht als Nachgeben des Machtstrebens des Mannes, sondern als Genuss. Wie Elizabeth besteht auch Mimi trotzig auf ihren »vaginalen Orgasmus«. Mimi weiß wie Elizabeth um die Situationen der Männer-Hilflosigkeit und verfechten die »sexuelle Freiheit der Frau«, ganz ohne » ‘Familienideologie’ «. Elizabeth als radikale Atheistin lehnt den Begriff der Seele ab. Für Mimi ist die Seele in den Geschlechtsorganen der Frau und die Haut »war die glühende Grenze zur Welt«. Beide besuchen einen Sexshop und kaufen einen Plastikpenis – für den Mann. Einige Sexualpraktiken kommen bei Struck in scheinbar ähnlicher Drastik vor. Von anderen wagt nicht einmal Charlotte Roche zu erzählen; Struck schon. Dabei verfällt Struck jedoch niemals in eine plumpe Obszönität.
Stattdessen finden die Protagonisten in »Glut und Asche« Wörter für ihre Geschlechtsteile jenseits von Vulgarität. Das Wort »Schwanz« taucht in diesem Buch nur einmal auf – und wird als fehlerhaft entlarvt: » ‘…der Penis ist doch kein Rückenwirbelfortsatz’ «. Stattdessen: »Fühler« oder »Schnecke« (»er geht in sein Haus«). Die Vagina wird zum »zweiten Mund«, die Schamlippen sind »Liebesflügel«; die Wörter für die Klitoris möchte der geneigte Leser selber nachlesen. Als Antinoos Mimi »unersättlich« nennt, kontert sie: » ‘Denk doch bitte nicht in solch veralteten Begriffen. Ich bin nicht unersättlich, ich bin unerschöpflich.’ «
Zuweilen erscheint Mimi als eine ferne Tante von Elizabeth. Aber in Strucks Roman geht es nicht um die reine Darstellung von Erlebtem. Es geht (auch) um Worte, die »nur unausgesprochen ihren Zauber entwickeln«. Hierin liegt ein großer Unterschied zu Roches peinlicher Holzhammerrhetorik. Wie frisch und belebend das vor mehr als 25 Jahren geschriebene Buch im Vergleich wirkt. Und während Strucks Buch eine reflexive Melancholie bis hin zur Traurigkeit durchzieht, wird der Leser in »Schoßgebete« einfach viel zu oft nur verbal belästigt.
Der Text als pdf-Dokument: Das große Versagen
Sehr schöne Analyse, sehr überzeugende Abwägung.
Dass die Feuilletonisten versagen, ist gewiss auf Eile und Entwöhnung zurückzuführen. Der Hinweis auf den Realismus, der nun gerne in Anschlag gebracht wird, scheint mir wichtig. Das Reale wird leider allzu deutlich als das Banale, das Gewohnte, das Erwartbare verstanden, mithin schon geringschätzig behandelt. Das ist Gift für die Literatur, weist aber auch den (wiederum verständlichen) Enttäuschungsgrad der Kritiker nach.
Täuschen wir uns nicht: nicht nur schlechte Literatur spricht schlecht von der Realität, auch die Realität ist nicht mehr, was sie mal war. Gemeinsam sinken wir, unweigerlich!
Was für ein Genuss. Chapeau für eine Literaturkritik, die diese Bezeichnung mehr als verdient: Ich begann die Lektüre des Artikels nur mit flüchtigem Halbinteresse und wurde zunehmend gepackt von diesem exzellent formulierten, sorgfältigen, instruktiven Text, der weder Reibfläche scheut noch sich eitel damit begnügt. Anstelle des verbreiteten nichtssagenden Schlaglichts ist dies eine aussagekräftige Kritik mit Fragen, Antworten und Belegen. Und es ist zudem ein grandios geschriebener Kulturbeitrag. Herzlichen Dank.
Klug, fleißig, überzeugend und ergreifend! Und mir ist zum Heulen, weil ich Karin Struck so lange vernachlässigt habe. – Großen Dank, Gregor Keuschnig!
@ME
Ich glaube das der Hang der Kritik, Literatur nach »realistischen« Bezügen zu bewerten tatsächlich der Eile des Betriebs geschuldet ist, wodurch dann – wie Sie so schön schreiben – die »Entwöhnung« auf dem Fuße folgt. Sie geht auch einher mit dem vorauseilenden Unterschätzen des Publikums.
Natürlich kann und soll Literatur Realismus-Bezüge aufweisen. Aber sie dürfen nicht das ausschließliche Kriterium sein. Die Realität muss – ein großes Wort – transzendiert werden. Oder mindestens gebrochen.
Schön und aufschlußreich zu lesen, Herr Keuschnig, daß Sie sich ausführlich dem Thema gewidmet und das nachgeholt haben, was die Aufgabe der professionellen Literaturkritik gewesen wäre. Wunderbar, wie Sie anhand des Struck-Werks aufzeigen, worin der Unterschied zwischen »Trash« und »Kunst« besteht: bewußte Reflexion und Gestaltung bis in die Wortbildung und Wortneuschöpfung hinein. Denn nur so kann vom grobschlächtigen, oft dümmlichen Zugang zur »Realität« abgewichen werden, der sich im common sense des Durchschnittlichen, des Denkfehlers, des Klischees und Kitsches, auch der Ideologie erschöpft. Frau Roche schreibt auf einer VORstufe des künstlerischen Bewußtseins, die sich von ihrem Alltagsverstand überhaupt nicht unterscheidet. Übel für ihre Textproduktion und ihren Verstand zugleich. Daß sich die Literaturkritik, oder sagen wir mal allgemein, der Medienbetrieb auf das primitive »Authentizitäts«-Spiel der Frau Roche einläßt, zeigt mir, daß die meist studierten Redakteure und Medienexperten auch kein Bewußtsein mehr für den Realitätsbegriff haben, oder ihn bewußt (aus Marketinggründen) ignorieren, verschweigen, verleugnen. Jeder, der in der Medienbranche Verantwortung trägt, weiß eigentlich, daß »Realität« nur medial vermittelt werden kann und somit immer automatisch »transzendiert« und »gebrochen«, bzw. künstlich, interpretiert und gefiltert hergestellt wird. »Authentizität« der Wirklichkeitswahrnehmung ist eine reine Fiktion. Man kann sich nun um eine nuancierte Wirklichkeitsdarstellung bemühen, indem man sich des reichen, methodischen Repertoires aus Wissenschaft und Kunst bedient, oder man kann auch ungeschult Märchen- und Kinderlogik walten lassen. Frau Roche steht nur Letzteres zur Verfügung. Wahrscheinlich auch krankheitsbedingt, sozusagen regressiv. Über Frau von Lovenberg hatten wir ja schon kurz gesprochen, Herr Keuschnig, Frau Auffermann allerdings stellt für mich ein noch viel größeres Rätsel dar. Frau Auffermann kann – im Gegensatz zu Frau von Lovenberg – auch wesentlich anders, meine ich. Sie arbeitet mittlerweile als Freie, soweit ich weiß. Anpassung an die unvermeidlichen Marktbedingungen? Die Literaturkritik tatsächlich und zunehmend als Verlängerung des Verlagsmarketings? Wie unabhängig sind denn selbst die gebührenfinanzierten Medien? Sind denn Hype und Trend nicht schon längst der einzige Maßstab für Themenwahl und Features der Sendeanstalten? Wenn die Einschaltquoten regelmäßig über Gelder und Zeitverträge entscheiden, dann liegt es doch nahe, sich immer regelmäßiger dem Bestseller-Geschmack unserer Zeit anzupassen?
Von allen (hier zurecht gerügten) Zeitungen war die Besprechung in der NZZ...
http://www.nzz.ch/nachrichten/kultur/aktuell/die_gemeinschaft_der_versehrten_1.11980376.html
... dann aber doch noch die einzige, die sich zumindest etwas um Analyse bemühte.
@Michael Plattner
Der erste Satz in der von Marcuccio verlinkten NZZ-Rezension trifft sich mit dem letzten Satz Ihres Kommentars aufs Schönste: »Jede Gesellschaft hat die Bestseller, die sie verdient.« Insofern sind die Ihre/meine (rhetorischen?) Fragen längst beantwortet. Und wo waren denn FAZ, Zeit und Spiegel als es um ein wirklich herzzerreißendes Buch einer neurotischen Frau und deren Liebesbeziehung ging? Wo waren sie denn bei Sten Reens »Kornblum«? Saßen sie da etwa mit den Spießgesellen der Bestsellerindustrie beim Abendessen zusammen, statt sich dieses Werk zuzumuten?
@Marcuccio
Danke für diesen Hinweis. Das ist tatsächlich bisher das Beste, was ich dazu gelesen habe. (Ich frage mich nur, warum der Rezensent den Namen der Protagonistin konsequent falsch geschrieben hat?)
Ja, stimmt, @Marcuccio, Herr Güntner hat sehr schweizerisch sanft das Phänomen Roche in ein mildes Licht getaucht, um dann ganz zum Schluß mit einer steilen These zu schocken: Autorin Roche und ihre Fans bilden eine Gemeinschaft der verkrüppelten Seelen, wahrscheinlich ohne es zu bemerken, wie verkrüppelt sie eigentlich sind. Das zumindest wäre eine Diskussion wert.
Ich möchte auch auf zwei Frauen verweisen, die ebenfalls angemessen den Hype gekontert haben: Frau Horst in der »Jungle World« -> http://jungle-world.com/artikel/2011/33/43819.html und Frau Deckert im »Cicero« -> http://web.archive.org/web/20120104131726/http://www.cicero.de:80/salon/charlotte-roche-roman-schossgebete-inszeniertes-tabu-sex/42729
@Michael Plattner
Ich finde Güntners These interessant. Wenn sie auch bisschen sippenhaftiges an sich hat.
(Interessant am Rande: Sehr häufig schreiben Frauen über das Buch...)
Ja, Herr Keuschnig, damit ist alles beantwortet. Und gleichzeitig die Talsohle erreicht. Im Tal der Tränen. Sollte Ihr Geschäftsessen-Bild der Wirklichkeit entsprechen, dann möchte ich nicht wissen, wo wir in 5 oder 10 Jahren sind. »Schoßgebete« ist, glaube ich, ein Wendepunkt der Rezensions- und Rezeptionsgeschichte. Noch nie klafften Hochkultur-Adelung und faktischer Nullwert (»Ground Zero« zwischen zwei Buchdeckeln, um Herrn Schecks Sarkasmus zu zitieren) so weit auseinander. Sollte »Schoßgebete« sich wiederum glänzend verkaufen (noch ist den Verlautbarungen des Verlages und den Rankings nicht zu trauen ...), dann werden wir diese Art von marktkonformer, gleichförmiger Werbetexterei des Feuilletons in Zukunft häufiger lesen.
Vielen Dank für Ihren Reen-Tip! Ich mußte anfangs an Leighs Film »Naked« (1993) denken, aber Reens Roman scheint doch eine Resthoffnung zu bewahren.
@Gregor K., es soll ja zwei Hauptzielgruppen der Roche-Schriften geben: Frauen zwischen 15 und 45, und Männer ab 60. No comment. Ich glaube, viele Frauen der Kulturbranche fühlen sich durch die aufgesetzten Frauenthemen der Roche (Beziehung und Familie) herausgefordert, Stellung zu beziehen. Die einen begeistert, die anderen entgeistert. Die egomane Soziopathie der Autorin Roche, von der Frau Deckert u.a. sprach, überformt nicht nur jede Silbe der »Schoßgebete«, sondern geistert wahrscheinlich auch durch die Köpfe ihrer LeserInnen: Bin ich zu dick? Hängen meine Brüste? Warum schreit das Kind mich immer an? Was mag mein Mann zum Abendbrot und geht doch schnell? Mag der attraktive Nachbar mich? Welche Düngestäbchen shoppe ich für meine Balkon-Primeln? Wann tu’ ich mir mal wieder was Gutes und bestell’ mir was Schönes ... . Usw., usw. usw. Das ist die Vorhölle des zerfaserten Familienidylls.
Ein bisschen fühlte ich mich an seitenlange Rezensionen aus den siebziger und frühen achtziger Jahren erinnert, als es nicht wenigen Literaturkritikern noch darum ging, vergleichende Literaturkritik zu fabrizieren und als neue Werke mit bereits bekannten Werken in Verbindung gebracht bzw. verglichen wurden. Damals ging mir das zwar manchmal auf die Nerven, wenn man erst zwanzig Minuten lang eine Einleitung lesen musste, die oft nur aussagen sollte, wie belesen der Rezensent ist. Aber verglichen mit dem, Entschuldigung, Dünnschiss, der in diesen Zeiten in der Regel geboten wird, waren das damals doch richtige intellektuelle Veranstaltungen.
Konkret meine ich: Wie Sie da, natürlich völlig richtig gewählt!, die Karin Struck aus dem Ärmel ziehen, das hat einfach Klasse, das weitet den Blick, weil das ganze Feld der Betrachtung mit einem Male größer ist. Man kann dann die Roche ja viel besser zuordnen, wenn man sich an die Struck erinnert. Die beiden sind unterschiedlich, aber sie sind auch ähnlich, und wenn ich versuche, mir die Roche in den Siebzigern und die Struck heute vorzustellen, dann fällt mir auch ein, was sich in den Medien verändert hat und in der Literaturkritik natürlich (wenn man diese schlecht bezahlten Kauftipps überhaupt noch so nennen sollte), und was in der Literatur und in den Ansprüchen an Literatur anders geworden ist.
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@Michael Plattner
Zweifellos spielt Roche auch mit der Identifikation insbesondere ihrer Leserinnen, die dann in einem nicht unbedeutenden Akt von Verzweiflung diese zur Ikone eines irgendwie neuen Feminismus stilisieren müssen. Wen interessieren da literarische Details? Auch an ihren Helden / Heldinnen mag man ja die Zeit erkennen, in der man lebt.
Ich bin sicher, wir werden in zehn Jahren die heutige Gegenwart schon wie Veteranen idealisieren. Wenigstens regt sich ja noch Protest gegen die Hegemänner und Roches’. Schon bald werden wir das Feuilleton nur noch als verlängerten Arm einer PR-Maschine sehen, in denen Gefälligkeitsartikel den Ton angeben werden (man lese den Kommentar von Josef Bloch #12). Die klassische Kritik wird in Refugien auszuweichen haben, die dann den noch rund 1000 Interessierten noch Reservat und Nahrung bieten.
@Gregor K., ehrlich gesagt, bezweifle ich stark, daß Frau Roche in der Lage ist, bewußt mit irgendetwas zu spielen, wenn doch, dann nicht raffiniert. Vielleicht unterschätze ich Frau Roches Intellekt – und die ausgewiesene Dümmlichkeit und Ärmlichkeit der »Schoßgebete« sind nur Teil einer ausgebufften Kampagne, einer Rechnung, die voll aufgeht. Wenn ich Frau Roche in den Talkrunden sprechen höre, habe ich aber eher den Eindruck, daß sie tatsächlich »Vollgas« im »Roman« gegeben hat – und dabei irrtümlicherweise immer auf die Bremse trat. Nur sagt Frau Roche auch von sich selbst, daß jeder Satz, jede Bewegung von ihr genau choreografiert sei. Allerdings dann wiederum »voll ehrlich und so ...«. Daraus wird niemand schlau.
Die Hauptabnehmerinnen der Roche-Stapel stelle ich mir übrigens so vor:
Oder etwas gesteigert:
Die Lieblingsvokabel beider Rezensentinnen ist eindeutig »eklisch ...« (in Bezug auf »Feuchtgebiete«) – neben »lustisch«. Die blondierte junge Frau mag durchaus Germanistik studieren, da täusche man sich nicht. Achselhaare werden jedenfalls zum Politikum und zur Frage der Existenzberechtigung. Das ist der neue »Feminismus« einer neuen Generation: mein Recht auf Achselhaare!
Der Fall Hegemann ist wahrscheinlich ungeheuer kompliziert im Vergleich zum Fall Roche. Da wäre ich im Urteil vorsichtig. Der »Roadkill« liegt immer noch angelesen auf meinem unteren Regalbrett, die »Debatte« ging völlig an mir vorbei, habe ich schon längst vergessen. Schon allein der immense Altersunterschied läßt mich Frau Hegemann aber weit vor Frau Roche rangieren – neben den deutlichen Qualitätsunterschieden (Plagiat hin oder her. Ghostwriting ist natürlich ein anderer Fall.).
@Michael Plattner
Uff, da haben Sie mich aber vor zwei Geduldsproben gestellt. Wie anmaßend in beiden Fällen das Wort »Rezension« verwendet wird. Lustig war, das beide den »flüssigen« Schreibstil herausgehoben haben...
Ich glaube, Sie unterschätzen Roche. Natürlich ist »Schoßgebete« ein deutlich choreografiertes sprich: lektoriertes Buch. Zwar ist ihr Sprachduktus deutlich zu erkennen, aber es gibt sehr wohl Eingriffe, die man beim genauen Lesen feststellt. Sie ist natürlich nicht dumm und kann auf dieser Welle zwischen verruchter Sexgöttin, neurotischer Öko-Zicke und Neuikone eines Achselhaar-Feminismus sehr gut balancieren. Dabei bezieht sie ihre Existenzberechtigung aus dem Anspruch, jedes »Tabu« müsse »gebrochen« werden. Abgesehen davon, sind die diversen Moderatoren (und Moderatorinnen – damit sich niemand diskriminiert fühlt) weder in der Lage zu fragen, warum jeder Blödsinn inzwischen zum »Tabu« hochgepusht wird und welche Funktionen Tabus in Gesellschaften haben noch warum es nicht immer unbedingt sinnvoll ist, diese zu »brechen«.
Nun gut, Herr Keuschnig, das will ich Ihnen mal glauben, daß Frau Roche eine Medienfüchsin ist. Sind schlechte Bücher heutzutage aber nicht ohnehin zu 50% Lektoratsleistung, bzw. nur mit tatkräftiger Verlagsunterstützung überhaupt zu veröffentlichen? Sie wissen schon, das große Heer der verschwiegenen Coautoren, der Lektoren ... .
Entschuldigen Sie bitte meine Clip-Zumutung. Ich hoffe, Sie hatten einen starken Kaffee neben Ihrem Rechner stehen.
Was Sie treffend über die Moderatoren-Qualität bemerken, konnte man gestern unheimlich konkret in Frau Maischberger verkörpert sehen:
http://www.spiegel.de/kultur/tv/0,1518,783485,00.html
Genau davor hat Herr Scheck gewarnt: vor einer »Debatte« zum Themenkomplex »Roche«. Das Ergebnis war so, wie er es befürchtet haben muß. Eine Totalverwirrung, eine gegenseitige Wortabschneiderei, eine kiebige Geltungssucht bei Allen, die Ihr Buch auch mal in den Vordergrund (in die Kamera) rücken wollten. Ein Club der Magerseller mit einer Megasellerin im Signalkleid, die leichtes Spiel hatte bei soviel Bauchpinselei und Neid. Frau Maischberger war heillos kriterienlos und ausschließlich daran interessiert, was Frau Roche zu diesem und jenem Sex-Skandal zu sagen hat, ob sie tatsächlich mit ihrem Mann ins Bordell ... usw. Das ist die Lust am Privaten, am Schlüpfrigen, am Indiskreten, am Schlüsselloch-Phänomen. Ich hatte den Eindruck, das ganze Geheimnis des Roche-Erfolges an Frau Maischbergers Mimik abzulesen: wie und mit wem treiben Sie es, Frau Roche? Das »Diskussionsresultat«: eine Sammlung versprengter Phrasen, die womöglich noch von den Beteiligten lange vorbereitet werden mußten. Einziger Lichtblick: es wurde hier und da ansteckend gelacht ... .
»Ihr Buch«, Herr Keuschnig!
Schön! Ich glaube aber nicht, dass der Betrieb (Zeitknappheit) der einzige Grund ist warum man sich für realistisch-autobiographische Muster interessiert: Es gibt sicher zahlreiche Leser, die das tatsächlich interessiert und daher scheint es ein praktikables Mittel zu sein um einen Hype zu inszenieren, was doch ein wenig auf Verflechtungen zwischen Redaktionstuben (Journalisten) und Verlagen verweist und auf den Kampf um die Quote (oder ist das nun arg unfair?).
@metepsilonema
Die Zeitknappheit ist allerdings enorm. Denis Scheck hat neulich mal gesagt, dass er 150–180 Bücher pro Jahr lese. Mit dem Lesen ist es ja dann auch nicht getan. Für ausführliche Analysen bleibt da kaum Zeit. Neo-realistische Bücher haben eben den Vorteil, die Biografie des Schriftstellers gegenüber zu stellen, Parallelen und vielleicht auch Diskrepanzen zu entdecken. Wenn man die (zumeist lächerlichen) Interviews bspw. bei Buchmessen mitbekommt, wird diese Intention sehr deutlich. Spätestens die zweite Frage ist immer die nach dem autobiografischen Hintergrund.
Bei Roche kommt noch hinzu, dass es eine sogenannte Prominente ist. Hier ist die Schlüsselloch-Perspektive relevant. Beim letzten »Tonnekloppen« Schecks sagt er sinngemäss, dass »Schoßgebete« von einer anderen Autorin geschrieben niemanden interessiert hätte (er wählt dafür das eher unzureichende Beispiel einer 80jährigen Altenheimbewohnerin). Das ist einerseits richtig und soll einen gewissen Trend aufzeigen. Andererseits liesse sich dies auch von so manchem anspruchsvollen literarischen Buch sagen: Stünde dort nicht Schriftsteller X oder Schriftstellerin Y drauf, würde dies gar nicht erst verlegt werden.
Nebenbei gesagt: Scheck hat sich bisher auch nicht als Suchender neuer literarischer Talente hervorgetan und ist ganz schön im Mainstream mitgeschwommen. Sonst wäre er nämlich nicht dort, wo er ist.
Eine enorme Zahl, in der Tat (wenn die Bücher tatsächlich gelesen werden).
Also Zeitknappheit ist wirklich die letzte faule Ausrede, die man als professioneller Literaturkritiker äußern sollte. Natürlich versinken Verlage und Redaktionen in Bücherbergen, die niemand mehr bewältigen kann. Problem der Überproduktion von »Kunst« seit Jahrzehnten. Die Literaturkritik muß deshalb umso entschlossener vorgehen, um die Perlen aus dem trüben Wasser zu fischen. Dazu braucht man das notwendige Handwerkzeug (Literaturgeschichte, Sprachanalyse, Lektüre-Repertoire, Steckenpferde und Spezialisierungen, Schnelllese-Techniken, journalistische Schreib- und Denkmethodik), um mit der Publikationsflut mithalten zu können. Ein guter Kritiker erkennt den guten Roman an seinen ersten 5 Seiten. Macht Euch klar, daß wir es zum Beispiel bei Frau von Lovenberg mit einer gut dotierten Redaktionsleiterin einer marktführenden Tageszeitung zu tun haben. Extrahonorare für TV-Arbeit versüßen die Arbeit zusätzlich. Da sollte man als Leser der FAZ Einiges erwarten dürfen. Stattdessen scheinen Frau von Lovenberg und einige andere Literaturkritiker kein Interesse an Kunstperlen zu haben. Glasperlenspiele sind out. Sexspielchen sind in. Ich vermisse einfach eine erkennbare BEMÜHUNG und BEFÄHIGUNG zur Kunstkritik. Schon allein der Werdegang von Frau vL läßt mich stutzen: Elite-Internat, britischer Bachelor in Neuerer Geschichte, Praktikum im Kunsthandel, dann schon FAZ !? Wenn ich jetzt sehr gemein und vielleicht ungerecht werden will, dann sage ich: Frau vL wurde bevorzugt behandelt, durch Herrn Schirrmacher. Und ihre männlichen, promovierten Kollegen schauen grimmig. Denn die möchte niemand im Fernsehen sehen. Denkt sich Schirrmacher.
An Herrn Scheck schätze ich zumindest seine schlagfertige Ehrlichkeit. Wenn Roche und Käßmann unterirdisch schlecht sind, dann verpackt er dieses Kritikergebnis angemessen böse in kunstvolle Kurzmitteilungen zur Bestsellerliste. Das ist Professionalität und Könnerschaft. Warum er überhaupt auf die Bestsellerliste reagiert – und nicht ersatzweise Newcomer und vergessene Oldtimer für den Leser entdeckt – ist natürlich eine berechtigte Frage, Herr Keuschnig. Aber ich bin schon froh, daß Herr Scheck begründet (!) die Bestsellerliste verdammen, während der Frau vL kein Qualitäts-Bewußtsein die gute Laune zum schlechten Buch trüben kann.
@Michael Plattner
Ist das nicht gerade Teil des Problems, dass nur »5 Seiten« gelesen werden? Selbst wenn man danach etwas erkannt haben sollte, jemand der ein Buch bespricht, sollte es gelesen haben, ein Theater oder Opernkritiker geht auch nicht nach dem ersten Akt – einfach, weil es allen Beteiligten gegenüber so am gerechtesten ist.
@Michael Plattner
5 Seiten geht gar nicht. Sogar Frau Heidenreich konzediert einem Buch 60 Seiten bzw. eine Stunde ihrer Lebenszeit. Das alles hat mit Literaturkritik nichts zu tun. metepsilonema hat Recht: Ein Theaterkritiker geht nicht nach 5 Minuten nach Hause.
In Wirklichkeit wird natürlich mehr gelesen, aber meist nur »quer«. Etliche Kritiker haben zudem »Vorleser«, die ihnen Hinweise geben (die dann manchmal nicht stimmen).
Die Beweggründe, Frau vL der FAZ zuzuführen, kenne ich nicht. Es kann sein, dass man glaubt(e) eine Frauenquote erfüllen zu müssen. Vielleicht ist sie aber auch nur sehr gut vernetzt.
Moment, ich habe nicht gesagt, daß Literaturkritiker nur 5 Seiten eines Romans lesen oder lesen sollten. Ich meine, daß zu 90% Wahrscheinlichkeit die ersten 5 Seiten eines Romans reichen, um eine grobe Qualitätseinstufung vornehmen zu können. Sprache ist ein sehr, sehr sensibles Instrumentarium. Wahrnehmungstiefe und Sprachkraft zeigen sich sehr schnell. Es gibt EINEN Reinhard Jirgl und im Kontrast Schreibschulen-Absolventen im Dutzendpack. Wer halbwegs anspruchsvoll ist, legt zu 90% ein Buch schnell beiseite. Sprich: gute 90% des Gedruckten sind durchschnittlich oder sogar Schrott. Dieses Urteil muß Herr Scheck leider regelmäßig über die Spiegel-Bestsellerliste fällen. Im Vergleich zu den Zumutungen der Bücher kritisiere er immer mit Glacéhandschuhen, sagt Herr Scheck. Und das sagt mir etwas bei seinen nicht gerade zimperlichen Kurzverrissen.
@Michael Plattner
Nach 5 Seiten eines mir unbekannten Schriftstellers zeigt sich gar nichts. Manchmal auch nach 60 oder 100 Seiten noch nicht. Wenn ich Jirgl vor der Nase habe (von dem habe ich außer einem Bachmannpreis-Text noch keine Zeile gelesen) oder Handke oder Grass gehe ich natürlich ganz anders an die Angelegenheit heran. Das macht auch der professionelle Kritiker. Und hier liegt ja schon ein Teil des Problems – freilich eines, dass nicht gelöst werden kann.
Ich lese im Jahr zwischen 40 und 50 Bücher. Ob 90% des Gedruckten Schrott sind vermag ich in Anbetracht von rd. 100.000 Neuerscheinungen im Jahr (davon ca. 60% Belletristik) nicht beurteilen. Was Sie im Rekurs annehmen ist, dass, weil Scheck sagt, dass 90% der Bestseller »Schrott« sind, in toto 90% der anderen rund verbleibenden 99.760, also 89.784, ebenfalls nur niedrigen Ansprüchen genügen (ich bin davon ausgegangen, dass die ersten 10 der Bestsellerliste jeden Monat gänzlich neu bestückt werden, was nicht stimmt). Diese Aussage ist aber ziemlich kühn.
Schecks Aufgabe wäre es, Teile der anderen 9.976 »guten« Bücher herauszufinden. Daher ekelt mich dieses »Tonnekloppen« auch so an: Mit ganz billigem Mütchen wird hier der Massengeschmack verprügelt. Als gelegentliche Aktion vielleicht ganz witzig; als Dauereinrichtung lächerlich (er macht das im DLF/DLR ja regelmässig). Die drei Sätzchen, die er dann als Kritik anbringt bevor er das Buch wegschmeisst, könnte zur Not auch von einem Praktikanten stammen. Gelesen haben braucht man das Buch hierfür nicht (wenigstens nicht zur Gänze). Wenn Scheck zuviel zugemutet wird, soll er etwas anderes machen und nicht die Pose des Rächers für das gute Buch abgeben.
@Michael Plattner
Ich weiß schon, dass Sie nicht gesagt haben, dass ein Kritiker nach 5 Seiten zu lesen aufhören soll. Ich wollte nur wissen, was die Konsequenz aus Ihrer Feststellung wäre. Wenn es kein abschließendes Urteil über das Buch ist, wenn es nicht zum Weglegen führt, dann ist es doch nicht weiter erwähnenswert, denn welcher Leser urteilt nicht schon während des Lesens (implizit oder explizit)?
@Gregor
So witzig Scheck sein mag, als Leser fange ich mit solchen Kurzverissen wenig an (geben Dir uneingeschränkt recht).
@metepsilonema
Zumal Schecks Sentenzen reichlich vorhersehbar sind: Vampirromane dürften schrecklich sein. Dies wie auch immer lustig mitgeteilt zu bekommen, hat keinerlei Funktion, außer diejenigen, die es schon immer wissen (also bspw. mir) ein erhabenes Gefühl zu suggerieren und über die »Masse« zu erheben. Das hat durchaus was von intellektuell-snobistischem Stammtisch. Ein Essay über drei oder vier Vampirromane wäre natürlich anstrengender.
Und mit dem Zitat eines fürchterlichen Satzes kann man tatsächlich jedes andere Buch auch in Grund und Boden urteilen.
Da haben Sie aber sehr viel Geduld mit den unbekannten Autoren, Herr Keuschnig. Das ist ja prinzipiell sehr löblich, aber wenn sich nach 80 Seiten nichts »zeigt«, was soll dann der Rest des Buches noch retten, zumal viele Neuerscheinungen gerade mal 150 Seiten haben? Es kann ja nicht darum gehen, auf die gelungenen, hoffnungsvollen Absätze in einem mißlungenen Buch zu warten. Das stellt die Verhältnisse auf den Kopf. In der Regel schwächelt ein Werk schon, wenn sich die mißlungenen Passagen häufen, wenn sie aber tatsächlich ein Drittel oder die Hälfte des Buches einnehmen ... ? Gott bewahre! Das werden Sie aber bei Nabokov oder Mann nicht finden, Herr Keuschnig. Kritiker sollten grundsätzlich nicht mit einem Werk anders verfahren als mit einem Meisterwerk. Entweder es gibt einen Maßstab, oder es gibt keinen. Sie scheinen einen Sonderbonus für Newcomer zu wünschen. Natürlich besteht immer die Gefahr, daß ein Kritiker das Neue nicht versteht und falsch beurteilt, weil er in seiner eigenen Gegenwart schon wieder veraltet und orientierungslos geworden ist. Meine Leseerfahrung zeigt mir aber eher, daß viele Nachwuchsautoren ihr Werk schlecht oder garnicht kontexten können. Sie kennen die Tradition, in der sie selbst schlechter weiterschreiben, meist nicht gut oder garnicht. Sonst würden sie nämlich garnichts mehr schreiben. Zu entmutigend. Es gibt in der Literatur genauso wie in den anderen Künsten eine Erschöpfung der Themen- und Formenwelt, die so manchen Künstler als Spätgeborenen fluchen läßt. Sie können heute vieles nicht mehr »bringen«, was vor 10 Jahren noch »state-of-the-art« war. Alles schon dreimal durchgekaut und zugetextet. Dieser mediale und globale Fleischwolf, der alles verwurstet, dreht sich immer schneller und macht den Autor (und Kritiker) schwindlig. Texte zu drucken, ist eigentlich bei dieser Geschwindigkeitszunahme der Weltwahrnehmung und ‑deutung kaum noch eine praktikable Lösung. Ich bin auch schon auf Forumbeiträge gestoßen, die jeden Kauf von Amazon-Titeln erübrigt haben.
Ich schrieb ja: »gute 90% des Gedruckten sind durchschnittlich oder sogar Schrott.« Also zunächst einmal durchschnittlich (Note 3–4), dann erst Schrott (Note 5–6). Ich komme zu dieser ziemlich kühnen Behauptung unabhängig von Schecks Bestseller-Kritik, die ich nur anfüge, weil sich dort die Relation zu wiederholen scheint. Diese Behauptung ist ein reines Bauchgefühl, bezieht sich auf Belletristik und die Tatsache, daß mein Kindler wahrscheinlich nur in Millionstel % der jemals geschriebenen Bücher diejenigen Werke versammelt, die im Laufe der Jahrtausende von Menschen tradiert wurden, weil sie diese Werke als lesenswert empfanden. Von den großen Katastrophen (Bibliotheksbrand) jetzt mal abgesehen. Ich bezweifle einfach, daß mehr als 1 aus 10 Autoren wirklich gut sind. Vor allem, wenn Sie Nabokov oder Handke als Maßstab nehmen. Mit 1 aus 10 liege ich da wohl eher im wohlwollenden Bereich ... .
Also, Herr Keuschnig, wenn Sie Frau Roche schon eine gewisse Raffinesse im Medienspiel zuschreiben, dann dürfen Sie jetzt aber Herrn Scheck nicht auf Praktikantenniveau herabwürdigen. Das hat Herr Scheck nicht verdient. Seine Institution der Bestseller-Kritik ist nur ein sehr kleiner Teil seiner Rezensionsarbeit. Die Kurzkritiken sind in der Regel angemessen kurz und scharf, sagen genug, um das Buch tunlichst zu meiden. Wenn Herr Scheck ein Buch loben will, wird er sofort ausführlicher. Übrigens auch, wenn besonders dringlich gewarnt werden muß, wie bei Frau Roche. Ich halte diese Bestseller-Kritik des Herrn Scheck für wichtig und mutig, weil sie als Gesamtüberblick eine öffentliche Gegenmeinung zum Massengeschmack schafft. Das ist ja längst keine Selbstverständlichkeit mehr, wie wir am Beispiel Frau vL und Frau Auffermanns sehen. Übrigens können wir davon ausgehen, daß Herr Scheck die Bücher, die er bespricht, auch wirklich in Gänze gelesen hat.
@metepsilonema, ich hielt meine 5‑Seiten-These im Zusammenhang mit dem »Zeitknappheit«-Argument für erwähnenswert. Wenn Herr Scheck nämlich ca. 6000 »gute« Belletristik-Titel im Jahr (darunter fallen aber auch viele Klassiker-Editionen etc.) prüfen soll, dann ist das schlichtweg menschenunmöglich. Bei 500 Seiten pro Titel wären es immerhin noch Textmengen, die 60 anspruchsvollen Büchern pro Jahr entsprechen. Unter der Voraussetzung, daß Herr Scheck nur die ersten 5 Seiten anliest. Das wäre kein abschließendes Urteil, aber ein hilfreicher Lackmus-Test. Soll Herr Scheck aber 60.000 Romane pro Jahr prüfen, um überhaupt erst die »guten« 6000 herauszufischen, was macht er dann? Liest er dann 600 Bücher pro Jahr? Eigentlich brauchen wir ein staatlich versorgtes Kritikerheer, damit auch wirklich alle Titel fair besprochen und archiviert werden. Sozusagen ein Ministerium für Buchrezension mit ausgelagerten Kontrollgremien etc.
Ich glaube nicht, daß Herr Scheck sich schon die Hände reibt, wenn sich wieder College-Vampire wechselseitig in die Teen-Hälse beißen. Herr Scheck läßt sich von der Bestsellerliste sicherlich auch gern angenehm überraschen. Das würde seine Arbeit wesentlich erleichtern. Nun hat die Bestsellerliste aber oft nichts Lesenswertes zu bieten. Was kann Herr Scheck dafür? Der auch von mir oft angeführte Massengeschmack ist nicht zwangsläufig, aber zu oft schlecht, weil unbedarft. Manchmal läßt er sich von einem Literarischen Quartett zum Kauf eines Marias Franco verführen, ohne zu wissen, was auf ihn zurollt – ein Massiv von Text. Obwohl, diese Zeiten sind auch vorbei ... .
Hier kann man unten lesen, wie Herr Scheck als großer Kenner der amerikanischen U- und E‑Szene mit gutem Gewissen auch Vampirromane empfehlen kann:
http://www.hr-online.de/website/fernsehen/sendungen/index.jsp?rubrik=56465&key=standard_document_39899251
@Michael Plattner
Jeder Kritiker hat einen Standpunkt, der Subjektivität einschließt, man wird sich also nicht immer darüber verständigen können, ob ein Text gut, sehr gut, oder nur mittelmäßig daher kommt – vielleicht wird man darüber einig was misslungen ist. Wichtiger scheinen mir viele kritische Stimmen, die verschiedene Aspekte beleuchten, als ein zu apodiktisch vorgetragener Qualitätsbegriff (nicht, weil er nicht existiert, sondern weil er sich nicht eindeutig festmachen lässt).
Was Herr Scheck macht oder nicht, ist seine Sache (ich sehe in dieser Spiegelbestsellerlistenkritik eher ein mehr des Problems, als dessen Lösung, aber gut, darüber kann man geteilter Meinung sein, das ist nicht weiter schlimm). Es geht auch nicht darum, dass er sich alle Bücher vornehmen muss, dafür gibt es andere Kritiker und jeder Kritiker darf seine subjektive Auswahl treffen, das finde ich sogar wichtig. Allerdings sollte die Form der Kritik dem Leser und Autor gerecht zu werden versuchen, angemessen sein (also sich auf das Werk auch einlassen).
Es könnte sein – ich mutmaße etwas -, dass es für Nachwuchsautoren sogar wichtig ist sich nicht gleich zu verorten, weil sie zuerst eine (ihre) Stimme finden müssen; und egal ob man nur einen Roman oder »the novel to end all novels« schreiben möchte, ohne eigener Stimme (Stil) wird es nichts werden: Zu viel zu lesen, kann die eigene Stimme verschütten oder zu sehr in eine schon bekannte Richtung lenken.
Ja, @metepsilonema, ich glaube, das ist eine gute Beschreibung, wie Literaturkritik tatsächlich stattfindet (Intersubjektiver Diskurs und Multiperspektive) – vielleicht mit dem Zusatz, daß man sich immer seltener auch über die mißlungenen Werke einig wird. Also einen Zustand der Polarisierung und Spaltung in »Fans« und »Haters« erzielt, wie bei Frau Roche. Das ist, glaube ich, in der Kunst auch kein neues Phänomen, vielleicht sogar ein Merkmal der Kunst. Ich stelle mir gerade die Frage, warum ich so penetrant auf den »Qualitätsmaßstab« (den ich ja auch nur mit Namedropping andeuten kann) poche. Ich glaube, mich ängstigt die Methode der Textimmanenz und Relativierung des Werks in immer kleiner definierten Genres und Subgenres (also: »das Werk ist für sich allein betrachtet ein starkes Stück« – oder: »dieser Vampirroman ist im Vergleich mit anderen Vampirromanen garnicht so übel«), weil man dann leicht Intertextualität (»na, da gibts’ aber Besseres in diesem Kontext!«) und Relevanz (»was sagt uns eigentlich Vampirroman XYZ?«) übersieht. Beide Herangehensweisen haben wohl ihre Berechtigung und Grenzen. Ich gebe zu, daß ich immer zur Historisierung und »Verortung« neige. Ich mag meinen Kindler. Sprich: ich bin ein Zettelkasten-Freund. Daß im Kindler Literaturgeschichte auch anders geschrieben werden könnte, ist mir auch bewußt. Letztendlich ist der ganze Ordnungs-Kampf gegen die menschliche Schreiblust und ‑wut sowieso verloren. Ein Endlosspiel der ineinander kreisenden Zeichen und Symbole. Was ja auch schrecklich schön ist.
Herr Scheck hat nun einmal das recht kurzatmige TV- und Radioformat als Hauptausdrucksmittel mit entsprechender Breitenwirkung. Ich glaube, diesen Job kann man wesentlich unehrlicher, unfähiger und harmloser ausfüllen, als Herr Scheck es tut. Keinem Roman kann man wahrscheinlich unter 5 Seiten (!) Rezension »gerecht« werden – schon allein aus Ausführlichkeits- und Differenzierungsgründen. Es werden ja auch nicht umsonst ganze Uni-Schriften mehrerer Forschergenerationen einem Großwerk gewidmet.
Ihre Mutmaßung über die Pflicht des frischgebackenen Künstlers zur Naivität unterschreibe ich voll und ganz. Es ist der Umkehrschluß aus meiner Behauptung, daß viele Nachwuchsschriftsteller die Tradition ignorieren, bzw. die andere Seite derselben Gleichung. Schreiben ist anders garnicht mehr vorstellbar – allein, um das Irrewerden zu vermeiden. Abgesehen davon: wieviel und was genau soll denn der Jungschriftsteller schon gelesen haben? Nur: wenn die Naivität nicht durch Talent wettgemacht wird, dann wirds’ nicht gut ... . Andererseits: Bildung kann Talent nicht ersetzen usw.
Schöne Diskussion
Ja, Michael Plattner, in einigen Dingen haben Sie recht. Aber Sie widersprechen mir in anderen, obwohl wir uns doch eigentlich einig sind.
Natürlich betreibt Herr Scheck auf seine Weise ein Spiel mit und in den Medien. Aber er hat nie das Potential von Skandalnudeln à la Roche. Das meine ich gar nicht despektierlich. Scheck (und alle anderen Kritiker) können immer nur auf Skandale reagieren bzw. sie initiieren. Letzteres geschieht übrigens immer mehr nicht im totalen Verriss, sondern in der wohlmeinenden Umarmung – dann fällt ein bisschen Flitter auf einen selbst. Dennoch: Die Kritik erreichet nie das Potential eines Skandalons selber (Reich-Ranicki war da die Ausnahme, obwohl das damals [Grass’ »Ein weites Feld«] reichlich künstlich war). Sie sind – salopp formuliert – diejenigen, die den Autor / die Autorin erst in den Vordergrund spielen. Von den 2 Millionen Büchern, die Roche von »Feuchtgebiete« verkauft hat, sehen die Kritiker keinen Heller. Ich vergleiche das in etwa mit der Rolle des Schiedsrichters im Fußball: Während die Herren Millionen im Jahr verdienen, bekommen Schiedsrichter im Verhältnis dazu einen Schokopudding. Im Zweifel müssen sie sich dann von den Millionären auf dem Rasen noch anpöbeln lassen.
Daher hat dieses ewige Kritteln an Vampirromanen oder sonstigen Scheußlichkeiten auch ein bisschen den Hautgout der Mißgunst. Auch das meine ich nicht so negativ, wie es vielleicht klingen mag und überhaupt nicht in finanzieller Hinsicht: Scheck neidet den Autoren nicht das Geld, das sie mit ihren Bestsellern verdienen (bzw.: ich will das nicht unterstellen). Aber er dürfte – was ich nicht ehrenrührig empfände – dieser Aufmerksamkeit gegenüber missgünstig gestimmt sein. Nach dem Motto: Wie kann mit diesem Mist nur so einen Erfolg haben.
Mit diesem Phänomen kann man vereinfacht gesagt auf dreifache Weise umgehen:
1. Mit Sarkasmus und Zynismus
2. Mit genauer Analyse
3. Mit Ignoranz
Scheck hat sich für 1 entscheiden – und das auf eine kontinuierliche Art. Seine Arbeit beim DLF ist ganz anders: Hier ist er zumeist Moderator. Nur wenn es dort diese Spiegel-Bestsellerliste gibt (mit schrecklicher Musik übrigens untermalt) wird Dr. Jekyll zum Mr. Hide. Genau das werfe ich auch »Druckfrisch« vor: Diese sehr devote Gesprächsführung mit Autoren; man braucht eigentlich gar nicht mehr zuhören, weil man weiss: alle nur halbwegs kritischen Einwände bleiben unerörtert. Hinzu kommt dann ein Inszenierungs-Exhibitionismus bei »Druckfrisch«. Einmal ist er nach Island gefahren. Ein Autor badete dort in einer Quelle. Scheck badete mit – allerdings mit Anzug. Das typische Verhalten eines Parvenüs.
(Zur oben angeführten kursorischen Einschätzung noch zwei Bemerkungen: Zur 2. Bewältigung würde ich den »Bildblog« als Beispiel anführen. Und das 3. hat sehr viele Vorteile, auch wenn man sich dann den Vorwurf der Abgehobenheit aussetzt.)
Ich will eigentlich runter von der Diskussion, ob die Bestsellerkritik mutig ist oder nicht. Mutig wäre es vielleicht, Herrn Grass gegenüber zu sitzen und mit ihm seinen Roman unter literarisch-ästhetischen Punkten zu besprechen. Ich rede damit übrigens dem pseudo-investigativen Gerede einiger Novizen nicht das Wort, die bei jedem ihnen politisch nicht genehmen Satz gleich in wilder Raserei auf Grass (oder auch Walser, Strauß, Handke) einprügeln. Die haben rein gar nichts verstanden, weil sie es auch nicht wollen und kühlen nur ihr lächerliches Mütchen. Es macht auch wenig Sinn zu spekulieren, ob Scheck sich tatsächlich in Gänze all diese Bücher antut (das glaube ich nicht). Und natürlich ist Scheck ein profunder Kenner der amerikanischen Literatur – er macht ja aus seinem Herzen keine Mördergrube. Warum auch.
Ich glaube auch nicht, dass Literaturkritik die Aufgabe hat, einem Buch zur Gänze gerecht zu werden. Hierfür gibt es die Literaturwissenschaft. Aber Literaturkritik sollte eine erste Einordnung vornehmen. Dabei ist es unerläßlich das gerade besprochene Buch dort abzuholen, wo es steht. So wäre es absurd, Frau Roche mit Schiller oder Annette von Droste-Hülshoff vergleichen zu wollen. Aber warum gibt es keine Aufarbeitung des Buches in Richtung 70er Jahre Literatur? Erst wenn man aus dieser Ebene heraus bewertet, erkennt man, wie schlecht das Buch ist (abgesehen jetzt von den sprachlichen Verwerfungen; die könnte man immerhin noch als gewollte »Authentizität« anpreisen). Erst wenn ich Roche mit Karin Struck, Brigitte Schwaiger oder auch der frühen Elfriede Jelinek vergleiche (es würden sich bestimmt noch andere Autorinnen anbieten, die ich jedoch zu wenig kenne), vermag man den Leser zu erklären, wie lächerlich und künstlich-skandalisierend, also kalkuliert, »Schoßgebete« ist. Schecks letzter Hinweis in dieser Sache, dass dieses Buch von einem Nicht-Promi unbeachtet geblieben wäre, fällt ja stark auf den Betrieb zurück. Aber indem er dies am Beispiel der Roche bringt und nicht weiter thematisiert, muss die Katharsis der Branche ausbleiben.
Problematisch finde ich es, wenn die unübersehbare Fülle der Neuveröffentlichungen mit der Qualitätssense bearbeitet werden soll. Daher habe ich mich über die »90% Schrott« echauffiert. Machen wir uns doch nichts vor: Die Bücher, die im etwas breiteren Fokus der Öffentlichkeit stehen (das sind im Bereich Belletristik vielleicht rd. 150/Jahr), sind zumeist Resultate perfider Marketingstrategien. Dass sich hierunter hervorragende Bücher – und manchmal sogar mehr – befinden, ist klar. Aber einen wie auch immer gearteten Querschnitt erhält man kaum. Aber was macht das Feuilleton? Es bespricht lieber 20x den neuen Grass als stattdessen vielleicht 10 andere Bücher zu »versuchen«. In diese Bresche könnten Literaturblogs stossen, aber auch die sind zumeist schon zu stark fixiert.
Okay, reden wir nicht von den anderen, sondern von mir: Ich bekenne mich in diesem Sinne durchaus auch als »schuldig«. Aber die Roche hätte ich nicht gelesen und besprochen, wenn mich nicht jemand um meine Meinung gefragt hätte. Und im Gegensatz zu einigen anderen Verlagen, die Blogs nur als gut- oder bösartige Tumore an ihrem Verlagskörper ansehen, hatte mir dann Piper auch ein Leseexemplar geschickt. Wenn ich Pech habe, war’s dann das letzte. Soll mir auch recht sein.
[etwas OT: Zur Genauigkeit beim Bildblog gab es kürzlich ein Beispiel, das mich schon fast in Zweifel gestürzt hat, – http://www.bildblog.de/32666/spanische-post/ – da wurde sich über das stille Post Spiel lustig gemacht, dass ein Zeitungsartikel einen Blogeintrag weiterverwendet und dabei offenkundig wird, dass dieser überhaupt nicht verstanden oder genau gelesen worden war. Allerdings wurde dort, diese Transparenz ist natürlich gut, auch der spanische Originalartikel verlinkt. Als ich diesen las, da erschienen mir die beiden Sätze aus dem Blogeintrag, auf die der Zeitungsartikel Bezug nahm doch auch leicht missverständlich, bzw. wiederholte der Bildblog-Eintrag zunächst einen der Fehler des Zeitungsartikels, worauf unterhalb des Artikels aber verwiesen wurde... Ein Haufen Nichtigkeiten, dem auch ich nicht soviel Worte widmen sollte, aber da fehlte mir dem ersten Bildblog-Eintrag doch gerade die Präzision, auf die man sich leider, wie auch bei Zeitungen eben nicht blind verlassen darf.]
PS. Ich hatte mich schon fast gefragt, warum Sie sich der Schoßgebiete überhaupt »schuldig« machen... (und wollte vielleicht kontrastierend auch auf diese Rezension hinweisen: http://www.struppig.de/vigilien/?p=3264 )
@Phorkyas
Die Vigilien-Kritik kannte ich schon. Ehrlich gesagt, verstehe ich den Schluß nicht. Bzw. ich interpretiere es dann doch als ein gewisses Einknicken. Roche sei nicht langweilig – interpretiere ich (sowas sagt Reich-Ranicki ja auch immer). Und da ist von einer »sehr unterhaltsamen Kämpferin« die Rede, was dem vorher Gesagten wenn nicht widerspricht, so doch in einen merkwürdigen Kontrast stellt. Kämpferin doch höchstens für ihren eigenen Geldbeutel.
Hoffentlich hat dieser Seitenast der Diskussion nicht geschadet. (Zu Scheck hatten wir nur schon diskutiert, das wollte ich nicht wiederholen)
Bei Roche tendiere ich wie meist bei »unwürdigen Themen« zu Option 3; ein Wort darüber ist eigentlich schon zu viel. Ich finde es schwer mich überhaupt sinnvoll dazu zu verhalten, weil im Hinterkopf immer dieser lästige Hype mitschwingt, der immer schon mit Ankündigung und Vorabprotest doch produziert wird. Vielleicht ist es auch gerade dieser Hype, der so polarisiert, und der auch die Kritik lähmen kann, weil man sich doch irgendwie zu diesem verhalten muss – »umarmend«, wie Sie so schön sagten oder verstoßend – und diese Öffentlichkeits-/Marktdynamiken sind mir schon zuwider. (Denn es befördert ja nichts Inhaltliches zutage, an den Prozessen der Hype-Verteufelung kann ich auch teilhaben, ohne das Buch gelesen zu haben – und selbst wenn ich es gelesen hätte, wäre ich vermutlich nicht schlauer, außer zu wissen dass der ganze Buhei mal wieder nichts mit der »Sache« zu tun hat.
[Fruchtbringender erschiene mir vielleicht die Diskussion über andere polarisierende Kunst-/Kulturwerke – »Tree of Life« z.B., hätte ich doch mal bei der Perlentaucher-Diskussion mitgetan..])
PS. Hätte mir klar sein können, da ich auch über Ihr Blogroll auf den Artikel gestoßen war – die Rezension ist in der Tat etwas merkwürdig, als würde der Autor sich durchweg dafür entschuldigen, dass er das Buch doch nicht verreißt, was er ja eigentlich hätte tun müssen...
Der Nachteil von Position 3, lieber Phorkyas, ist, dass wir demnächst dann alle kollektiv schweigen. Ich fand ja den Spruch, dass der Klügere nachgibt, nie besonders einleuchtend. Wenn ich dann alle Phänomene, die mir nicht passen, mit Ignoranz strafe, sterben die Unvernünftigen zwar nicht aus, aber sie verstummen. Und das wäre einigen dann doch wieder ziemlich recht. (Wobei dies keine Hybris ob der eigenen Wirkung ist; siehe die Diskussion auf Ihrem Blog.)
Die Gratwanderung ist schwierig, weil man auch schnell zum Getriebenen wird. Um Hype-Verteufelung darf es natürlich nicht gehen – wenigstens nicht nur. Und natürlich wäre es wunderbar, einen Blog mit Goethe- und Kleistrezensionen (!) zu veröffentlichen (dann könnte Frau Bünger sogar noch etwas lernen [siehe Link oben und hier]). Aber auch das wäre anmaßend und/oder redundant, oder?
@Michael Plattner
Es wird nur immer schwieriger einen (irgendeinen) Überblick zu behalten, einerseits weil die gegenwärtige Produktion immens ist und andererseits, weil ihr die vergangene nicht um all zu viel nachsteht. Es ist also vielleicht sogar etwas wie Ehrlichkeit, wenn man so (»das Werk für sich alleine betrachtet«) vorgeht, weil man es nicht mehr zufriedenstellend schafft. Aber natürlich: Es ist sicherlich höchst sinnvoll es zu versuchen, man darf vielleicht nicht zu hohe Erwartungen haben (etwas Ähnliches tut im Grunde jeder Leser, der das Gelesene im Kopf behält: Er vergleicht mit dem was er kennt, nur meist nicht systematisch). Eine Gefahr die solche Einordnungen für mich besitzen, ist, dass sie meine eigene Sichtweise beeinflussen und die ist eigentlich noch wichtiger, weil die Vielfalt von Perspektiven eines Werks, ja eigentlich Literatur erst ausmacht (oder wesentlich mit ausmacht).
Sie haben sicher recht, dass Scheck seine Sache viel schlechter machen könnte, und vielleicht spielen bei mir auch persönliche Dinge herein (ich bin, wie Gregor das formuliert hat, ignorant, mich interessieren keine Bestsellerlisten und eine Kritik, die sich stark auf diese fokussiert, auch nicht sehr – aber es ist natürlich nicht nur dieser eine Punkt).
Sie stellen implizit die große Frage, welchen Anteil Talent und welchen Lernen und Arbeit am Entstehen eines Werks haben; dazu gibt es unterschiedliche Ansichten, ich kann das nicht entscheiden, aber vielleicht gibt es einfach unterschiedliche Typen des künstlerischen Schaffens (mir fallen da immer zwei Gegensätze aus der Musik ein: Mozart und Beethoven).
@Gregor
Ich weiß nicht ob Fairness ein gutes Wort ist, gerecht ist vielleicht übertrieben; jedenfalls sollte ein Kritiker die Offenheit besitzen, das Werk für sich sprechen zu lassen, usw. ( nicht ganz einfach, das genau in Worte zu fassen).
Holla! Eine Textlawine ... . Wo ich doch irgendwo oben von Schreiblust und ‑wut gesprochen habe ... .
Na, Herr Keuschnig, ich merke schon, Sie MÖGEN Herrn Scheck NICHT. Dem sollte ich gleich folgen lassen, daß ich Herrn Scheck sehr gern mag. Ich glaube, daß Herr Scheck seinen Sarkasmus, oder sagen wir mal milder und angemessener, seine beißende Ironie, wohldosiert und angebracht einbringt. Manche Bücher verursachen solche Zahnschmerzen, da kann Herr Scheck überhaupt nicht tief genug bohren. Zynisch ist er meines Wissens nie gewesen, er ist kein Menschenverächter. Ich hatte ja auch schon angemerkt, daß sein Radio- und TV-Medium, in dem auf die Sekunde genau gesendet wird, eine ausführliche Analyse überhaupt nicht ermöglicht. Im Rahmen der Sendezeit schafft es Herr Scheck, Autorengespräche und Buchvorstellungen pointiert und knackig zu moderieren. Das ist auch eine Kunst. Und die übersteigt auch meist die Fähigkeit eines Praktikanten. Zusammen mit der schmunzelig-trockenen Kameraarbeit entstehen für mich kleine, optische und inhaltliche Kunstwerke. Die sind zwar – wie meine Freundin immer durch ihre Zähne pfeift – recht dekadent (muß denn Herr Scheck nach Rom zum Freund Hettche fliegen? Ja muß er, – weil der Hettche da gerade lebt und schreibt und keine Zeit und Geld hat, nach Köln zu fliegen ... ), aber die schönen Reisen und Inszenierungen gönne ich Herrn Scheck von Herzen. Von mir aus kann er ruhig eine Boutonnière tragen. Denn Herr Scheck ist ein fleißiger Dandy des Literaturbetriebs, aber bestimmt kein Parvenü. Wenn er im Anzug ins heiße Wasser zum Autoren steigt, dann nicht aus Anbiederung, sondern aus Selbstironie und Marketinggründen. Herr Scheck wirbt nämlich für seine Präferenzen in jeder Minute der Sendung, abgesehen von der Bestsellerliste, die er, wie ich selbst, als politische und öffentliche Aufgabe wahrnehmen mag (diese Bestsellerliste ist ja ein Indikator des deutschen Durchschnittsgeschmacks. Das ist nicht unerheblich für die Einschätzung der Situation.). Insofern ignoriert Herr Scheck auch gehörig. Was ihn nicht interessiert, werden Sie in seiner Sendung nicht finden. Zum Beispiel Frau Roche.
Da machen Sie eine höchst interessante Autoren-Reihung auf, Herr Keuschnig. Bei Grass, Walser, Strauß und Handke fällt mir ein, daß literarisch-ästhetische Wahrnehmungsweisen manchmal realitätsblind machen, bzw. der Künstler sich in seiner Weltdeutung und Weltbedeutung klar überfordert und überschätzt. Alle vier Autoren ziehen auch wenig anders als Frau Roche zur richtigen Zeit an den richtigen Strippen, damit die Kassenglocken klingeln. Möglicherweise noch weit geschmackloser als Frau Roche, die ein privates Schicksal ausweidet. Auschwitz oder Serbien betreffen weitaus mehr Menschen.
Etwas mehr literaturwissenschaftliche Prinzipien in der Literaturkritik täten der Branche gut. Sie reduzieren die Beliebigkeit des Urteils, bremsen aber meist die Leidenschaft. Sprich: liest sich nicht so schön. Und nochmal: »90% Schrott« habe ich nie behauptet. 10% sehr gut bis gut, 60% befriedigend, 30% Schrott.
Das Literatur-Blogging wird die Lösung der kommenden Jahrtausende sein (unsere Existenz als technische und basisdemokratische Zivilisation vorausgesetzt). Wie sonst sollte der Input bewältigt werden können? Was Wikipedia mit dem Weltwissen anstellt, können Leser und andere User auch mit der Literatur anstellen. Auf Amazon lese ich manchmal erstaunliche Analysen – von Menschen mal so eingestreut, die eindeutig vom Fach sind. Bloggen Sie ruhig über Frau Roche, Herr Keuschnig, Ihr Serverspeicher wird es Ihnen nachsehen ... . Heureka!
Die Vigilien-»Kritik« ist die Elegie eines wehmütigen »Fanboys«, wie er sich selbst bezeichnet. Kann ich nachvollziehen. Mir war Frau Roche als Plem-Plem-Mädchen vom Musikkanal – und auch in späteren Sendeformaten – immer sehr, sehr sympathisch. Habe neulich irgendwo eine Flaschendreh-Sendung mit Roger Willemsen, FerrisMC, Mia etc. gefunden (auf dem »Freitag« ...). Das ist schon ein Underground-Highlight. Lindert nachhaltig meine chronische Verdüsterung. Umso enttäuschter bin ich von Roches Weg in die Sumpfgebiete der Selbstvermarktung. Ich empfinde dies vielleicht sogar (halbbewußt) als einen politischen Verrat. Von der Langstrumpf-Rockgöre zur adretten Hausfrau und Bio/Wellness-Tussi? Buuhhh ... . Wie öde. Wenn das »Reife« ist, dann bitte unreif, für immer.
@Phorkyas, beteiligen Sie sich doch ruhig am »Tree«-Diskurs auf Perlentaucher. Als ich in den letzten Wochen zuschaltete, haben immer wieder mal Leute was gepostet. Das geht immer – und entzündet das Feuer oft von Neuem ... .
@metepsilonema, jetzt spüre ich, daß ich mein Pulver schon fast verschossen habe. Vielleicht noch dieses: momentan hat das Internet ein Informationsvolumen geschaffen, das exponentiell die Menge der jemals in der Menschheitsgeschichte geschaffenen Information um den Faktor 1000 übersteigt. Die Information explodiert geradezu – und implodiert vielleicht bald unter ihrer eigenen, kritischen Masse.
Ja, die zu hohen Ansprüche. Die können viel vermiesen. Aber auch zu den Fragen führen, die immer weiter bohren, manchmal auch tiefer. Irgendwann löst sich die Sprache als Bewußtseinszustand ohnehin auf. Was kommt dann?
Das offene Kunstwerk (Eco).
Mozart: begnadet chaotisch. Beethoven: talentiert strebsam?
@Michael Plattner
Wobei die Informationen eher im Internet gelagert werden, der Produktionsort ist oft ein anderer. Ich habe das nicht mehr parat, aber es ist z.B. ernüchternd, wenn man hört – so die Zahlen stimmen – wie »wenige« wissenschaftliche Arbeiten in der großen Masse der Erscheinungen noch von vielen Wissenschaftlern wahrgenommen werden. Ich denke, dass sich die Überlast an Information schon deutlich bemerkbar macht – das Einzige was man tun kann, ist, sich so weit abzuschotten, dass man nicht fort gespült wird (oder an Überforderung zusammenbricht).
Ansprüche sind eine ambivalente Sache, da haben Sie vollkommen recht: Aber solange man den Weg weitergeht, er bereichert, sind sie nicht falsch (tragisch nur wenn man seine Sache, der eigenen Ansprüche wegen, verliert – das wäre dann ein zu viel an Ideen).
Wie meinen Sie das Auflösen von Sprache? Ein Zerbrechen? Ein Versagen? Wir würden noch mehr auf uns selbst zurück geworfen; andererseits: Gedanken sind nicht von Sprache abhängig. Das offene Kunstwerk wäre als fragmentarisch zu verstehen?
Mozart als ein Genie, das alles kann, jede Gattung beherrscht, dem es leicht von den Finger geht, der die Endgestalt »sofort« zu Papier bringt; und Beethoven als der große Arbeiter, der von einem einfachen Ausgangspunkt erst durch zahllose Umarbeitungen, zu einem fertigen Werk gelangt, was man sehr gut an seinen Skizzenbüchern nachvollziehen kann. Beide haben zweifellos bleibendes hinterlassen, Werke die zu den größten zählen, so verschieden ihre Schaffensweise auch gewesen sein mag (ich habe das ist jetzt natürlich etwas plakativ formuliert). Von Bertrand Russell habe ich auch einmal gelesen, dass er ganze Manuskriptseiten ohne Umarbeitungen und Streichungen herunter schreiben konnte.
Hallo Herr Keuschnig,
wenn wir ganz altmodisch wären, könnten wir ja einfach sagen: Nichtliteratur kann man mit Mitteln der Literaturkritik eben nicht begegnen, sie würde nämlich dauernd nur das sagen, was alle sehen: Das ist keine Literatur, und wenn doch, besteht es nicht vor der Literaturgeschichte. Nun muß aber auch gar nicht alles, was zwischen zwei Buchdeckel gedruckt wird, literaturkritikfähig sein – es steht einem Buch ja frei, lieber in einer Tradition von Medienereignissen zu stehen als in einer Tradition von sprachlichen Ereignissen. Wie geht man damit um? Erklärt man so ein Buch einfach zur Nichtliteratur und für nicht satisfaktionsfähig? Dabei macht man sich eines Hohe-Kunst-Snobismus schuldig, der in seiner Wirkung auf die Literaturproduktion ja hoch problematisch war und ist. Begegnet man ihm dagegen mit Mitteln der Literaturkritik, läuft man Gefahr, das Offensichtliche zu sagen und muß sich fragen lassen, ob man nicht eigentlich doch den Hype rezensiert. Meine Strategie war, wie Sie richtig bemerken, also Affirmation: Ich habe da eben nicht Sprache und Aura gekauft, sondern Charlotte zum Lesen, und die mag ich erstens, zweitens ist sie streckenweise vergnüglich, und drittens spielt sie ein anerkennenswert cleveres Spiel, indem sie ihrer Leserschaft, die sich mit der ihrer Feinde eben (anders als bei all diesen 3000-Exemplare-aber-Kunst-Neuerscheingungen) überschneidet, die Leviten liest. Gegen alldas ist gar nichts einzuwenden.
@Michael Plattner
Ob Sie’s mir glauben oder nicht: Es geht nicht darum, ob ich Herrn Scheck mag oder nicht. Wirklich nicht. Und es zieht auch nicht das – pardon – letzte, an Verzweiflung erinnernde Argument, man missgönne irgendjemandem gebührenfinanzierte Reisen nach Rom oder Island.
Was moderiert Herr Scheck denn im »Büchermarkt« im Wechsel mit Steinert und Winkels? In der Regel sind das Übergänge zwischen zwei oder drei Beiträgen. Mehr nicht. Schön, dass das derart viel Beifall findet. Ab und an gibt es Kritikergespräche oder auch mal ein Interview (wie neulich mit Raddatz). Das »schärfste« ist hier das Bestsellerbashing. Seine Fernsehsendung ist insgesamt deutlich von anderem Kaliber. Tatsächlich kommt mir Scheck wie eine Mischung aus Raddatz (Exaltiertheit) und Reich-Ranicki (Scharfrichtertum) vor. Nicht mehr und nicht weniger. Manchmal kommt das doch fast peinlich rüber, wenn er sich in einen Buchladen stellt, und Leuten ein Buch aufschwatzt. Mit Literaturkritik hat das herzlich wenig zu tun. Eher mit Literaturpräsentation. Dass ein Vampirroman schrecklich ist – noch mal dieses Beispiel – sagt auch Frau Heidenreich.
Meine Aufzählung der vier Großkopferten war sicherlich inkonsistent. Dass Handke aus egomanischen und/oder kommerziellen Gründen nach Serbien gefahren und über Jugoslawien erzählt hat, ist – mit Verlaub – hanebüchender Blödsinn. Es hat ihm in mehrfacher Hinsicht geschadet – und das war ihm im Vorfeld auch klar (vgl. Herwigs Biographie). Ich bin im Rahmen dieses Themas nicht bereit, das weiter auszuführen. Ähnliches gilt auch für Botho Strauß und seinen »Bocksgesang«. Hier zeigt sich, wie Vermarktung nicht »funktioniert« (zumal, wenn man die »falsche Meinung« hat). Bei Grass und Walser mögen Sie teilweise recht haben – es sind ja im übrigen beides Autoren, die Scheck in »Druckfrisch« ausgiebig pflegt und ihnen in Interviews Honig ums Maul schmiert.
Roche mochte ich als VIVA2-Moderatorin auch. Ich fand allerdings Makatsch (das war dann wohl VIVA) nachher irgendwie besser.
@spalanzani
Den gleichen Snobismus, den sie den Ignoranten unterstellen, pflegen Sie selber, wenn Sie von den »3000-Exemplare-aber-Kunst-Neuerscheinungen« reden. Als sei mit Masse ein Urteil gefällt (auch das gilt natürlich in beide Richtungen: nur weil etwas wenig gelesen wird, ist es deswegen nicht per se besser als der 2 Millionen-Seller). Dass Frau Roche ihren »Feinden« die Leviten liest, ist mir irgendwie verborgen geblieben, was zweifellos an mir liegen muss.
Und doch: Dagegen ist etwas einzuwenden. Denn »Schoßgebete« erhebt ja sehr wohl einen Anspruch, den Frau Roche auch immer wieder formulieren darf. Dem wird sie weder mit sprachlichen Mitteln noch inhaltlich in irgendeiner Form gerecht. Da müsste es auch eigentlich nicht entscheidend sein, ob man die Autorin »mag« oder nicht.
PS: Ihre Kritik finde ich dennoch gelungen, weil sie gar nicht erst den Versuch unternimmt, einen doppelten Boden zu entdecken. Das unterscheidet sie von vielen anderen Lobhudeleien der »Mainstreammedien«, die exakt die Aufladung vornehmen, die sie sonst an den »3000-Exemplar«-Büchern praktizieren. Das ist ja implizit mein Vorwurf.
Aber zweifellos ein wichtiger Punkt aller Qualitätsdiskussionen: Welchen impliziten und expliziten Anspruch stellen Werk und/oder Autor? (Weswegen sich die Kritik von Pop und Populärem in mancher Hinsicht erübrigt, denn die wollen mitunter gar nichts anderes als eben unterhalten.)
Jetzt wird’s schwierig: Darf ich mich von dem wie auch immer gearteten Anspruch des Autors beeinflussen lassen? Dient nicht allzu schnell die Aussage, bloß unterhalten zu wollen als Immunisierungsstrategie? Ist eine wie auch immer vorgenommene Selbst-Beurteilung eine Basis für die Rezeption?
Ein Meister des Dummstellens in diesem Zusammenhang ist Thomas Gottschalk. Sein Credo »Ich will doch nur unterhalten...« ist m. E. die Kapitulation vor so etwas wie »Verantwortung«. Ich will gar nicht das Adorno-Fässchen vom »guten Leben im Schlechten« aufmachen. Wie Gottschalk reagiert, wenn er sich Herausforderungen stellt, kann man hier sehr schön sehen. Sofern man das rd. 43 Minuten ohne Zuführung irgendwelcher Drogen aushalten kann.
(pfuhh.. Ihr Link war aber ganz schön hart. Der Dampfplauderer Gottschalk ist ja gar nicht zu bremsen; innerhalb kürzester Zeit hat der Publikum, Zuschauer und jeden Gedanken in Grund und Boden gelabert. Wenn diese Sendung so auch das Positive zeigt, was er gerne verbreitet sähe, – sich gegenseitig soviel Honig ums Maul zu schmieren, dass die letzten erhellenden Gedanken auch noch verklebt und ersäuft werden – dann bleibe ich doch lieber in den »bösen, schwarzseherischen Blags«)
Es macht m.E. einen Unterschied, ob jemand versucht eine literarische Kategorie (Textsorte) zu erfüllen oder nicht, ob er durch sein Werk einen Anspruch stellt oder nicht (Ich gebe zu, mit den Aussagen eines Autor wird es problematisch, aber auch hier kann man sich ansehen: Was hat er, während seiner Karriere alles gemacht? In welchem Zusammenhang steht die vorliegende Arbeit?).
Ist es nicht Unsinn, einem Volkslied vorzuwerfen, dass nicht die Höhe eines Kunstlieds erreicht? Oder einem Popsong? Muss man sie nicht an ihrem Maßstab messen? Es geht mir um Ästhetik, um die Erfüllung einer gewählten Form, nicht darum, dass man nur unterhalten werden will, welche Probleme das wiederum aufwirft und ob etwas Kunst ist oder nicht?
Ich habe da immer etwas Herbsts Anti-Pop-Gestus im Hinterkopf, der m.E. teilweise, aus den oben genannten Gründen, ins Leere geht.
[Ok, lange hält man es nicht aus.]
@metepsilonema, es werden immer mehr »offline«-Medien digitalisiert und ins Netz gespeist, ja (Google und den fleißigen Händen, die illegal scannen, sei Dank ... .). Aber das exponentielle Wachstum der Information entsteht momentan durch ihre Produktion im Netz selbst, wenn Sie Blogs, Foren, Mailgroups, hochgeladene PDFs etc. als Information gelten lassen. Der themenspezifische Wert dieser Insider-Information ist oft gewaltig. Ich könnte ohne Netz mich in meinen Interessen nicht »weiterbilden«. Unvorstellbar. Das Netz organisiert, filtert und macht Information zum Teil überhaupt erst zugänglich. Das ist eine enorme, unglaublich machtvolle, kollektive Kulturleistung – mit allen impliziten Problemen von Macht- und Kapitalkonzentration (Google).
Die Auflösung der Sprache betreffend meine ich beides: ein Zerbrechen an der Wahrnehmung von Unmittelbarkeit und ein Versagen vor der unmittelbaren Wirklichkeit, die eine völlig andere ist, als wir gemeinhin mithilfe der Sprache konstruieren. Wenn sich die Sprache auflöst, dann, weil sich das Denken und das Ich aufgelöst haben. Was bleibt, ist das offene Kunstwerk des Selbst als untrennbare Totalität des Seins. Erst in der gedanklichen Reflexion wird das Selbst fragmentarisch und deshalb leidvoll. Sie finden das offene Kunstwerk aber auch in konkreten Manifestationen als Musik, Malerei, Text etc. Sozusagen als Spiegel des Kosmos.
Herr Keuschnig, Sie bezeichneten Herrn Scheck als kriecherischen Emporkömmling (Parvenü) und bescheinigten ihm einen Neid auf die Aufmerksamkeit, die Bestseller genießen. Daraus schloß ich, daß Sie ihn nicht mögen. Jetzt stellen Sie ihn als Menschen irgendwo zwischen Raddatz und Ranicki auf, was Herr Scheck wahrscheinlich als Kompliment auffassen würde. Sie mögen aber Raddatz und Ranicki womöglich auch nicht.
Das Gönnen der luxuriösen Lustreisen des Herrn Scheck bezog ich auf die Einwände meiner Freundin. Sie beziehen es als Mißgunst auf sich selbst. Ich verzweifle nicht, wenn Sie anderer Meinung sind.
Die Peinlichkeit empfinde ich meist bei den Besuchern der Buchhandlung, die in die Fänge des Herrn Scheck stolpern. Meist Verkörperungen der Planlosigkeit. Lieber von Herrn Scheck, als von den Buchhandlungs-Mitarbeitern beraten werden, denke ich. So wird zumindest der Rowling- und Funke-Absatz kurz unterbunden.
Wenn Sie also nochmal den Vampirroman bemühen – haben Sie denn meinen Link nicht zur Kenntnis genommen? Herr Scheck urteilt selbst im Genre der Vampirromane differenziert. Die Goth Novel blickt auf gute 200 Jahre Weltliteratur-Tradition zurück, da hat sich Einiges ereignet.
Egomanie ist eindeutig ein Merkmal aller vier von Ihnen genannten Autoren. Herr Grass setzt sich selbst ein Denkmal in jeder noch so langweiligen, aber eitlen Äußerung, Herr Walser fühlt sich angeblich von der »Moralkeule Auschwitz« um seine positiven Kindheitserinnerungen gebracht (und stieg damit zum Bestseller auf), Herrn Strauß befremdet vor lauter Massenhaß sein eigenes Kind unterm Apfelbaum – und Herr Handke fordert wiederholt (!) Gerechtigkeit für seine »Heimat« Serbien aus einer seltsam verbogenen Perspektive des Verschweigens. Jeder der Autoren initiiert gezielt Buch- und Essayprojekte, die zwangsläufig kommerzielle Unternehmungen sind.
Herr Plattner, ich habe Scheck niemals einen »kriecherischen« Parvenü genannt. Ich benutzte den Ausdruck im Bezug auf seine bewusst inszenierten, jedoch für den eigentlichen Gegenstand vollkommenen unnötigen Selbstinszenierungen, die gelegentlich pseudo-avantgardistische Züge tragen. Und dass Sie jetzt immer wieder das Geschmacksargument anbringen zeigt, dass auch Sie zu häufig in Kategorien von »gut« und »böse« verfallen. Es ist nämlich völlig unerheblich, ob ich FJR oder MRR »mag«. Es geht darum, wie sie Literatur vermitteln – und da entdecke ich bspw. bei MRR eine bis ins narzisstische hineingehende Selbstverliebtheit, die – leider – seine sehr umfassenden Kenntnisse überlagern. Vor dem Menschen Reich-Ranicki habe ich den größten Respekt; seine Kindheit und Jugend waren schrecklich überlagert von der Nazi-Katastrophe. Aber all das darf doch keine Rolle spielen, wenn es darum geht, sein Wirken in, für und mit der Literatur zu beleuchten. Und ob Herr Raddatz Messerbänkchen beim Abendessen braucht ist unerheblich, um seine Verdienste um Tucholsky festzustellen.
Ihre Argumentation bzgl. der Kommerzialisierung der Autoren ist – dabei bleibe ich – lächerlich. Handke und Strauß haben reichlich Nachteile aus ihren »Engagements« gezogen; zu Handke äußere ich mich an anderen Stellen dieses Blogs ausführlich. Grass ist in die Rolle des moralischen Gewissens über die Jahrzehnte hineingeschoben worden – entsprechend ist die Entrüstung immer besonders groß bei denen, die ihn früher auf den Schild gehoben haben, wenn er etwas »abwegiges« gesagt oder getan haben soll. (Manchmal finde ich es geradezu drollig, wie jemand ein Werk in einem halben Satz »entlarvt« – aber eigentlich nur sich selber bloßstellt.)
Übernimmt man diese These, ist jedes Buch »kommerziell« und entsprechend einzustufen und zu »verdammen«. Autoren, die nicht über eine gewisse Portion Selbstbewußtsein verfügen, sind letztlich fehl am Platze. Das ist übrigens kein Zeichen unserer Zeit; das war immer so. Es ist aber ein Unding, wenn Rezensenten dem nachfolgen möchten – übrigens nicht unbedingt aus finanziellen Erwägungen heraus (auch wenn Gerüchte über die Korrumpierbarkeit des Betriebs mehr sind als nur Gerüchte).
@Phorkyas #45
Ich hatte ja durchaus gewarnt...
Interessant ist diese Sendung wegen der zum Teil wirklich loriot-haften Sentenzen. Etwa nach dem Du-Angebot von Gottschalk an Kehlmann: »Das ich das noch erleben darf.« Oder Frau von L in Bezug auf literarische »Helden«:»Bei mir ist es immer das Pferd von Winnetou«.
Ich hatte ja durchaus gewarnt… Damit doch aber das Schauen noch mehr provoziert, oder?
Die beiden Beispiele, die Sie nennen, riefen bei mir auch schon leichtes Unwohlsein hervor – ich hätte mir gewünscht, dass da jemand aus der Regie plötzlich ins Bild läuft und die Schwafler ohrfeigt... Dabei, weder Intelligenz und noch Talent kann und will ich den Leuten absprechen, umso verwerflicher finde ich es, dass sie so einen Schmu (mit)machen. Der auch nicht besser wird, dadurch dass es schon Meta-Schmu ist. Besonders diese Winnetou-Sache: Da lachen sie ja schon über sich selbst. Da könnten sie sich rechtfertigen; das ist doch aber ironisch, kapiert doch jeder... Ja, aber die Ironie bekommt euch nicht! (Ihre Meta-Dauerironiker lassen grüßen?)
Der Gottschalk sagt ja auch so viele Dinge, da muss auch ich ab und zu mal Kopfnicken, aber dann schläfert er das ganze Publikum kopfnickend ein, dass es nur noch für ein paar müde Gags aufschreckt und alle kollektiv lachend sich versichern in der richtigen Mitte zu stehen. Und dabei ist die simulierte Auseinandersetzung völlig virtuell. Meta-eben. Flach und ohne jede Ecke und Kante (Appleprodukt?). Die kernigen, leidenschaftlichen Debatten werden beschworen, das Vollkornbrot der Literatursendungen, während man selbst doch nur so eine dünne, pappige Toastbroastschnitte abliefert...
Genug! – Es lebe die Blogkommentar-Bleiwüste (in der das hoffentlich ganz anders sein kann)!
@Michael Plattner
Ja, wobei ein PDF – aber nicht nur der – auf einem Pc erstellt und dann hochgeladen wird, das meint ich; oder auch die Fülle von wissenschaftlichen Arbeiten, die in Journalen – kostenpflichtig oder nicht – verfügbar sind, werden nicht im Netz geschaffen. – Aber Letztendlich ist der Produktionsort nicht entscheidend.
Zweifellos ein Kulturleistung; und schön ist auch, dass dabei eine Hand die andere wäscht, obwohl sie nichts von einander wissen: Ein paar Leute programmieren kostenlose Plugins für meinen Browser, andere schreiben Literaturkritiken und selbst liegt man auch nicht auf der faulen Haut ... das ist eigentlich recht erfreulich.
Sie haben mich neugierig gemacht: Darf ich fragen, um welche Interessen es sich handelt?
Das offene Kunstwerk: Ein bloßes Dasein des Selbst? Verbunden mit dem übrigen Seienden?
Also, auf die Gefahr hin, daß ich Ihnen jetzt so richtig auf den Puffer gehe, Herr Keuschnig, muß ich doch noch anfügen: »kriecherisch« im Sinne Ihres ausgeschriebenen »devot« und »Honig ums Maul schmieren«. Ich assoziiere mit solchen Vokabeln beim Schreibenden Gefühle der Antipathie. Zumindest würde ich zu solchen Wörtern greifen, um Antipathie auszudrücken. Die ja nie sachlich ist. Die Geschmacks-Achse »Sympathie/Antipathie« ist natürlich auch eine andere als die ethische Achse »gut/böse« (die Frau Roche ständig auf alles und jeden anwenden muß). Meinen Sie auch den TV-MRR, oder den schreibenden MRR ? Sie fordern von MRR und Herrn Scheck eine Ausführlichkeit der Literaturkritik, die das Format TV und Radio bei diesen Sendezeiten nicht hergeben können (es sei denn, Sie wünschen EINE Besprechung pro Sendung). Ich wollte nur mit meinem Widerspruch zum Ausdruck bringen, daß ich Herrn Scheck und auch den Herren MRR und Raddatz die Kompetenz einer »in-depth«-Analyse von Literatur niemals absprechen würde. Sie müssen auch davon ausgehen, daß Herrn Reich-Ranickis gesamtes Leben seit 1941 von der »Nazi-Katastrophe« irreparabel beschädigt wurde (Celan nicht unähnlich).
Hier ist nicht der Ort, um das Handke-Problem zu erörtern. Sehe ich ein. Nur soviel: mein Eindruck bleibt bestehen, daß alle vier Autoren in Zeiten schwächelnder Umsätze auf den Putz hauen wollten. Lieber Schelte als überhaupt keine Aufmerksamkeit. Grass hat sich immer selbst gern in den Vordergrund geschoben – und sein »politisches« SPD-Bewußtsein war Teil der bundesdeutschen »roten« Kultur einer bestimmten Ära. Ich habe noch drei (!) Bände »Politische Schriften und Reden« von Grass in meinem Regal stehen. Unlesbare Belanglosigkeiten. Zeitgeist-Sprech. Heute kommt ihm ja auch eine SS-Zugehörigkeit gerade recht, damit die Mikrofone sich wieder auf ihn richten. Und Strauß und Handke hatten das Pech, zum falschen Zeitpunkt ihre Streitschriften ohne viel Gegenliebe zu veröffentlichen. Berufsrisiko. Strauß ist heute harmlos im Vergleich zur spezifischen und salonfähigen Sarrazinschen Hetze. Und der Balkankrieg der 1990er interessiert heute nur noch die Betroffenen (Täter und Opfer). Der einzige Gewinner dieser »Viererbande« ist für mich Walser – als Wortführer der »Auschwitz-nervt«-Fraktion, die in Deutschland immer schon die Mehrheit bildete.
Zur kommerziellen Verstrickung der Kritik – zumindest der Hauptmultiplikatoren wie Frau von Lovenberg – hatte ich ja schon etwas auf Perlentaucher gesagt. Frau von Lovenberg wird für ihre Moderationstätigkeit honoriert. Ob dort Gottschalk oder die Roche sitzt: Namen haben Marken- und Marktbedeutung. Da wird von Lovenberg schnell selbst zur Marke mit entsprechendem Marktwert. Gleiches läßt sich natürlich auch von Scheck (oder MRR/Raddatz) sagen. Das ist TV-Macht und ‑Markt. Der GEZ-Pool ist üppig. Wir sollten aber bedenken, daß die eigentliche Dekadenz ganz woanders liegt: bei Jauch, Schmidt, Gottschalk, dem Tages- und Abendprogramm der Öffentlich-Rechtlichen, Tagesschau inklusive. DORT wird der Ungeist produziert, nicht bei Herrn Scheck, ja noch nicht einmal bei Frau von Lovenberg (in der Regel).
@metepsilonema, hängt davon ab, wie Sie »Netz« definieren wollen. Ich sehe die User-PCs immer als Teil des Netzes. Das Netz realisiert sich erst über die Hard- und Software Ihres Rechners, der über eine Netzverbindung verfügt. Herrn Keuschnigs Blog befindet sich gerade – im Moment des Tippens – in meinem Arbeitsspeicher.
Wissenschaftsrezeption und Publikationsflut? Riesenproblem, keine Frage. Ich habe mal versucht, dieses Problem für mich selbst mit technischen Mitteln der Computerlinguistik zu lösen. Das ist aber eine sehr harte Nuß. Somit deute ich an, wofür ich das Netz hauptsächlich brauche: IT im Allgemeinen, momentan Game Design im Besonderen.
Ein unterschiedsloses Sein-wie-es-ist. Total und ungeschieden. Allumfassend. Sie werden unschwer erkennen, daß ich eine mystische Position vertrete.
Ich fordere keine »in-depth«-Analyse von der Literaturkritik – weder im Fernsehen noch im Print-Feuilleton. Hierfür gibt es die Literaturwissenschaft. Aber schauen Sie sich doch die Kritiken an: Die bestehen im geschriebenen Feuilleton zumeist zu 70% aus Inhaltsangaben. Die Kurzkritiken bestehen aus 100% Meinung(en). Eine Synthese zwischen beiden Teilen passiert zu selten. Da finde ich die Kindergartenbewertung mancher Literaturblogs zwischen einem und fünf Sternen ehrlicher.
Es besteht m. E. kaum ein Unterschied zwischen dem Fernseh-MRR und dem Schreiber-MRR. Beiden ist gemein, dass sie ein festgefügtes Weltbild haben und dann die Literatur, die sie gerade haben, damit vergleichen. Das werfe ich MRR gar nicht vor. Ich werfe ihm dieses Heuchlerische vor, »dem Leser« damit dienen zu wollen: das apodiktische Urteil (welches sich an ein ganz bestimmtes Literaturbild abarbeitet) ist dann auch noch messianisch. Das ist offensichtlich eine Berufskrankheit der sogenannten Kritiker. Zu beobachten bei seiner »Enkelin« Frau Heideneich und auch bei Herrn Scheck, der seine Empfehlung immer garnieren muss mit der Phrase (sinngemäß): »Vertrauen Sie mir, ich weiss, was ich tue«. (Raddatz hat sich vom Fernsehen ja immer eher absentiert.)
Ich verhehle nicht, dass ich das Gespräch des Kritikers mit einem Autor für die schlechteste Möglichkeit halte, ein Buch literaturkritisch vorzustellen. Wobei ich gar nicht Wert darauf lege, dass jemand mit André-Müller-Pose den Gesprächspartner angeht – aber ein bisschen mehr dürfte es schon sein. Das gilt natürlich nicht nur für Scheck, der in seiner »Druckfrisch«-Sendung auch noch die Inszenierung inszeniert, und somit eine gewisse Ironie stehen lässt.
Und natürlich gibt es zu allen möglichen Medienformaten noch schlechtere Ausführungen. Aber nur weil ein Hügel von 200 m in den Niederlanden die höchste Erhebung ist, kann man ihn noch nicht mit dem Eiger vergleichen.
Wenn Sie nur ein bisschen Ahnung von Handke hätten, wüssten sie, dass der Vorwurf sein Serbien-Engagement sei aus kommerziellen Gründen geschehen, Unsinn ist. Selbst bei Grass’ »Zwiebel« glaube ich das nicht. Interessant bei Grass’ SS-»Geständnis« ist ja, dass das Buch wohl schon wochenlang in den Redaktionsstuben lag und niemand diese Stelle entdeckt hatte. Erst im Interview mit der FAZ wurde die Sache dann »entdeckt«. Das war einige Tage vor der Veröffentlichung für’s Publikum. Allerdings: Auf die Idee, Grass habe 50 Jahre mit diesem »Geständnis« gewartet, um dann damit Geld zu machen, muss man erst einmal kommen. Es sagt einiges über die aus, die es sagen (finde ich).
Über die politischen Einlassungen von Grass’ sind wir vermutlich einer Meinung. Auch hier glaube ich aber, dass man ihn in die Position des Moralapostels über die Jahrzehnte hin reingeschrieben hat. Kulturjournalisten glauben ja, dass ein Schriftsteller (oder anderer Künstler) besonders befähigt ist, politische Aussagen von Relevanz zu treffen. Das trifft ab und an ja durchaus auch zu, aber es ist nicht zu generalisieren. Die Beispiele, die das Gegenteil bezeugen, sind Legion. Warum man aber immer glaubt, die sogenannten Intellektuellen seien scharfsinnigere Menschen als andere, ist sicherlich dem Phänomen der medialen Präsenz geschuldet. So lädt man ja in deutschen Talkshows immer wieder Prominente ein, die zwar zum eigentlichen Thema nichts beizusteuern wissen (außer ihrer »Meinung«), aber dann durch den Promi-Faktor »glänzen«.
Was Sie zu Lovenberg und »Marktwert« sagen, ist natürlich richtig. Ähnliches gilt ja für ihre telegene Mitstreiterin Thea Dorn (beide haben im SWR-Fernsehen die Sendung »Literatur im Foyer«). Die eine soll zur Starkritikerin werden (man sieht förmlich, wie sich Thomas Gottschalk als Kerbe in ihrem Lebenslauf einschnitzt), die andere Starintellektuelle. Irgendjemand, der sich noch an Thea Dorns Krimis und deren Qualität erinnert?
@Michael Plattner
Ein unterschiedsloses Sein-wie-es-ist. Total und ungeschieden. Allumfassend. Sie werden unschwer erkennen, daß ich eine mystische Position vertrete.
Aber warum das noch Kunst nennen? Wäre das nicht vielmehr ihr Ende? Zumindest des Schaffens von Kunst (nicht unbedingt der Rezeption)?
Gut, Herr Keuschnig. Wir können jetzt seitenlang unsere Meinungen über Schwächen und Stärken der Szene-Darsteller und Showgrößen vortragen. Eitelkeiten und Größenwahn sind wohl jedem eigen, der sich bis zum Fernsehen vorgekämpft hat, ob nun Schriftsteller oder Kritiker. Ich stimme Ihnen zu, daß es erhebliche Probleme in der Literaturvermittlung gab/gibt, teilweise formatbedingt, teilweise qualitätsbedingt. Sonst wäre mir auf Perlentaucher nicht die Galle übergelaufen.
Thea Dorns Krimis habe ich nicht gelesen, aber das Genre und die Gender-Studies-beeinflußten Themen der Frau Dorn lassen nichts Gutes vermuten. Uni-Stoff meets Sex&Crime. Wer gezielt »Krimis« schreibt, ist Opfer der Genre-Kisten oder hofft (vergeblich) auf Verkauf. Trotzdem muß man Frau Dorn lassen, daß sie genau über das intellektuelle (Uni-)Training verfügt, das Frau vL vermissen läßt. Frau Dorn leidet sichtlich, wenn Herr Walser angetrunken von seiner »oralen Obsession« lallt. Bald zum zweiten Mal im TV. Oder wurde das schon ausgestrahlt!? Frau vL leidet in anderer Hinsicht, wenn sie sich sogar vom ausgebildeten Deutschlehrer Gottschalk, der seinen Homer als Jugendlicher gelesen hat, über Literatur-Qualitäten belehren lassen muß. Frau vL tat mir fast etwas leid. Wirkte irgendwie angegriffen und plattgebügelt, eingeschüchtert. Möglicherweise gab es FAZ-interne Debatten über den zukünftigen Kurs. Manche Leserbriefe müssen hart gewesen sein.
Ich gebe zu, zur simpelsten Erklärung für Handkes Serbien-Tick gegriffen zu haben. Da aber selbst Ihr Insider-Interview mit seinem Übersetzer ein zwiespältiges Licht auf Herrn Handke wirft, bzw. ihn als einen launischen Manipulator der Presse und der Interview-Partner zeigt, würde mich mal interessieren, was denn Ihrer Kenner-Meinung nach, Herr Keuschnig, Herrn Handke zur Serbien-»Verteidigung« bewogen hat?
So, wie Sie die »Zwiebel«-Einführung beim Leser über ein Vorab-Interview mit der FAZ darstellen, EXAKT so stelle ich mir einen perfekten PR-Coup des Herrn Grass vor. Es reicht schon lange nicht mehr bei dieser Medien- und Publikationsdichte, daß Sie ein gutes Buch geschrieben haben. Die Qualität des Buches ist fast irrelevant geworden. Sie benötigen eine gut getimte Marketing-Kombination aus Jugend oder Promi-Status und Provokation, damit Verlag und Autor sich wirklich freuen können. In unserer Zeit hat Frau Roche den Herren Grass und Handke längst das Wasser abgegraben, wie die Auflagenstärken belegen. Das bedeutet etwas. Herr Grass hat tatsächlich 50 Jahre mit seinem SS-Outing gewartet, ein früheres Bekenntnis hätte ihn ähnlich wie Handke oder Strauß ernstlich im Erfolg bedroht. Nein, nein, das kam schon zum rechten Zeitpunkt. Ich bin mir zu 100% sicher, daß Herr Grass seine Waffen-SS-Mitgliedschaft schon bei der Niederschrift als verkaufsfördernde Anekdote mit Skandalpotential eingeschätzt hat. Vergleichbar Walser mit seinem »neuen« Auschwitz-Verständnis als »Belästigung«. Alte Herren punkten gerade noch zielgruppengerecht mit dem Dritten Reich, junge Damen mit einem guten Blowjob.
Der spätere Herr Grass zeigt sich mir in meiner Werkausgabe seiner »Essays und Reden« (bis 1997) als ein buchstäblicher Moralapostel mit großem Glauben an seine Gewichtigkeit. Ich glaube, er achtete immer schon mehr auf den Klang seiner Ansprachen, als auf deren Inhalte, die sich wie kulturkritisches Versatzstückwerk ausmachen. Keine Originalität, nirgends.
Weil es Kunst IST,@metepsilonema. Die Kunst der Schöpfung. Diese umfaßt sowohl Ihr Selbst wie auch das »irdische« Kunstwerk, das Ihr Selbst manifestiert. Selbst und Kunstwerk sind ihrem Wesen nach unerschöpflich und unergründlich wie die Schöpfung selbst. So entsteht das Ecosche, Offene Kunstwerk mit seinen zahllosen Interpretationen und »Lesarten«, perspektivische Brechungen Ihres Ich/Egos. Sie haben dasselbe Problem auch in den geisteswissenschaftlichen Hermeneutiken, z.B. in der Geschichtswissenschaft, in der das historische »Ereignis« als totale Szene (Kinder singen Lieder der französischen Revolution ...) je nach Perspektive des Forschers ganz andere Wirklichkeitsaspekte offenbart (politische Geschichte der Stadt Paris, Sozialgeschichte der Kindheit, Mediengeschichte etc.). Interssant wäre die Frage, wieviele und welche »Lesarten« das menschliche Ich tatsächlich kennt/kennen kann. Tatsächlich unendlich viele?
@Michael Plattner #57
Ich glaube nicht, dass es sich bei Grass’ Waffen-SS-»Geständnis« um einen lange vorbereiteten PR-Coup handelte. Zwar hat er mit dem FAZ-Interview dem Skandalon Futter gegeben, aber das hätte er auch fünf oder zehn Jahre vorher tun können. Ich glaube nicht, dass es das primäre Ziel war, über dieses »Geständnis« auch noch Auflage zu gerieren (was ja der Vorwurf von Frau Knobloch war). Zumal ja – angeblich? – der Sachverhalt bei »Insidern« durchaus bekannt gewesen sein soll.
Dass man Grass spätestens seit den 70er Jahren als das moralische Gewissen Deutschlands nahm und er diese Rolle dann irgendwann auch mit entsprechendem Habitus ausfüllte, vermag man ihm anlasten. Wenn man sein »Tagebuch« von 1990 liest, weiss man um die Beschränkungen von Grass’ politischem Bild. Dennoch hätte man sein »weites Feld« nicht zerreissen dürfen, wie dies MRR gemacht hat.
Es ist eben auch eine Sache der medialen Inszenierung, jemanden in diese Rolle hineinzutreiben. Dass sich Schriftsteller (und Intellektuelle allgemein) als politische Kräfte fühlen sollen, wird ihnen mehr und mehr zugeschrieben. Denken Sie an die »Proteste« von sogenannten Menschenrechtsgruppen, die Preisvergaben an Tara Ben Jelloun und den syrischen Schriftsteller Adonis mit der Begründung kritisierten, beide setzten sich nicht genügend von den politischen Regimen ihrer Heimatländer ab. Ein meines Erachtens absurder Vorwurf, so lange es sich um einen Literaturpreis handelt.
Hinzu kam, dass das linksliberale Establishment von Grass maßlos enttäuscht war. Dies erklärt die Vehemenz. Bei Stasi-Schriftstellern verfuhr man sehr viel milder; Greiners Attacke auf Christa Wolf zu Beginn der 90er Jahre wurde mehr oder weniger abgeschmettert – nicht umsonst verteidigt Grass Wolf ja. Das hat damit zu tun, dass man einem Sartre seine politischen Dummheiten immer mehr vergeben hatte als einem Hamsun. Man »durfte« in den 50er/60er Jahren glühender Stalin-Anhänger sein – das galt/gilt als »Unfall«. Als 17jähriger in einer Waffen-SS-Einheit gewesen zu sein als moralische Katastrophe. Der Gipfel der Heuchelei war dann die Frage, warum Grass dies nicht vorher bekannt gemacht habe: Das »Schicksal« all derer, die in den 50er/60er Jahren als »Nazi«-Schriftsteller galten, musste Grass Abschreckung genug sein.
Und da schließt sich – nicht nur bei Ihnen- der Kreis: Betrachten die doch bitte den »Header« der Süddeutschen Zeitung für das Literatur-Ressort: Hier. – Grass neben Roche und ein zeigefingernder Reich-Ranicki. Q. e. d.
Neulich rief Ellen an, sie ist 45 und zweite Kraft der Presseabteilung eines Autokonzerns. Ellen liest gern Romane, sie liest auch längere Rezensionen und kauft manchmal, was da empfohlen wird. Neulich benötigte sie ein Geschenk für eine Kollegin. Wenn es den Dicken da im Fernsehen nicht gäbe, den mit der Tonne, sagte Ellen, dann wäre ich aufgeschmissen gewesen. Sie suchte ein Buch, das sie guten Gewissens verschenken könnte, ohne ein Wort selbst gelesen zu haben. Ein Buch, das viele lesen, aber keinen Schrott, Anspruch soll es schon haben. Da kam ihr der Dicke aus dem Fernsehen, der mit der Tonne, gerade recht. Welches Buch sie gekauft habe, fragte ich, weiß ich nicht mehr, sagte sie, irgendeine Serbin, die in der Schweiz lebt, den Namen habe ich vergessen, das Geschenk aber war ein Volltreffer.
Dann saß ich am frühen Abend in einem Restaurant. Am Nebentisch ein dicklicher Endvierziger, ihm gegenüber eine zehn Jahre jüngere etwas zu schöne, zu glatte Frau. Ich sah, er war der Firmenchef, sie rangierte in der Hierarchie nicht mehr als zwei Stufen tiefer. Thema war eine Zeitungsbeilage, die geplant wurde, eine Messe stand bevor. Dr. Dicklich kam sofort zur Sache: Das hier wird der Aufmacher! Frau Zuglatt sagte, da liege ihr schon was vor, nur habe der Autor ein zwei Vorbehalte. Dann macht das ein anderer, sagte Dr. Dicklich, der Feinwein, der findet das gut, der macht eine Hymne, sag doch dem Bescheid. Mach ich, sagte sie. Ich sah ihr an, dass sie das Ding, das Aufmacher werden sollte, nicht besonders toll fand, ich sah ihr an, sie hielt nicht viel von Feinwein. Aber sie nickte und nickte. Dann fiel ihr ein, dass Feinwein gerade im Krankenhaus liegt. Dann mach du das, sagte Dr. Dicklich. Frau Zuglatt fand das blöd, wie ich erkennen konnte, aber sie fragte nur, wieviel Zeilen es sein sollen. Na eine ganze Seite!
Neulich schrieb ein Klatschreporter von der Messe, der Dicke aus dem Fernsehen, der mit der Tonne, und Frau Zuglatt hätten bei einem Espresso köstlich über ihre Chefs hergezogen, der Dicke über den Programmdirektor, der ein zwei Sachen in den Giftschrank verbannt habe, und Frau Zuglatt über den Herausgeber, der sich in alles einmische.
Ellen rief wieder an. Sie lese das Buch, das neulich auf Seite eins so gelobt wurde. Es langweile sie. Sie kaufe jetzt ein anderes, das bekam keine positive Kritik, ist aber wohl eher was für sie.
@Michael Plattner
Diese Sichtweise erweitert den Kunstbegriff auf die nicht von Menschen geschaffene, belebte und unbelebte Welt (ich zähle die Geburt eines Lebewesens jetzt einmal nicht als Schaffen, obwohl man darüber diskutieren kann). Konstituierend wäre nach wie vor ihre Interpretationsbedürftigkeit (Unentscheidbarkeit, Leerstelle, Vieldeutigkeit, etc.).
Auf Ihre Frage kann man aus systemtheoretischer Perspektive antworten: Einerseits entscheiden die Zeichen, die ein Kommunikationspartner verwendet über das Verständnis einer Botschaft, andererseits, der Kontext desjenigen, der die Botschaft übernimmt, also sein Verständnis von Welt, sein Wissen, seine Gefühls- und Erfahrungsräume, das worin er die Botschaft einbettet. Keine Botschaft ist eindeutig, aber man kann zumindest innerhalb eines kulturellen Kontexts, den Grad an Eindeutigkeit mitbestimmen (statistisch gesehen zumindest).
Diese Vielschichtigkeit, also Unmöglichkeit der Definition was das Selbst oder der Mensch sind, sollte man aus einer humanen Perspektive nicht gering schätzen (siehe auch hier).
Puh! ... Ich brauchte erstmal einen Tag Pause, wir kommen hier ja wirklich vom Stöckchen Roche zum Wald der Literatur. Aber es juckt mir bei dieser Diskussion dann doch in den Fingern.
Ich mache das mal so wie Sie, Herr Keuschnig: ich kennzeichne die Postnummer, dann muß ich Sie nicht permanent direkt ansprechen (was manchmal unfreiwillig aggressiv wirken mag ...).
@Gregor Keuschnig #59
Ich glaube, wir drehen uns eher gemeinsam im Kreis, als daß er sich schließen will (dabei machen Sie so viele weitere, interessante Threads auf ...). Es war nicht meine Intention zu suggerieren, Herr Grass habe sich 1945 vorgenommen, seine SS-Mitgliedschaft in 50 Jahren literarisch zu verwerten. So absurd denke ich nicht. Was ich meinte, war: er hat das für ihn günstigte Zeitfenster gewählt, um mit minimalem Schaden und maximalem Gewinn diese kleine SS-Anekdote, die im Vergleich zum allbekannten Salbadern der restlichen »Zwiebel« auch fast die EINZIGE interessante Neuigkeit gewesen ist, als »Aufhänger«/»Zugpferd«/»Gimmick« etc. zu mißbrauchen. Frau Knobloch hatte recht. Dieses hat etwas mit der Auschwitz-Rezeption im BREITEREN deutschen Publikum zu tun. Deutschland hatte genau zwei Dekaden, um sich Auschwitz überhaupt kritisch und umfassend zu nähern. Im Zeitraum 1980 bis 2000 findet Auschwitz zur BREITENwirkung in Film, TV und Presse, in der Nachkriegszeit mühsam von einzelnen Vorkämpfern der Geisteswissenschaften und deren Schülern gut vorbereitet (Adorno, Arendt, Lanzmann, einige mutige »Nestbeschmutzer« und NS-Opfer wie Kogon, Langbein etc.). Es findet auch verstärkt Aufnahme in den Schulunterricht. Vor 1980 wurde langhaarigen »Gammlern« auf offener Straße Arbeitslager und Gaskammer vom Bürger ins Mikrofon des TV-Senders angedroht. Das war das Durchschnittsbewußtsein Deutschlands in der Auschwitz-Frage. Neben dem bewußten Schweigen der Vielen, die aktiv und mitschuldig »dabei« waren – und ihre Berufe als Ingenieure, Ärzte, Richter, Anwälte, Politiker, Hochschullehrer und Publizisten hochdekoriert ausübten oder schon ihren üppigen Ruhestand genossen. Diese geistige Käseglocke wurde erst mit der Ausstrahlung der amerikanischen TV-Serie »Holocaust« zertrümmert, eine Art ungeplanter Spätaufklärung durch die Besatzungsmacht (für Hollywood war Auschwitz schon längst Pulp- und Soap-Stoff ). Die Telefonanrufe von bestürzten, schluchzenden und sich rechtfertigenden Führer-»Muttis« (»Wir wußten das doch nicht!«) beim Sender waren Legion. Es wurde extra eine Seelsorge-Station zur Nachbetreuung der »Holocaust«-Zuschauer eingerichtet. Würgende und wütende Schuldgefühle, lang verdrängte Erinnerungsbilder. Historikerstreit, Spiegel, zunehmende Publikationsdichte, Guido Knopp und nicht zuletzt »Schindlers Liste« sensibilisierten eine breitere deutsche Öffentlichkeit zum ersten Mal für eine komplexe und grauenhafte Vergangenheit. Wenn Sie jetzt schreiben, Herr Keuschnig, Grass hätte auch vor 10 Jahren, also Mitte der 1990er seine »Zwiebel« getrost veröffentlichen können, so wäre dies der denkbar ungünstigste Zeitpunkt des Höhepunktes der Auschwitz-Rezeption in Deutschland gewesen: 50 Jahre Lager Auschwitz auf allen Sendern und Kanälen. Und 5 Jahre, also um das Jahr 2000 herum, das wäre noch zu nah am Glutofen gewesen, an dem sich Walser die Finger erst verbrannt, dann gewärmt hat. Walser, der auch 1978 (wie von Günter Amendt kolportiert) Bob Dylan für einen ‘herumzigeunernden Israeliten’ – und später MRR für einen typischen Juden hielt. Soviel zur deutschen, durch das nickende Publikum hochgespülten »Geisteselite«. Seit 2001 ist Auschwitz durch den »War on Terror« (und Wirtschaftskrise) aus dem Bewußtsein gedrängt, neue Feindbilder sind politisch und publizistisch geschaffen worden. Somit konnte Grass im Windschatten der Schäubleschen »Terrorgefahr« seine SS-Anekdote verkaufen, zu einem Zeitpunkt, wo er selbst mit seinen Memoiren sein Alterswerk eingeläutet hat. Das nimmt, abgesehen von den Nachfahren der zumeist schon verstorbenen Opfer, niemand mehr ernst – trotz der ganzen geheuchelten Entrüstungsschreiberei, da haben Sie Recht. Sie dürfen auch nicht vergessen, Herr Keuschnig, daß der Buchmarkt extrem kurzlebig geworden ist. Sie brauchen als Schriftsteller für jedes 2‑Jahresprojekt einen guten Trick, für jedes 5‑Jahresprojekt einen sehr guten Trick. Grass hatte nur diesen einen SS-Trick. Der mußte WENIGE Tage vor der Veröffentlichung angewendet werden. Denn weiter reicht das kulturelle Gedächtnis des Feuilletons und seiner Leser nicht.
Glauben Sie mir, Grass hat sich immer geschmeichelt gefühlt, wenn man ihm als »Intellektuellen« zuhörte. Diese Rolle hat ihm niemand aufgedrängt, die wollte er federführend besetzen. Eine Paraderolle mit Erfolgsgarantie in den Glanzzeiten des Linksintellektualismus. Heute wirkt davon das Meiste zwangsläufig verstaubt und zeithistorisch, auch zu kurz gedacht. Die Uhr hat sich halt wieder 30 oder 40 Jahre weitergedreht. Die Analysemittel sind heute andere.
In den 50/60er Jahren gab es tatsächlich sehr viele, buchstäbliche Nazi-Schriftsteller und Lehrer/Hochschullehrer/Publizisten. Die Nicht-Nazi-Schriftsteller waren entweder tot, emigriert oder sehr jung. Ich selbst habe als Kind ja auch noch Hans-»Denn heute hört uns Deutschland/Und morgen die ganze Welt«-Baumanns Alexander-Feldzüge verschlungen. Soviel könnte ich garnicht wieder auskotzen, wenn ich es bedenke ... .
Was Sie zum Hitler/Stalin-Komplex und seinen Spaltungen der »Intellektuellen«-Szene Europas – von Hamsun, Sartre bis zu Wolf (als Spätausläuferin) sagen, kann ich nur bestätigen. Über die Politizität von Kunst läßt sich allerdings streiten. Im alten Rom war eine Publikation immer Teil der »res publica«, der öffentlichen Sache (daher die von den Zeitgenossen sehnsüchtig erwarteten »Historien« der Senatoren im Ruhestand – Politklatsch der Zeit ...). Ich denke eher: glücklich ist derjenige Künstler, der sich das Wegschauen mit gutem Gewissen leisten kann. Nur sollten sich meist ausländische Menschenrechtsgruppen die Frage stellen, ob sie selbst den Mut aufbringen würden, ermordet oder inhaftiert/gefoltert zu werden, zumal, wenn Familienangehörige und Freunde/Bekannte mitbetroffen wären.
Danke für Ihren Süddeutsche-Link. Den kannte ich zwar schon, aber der gehört unbedingt hierher. Ich hatte mal vor ein paar Wochen den Impuls, darüber auch noch auf Perlentaucher zu schreiben. Dachte, aber: laß es gut sein – sonst wirst du verhaltensauffällig. Hat mich anfangs aufgeregt (der Roche noch mehr Fläche geben ...), dann aber als Gegenprovokation der Süddeutschen (die FAZ(=MRR): vom Nobelpreisträger zur Roche – alles eine Soße!) amüsiert. Schaut wirklich lustig aus. Der Opa und die Enkeltochter. Deutschland, deine Literaten!
Jetzt hat sich für mich wirklich ein Kreis geschlossen. Ich bedanke mich für dieses Gespräch, Herr Keuschnig.
Schöne Glosse, Herr @Bloch #60!
Mich würde mal interessieren, ob Sie für den Inhalt bürgen könnten!?
Wenn ich das richtig entziffere, hat Dr. Schirrmacher also der armen Lovenberg die »Schoßgebete« geradezu aufgedrängt, während Herr Scheck auch nur Anweisung von Oben hat, die Roche zu mißachten!?
DAS wäre Kolportage und Klatsch nach meinem Geschmack! Donnerwetter, Herr Bloch, an welchen Restaurant-Tischen sitzen Sie denn?
Ja, genau, @metepsilonema #61. Wobei sich mir schon seit langer Zeit die Frage stellt, ob Zeichen und ihre Kontexte nicht durch kulturelle UNIVERSALIA der Weltwahrnehmung und Weltdeutung strukturiert werden.
Ich sehe, Sie betreiben wirklich fleißig eine eigene Seite mit künstlerisch-philosophischer Ausrichtung. Das werde ich mir mal genauer anschauen.
Einem Menschen Unausschöpflichkeit zuzusprechen, bedeutet auch, ihm eine Chance zu geben, an seine Entwicklung zu glauben, ihn nicht vorzuverurteilen, sich von ihm überraschen zu lassen – sprich: selbst frei vom Vorurteil zu sein. Vor allem aber: in ihm das Selbst zu sehen.
@Michael Plattner
Selbst wenn, damit ist es ja nicht getan. Ein plakatives Beispiel: Ein Mensch, der eine Traumatisierung durchlebt hat, wird diese Welt, Personen, Dinge, Zeichen, in mancherlei Hinsicht anders erleben, als jemand der diese »Erfahrung« nicht gemacht hat. Und verhält es sich, auf einer subtileren Ebene nicht bei jedem von uns ähnlich? Mir kommt vor, als teilten wir bestimmte Grundlagen der Wahrnehmung von Welt, die dann subjektiv übermalt werden.
Aber unbenommen davon: Was für Universalia könnten das sein?
Ja, ich betreibe und treibe – und freue mich über (neue) Leser und Kommentatoren! Sehen Sie sich ruhig um.
An die Sache mit den Vorurteilen glaube ich nicht, oder anders: Wir kommen nicht ohne aus; es ist viel wichtiger sie wieder aufgeben zu können, wenn sie unzutreffend sind (man könnte argumentieren, dass der Glaube an eine Entwicklung auch ein Vorurteil ist).
»Und verhält es sich, auf einer subtileren Ebene nicht bei jedem von uns ähnlich? Mir kommt vor, als teilten wir bestimmte Grundlagen der Wahrnehmung von Welt, die dann subjektiv übermalt werden.« (metepsilonema #65)
Exakt. Und wenn die »Ebene« sehr subtil ist, dann verschmelzen die Subjekte zu EINEM Subjekt. Denn im Grunde IST der Beobachter das Beobachtete SELBST. Der Arzt ist der Patient und umgekehrt.
Natürlich kann diese Vorstellung eine Unwahrheit sein. Dann wäre auch der Glaube an das Potenzial des Einzelnen ein Irrtum. Dennoch wäre es besser, man ließe das Vorurteil fallen, denn es blockiert nur, produziert ohnehin unverifizierbare Gedanken, die den Blick auf die Wirklichkeit verschleiern. Mit anderen Worten: das, was wir hier betreiben, das »Intellektualisieren« der (geistigen) Objekte unserer Wahrnehmung schafft Probleme und ist letztendlich ein leeres Spiel der Zeichen mit zweifelhafter Logik als Universalie, die nicht trägt, die Wirklichkeit nicht aushalten kann. Es wäre angebracht, wie Michaux Meskalin zu schlucken, um klar zu sehen ... .
Michael Plattner #62
Ja, der Kreis hat sich auf wundersame Weise geschlossen. Dabei macht es dann nichts, wenn unsere partiellen Differenzen offenliegen. Möge sich nun jeder sein eigenes Urteil bilden.
@Michael Plattner
Im alltäglichen Bewusstsein existieren diese Unterschiede aber – zumindest meiner Erfahrung nach. Eine mystische (Einheits)erfahrung sagt natürlich etwas anderes.
@metepsilonema #68, genau das ist das Dilemma. Besonders, wenn man der mystischen »Erfahrung« einen empirischen Wert, also eine konkrete Realität beimißt. Die phänomenologischen Quellen sind ja zahlreich.
Heute steht in der »Süddeutschen« ein Bericht über den Stiefvater und die »Marke« Charlotte Roche. Bei aller Skepsis über journalistische Berichterstattung ein interessanter Artikel, wie ich finde. Bestärkt mich weiter, kein Buch von ihr jemals zu lesen.
...und die FAZ setzt diese Form der Markenberichterstattung in ihrer Buchmessenbeilage fort. Sehr verräterisch.
Aber auch die vermeintliche Avantgarde spielt mit: Die Preisvergabe der »Independent Verlage« wird von Jakob Augstein und – na? – Charlotte Roche moderiert. Erbärmlicher geht’s eigentlich nicht mehr.
Ich hatte vor kurzem bei Bekannten die Gelegenheit ein paar Zeilen und Absätze der Schoßgebete zu lesen; was auch immer ein so oberflächlicher und zufälliger Eindruck zu sagen vermag, das Geschriebene war derart unrhythmisch und stolpernd, dass ich gar nicht lange lesen wollte.
Eine Frau schreibt ein Buch und ist erfolgreich damit. Die Welt bleibt weiterhin wie sie ist. Trotzdem ist das Internet ist voll von Menschen, die sehr viel Zeit und Energie aufwenden, um Frau Roches Arbeiten zu diskreditieren. Ich verstehe das nicht, habt ihr alle nichts konstruktiveres zu tun?
@Simon
Ich diskreditiere Frau Roches Buch nicht, sondern setze es in einen Kontext. Vermutlich haben Sie meinen Text entweder nicht gelesen oder nicht verstanden.