Das gro­ße Ver­sa­gen

Char­lot­te Ro­ches Schlam­pen­pa­la­ver »Schoß­ge­be­te«, der neue Neo-Rea­lis­mus der Li­te­ra­tur­kri­tik und ein klei­ner Aus­flug

»Schoß­ge­be­te« be­rich­tet von drei Ta­gen aus dem Le­ben der Eliza­beth Kiehl (33), die mit ih­rem Mann Ge­org (50) und 7jähriger Toch­ter Li­za in ei­ner »anale[n] Woh­nung« in ei­ner deut­schen Groß­stadt in der »Jo­na­than-Sa­fran-Foer-Ära« (d. i. die Ge­gen­wart) lebt. Li­zas Va­ter ist Eliza­beths Fast-Ehe­mann Ste­fan. Fast-Ehe­mann, weil drei Brü­der von Eliza­beth bei der An­rei­se zur Hoch­zeit töd­lich ver­un­glück­ten; die Mut­ter wur­de schwer­ver­letzt. Die Hoch­zeit wur­de ab­ge­sagt; die Be­zie­hung zer­brach. Li­za wur­de, wie Eliza­beth er­zählt, prak­tisch als letz­tes Mit­ein­an­der zwi­schen den bei­den ge­zeugt. Fast gleich­zei­tig lern­te Eliza­beth den Ga­le­ri­sten Ge­org ken­nen, der da­mals noch mit ei­ner an­de­ren Frau ver­hei­ra­tet war und Va­ter vom fast gleich­alt­ri­gen Max ist. (Die Verwandtschaftsver­hältnisse von Eliza­beth sind noch kom­pli­zier­ter, weil ih­re Mut­ter Liz mit drei Män­nern ver­hei­ra­tet war.)

Charlotte Roche: Schoßgebete

Char­lot­te Ro­che: Schoß­ge­be­te

Durch den Tod der Brü­der trau­ma­ti­siert, geht Eliza­beth seit acht Jah­ren drei­mal pro Wo­che zur Psy­cho­the­ra­peu­tin Frau Dre­scher, die sie Agne­tha nennt (nach ei­ner op­ti­schen Ähn­lich­keit mit der AB­BA-Sän­ge­rin). Die­se drei Therapie­stunden (Diens­tag, Mitt­woch, Don­ners­tag) sind so et­was wie die Schar­nie­re die­ses Bu­ches. An­son­sten gibt es nur noch Heiz­decken­sex mit Ge­org (gleich zu Be­ginn am Diens­tag), Dia­gno­se und Be­hand­lung von Fa­den­wür­men (die das Af­ter-Jucken Li­zas er­klä­ren), ein Es­sen in ei­nem ita­lie­ni­schen Re­stau­rant, ein Abend mit Por­no-Film und in­di­schem Fast­food-Es­sen und schließ­lich der Be­such ei­nes Bor­dells nebst Drei­er (am Don­ners­tag). Die­se chro­no­lo­gisch er­zähl­ten Er­eig­nis­se wer­den von Über­le­gun­gen und Rück­blenden der Ich-Er­zäh­le­rin un­ter­bro­chen, die ent­weder um Sex oder den Un­fall­tod ih­rer drei Brü­der krei­sen und – das noch mehr – den Fol­gen für sie. Man er­fährt, dass sich Eliza­beth von ih­rer Mut­ter und ih­rem Va­ter los­ge­sagt hat. Der Un­fall hat­te ih­rer oh­ne­hin schon pro­ble­ma­ti­schen »Al­ko­ho­li­ker­fa­mi­lie« (»Blut ist dicker als Al­ko­hol«) und ih­rem »scheißkomplizierte[n] Patch­work-Le­ben« den »letz­ten Rest ge­ge­ben«: »Kei­ner hat da­nach Kon­takt zu kei­nem.«

So weit, so lo­gisch. Aber Eliza­beth will jetzt auch noch ih­re be­ste Freun­din Ca­th­rin ver­sto­ßen. Am En­de des Bu­ches ent­erbt sie Ca­th­rin so­gar, die vor­her im Te­sta­ment be­dacht wor­den war. Eliza­beth lebt nur noch für ih­ren Mann und ihr Kind. Sie liebt Ge­org ei­ner­seits ab­göt­tisch, ju­bi­liert, dass das (se­xu­el­le) In­ter­es­se nach sie­ben Jah­ren noch nicht nach­ge­las­sen ha­be, kon­sta­tiert je­doch gleich­zei­tig, dass die »Luft raus« sei. Da­her wünscht sie sich se­xu­el­le Ver­hält­nis­se mit an­de­ren Män­nern (ger­ne äl­ter; we­gen ih­res »Vater­komplexes«). Da sie auf Ge­orgs Wün­sche hin­sicht­lich der Bor­dell­be­su­che ein­geht, for­dert sie nun auch Frei­hei­ten für sich ein. Sie möch­te aus dem »Mo­no­ga­mie­ge­fäng­nis« der Ehe aus­bre­chen – wenn mög­lich »of­fi­zi­ell«. Das Buch en­det mit der Aus­sicht auf ein Ein­len­ken Ge­orgs (und birgt be­reits den Keim ei­ner Fort­set­zung).

Eliza­beth kul­ti­viert ei­nen neu­ro­ti­schen Bio- und Um­welt­schutz-Tick (al­ler­dings mit ei­ni­gen In­kon­se­quen­zen – na­tür­lich ist dies ab­sichts­voll ei­ne der stump­fen Wi­der­ha­ken, die im Buch ver­bor­gen sind), ist zur Ve­ge­ta­rie­rin kon­ver­tiert und äu­ßert sich als ra­di­ka­le Athe­istin. In ih­rer Fa­mi­lie herrscht ein ve­ri­ta­bler An­ti­ame­ri­ka­nis­mus (hier­auf ist sie stolz, auch wenn sie viel­leicht nicht weiß, dass ihr neu­er »Gott«, Jo­na­than Sa­fran Foer, Ame­ri­ka­ner ist). Eliza­beth will Li­za »frei« er­zie­hen und eta­bliert zu­gleich fe­ste Re­geln – al­les zu ih­rem Wohl. Sie möch­te dem Kind das bie­ten, was ihr als Schei­dungs­kind nicht zu­teil wur­de. Beim Sex mit Ge­org wird sie von der Lust­feind­lich­keit des Ali­ce-Schwar­zer-Fe­mi­nis­mus auf der ei­nen und ih­rer Mut­ter auf der an­de­ren Sei­te ge­pei­nigt. Sie ver­steht es für sich, das Be­die­nen des Man­nes (»Sex­die­ne­rin«) als Macht über die­sen Mann zu in­ter­pre­tie­ren. In ei­ner Mi­schung aus Trotz, Wol­lust und schlech­tem Ge­wis­sen frönt sie ih­rem Se­xu­al­le­ben, wel­ches de­tail­liert aus­brei­tet wird und kon­sti­tu­ie­rend für das Ver­hält­nis zu ih­rem Mann ist. Ein Zu­sam­men­sein mit ei­nem Mann oh­ne Sex ist für sie un­vor­stell­bar.

Too much in­for­ma­ti­on

Die so­ge­nann­ten Sex­sze­nen be­stehen aus ei­ner Mi­schung aus vul­gä­rem Por­no-Jar­gon, tech­ni­scher Be­schrei­bung und ei­nem ge­spielt-nai­ven Lo­li­ta-Ton. Es mag Män­ner ge­ben, die letz­te­res mit Ver­rucht­heit ver­wech­seln. Manch amü­san­te Epi­so­de kommt vor; man liest ganz ger­ne wie sie ih­ren Mann der Lü­ge über­führt, wäh­rend ih­rer Ab­we­sen­heit die Por­no­fil­me doch ge­se­hen zu ha­ben. Zu oft drif­tet Ro­che dann aber in ei­nen eher kum­pel­haft-def­ti­gen Kiez­hu­mor ab et­wa wenn sie ih­ren Mann ab und an zu ei­ner »Ha­fen­rund­fahrt« (guess what) ein­lädt. Wenn dann Eliza­beth ihr Ge­sicht (!) in Ge­orgs Ho­den »ver­gräbt« (hät­te man nicht von ei­nem sol­chen ana­to­mi­schen Wun­der ge­hört?) wird es dann un­frei­wil­lig ko­misch.

Ist »Schoß­ge­be­te« nun ein por­no­gra­fi­sches Buch? Die Au­torin er­reicht mit die­sen Be­schrei­bun­gen eher das Ge­gen­teil des­sen, was Por­no­gra­fie ei­gent­lich be­zweckt. Dem­zu­fol­ge ist es kei­ne, son­dern ein­fach nur Trash. Was »Schoß­ge­be­te« im üb­ri­gen von El­frie­de Je­lin­eks im Ver­gleich hier­zu groß­ar­ti­gen Buch »Lust« (aus dem Jahr 1989) – da­mals als »weib­li­cher Por­no« von der Au­torin be­zeich­net – un­ter­schei­det. Man soll­te bei Ro­che nicht in die (so of­fen­sicht­lich aus­ge­leg­te) Em­pö­rungs­fal­le tap­pen.

Eliza­beth plap­pert nicht nur al­les fast un­ge­fil­tert her­aus, son­dern in­ter­pre­tiert auch noch ihr Ver­hal­ten mit kü­chen­psy­cho­lo­gi­schen Deu­tun­gen – da­bei zi­tiert und pa­ra­phra­siert sie ih­re The­ra­peu­tin lau­fend. In­dem sie mit ei­ner Mi­schung aus Ein­fäl­tig­keit, In­brunst und Kal­kül ihr In­ner­stes nach Au­ßen stülpt, in­dem sie den Le­ser an ih­ren Kom­ple­xen, Hy­po­chon­dri­en, Ei­gen­tüm­lich­kei­ten, Kon­troll­fi­xie­run­gen, Wahn­vor­stel­lun­gen und Pa­nik­at­tacken teil­ha­ben lässt, wer­den al­le Er­eig­nis­se ord­nungs­los gleich­ran­gig – ob Anal­sex nach ei­ner Ab­trei­bung (der »be­ste Sex al­ler Zei­ten«, wie sie froh­lockt, »auf dem Grab un­se­res un­ge­bo­re­nen Kin­des«), das Fah­ren mit dem Auf­zug oder das Auf­brü­hen ei­nes Mor­gen­kaf­fees (»Kaf­fee ma­chen ist schwe­rer als Bla­sen«). So wird der Le­ser zwangs­läu­fig zum Voy­eur der In­nen­sicht ei­nes »Scher­ben­hau­fens« (Selbst­charakteri­sierung Eliza­beth Kiehl) ge­macht. Am En­de weiß man lau­ter Din­ge, die man wirk­lich nicht wis­sen möch­te. Und da die ge­bo­re­ne Eng­län­de­rin Eliza­beth stän­dig eng­li­sche Flos­keln ein­bin­det, möch­te man ihr ein herz­haf­tes »too much in­for­ma­ti­on« nach­ru­fen.

In die­ser scho­nungs­los-ab­sichts­vol­len Of­fen­heit ei­nes un­ge­hemm­ten »Schlam­pen­pa­la­vers« wer­den Per­so­nen und Er­eig­nis­se im­mer ge­heim­nis­lo­ser. Da hilft auch die ge­le­gent­li­che An­spra­che des Le­sers mit ei­nem ru­sti­ka­len »Fickt euch al­le« nicht viel: Schon früh stellt sich ob die­ser Spi­ra­le der Nich­tig­kei­ten ei­ne blei­er­ne Öd­nis ein. Selbst der fürch­ter­li­che Schick­sals­schlag des Un­fall­tods der drei Brü­der über­for­dert zu­meist die er­zäh­le­ri­schen Fä­hig­kei­ten der Au­torin und wird mit ein paar läp­pi­schen Ad­jek­ti­ven (»mal­le«, »ver­rückt«) oder ei­ner Sua­da auf den »be­schis­se­nen« christ­li­chen Glau­ben gar­niert. Ei­ne Aus­nah­me bil­det die Pas­sa­ge, als Eliza­beth die schwer ver­letz­te Mut­ter in ei­nem Kranken­haus in Bel­gi­en be­sucht und sich auf de­ren Be­treu­ung ein­rich­tet. An­son­sten ist das Buch über wei­te Strecken ein Be­leg wie man lau­fend re­det oh­ne et­was zu sa­gen.

Die Rea­lis­mus-Trick

War­um re­üs­siert so et­was? Viel­leicht sieht sich Fe­li­ci­tas von Loven­berg (»Ver­lie­be dich oft, ver­lo­be dich sel­ten, hei­ra­te nie? Die Sehn­sucht nach der ro­man­ti­schen Lie­be«) ja als ei­ne Art See­len­ver­wand­te von Char­lot­te Ro­che und schraub­te des­halb das Feuil­le­ton der FAZ mit ei­ner Lob­hu­de­lei nebst In­ter­view vor­über­ge­hend(?) auf Bri­git­te-Ni­veau her­un­ter. Wo­bei man ihr min­de­stens ei­ne nüch­ter­ne Ge­gen­stim­me hät­te zur Sei­te stel­len sol­len. (Aber viel­leicht wird der Feuil­le­ton-Chef nach ei­ni­gen Jah­ren ja auch hier schrei­ben, dass man sich ge­irrt ha­be.) Die Zu­stim­mun­gen an­de­rer Kri­ti­ker grün­den sich teil­wei­se auf nur par­ti­el­le Lek­tü­re (Ve­re­na Auf­fer­mann, die von zwei The­ra­pie­sit­zun­gen im Ro­man spricht – es sind aber drei), teil­wei­se dürf­te sie den Ver­flech­tun­gen der Au­torin in der Bran­che ge­schul­det sein.

Aber das er­klärt die­se fast gro­tes­ke Af­fir­ma­ti­on nur zum Teil. Es zeigt sich ein Ef­fekt, der im­mer deut­li­cher die Li­te­ra­tur­kri­tik be­stimmt und schon im »Fall« He­ge­mann über­mächtig her­aus­brach: die Be­ur­tei­lung ei­nes Pro­sa­tex­tes auf­grund des in ihm vor­handenen bzw. as­so­zi­ier­ba­ren An­teils von Rea­lis­mus. Ins­be­son­de­re bei Ro­ma­nen mit ei­nem Ich-Er­zäh­ler (oder ei­ner Ich-Er­zäh­le­rin) wird nach au­to­bio­gra­fi­schen Par­al­le­len fast mit kri­mi­no­lo­gi­scher In­ten­si­tät ge­sucht. Je grö­ßer die Über­ein­stim­mun­gen sind, de­sto hö­her die »Au­then­ti­zi­tät«, die die­sem Werk zu­ge­spro­chen wird und de­sto ver­zück­ter die Ur­tei­le. Wo­bei Au­then­ti­zi­tät in der Ei­le mit Wahr­haf­tig­keit ver­wech­selt wird. Spra­che? Ei­ne äs­the­ti­sche Ein­ord­nung? Ist schein­bar gest­rig. Schlim­mer als die­se prot­zi­ge Betroffen­heitsliteratur ist nur noch die­se er­bärm­li­che Be­trof­fen­heits­kri­tik, die Ad­jek­ti­ve wie »scho­nungs­los« und »of­fen« als Qua­li­täts­kri­te­ri­en eta­bliert.

Der Grund für die­se Hin­wen­dung zu die­ser Form ei­nes au­to­bio­gra­fi­schen Neo-Rea­lis­mus liegt in der sehr ein­fa­chen Nach­voll­zieh­bar­keit, die zu­dem leicht ver­mit­tel­bar ist. Wäh­rend man für äs­the­ti­sche Ana­ly­sen Zeit braucht und dem Le­ser Er­läu­te­run­gen und Be­gründungen ge­ben muss, ist ein Ab­scan­nen bio­gra­fi­scher De­tails (nebst den dann of­fen­sicht­li­chen Dif­fe­ren­zen!) sehr ein­fach. Die mei­sten Au­toren lie­gen da­bei längst wie of­fe­ne Bü­cher vor ih­ren Rich­tern – an­ders be­kom­men sie kaum noch Zu­gang in die Feuil­le­ton-Wal­hal­la. Die Kon­zen­tra­ti­on auf das Ge­schrie­be­ne, den »Text« – los­ge­löst von bio­gra­fi­schen De­tails – er­scheint da wie ei­ne Zu­mu­tung.

»Schoß­ge­be­te« bie­tet die au­to­bio­gra­fi­sche Les­art auf dem Sil­ber­ta­blett. Es lebt aus der Ver­su­chung, Ich-Er­zäh­le­rin und Au­torin (und de­ren Fa­mi­lie) gleich­zu­set­zen. Da­her ist Ro­ches Po­chen auf ei­ne zwei­te Ebe­ne, die in der Fi­gur Eliza­beth Kiehl stecken soll, bi­gott. Schon der Vor­na­me der Haupt­fi­gur ist Ro­ches zwei­ter Vor­na­me nach­ge­bil­det. Der ab­ge­druck­te Hin­weis, Ähn­lich­kei­ten mit le­ben­den oder to­ten Per­so­nen sei­en rein zu­fäl­lig, ist lä­cher­lich. Die­ses wohl­fei­le De­men­ti soll nur recht­li­chen Schrit­ten die Nah­rung ent­zie­hen (die Prot­ago­ni­sten wä­ren klug be­ra­ten, das Buch nicht da­durch noch mehr me­di­al auf­zu­bla­sen).

Man kann leicht zei­gen, dass Ro­che durch­aus Wert auf die Über­ein­stim­mung mit den bio­gra­fi­schen De­tails legt – bei­spiels­wei­se in dem sie be­wusst deut­li­che Par­al­le­len zwi­schen Er­eig­nis­sen und Fi­gu­ren im Buch und in ih­rem Le­ben setzt (Al­ter; Le­bens­ver­hält­nis­se; der Un­fall der drei Brü­der nebst me­dia­ler Dar­stel­lung; bis hin­ein in den Er­zähl­duk­tus, der ih­re Ora­li­tät wie­der­gibt). Bei je­der in In­ter­views auf­kom­men­den pein­li­chen Si­tua­ti­on weist sie dann brüsk die­se Par­al­le­li­tät weit von sich. Wä­re die­ses Buch gu­te Li­te­ra­tur, wä­re sich die Fra­ge nach Über­ein­stim­mung zwi­schen Haupt­fi­gur und Au­torin se­kun­där. Erst spä­ter könn­te man, wenn über­haupt, Par­al­le­len her­aus­de­stil­lie­ren. Ei­ne Auf­ga­be für Literatur­wissenschaftler, die gro­ße Kon­tex­te auf­zei­gen.

Im­mu­ni­sie­rungs­stra­te­gien

In­dem Ro­che kaum Ver­frem­dun­gen ein­setzt (bzw. die­se der­art platt sind, wie aus der »Bild«-Zeitung die »Druck«-Zeitung zu ma­chen oder das Al­ter ih­res äl­te­sten Bru­ders von 21 auf 24 zu set­zen), spielt sie mit der Au­then­ti­zi­tät. Der Trick be­steht dar­in, dass sie ei­ner­seits die­se Über­ein­stim­mun­gen na­he­legt und ak­tiv kom­mu­ni­ziert (dass dies der Ver­lag tut, ist ir­rele­vant) und an­de­rer­seits auf Fik­tio­na­li­tät re­kur­rie­ren kann – die es mit Si­cher­heit ge­ben wird, al­ler­dings wird sie über­la­gert durch die Ein­deu­tig­keit der Über­einstimmungen mit der Rea­li­tät – ex­akt das Ge­gen­teil des­sen, was ein fik­tio­na­les Werk ei­gent­lich aus­macht.

So weist Ro­che bei­spiels­wei­se dar­auf hin, dass Eliza­beths Mut­ter (die im Lau­fe des Bu­ches mit In­vek­ti­ven na­he­zu über­schüt­tet wird) nicht ih­re Mut­ter »ab­bil­det«. Den­noch stim­men vie­le der »fik­ti­ven Mut­ter« zu­ge­schrie­be­nen Ei­gen­schaf­ten in ver­blüf­fen­der Wei­se mit de­nen der »rich­ti­gen« Mut­ter (Liz Busch) über­ein. Die­ses Vor­ge­hen ist wohl­ge­setzt und be­rei­tet den Nähr­bo­den für je­ne Art von kal­ku­lier­ter Skan­da­li­sie­rung, die man­che Me­di­en dann sehr ger­ne breit­tre­ten. Da­durch wirkt die Tren­nung zwi­schen Er­zäh­le­rin und Au­torin ziem­lich zwang­haft und, wenn Ro­che dann auf »Kunst« re­kur­riert, fast pein­lich: »Wenn ich ein Buch schrei­be, dann ver­su­che ich aus mei­nem Schmerz Kunst zu ma­chen. Ich ha­be pe­ni­bel dar­auf ge­ach­tet, kei­ne fa­mi­liä­ren Ge­füh­le zu ver­let­zen. Das ist Fik­ti­on, ba­sie­rend auf ei­ner wah­ren Tat­sa­che.«

Das »Sy­stem Ro­che« ba­siert auf die­sem lä­cher­li­chen Katz-und-Maus-Spiel zwi­schen Fik­tio­na­li­sie­rung und Rea­lis­mus. Man täu­sche sich nicht: Es han­delt sich um ei­ne Me­tho­de, Li­te­ra­tur zu si­mu­lie­ren. Dies nicht ein­mal the­ma­ti­siert, son­dern gou­tiert zu ha­ben, ist ein gro­ßes Ver­sa­gen der Li­te­ra­tur­kri­tik.

Die Me­tho­de ist im Üb­ri­gen durch­aus un­zu­rei­chend um­ge­setzt. Mehr­fach wird die Deckungs­gleich­heit zwi­schen Ro­che und Kiehl ge­ra­de­zu vor­aus­ge­setzt. Am deut­lich­sten in der Sze­ne, als die »Druck«-Zeitung bei Kiehl an­ruft und das Fo­to des Au­to­wracks am näch­sten Tag ef­fekt­ha­sche­risch pu­bli­ziert. Hier wird schlicht­weg vor­aus­ge­setzt, dass der Le­ser die (da­ma­li­ge) Mu­sik­jour­na­li­stin und Fern­seh­mo­de­ra­to­rin Char­lot­te Ro­che mit Eliza­beth Kiehl gleich­setzt. An­son­sten wä­re zu fra­gen, wer die­se Frau Kiehl denn war/ist, dass die der­ar­tig be­drängt wird und of­fen­sicht­lich für Bou­le­vard-Me­di­en in­ter­es­sant ist. Im ge­sam­ten Buch gibt es hier­zu kei­nen Hin­weis. Es bleibt bei der nichts­sa­gen­den Ein­las­sung, sie ha­be ihr »Hob­by zum Be­ruf« ge­macht.

So ist auch Kiehls Kampf ge­gen die »Drecks­schreib­tisch­tä­ter« der »Druck«-Zeitung, die Ra­che­dro­hun­gen ge­gen den Her­aus­ge­ber nebst Äch­tung al­ler Käu­fer der­art auf­rei­zend par­al­lel zu Ro­ches öf­fent­li­chem Auf­tre­ten, dass es fast schon ei­ne Ver­dum­mung der Le­ser dar­stellt, hier zwi­schen den Fi­gu­ren tren­nen zu sol­len. Da­bei ver­wen­det Ro­che den Un­fall ih­rer Brü­der als Fo­lie für ih­ren Wi­der­stand ge­gen die »Bild«-Zeitung – ein Un­ter­fan­gen, das den Ro­man en pas­sant im­mu­ni­sie­ren soll ge­gen Kri­tik. Wer ge­gen die »Bild«-Zeitung ist, darf ein­fach kei­ne schlech­ten Bü­cher schrei­ben – so die plat­te Schluss­fol­ge­rung, die dem di­cho­to­mi­schen Welt­bild Kiehls (Ro­ches? – egal!) ent­spricht. Da hilft es auch nicht, dass die Prot­ago­ni­stin des Ro­mans von die­sem Vor­ge­hen durch­aus weiß: »Ich muss mir die Welt in Gut und Bö­se ein­tei­len, weil ich sonst un­fä­hig wer­de, po­li­tisch zu sein.«

Klei­ner Aus­flug zu ei­ner »Üb­rig­ge­blie­be­nen«

Nur we­ni­ge Auf­rech­te wi­der­set­zen sich den Hul­di­gun­gen der Meu­te. Der Ein­wand, hier fal­le ei­ne Bran­che auf ei­ne ge­schickt ge­schmier­te PR-Ma­schi­ne her­ein ist nur ei­ne par­ti­el­le Er­klä­rung, die zur Fra­ge An­lass gä­be, war­um die­se Wer­be­ma­schi­ne über­haupt ver­fängt. Vie­les spricht da­für, dass der Aus­spruch Rut­hard Stäb­leins, der Er­schei­nungs­tag der »Schoß­ge­be­te« sei nicht nur der »schwar­ze Mon­tag« für die Ak­ti­en­märk­te, son­dern auch für die Bran­che der Li­te­ra­tur­kri­tik ge­we­sen, mehr ist als nur ein wohl­for­mu­liert-re­si­gnie­ren­der Apho­ris­mus. Ei­ne Aus­ein­an­der­set­zung mit »Schoß­ge­be­te« als Li­te­ra­tur, ei­ne Ana­ly­se der Spra­che, Hin­wei­se auf ähn­li­che Bü­cher in der Ver­gan­gen­heit – all dies fand bis­her kaum statt. War­um nicht? Weil es zu kom­pli­ziert ist? Weil ein­fach schö­ner ist, Teil ei­nes Hy­pes zu sein und da­mit auch ein­mal im Mit­tel­punkt zu ste­hen? Ver­kauft sich die Li­te­ra­tur­kri­tik um der schnö­den 15 Mi­nu­ten Auf­merk­sam­keit wil­len?

Wie we­nig Be­zug auf die Li­te­ra­tur der 70er und 80er Jah­re ge­nom­men wird. Liegt es dar­an, dass man die­se nicht mehr kennt? Wun­dern wür­de es nicht, oute­te sich doch kürz­lich ei­ne Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­le­rin öf­fent­lich, erst jetzt mit ei­nem Buch von Hein­rich von Kleist in Kon­takt ge­kom­men zu sein (es war »Mi­cha­el Kohl­haas«) und mit ei­ner Be­stel­lung der Ge­samt­aus­ga­be dies nun schnell nach­ho­len zu wol­len. Da­bei gab es ei­ne Au­torin, die in ih­rer un­ge­stü­men Ve­he­menz mit Char­lot­te Ro­che durch­aus kon­kur­rie­ren kann – und da­bei ei­ne Schrift­stel­le­rin war. Mat­thi­as Ma­tus­sek be­schrieb die­se Frau in ei­ner Re­por­ta­ge aus dem Jahr 1988 an­läss­lich des Er­schei­nens ih­res Bu­ches »Bit­te­res Was­ser« wie folgt:

    »Es ist ei­ne Art Über­schuß an ro­her Mit­tei­lungs­wut, an un­ge­form­tem Re­de­zwang, der den Le­ser mit sich zieht. Ein Buch wie hin­ge­spro­chen, oh­ne al­le Ver­su­che, die sprach­li­chen Dürf­tig­kei­ten kos­me­tisch zu glät­ten oder her­aus­zu­lek­to­rie­ren. Ein im be­sten Sin­ne pein­li­ches Buch, de­pla­ziert, bi­zarr in den Schö­ner-schrei­ben-schö­ner-le­ben-Wel­ten der acht­zi­ger Jah­re.« Ihr Buch sei, so Ma­tus­sek, auf ei­ne »un­ge­len­ke Art schön«. Die Au­torin er­schien ihm da­mals wie »ei­ne Üb­rig­ge­blie­be­ne. Ei­ne der letz­ten, die ih­re auf­klä­re­ri­sche Ag­gres­si­vi­tät ge­ret­tet ha­ben.«

Die Re­de ist von Ka­rin Struck (1947–2006), die 1973 mit ih­rem Erst­ling »Klas­sen­lie­be« ei­nen ko­me­ten­haf­ten Auf­stieg fei­er­te. Die­ses Buch gilt heu­te als ei­nes der Gründungs­werke der so­ge­nann­ten »Neu­en In­ner­lich­keit« (bzw. »Neu­en Sub­jek­ti­vi­tät«) – ein Be­griff, der in­fol­ge sei­ner Un­ge­nau­ig­keit schon we­nig spä­ter fast nur noch de­nun­zia­to­risch ver­wen­det wur­de. Strucks »Klas­sen­lie­be« ist ein in Ta­ge­buch­form ge­fass­ter Assoziations­strom der Stu­den­tin »Ka­rin«, die ih­re ge­sell­schaft­li­che Po­si­ti­on in der Bundes­republik such­te. Es ist ei­ne wil­de Sua­da, zum Teil in scho­nungs­los der­bem Ton. »Ein Buch wie ei­ne Per­son«, über­schrieb der un­ver­ges­se­ne Rein­hart Baum­gart sei­ne Be­spre­chung im »Spie­gel«. »Klas­sen­lie­be« ist von gro­ßer in­tel­lek­tu­el­ler Ra­di­ka­li­tät – ge­gen ein­di­men­sio­na­le Denk- und Sprach­mu­ster re­bel­lie­rend und ge­gen die im »lin­ken« Main­stream wahr­ge­nom­me­nen Zwangs­be­glücker. Da­bei galt Struck kurz­zei­tig auch als Iko­ne des Fe­mi­nis­mus – üb­ri­gens ein ziem­li­ches Miss­ver­ständ­nis. Bei al­ler au­to­bio­gra­fi­schen Ver­knüp­fung zwi­schen Au­torin und Ge­schrie­be­nem han­delt es sich den­noch um ei­nen künst­li­chen, er­go li­te­ra­ri­schen Text. Au­then­ti­zi­tät dien­te hier als Ba­sis­la­ger, von dem die Ex­pe­di­ti­on in das Reich der Li­te­ra­tur be­gann und nicht, wie im mo­der­nen Neo-Rea­lis­mus, als Ziel.

1983 schrieb Chri­sti­an Schultz-Ger­stein über die Re­zep­ti­on der Li­te­ra­tur­kri­tik nach Strucks drit­ten Ro­man »Lie­ben« 1977. Ihr Stern war in­zwi­schen ge­sun­ken: » ‘Der to­ta­le Man­gel an Dis­kre­ti­on’ wur­de nun ge­rügt, ‘Ka­rin Strucks Of­fen­heit’ als ‘un­er­träg­lich ko­kett’ ab­qua­li­fi­ziert, man woll­te ‘die­ses weh­lei­di­ge Ge­ze­ter’ nicht län­ger hö­ren, ‘die Wort­wut ei­ner Trend-Schrei­be­rin’ ging den Kri­ti­kern auf die Ner­ven…«

Karin Struck: Glut und Asche

Ka­rin Struck: Glut und Asche

Mi­mi und Eliza­beth

Heu­te schei­nen die­se At­tri­bu­te (wie­der?) best­sel­ler­fä­hig, wie man bei Ro­che sieht. Wenn­gleich man at­te­stie­ren muss, dass Strucks Bü­cher bei al­len viel­leicht for­ma­len Pro­ble­men nur schwer ei­ne li­te­ra­ri­sche Qua­li­tät ab­zu­spre­chen war. Die Lek­tü­re ih­res viel­leicht schön­sten Ro­mans, »Glut und Asche«, ge­schrie­ben zwi­schen 1983 und 1985, ver­öf­fent­licht 1988, zeigt beim ge­nau­en Le­sen in­ter­es­san­te Par­al­le­len mit Ro­ches »Schoß­ge­be­ten«.

Die Haupt­fi­gur bei Struck heißt Mi­mi; ei­ne Frau von En­de 20/Anfang 30. Sie ar­bei­tet als Künst­ler­mo­dell. Vor­der­grün­dig wird die Ge­schich­te ih­rer bei­den Lieb­schaf­ten zu ei­nem »An­ti­no­os« ge­nann­ten Mann, ei­nem »Au­gen­men­schen«, und Ul­rich er­zählt. Mi­mi ist weit­ge­hend Ein­zel­gän­ge­rin; nur ih­rer be­sten Freun­din Re­née ver­traut sie sich an. So­weit die Dif­fe­ren­zen. Die mo­ti­vi­schen Über­ein­stim­mun­gen sind al­ler­dings ver­blüf­fend: Wie Eliza­beth hat Mi­mi ei­ne fast pa­ra­no­ide Angst, be­ob­ach­tet zu wer­den. Bei­de Fi­gu­ren spre­chen min­de­stens teil­wei­se dem Al­ko­hol ex­zes­siv zu. In bei­den Ro­ma­nen gibt es ei­ne An­deu­tung ei­nes se­xu­el­len Miß­brauchs als Kind. Und auch Mi­mi spielt ein­mal mit dem Ge­dan­ken, sich in die Tie­fe zu stür­zen. Wäh­rend dies bei Ro­che auf­ge­setzt wirkt, er­zählt Struck die­se Si­tua­tio­nen ver­stö­rend.

Bei­de Frau­en sind fer­tig mit dem von ih­nen als lust­feind­lich wahr­ge­nom­me­nen Fe­mi­nis­mus und in­ter­pre­tie­ren und le­ben ih­re Se­xua­li­tät nicht als Nach­ge­ben des Macht­stre­bens des Man­nes, son­dern als Ge­nuss. Wie Eliza­beth be­steht auch Mi­mi trot­zig auf ih­ren »va­gi­na­len Or­gas­mus«. Mi­mi weiß wie Eliza­beth um die Si­tua­tio­nen der Män­ner-Hilf­lo­sig­keit und ver­fech­ten die »se­xu­el­le Frei­heit der Frau«, ganz oh­ne » ‘Familien­ideologie’ «. Eliza­beth als ra­di­ka­le Athe­istin lehnt den Be­griff der See­le ab. Für Mi­mi ist die See­le in den Ge­schlechts­or­ga­nen der Frau und die Haut »war die glü­hen­de Gren­ze zur Welt«. Bei­de be­su­chen ei­nen Sex­shop und kau­fen ei­nen Pla­stik­penis – für den Mann. Ei­ni­ge Se­xu­al­prak­ti­ken kom­men bei Struck in schein­bar ähn­li­cher Dra­stik vor. Von an­de­ren wagt nicht ein­mal Char­lot­te Ro­che zu er­zäh­len; Struck schon. Da­bei ver­fällt Struck je­doch nie­mals in ei­ne plum­pe Ob­szö­ni­tät.

Statt­des­sen fin­den die Prot­ago­ni­sten in »Glut und Asche« Wör­ter für ih­re Ge­schlechts­tei­le jen­seits von Vul­ga­ri­tät. Das Wort »Schwanz« taucht in die­sem Buch nur ein­mal auf – und wird als feh­ler­haft ent­larvt: » ‘…der Pe­nis ist doch kein Rücken­wir­bel­fort­satz’ «. Statt­dessen: »Füh­ler« oder »Schnecke« (»er geht in sein Haus«). Die Va­gi­na wird zum »zwei­ten Mund«, die Scham­lip­pen sind »Lie­bes­flü­gel«; die Wör­ter für die Kli­to­ris möch­te der ge­neig­te Le­ser sel­ber nach­le­sen. Als An­ti­no­os Mi­mi »un­er­sätt­lich« nennt, kon­tert sie: » ‘Denk doch bit­te nicht in solch ver­al­te­ten Be­grif­fen. Ich bin nicht un­er­sätt­lich, ich bin un­er­schöpf­lich.’ «

Zu­wei­len er­scheint Mi­mi als ei­ne fer­ne Tan­te von Eliza­beth. Aber in Strucks Ro­man geht es nicht um die rei­ne Dar­stel­lung von Er­leb­tem. Es geht (auch) um Wor­te, die »nur un­aus­ge­spro­chen ih­ren Zau­ber ent­wickeln«. Hier­in liegt ein gro­ßer Un­ter­schied zu Ro­ches pein­li­cher Holz­ham­mer­r­he­to­rik. Wie frisch und be­le­bend das vor mehr als 25 Jah­ren ge­schrie­be­ne Buch im Ver­gleich wirkt. Und wäh­rend Strucks Buch ei­ne re­fle­xi­ve Me­lan­cho­lie bis hin zur Trau­rig­keit durch­zieht, wird der Le­ser in »Schoß­ge­be­te« ein­fach viel zu oft nur ver­bal be­lä­stigt.


Der Text als pdf-Do­ku­ment: Das gro­ße Ver­sa­gen

75 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. Sehr schö­ne Ana­ly­se, sehr über­zeu­gen­de Ab­wä­gung.
    Dass die Feuil­le­to­ni­sten ver­sa­gen, ist ge­wiss auf Ei­le und Ent­wöh­nung zu­rück­zu­füh­ren. Der Hin­weis auf den Rea­lis­mus, der nun ger­ne in An­schlag ge­bracht wird, scheint mir wich­tig. Das Rea­le wird lei­der all­zu deut­lich als das Ba­na­le, das Ge­wohn­te, das Er­wart­ba­re ver­stan­den, mit­hin schon ge­ring­schät­zig be­han­delt. Das ist Gift für die Li­te­ra­tur, weist aber auch den (wie­der­um ver­ständ­li­chen) Ent­täu­schungs­grad der Kri­ti­ker nach.
    Täu­schen wir uns nicht: nicht nur schlech­te Li­te­ra­tur spricht schlecht von der Rea­li­tät, auch die Rea­li­tät ist nicht mehr, was sie mal war. Ge­mein­sam sin­ken wir, un­wei­ger­lich!

  2. Was für ein Ge­nuss. Cha­peau für ei­ne Li­te­ra­tur­kri­tik, die die­se Be­zeich­nung mehr als ver­dient: Ich be­gann die Lek­tü­re des Ar­ti­kels nur mit flüch­ti­gem Halb­in­ter­es­se und wur­de zu­neh­mend ge­packt von die­sem ex­zel­lent for­mu­lier­ten, sorg­fäl­ti­gen, in­struk­ti­ven Text, der we­der Reib­flä­che scheut noch sich ei­tel da­mit be­gnügt. An­stel­le des ver­brei­te­ten nichts­sa­gen­den Schlag­lichts ist dies ei­ne aus­sa­ge­kräf­ti­ge Kri­tik mit Fra­gen, Ant­wor­ten und Be­le­gen. Und es ist zu­dem ein gran­di­os ge­schrie­be­ner Kul­tur­bei­trag. Herz­li­chen Dank.

  3. Klug, flei­ßig, über­zeu­gend und er­grei­fend! Und mir ist zum Heu­len, weil ich Ka­rin Struck so lan­ge ver­nach­läs­sigt ha­be. – Gro­ßen Dank, Gre­gor Keu­sch­nig!

  4. @ME
    Ich glau­be das der Hang der Kri­tik, Li­te­ra­tur nach »rea­li­sti­schen« Be­zü­gen zu be­wer­ten tat­säch­lich der Ei­le des Be­triebs ge­schul­det ist, wo­durch dann – wie Sie so schön schrei­ben – die »Ent­wöh­nung« auf dem Fu­ße folgt. Sie geht auch ein­her mit dem vor­aus­ei­len­den Un­ter­schät­zen des Pu­bli­kums.

    Na­tür­lich kann und soll Li­te­ra­tur Rea­lis­mus-Be­zü­ge auf­wei­sen. Aber sie dür­fen nicht das aus­schließ­li­che Kri­te­ri­um sein. Die Rea­li­tät muss – ein gro­ßes Wort – tran­szen­diert wer­den. Oder min­de­stens ge­bro­chen.

  5. Schön und auf­schluß­reich zu le­sen, Herr Keu­sch­nig, daß Sie sich aus­führ­lich dem The­ma ge­wid­met und das nach­ge­holt ha­ben, was die Auf­ga­be der pro­fes­sio­nel­len Li­te­ra­tur­kri­tik ge­we­sen wä­re. Wun­der­bar, wie Sie an­hand des Struck-Werks auf­zei­gen, wor­in der Un­ter­schied zwi­schen »Trash« und »Kunst« be­steht: be­wuß­te Re­fle­xi­on und Ge­stal­tung bis in die Wort­bil­dung und Wort­neu­schöp­fung hin­ein. Denn nur so kann vom grob­schläch­ti­gen, oft dümm­li­chen Zu­gang zur »Rea­li­tät« ab­ge­wi­chen wer­den, der sich im com­mon sen­se des Durch­schnitt­li­chen, des Denk­feh­lers, des Kli­schees und Kit­sches, auch der Ideo­lo­gie er­schöpft. Frau Ro­che schreibt auf ei­ner VOR­stu­fe des künst­le­ri­schen Be­wußt­seins, die sich von ih­rem All­tags­ver­stand über­haupt nicht un­ter­schei­det. Übel für ih­re Text­pro­duk­ti­on und ih­ren Ver­stand zu­gleich. Daß sich die Li­te­ra­tur­kri­tik, oder sa­gen wir mal all­ge­mein, der Me­di­en­be­trieb auf das pri­mi­ti­ve »Authentizitäts«-Spiel der Frau Ro­che ein­läßt, zeigt mir, daß die meist stu­dier­ten Re­dak­teu­re und Me­di­en­ex­per­ten auch kein Be­wußt­sein mehr für den Rea­li­täts­be­griff ha­ben, oder ihn be­wußt (aus Mar­ke­ting­grün­den) igno­rie­ren, ver­schwei­gen, ver­leug­nen. Je­der, der in der Me­di­en­bran­che Ver­ant­wor­tung trägt, weiß ei­gent­lich, daß »Rea­li­tät« nur me­di­al ver­mit­telt wer­den kann und so­mit im­mer au­to­ma­tisch »tran­szen­diert« und »ge­bro­chen«, bzw. künst­lich, in­ter­pre­tiert und ge­fil­tert her­ge­stellt wird. »Au­then­ti­zi­tät« der Wirk­lich­keits­wahr­neh­mung ist ei­ne rei­ne Fik­ti­on. Man kann sich nun um ei­ne nu­an­cier­te Wirk­lich­keits­dar­stel­lung be­mü­hen, in­dem man sich des rei­chen, me­tho­di­schen Re­per­toires aus Wis­sen­schaft und Kunst be­dient, oder man kann auch un­ge­schult Mär­chen- und Kin­der­lo­gik wal­ten las­sen. Frau Ro­che steht nur Letz­te­res zur Ver­fü­gung. Wahr­schein­lich auch krank­heits­be­dingt, so­zu­sa­gen re­gres­siv. Über Frau von Loven­berg hat­ten wir ja schon kurz ge­spro­chen, Herr Keu­sch­nig, Frau Auf­fer­mann al­ler­dings stellt für mich ein noch viel grö­ße­res Rät­sel dar. Frau Auf­fer­mann kann – im Ge­gen­satz zu Frau von Loven­berg – auch we­sent­lich an­ders, mei­ne ich. Sie ar­bei­tet mitt­ler­wei­le als Freie, so­weit ich weiß. An­pas­sung an die un­ver­meid­li­chen Markt­be­din­gun­gen? Die Li­te­ra­tur­kri­tik tat­säch­lich und zu­neh­mend als Ver­län­ge­rung des Ver­lags­mar­ke­tings? Wie un­ab­hän­gig sind denn selbst die ge­büh­ren­fi­nan­zier­ten Me­di­en? Sind denn Hype und Trend nicht schon längst der ein­zi­ge Maß­stab für The­men­wahl und Fea­tures der Sen­de­an­stal­ten? Wenn die Ein­schalt­quo­ten re­gel­mä­ßig über Gel­der und Zeit­ver­trä­ge ent­schei­den, dann liegt es doch na­he, sich im­mer re­gel­mä­ßi­ger dem Best­sel­ler-Ge­schmack un­se­rer Zeit an­zu­pas­sen?

  6. @Michael Platt­ner
    Der er­ste Satz in der von Mar­cuc­cio ver­link­ten NZZ-Re­zen­si­on trifft sich mit dem letz­ten Satz Ih­res Kom­men­tars aufs Schön­ste: »Je­de Ge­sell­schaft hat die Best­sel­ler, die sie ver­dient.« In­so­fern sind die Ihre/meine (rhe­to­ri­schen?) Fra­gen längst be­ant­wor­tet. Und wo wa­ren denn FAZ, Zeit und Spie­gel als es um ein wirk­lich herz­zer­rei­ßen­des Buch ei­ner neu­ro­ti­schen Frau und de­ren Lie­bes­be­zie­hung ging? Wo wa­ren sie denn bei Sten Reens »Korn­blum«? Sa­ßen sie da et­wa mit den Spieß­ge­sel­len der Best­sel­ler­indu­strie beim Abend­essen zu­sam­men, statt sich die­ses Werk zu­zu­mu­ten?

    @Marcuccio
    Dan­ke für die­sen Hin­weis. Das ist tat­säch­lich bis­her das Be­ste, was ich da­zu ge­le­sen ha­be. (Ich fra­ge mich nur, war­um der Re­zen­sent den Na­men der Prot­ago­ni­stin kon­se­quent falsch ge­schrie­ben hat?)

  7. Ja, stimmt, @Marcuccio, Herr Günt­ner hat sehr schwei­ze­risch sanft das Phä­no­men Ro­che in ein mil­des Licht ge­taucht, um dann ganz zum Schluß mit ei­ner stei­len The­se zu schocken: Au­torin Ro­che und ih­re Fans bil­den ei­ne Ge­mein­schaft der ver­krüp­pel­ten See­len, wahr­schein­lich oh­ne es zu be­mer­ken, wie ver­krüp­pelt sie ei­gent­lich sind. Das zu­min­dest wä­re ei­ne Dis­kus­si­on wert.

    Ich möch­te auch auf zwei Frau­en ver­wei­sen, die eben­falls an­ge­mes­sen den Hype ge­kon­tert ha­ben: Frau Horst in der »Jungle World« -> http://jungle-world.com/artikel/2011/33/43819.html und Frau Deckert im »Ci­ce­ro« -> http://web.archive.org/web/20120104131726/http://www.cicero.de:80/salon/charlotte-roche-roman-schossgebete-inszeniertes-tabu-sex/42729

  8. @Michael Platt­ner
    Ich fin­de Günt­ners The­se in­ter­es­sant. Wenn sie auch biss­chen sip­pen­haf­ti­ges an sich hat.

    (In­ter­es­sant am Ran­de: Sehr häu­fig schrei­ben Frau­en über das Buch...)

  9. Ja, Herr Keu­sch­nig, da­mit ist al­les be­ant­wor­tet. Und gleich­zei­tig die Tal­soh­le er­reicht. Im Tal der Trä­nen. Soll­te Ihr Ge­schäfts­es­sen-Bild der Wirk­lich­keit ent­spre­chen, dann möch­te ich nicht wis­sen, wo wir in 5 oder 10 Jah­ren sind. »Schoß­ge­be­te« ist, glau­be ich, ein Wen­de­punkt der Re­zen­si­ons- und Re­zep­ti­ons­ge­schich­te. Noch nie klaff­ten Hoch­kul­tur-Ade­lung und fak­ti­scher Null­wert (»Ground Ze­ro« zwi­schen zwei Buch­deckeln, um Herrn Schecks Sar­kas­mus zu zi­tie­ren) so weit aus­ein­an­der. Soll­te »Schoß­ge­be­te« sich wie­der­um glän­zend ver­kau­fen (noch ist den Ver­laut­ba­run­gen des Ver­la­ges und den Ran­kings nicht zu trau­en ...), dann wer­den wir die­se Art von markt­kon­for­mer, gleich­för­mi­ger Wer­be­tex­te­rei des Feuil­le­tons in Zu­kunft häu­fi­ger le­sen.

    Vie­len Dank für Ih­ren Reen-Tip! Ich muß­te an­fangs an Leighs Film »Na­ked« (1993) den­ken, aber Reens Ro­man scheint doch ei­ne Rest­hoff­nung zu be­wah­ren.

  10. @Gregor K., es soll ja zwei Haupt­ziel­grup­pen der Ro­che-Schrif­ten ge­ben: Frau­en zwi­schen 15 und 45, und Män­ner ab 60. No com­ment. Ich glau­be, vie­le Frau­en der Kul­tur­bran­che füh­len sich durch die auf­ge­setz­ten Frau­en­the­men der Ro­che (Be­zie­hung und Fa­mi­lie) her­aus­ge­for­dert, Stel­lung zu be­zie­hen. Die ei­nen be­gei­stert, die an­de­ren ent­gei­stert. Die ego­ma­ne So­zio­pa­thie der Au­torin Ro­che, von der Frau Deckert u.a. sprach, über­formt nicht nur je­de Sil­be der »Schoß­ge­be­te«, son­dern gei­stert wahr­schein­lich auch durch die Köp­fe ih­rer Le­se­rIn­nen: Bin ich zu dick? Hän­gen mei­ne Brü­ste? War­um schreit das Kind mich im­mer an? Was mag mein Mann zum Abend­brot und geht doch schnell? Mag der at­trak­ti­ve Nach­bar mich? Wel­che Dün­ge­stäb­chen shop­pe ich für mei­ne Bal­kon-Pri­meln? Wann tu’ ich mir mal wie­der was Gu­tes und be­stell’ mir was Schö­nes ... . Usw., usw. usw. Das ist die Vor­höl­le des zer­fa­ser­ten Fa­mi­li­en­idylls.

  11. Ein biss­chen fühl­te ich mich an sei­ten­lan­ge Re­zen­sio­nen aus den sieb­zi­ger und frü­hen acht­zi­ger Jah­ren er­in­nert, als es nicht we­ni­gen Li­te­ra­tur­kri­ti­kern noch dar­um ging, ver­glei­chen­de Li­te­ra­tur­kri­tik zu fa­bri­zie­ren und als neue Wer­ke mit be­reits be­kann­ten Wer­ken in Ver­bin­dung ge­bracht bzw. ver­gli­chen wur­den. Da­mals ging mir das zwar manch­mal auf die Ner­ven, wenn man erst zwan­zig Mi­nu­ten lang ei­ne Ein­lei­tung le­sen muss­te, die oft nur aus­sa­gen soll­te, wie be­le­sen der Re­zen­sent ist. Aber ver­gli­chen mit dem, Ent­schul­di­gung, Dünn­schiss, der in die­sen Zei­ten in der Re­gel ge­bo­ten wird, wa­ren das da­mals doch rich­ti­ge in­tel­lek­tu­el­le Ver­an­stal­tun­gen.

    Kon­kret mei­ne ich: Wie Sie da, na­tür­lich völ­lig rich­tig ge­wählt!, die Ka­rin Struck aus dem Är­mel zie­hen, das hat ein­fach Klas­se, das wei­tet den Blick, weil das gan­ze Feld der Be­trach­tung mit ei­nem Ma­le grö­ßer ist. Man kann dann die Ro­che ja viel bes­ser zu­ord­nen, wenn man sich an die Struck er­in­nert. Die bei­den sind un­ter­schied­lich, aber sie sind auch ähn­lich, und wenn ich ver­su­che, mir die Ro­che in den Sieb­zi­gern und die Struck heu­te vor­zu­stel­len, dann fällt mir auch ein, was sich in den Me­di­en ver­än­dert hat und in der Li­te­ra­tur­kri­tik na­tür­lich (wenn man die­se schlecht be­zahl­ten Kauf­tipps über­haupt noch so nen­nen soll­te), und was in der Li­te­ra­tur und in den An­sprü­chen an Li­te­ra­tur an­ders ge­wor­den ist.

  12. Pingback: Lesetipps für den 29. August | Netzpiloten.de - das Beste aus Blogs, Videos, Musik und Web 2.0

  13. @Michael Platt­ner
    Zwei­fel­los spielt Ro­che auch mit der Iden­ti­fi­ka­ti­on ins­be­son­de­re ih­rer Le­se­rin­nen, die dann in ei­nem nicht un­be­deu­ten­den Akt von Ver­zweif­lung die­se zur Iko­ne ei­nes ir­gend­wie neu­en Fe­mi­nis­mus sti­li­sie­ren müs­sen. Wen in­ter­es­sie­ren da li­te­ra­ri­sche De­tails? Auch an ih­ren Hel­den / Hel­din­nen mag man ja die Zeit er­ken­nen, in der man lebt.

    Ich bin si­cher, wir wer­den in zehn Jah­ren die heu­ti­ge Ge­gen­wart schon wie Ve­te­ra­nen idea­li­sie­ren. We­nig­stens regt sich ja noch Pro­test ge­gen die He­ge­män­ner und Ro­ches’. Schon bald wer­den wir das Feuil­le­ton nur noch als ver­län­ger­ten Arm ei­ner PR-Ma­schi­ne se­hen, in de­nen Ge­fäl­lig­keits­ar­ti­kel den Ton an­ge­ben wer­den (man le­se den Kom­men­tar von Jo­sef Bloch #12). Die klas­si­sche Kri­tik wird in Re­fu­gi­en aus­zu­wei­chen ha­ben, die dann den noch rund 1000 In­ter­es­sier­ten noch Re­ser­vat und Nah­rung bie­ten.

  14. @Gregor K., ehr­lich ge­sagt, be­zweif­le ich stark, daß Frau Ro­che in der La­ge ist, be­wußt mit ir­gend­et­was zu spie­len, wenn doch, dann nicht raf­fi­niert. Viel­leicht un­ter­schät­ze ich Frau Ro­ches In­tel­lekt – und die aus­ge­wie­se­ne Dümm­lich­keit und Ärm­lich­keit der »Schoß­ge­be­te« sind nur Teil ei­ner aus­ge­buff­ten Kam­pa­gne, ei­ner Rech­nung, die voll auf­geht. Wenn ich Frau Ro­che in den Talk­run­den spre­chen hö­re, ha­be ich aber eher den Ein­druck, daß sie tat­säch­lich »Voll­gas« im »Ro­man« ge­ge­ben hat – und da­bei irr­tüm­li­cher­wei­se im­mer auf die Brem­se trat. Nur sagt Frau Ro­che auch von sich selbst, daß je­der Satz, je­de Be­we­gung von ihr ge­nau cho­reo­gra­fiert sei. Al­ler­dings dann wie­der­um »voll ehr­lich und so ...«. Dar­aus wird nie­mand schlau.

    Die Haupt­ab­neh­me­rin­nen der Ro­che-Sta­pel stel­le ich mir üb­ri­gens so vor:

    Oder et­was ge­stei­gert:

    Die Lieb­lings­vo­ka­bel bei­der Re­zen­sen­tin­nen ist ein­deu­tig »eklisch ...« (in Be­zug auf »Feucht­ge­bie­te«) – ne­ben »lu­stisch«. Die blon­dier­te jun­ge Frau mag durch­aus Ger­ma­ni­stik stu­die­ren, da täu­sche man sich nicht. Ach­sel­haa­re wer­den je­den­falls zum Po­li­ti­kum und zur Fra­ge der Exi­stenz­be­rech­ti­gung. Das ist der neue »Fe­mi­nis­mus« ei­ner neu­en Ge­ne­ra­ti­on: mein Recht auf Ach­sel­haa­re!

    Der Fall He­ge­mann ist wahr­schein­lich un­ge­heu­er kom­pli­ziert im Ver­gleich zum Fall Ro­che. Da wä­re ich im Ur­teil vor­sich­tig. Der »Road­kill« liegt im­mer noch an­ge­le­sen auf mei­nem un­te­ren Re­gal­brett, die »De­bat­te« ging völ­lig an mir vor­bei, ha­be ich schon längst ver­ges­sen. Schon al­lein der im­mense Al­ters­un­ter­schied läßt mich Frau He­ge­mann aber weit vor Frau Ro­che ran­gie­ren – ne­ben den deut­li­chen Qua­li­täts­un­ter­schie­den (Pla­gi­at hin oder her. Ghost­wri­ting ist na­tür­lich ein an­de­rer Fall.).

  15. @Michael Platt­ner
    Uff, da ha­ben Sie mich aber vor zwei Ge­dulds­pro­ben ge­stellt. Wie an­ma­ßend in bei­den Fäl­len das Wort »Re­zen­si­on« ver­wen­det wird. Lu­stig war, das bei­de den »flüs­si­gen« Schreib­stil her­aus­ge­ho­ben ha­ben...

    Ich glau­be, Sie un­ter­schät­zen Ro­che. Na­tür­lich ist »Schoß­ge­be­te« ein deut­lich cho­reo­gra­fier­tes sprich: lek­to­rier­tes Buch. Zwar ist ihr Sprach­duk­tus deut­lich zu er­ken­nen, aber es gibt sehr wohl Ein­grif­fe, die man beim ge­nau­en Le­sen fest­stellt. Sie ist na­tür­lich nicht dumm und kann auf die­ser Wel­le zwi­schen ver­ruch­ter Sex­göt­tin, neu­ro­ti­scher Öko-Zicke und Neuiko­ne ei­nes Ach­sel­haar-Fe­mi­nis­mus sehr gut ba­lan­cie­ren. Da­bei be­zieht sie ih­re Exi­stenz­be­rech­ti­gung aus dem An­spruch, je­des »Ta­bu« müs­se »ge­bro­chen« wer­den. Ab­ge­se­hen da­von, sind die di­ver­sen Mo­de­ra­to­ren (und Mo­de­ra­to­rin­nen – da­mit sich nie­mand dis­kri­mi­niert fühlt) we­der in der La­ge zu fra­gen, war­um je­der Blöd­sinn in­zwi­schen zum »Ta­bu« hoch­ge­pusht wird und wel­che Funk­tio­nen Ta­bus in Ge­sell­schaf­ten ha­ben noch war­um es nicht im­mer un­be­dingt sinn­voll ist, die­se zu »bre­chen«.

  16. Nun gut, Herr Keu­sch­nig, das will ich Ih­nen mal glau­ben, daß Frau Ro­che ei­ne Me­di­en­füch­sin ist. Sind schlech­te Bü­cher heut­zu­ta­ge aber nicht oh­ne­hin zu 50% Lek­to­rats­lei­stung, bzw. nur mit tat­kräf­ti­ger Ver­lags­un­ter­stüt­zung über­haupt zu ver­öf­fent­li­chen? Sie wis­sen schon, das gro­ße Heer der ver­schwie­ge­nen Co­au­to­ren, der Lek­to­ren ... .

    Ent­schul­di­gen Sie bit­te mei­ne Clip-Zu­mu­tung. Ich hof­fe, Sie hat­ten ei­nen star­ken Kaf­fee ne­ben Ih­rem Rech­ner ste­hen.

    Was Sie tref­fend über die Mo­de­ra­to­ren-Qua­li­tät be­mer­ken, konn­te man ge­stern un­heim­lich kon­kret in Frau Maisch­ber­ger ver­kör­pert se­hen:

    http://www.spiegel.de/kultur/tv/0,1518,783485,00.html

    Ge­nau da­vor hat Herr Scheck ge­warnt: vor ei­ner »De­bat­te« zum The­men­kom­plex »Ro­che«. Das Er­geb­nis war so, wie er es be­fürch­tet ha­ben muß. Ei­ne To­tal­ver­wir­rung, ei­ne ge­gen­sei­ti­ge Wort­ab­schnei­de­rei, ei­ne kie­bi­ge Gel­tungs­sucht bei Al­len, die Ihr Buch auch mal in den Vor­der­grund (in die Ka­me­ra) rücken woll­ten. Ein Club der Ma­ger­sel­ler mit ei­ner Me­gas­el­le­rin im Si­gnal­kleid, die leich­tes Spiel hat­te bei so­viel Bauch­pin­se­lei und Neid. Frau Maisch­ber­ger war heil­los kri­te­ri­en­los und aus­schließ­lich dar­an in­ter­es­siert, was Frau Ro­che zu die­sem und je­nem Sex-Skan­dal zu sa­gen hat, ob sie tat­säch­lich mit ih­rem Mann ins Bor­dell ... usw. Das ist die Lust am Pri­va­ten, am Schlüpf­ri­gen, am In­dis­kre­ten, am Schlüs­sel­loch-Phä­no­men. Ich hat­te den Ein­druck, das gan­ze Ge­heim­nis des Ro­che-Er­fol­ges an Frau Maisch­ber­gers Mi­mik ab­zu­le­sen: wie und mit wem trei­ben Sie es, Frau Ro­che? Das »Dis­kus­si­ons­re­sul­tat«: ei­ne Samm­lung ver­spreng­ter Phra­sen, die wo­mög­lich noch von den Be­tei­lig­ten lan­ge vor­be­rei­tet wer­den muß­ten. Ein­zi­ger Licht­blick: es wur­de hier und da an­steckend ge­lacht ... .

  17. Schön! Ich glau­be aber nicht, dass der Be­trieb (Zeit­knapp­heit) der ein­zi­ge Grund ist war­um man sich für rea­li­stisch-au­to­bio­gra­phi­sche Mu­ster in­ter­es­siert: Es gibt si­cher zahl­rei­che Le­ser, die das tat­säch­lich in­ter­es­siert und da­her scheint es ein prak­ti­ka­bles Mit­tel zu sein um ei­nen Hype zu in­sze­nie­ren, was doch ein we­nig auf Ver­flech­tun­gen zwi­schen Re­dak­ti­ons­tu­ben (Jour­na­li­sten) und Ver­la­gen ver­weist und auf den Kampf um die Quo­te (oder ist das nun arg un­fair?).

  18. @metepsilonema
    Die Zeit­knapp­heit ist al­ler­dings enorm. De­nis Scheck hat neu­lich mal ge­sagt, dass er 150–180 Bü­cher pro Jahr le­se. Mit dem Le­sen ist es ja dann auch nicht ge­tan. Für aus­führ­li­che Ana­ly­sen bleibt da kaum Zeit. Neo-rea­li­sti­sche Bü­cher ha­ben eben den Vor­teil, die Bio­gra­fie des Schrift­stel­lers ge­gen­über zu stel­len, Par­al­le­len und viel­leicht auch Dis­kre­pan­zen zu ent­decken. Wenn man die (zu­meist lä­cher­li­chen) In­ter­views bspw. bei Buch­mes­sen mit­be­kommt, wird die­se In­ten­ti­on sehr deut­lich. Spä­te­stens die zwei­te Fra­ge ist im­mer die nach dem au­to­bio­gra­fi­schen Hin­ter­grund.

    Bei Ro­che kommt noch hin­zu, dass es ei­ne so­ge­nann­te Pro­mi­nen­te ist. Hier ist die Schlüs­sel­loch-Per­spek­ti­ve re­le­vant. Beim letz­ten »Ton­neklop­pen« Schecks sagt er sinn­ge­mäss, dass »Schoß­ge­be­te« von ei­ner an­de­ren Au­torin ge­schrie­ben nie­man­den in­ter­es­siert hät­te (er wählt da­für das eher un­zu­rei­chen­de Bei­spiel ei­ner 80jährigen Al­ten­heim­be­woh­ne­rin). Das ist ei­ner­seits rich­tig und soll ei­nen ge­wis­sen Trend auf­zei­gen. An­de­rer­seits lie­sse sich dies auch von so man­chem an­spruchs­vol­len li­te­ra­ri­schen Buch sa­gen: Stün­de dort nicht Schrift­stel­ler X oder Schrift­stel­le­rin Y drauf, wür­de dies gar nicht erst ver­legt wer­den.

    Ne­ben­bei ge­sagt: Scheck hat sich bis­her auch nicht als Su­chen­der neu­er li­te­ra­ri­scher Ta­len­te her­vor­ge­tan und ist ganz schön im Main­stream mit­ge­schwom­men. Sonst wä­re er näm­lich nicht dort, wo er ist.

  19. Al­so Zeit­knapp­heit ist wirk­lich die letz­te fau­le Aus­re­de, die man als pro­fes­sio­nel­ler Li­te­ra­tur­kri­ti­ker äu­ßern soll­te. Na­tür­lich ver­sin­ken Ver­la­ge und Re­dak­tio­nen in Bü­cher­ber­gen, die nie­mand mehr be­wäl­ti­gen kann. Pro­blem der Über­pro­duk­ti­on von »Kunst« seit Jahr­zehn­ten. Die Li­te­ra­tur­kri­tik muß des­halb um­so ent­schlos­se­ner vor­ge­hen, um die Per­len aus dem trü­ben Was­ser zu fi­schen. Da­zu braucht man das not­wen­di­ge Hand­werk­zeug (Li­te­ra­tur­ge­schich­te, Sprach­ana­ly­se, Lek­tü­re-Re­per­toire, Stecken­pfer­de und Spe­zia­li­sie­run­gen, Schnell­lese-Tech­ni­ken, jour­na­li­sti­sche Schreib- und Denk­me­tho­dik), um mit der Pu­bli­ka­ti­ons­flut mit­hal­ten zu kön­nen. Ein gu­ter Kri­ti­ker er­kennt den gu­ten Ro­man an sei­nen er­sten 5 Sei­ten. Macht Euch klar, daß wir es zum Bei­spiel bei Frau von Loven­berg mit ei­ner gut do­tier­ten Re­dak­ti­ons­lei­te­rin ei­ner markt­füh­ren­den Ta­ges­zei­tung zu tun ha­ben. Ex­tra­ho­no­ra­re für TV-Ar­beit ver­sü­ßen die Ar­beit zu­sätz­lich. Da soll­te man als Le­ser der FAZ Ei­ni­ges er­war­ten dür­fen. Statt­des­sen schei­nen Frau von Loven­berg und ei­ni­ge an­de­re Li­te­ra­tur­kri­ti­ker kein In­ter­es­se an Kunst­per­len zu ha­ben. Glas­per­len­spie­le sind out. Sex­spiel­chen sind in. Ich ver­mis­se ein­fach ei­ne er­kenn­ba­re BEMÜHUNG und BEFÄHIGUNG zur Kunst­kri­tik. Schon al­lein der Wer­de­gang von Frau vL läßt mich stut­zen: Eli­te-In­ter­nat, bri­ti­scher Ba­che­lor in Neue­rer Ge­schich­te, Prak­ti­kum im Kunst­han­del, dann schon FAZ !? Wenn ich jetzt sehr ge­mein und viel­leicht un­ge­recht wer­den will, dann sa­ge ich: Frau vL wur­de be­vor­zugt be­han­delt, durch Herrn Schirr­ma­cher. Und ih­re männ­li­chen, pro­mo­vier­ten Kol­le­gen schau­en grim­mig. Denn die möch­te nie­mand im Fern­se­hen se­hen. Denkt sich Schirr­ma­cher.

    An Herrn Scheck schät­ze ich zu­min­dest sei­ne schlag­fer­ti­ge Ehr­lich­keit. Wenn Ro­che und Kä­ß­mann un­ter­ir­disch schlecht sind, dann ver­packt er die­ses Kri­ti­k­ergeb­nis an­ge­mes­sen bö­se in kunst­vol­le Kurz­mit­tei­lun­gen zur Best­sel­ler­li­ste. Das ist Pro­fes­sio­na­li­tät und Kön­ner­schaft. War­um er über­haupt auf die Best­sel­ler­li­ste re­agiert – und nicht er­satz­wei­se New­co­mer und ver­ges­se­ne Old­ti­mer für den Le­ser ent­deckt – ist na­tür­lich ei­ne be­rech­tig­te Fra­ge, Herr Keu­sch­nig. Aber ich bin schon froh, daß Herr Scheck be­grün­det (!) die Best­sel­ler­li­ste ver­dam­men, wäh­rend der Frau vL kein Qua­li­täts-Be­wußt­sein die gu­te Lau­ne zum schlech­ten Buch trü­ben kann.

  20. @Michael Platt­ner

    Ist das nicht ge­ra­de Teil des Pro­blems, dass nur »5 Sei­ten« ge­le­sen wer­den? Selbst wenn man da­nach et­was er­kannt ha­ben soll­te, je­mand der ein Buch be­spricht, soll­te es ge­le­sen ha­ben, ein Thea­ter oder Opern­kri­ti­ker geht auch nicht nach dem er­sten Akt – ein­fach, weil es al­len Be­tei­lig­ten ge­gen­über so am ge­rech­te­sten ist.

  21. @Michael Platt­ner
    5 Sei­ten geht gar nicht. So­gar Frau Hei­den­reich kon­ze­diert ei­nem Buch 60 Sei­ten bzw. ei­ne Stun­de ih­rer Le­bens­zeit. Das al­les hat mit Li­te­ra­tur­kri­tik nichts zu tun. me­tep­si­lo­n­e­ma hat Recht: Ein Thea­ter­kri­ti­ker geht nicht nach 5 Mi­nu­ten nach Hau­se.

    In Wirk­lich­keit wird na­tür­lich mehr ge­le­sen, aber meist nur »quer«. Et­li­che Kri­ti­ker ha­ben zu­dem »Vor­le­ser«, die ih­nen Hin­wei­se ge­ben (die dann manch­mal nicht stim­men).

    Die Be­weg­grün­de, Frau vL der FAZ zu­zu­füh­ren, ken­ne ich nicht. Es kann sein, dass man glaubt(e) ei­ne Frau­en­quo­te er­fül­len zu müs­sen. Viel­leicht ist sie aber auch nur sehr gut ver­netzt.

  22. Mo­ment, ich ha­be nicht ge­sagt, daß Li­te­ra­tur­kri­ti­ker nur 5 Sei­ten ei­nes Ro­mans le­sen oder le­sen soll­ten. Ich mei­ne, daß zu 90% Wahr­schein­lich­keit die er­sten 5 Sei­ten ei­nes Ro­mans rei­chen, um ei­ne gro­be Qua­li­täts­ein­stu­fung vor­neh­men zu kön­nen. Spra­che ist ein sehr, sehr sen­si­bles In­stru­men­ta­ri­um. Wahr­neh­mungs­tie­fe und Sprach­kraft zei­gen sich sehr schnell. Es gibt EINEN Rein­hard Jirgl und im Kon­trast Schreib­schu­len-Ab­sol­ven­ten im Dut­zend­pack. Wer halb­wegs an­spruchs­voll ist, legt zu 90% ein Buch schnell bei­sei­te. Sprich: gu­te 90% des Ge­druck­ten sind durch­schnitt­lich oder so­gar Schrott. Die­ses Ur­teil muß Herr Scheck lei­der re­gel­mä­ßig über die Spie­gel-Best­sel­ler­li­ste fäl­len. Im Ver­gleich zu den Zu­mu­tun­gen der Bü­cher kri­ti­sie­re er im­mer mit Gla­cé­hand­schu­hen, sagt Herr Scheck. Und das sagt mir et­was bei sei­nen nicht ge­ra­de zim­per­li­chen Kurz­ver­ris­sen.

  23. @Michael Platt­ner
    Nach 5 Sei­ten ei­nes mir un­be­kann­ten Schrift­stel­lers zeigt sich gar nichts. Manch­mal auch nach 60 oder 100 Sei­ten noch nicht. Wenn ich Jirgl vor der Na­se ha­be (von dem ha­be ich au­ßer ei­nem Bach­mann­preis-Text noch kei­ne Zei­le ge­le­sen) oder Hand­ke oder Grass ge­he ich na­tür­lich ganz an­ders an die An­ge­le­gen­heit her­an. Das macht auch der pro­fes­sio­nel­le Kri­ti­ker. Und hier liegt ja schon ein Teil des Pro­blems – frei­lich ei­nes, dass nicht ge­löst wer­den kann.

    Ich le­se im Jahr zwi­schen 40 und 50 Bü­cher. Ob 90% des Ge­druck­ten Schrott sind ver­mag ich in An­be­tracht von rd. 100.000 Neu­erschei­nun­gen im Jahr (da­von ca. 60% Bel­le­tri­stik) nicht be­ur­tei­len. Was Sie im Re­kurs an­neh­men ist, dass, weil Scheck sagt, dass 90% der Best­sel­ler »Schrott« sind, in to­to 90% der an­de­ren rund ver­blei­ben­den 99.760, al­so 89.784, eben­falls nur nied­ri­gen An­sprü­chen ge­nü­gen (ich bin da­von aus­ge­gan­gen, dass die er­sten 10 der Best­sel­ler­li­ste je­den Mo­nat gänz­lich neu be­stückt wer­den, was nicht stimmt). Die­se Aus­sa­ge ist aber ziem­lich kühn.

    Schecks Auf­ga­be wä­re es, Tei­le der an­de­ren 9.976 »gu­ten« Bü­cher her­aus­zu­fin­den. Da­her ekelt mich die­ses »Ton­neklop­pen« auch so an: Mit ganz bil­li­gem Müt­chen wird hier der Mas­sen­ge­schmack ver­prü­gelt. Als ge­le­gent­li­che Ak­ti­on viel­leicht ganz wit­zig; als Dau­er­ein­rich­tung lä­cher­lich (er macht das im DLF/DLR ja re­gel­mä­ssig). Die drei Sätz­chen, die er dann als Kri­tik an­bringt be­vor er das Buch weg­schmeisst, könn­te zur Not auch von ei­nem Prak­ti­kan­ten stam­men. Ge­le­sen ha­ben braucht man das Buch hier­für nicht (we­nig­stens nicht zur Gän­ze). Wenn Scheck zu­viel zu­ge­mu­tet wird, soll er et­was an­de­res ma­chen und nicht die Po­se des Rä­chers für das gu­te Buch ab­ge­ben.

  24. @Michael Platt­ner
    Ich weiß schon, dass Sie nicht ge­sagt ha­ben, dass ein Kri­ti­ker nach 5 Sei­ten zu le­sen auf­hö­ren soll. Ich woll­te nur wis­sen, was die Kon­se­quenz aus Ih­rer Fest­stel­lung wä­re. Wenn es kein ab­schlie­ßen­des Ur­teil über das Buch ist, wenn es nicht zum Weg­le­gen führt, dann ist es doch nicht wei­ter er­wäh­nens­wert, denn wel­cher Le­ser ur­teilt nicht schon wäh­rend des Le­sens (im­pli­zit oder ex­pli­zit)?

    @Gregor
    So wit­zig Scheck sein mag, als Le­ser fan­ge ich mit sol­chen Kurz­ve­ris­sen we­nig an (ge­ben Dir un­ein­ge­schränkt recht).

  25. @metepsilonema
    Zu­mal Schecks Sen­ten­zen reich­lich vor­her­seh­bar sind: Vam­pir­ro­ma­ne dürf­ten schreck­lich sein. Dies wie auch im­mer lu­stig mit­ge­teilt zu be­kom­men, hat kei­ner­lei Funk­ti­on, au­ßer die­je­ni­gen, die es schon im­mer wis­sen (al­so bspw. mir) ein er­ha­be­nes Ge­fühl zu sug­ge­rie­ren und über die »Mas­se« zu er­he­ben. Das hat durch­aus was von in­tel­lek­tu­ell-sno­bi­sti­schem Stamm­tisch. Ein Es­say über drei oder vier Vam­pir­ro­ma­ne wä­re na­tür­lich an­stren­gen­der.

    Und mit dem Zi­tat ei­nes fürch­ter­li­chen Sat­zes kann man tat­säch­lich je­des an­de­re Buch auch in Grund und Bo­den ur­tei­len.

  26. Da ha­ben Sie aber sehr viel Ge­duld mit den un­be­kann­ten Au­toren, Herr Keu­sch­nig. Das ist ja prin­zi­pi­ell sehr löb­lich, aber wenn sich nach 80 Sei­ten nichts »zeigt«, was soll dann der Rest des Bu­ches noch ret­ten, zu­mal vie­le Neu­erschei­nun­gen ge­ra­de mal 150 Sei­ten ha­ben? Es kann ja nicht dar­um ge­hen, auf die ge­lun­ge­nen, hoff­nungs­vol­len Ab­sät­ze in ei­nem miß­lun­ge­nen Buch zu war­ten. Das stellt die Ver­hält­nis­se auf den Kopf. In der Re­gel schwä­chelt ein Werk schon, wenn sich die miß­lun­ge­nen Pas­sa­gen häu­fen, wenn sie aber tat­säch­lich ein Drit­tel oder die Hälf­te des Bu­ches ein­neh­men ... ? Gott be­wah­re! Das wer­den Sie aber bei Na­bo­kov oder Mann nicht fin­den, Herr Keu­sch­nig. Kri­ti­ker soll­ten grund­sätz­lich nicht mit ei­nem Werk an­ders ver­fah­ren als mit ei­nem Mei­ster­werk. Ent­we­der es gibt ei­nen Maß­stab, oder es gibt kei­nen. Sie schei­nen ei­nen Son­der­bo­nus für New­co­mer zu wün­schen. Na­tür­lich be­steht im­mer die Ge­fahr, daß ein Kri­ti­ker das Neue nicht ver­steht und falsch be­ur­teilt, weil er in sei­ner ei­ge­nen Ge­gen­wart schon wie­der ver­al­tet und ori­en­tie­rungs­los ge­wor­den ist. Mei­ne Le­se­er­fah­rung zeigt mir aber eher, daß vie­le Nach­wuchs­au­to­ren ihr Werk schlecht oder gar­nicht kon­tex­ten kön­nen. Sie ken­nen die Tra­di­ti­on, in der sie selbst schlech­ter wei­ter­schrei­ben, meist nicht gut oder gar­nicht. Sonst wür­den sie näm­lich gar­nichts mehr schrei­ben. Zu ent­mu­ti­gend. Es gibt in der Li­te­ra­tur ge­nau­so wie in den an­de­ren Kün­sten ei­ne Er­schöp­fung der The­men- und For­men­welt, die so man­chen Künst­ler als Spät­ge­bo­re­nen flu­chen läßt. Sie kön­nen heu­te vie­les nicht mehr »brin­gen«, was vor 10 Jah­ren noch »sta­te-of-the-art« war. Al­les schon drei­mal durch­ge­kaut und zu­ge­tex­tet. Die­ser me­dia­le und glo­ba­le Fleisch­wolf, der al­les ver­wur­stet, dreht sich im­mer schnel­ler und macht den Au­tor (und Kri­ti­ker) schwind­lig. Tex­te zu drucken, ist ei­gent­lich bei die­ser Ge­schwin­dig­keits­zu­nah­me der Welt­wahr­neh­mung und ‑deu­tung kaum noch ei­ne prak­ti­ka­ble Lö­sung. Ich bin auch schon auf Fo­r­um­bei­trä­ge ge­sto­ßen, die je­den Kauf von Ama­zon-Ti­teln er­üb­rigt ha­ben.

    Ich schrieb ja: »gu­te 90% des Ge­druck­ten sind durch­schnitt­lich oder so­gar Schrott.« Al­so zu­nächst ein­mal durch­schnitt­lich (No­te 3–4), dann erst Schrott (No­te 5–6). Ich kom­me zu die­ser ziem­lich küh­nen Be­haup­tung un­ab­hän­gig von Schecks Best­sel­ler-Kri­tik, die ich nur an­fü­ge, weil sich dort die Re­la­ti­on zu wie­der­ho­len scheint. Die­se Be­haup­tung ist ein rei­nes Bauch­ge­fühl, be­zieht sich auf Bel­le­tri­stik und die Tat­sa­che, daß mein Kind­ler wahr­schein­lich nur in Mil­li­on­stel % der je­mals ge­schrie­be­nen Bü­cher die­je­ni­gen Wer­ke ver­sam­melt, die im Lau­fe der Jahr­tau­sen­de von Men­schen tra­diert wur­den, weil sie die­se Wer­ke als le­sens­wert emp­fan­den. Von den gro­ßen Ka­ta­stro­phen (Bi­blio­theks­brand) jetzt mal ab­ge­se­hen. Ich be­zweif­le ein­fach, daß mehr als 1 aus 10 Au­toren wirk­lich gut sind. Vor al­lem, wenn Sie Na­bo­kov oder Hand­ke als Maß­stab neh­men. Mit 1 aus 10 lie­ge ich da wohl eher im wohl­wol­len­den Be­reich ... .

    Al­so, Herr Keu­sch­nig, wenn Sie Frau Ro­che schon ei­ne ge­wis­se Raf­fi­nes­se im Me­di­en­spiel zu­schrei­ben, dann dür­fen Sie jetzt aber Herrn Scheck nicht auf Prak­tik­an­tenni­veau her­ab­wür­di­gen. Das hat Herr Scheck nicht ver­dient. Sei­ne In­sti­tu­ti­on der Best­sel­ler-Kri­tik ist nur ein sehr klei­ner Teil sei­ner Re­zen­si­ons­ar­beit. Die Kurz­kri­ti­ken sind in der Re­gel an­ge­mes­sen kurz und scharf, sa­gen ge­nug, um das Buch tun­lichst zu mei­den. Wenn Herr Scheck ein Buch lo­ben will, wird er so­fort aus­führ­li­cher. Üb­ri­gens auch, wenn be­son­ders dring­lich ge­warnt wer­den muß, wie bei Frau Ro­che. Ich hal­te die­se Best­sel­ler-Kri­tik des Herrn Scheck für wich­tig und mu­tig, weil sie als Ge­samt­über­blick ei­ne öf­fent­li­che Ge­gen­mei­nung zum Mas­sen­ge­schmack schafft. Das ist ja längst kei­ne Selbst­ver­ständ­lich­keit mehr, wie wir am Bei­spiel Frau vL und Frau Auf­fer­manns se­hen. Üb­ri­gens kön­nen wir da­von aus­ge­hen, daß Herr Scheck die Bü­cher, die er be­spricht, auch wirk­lich in Gän­ze ge­le­sen hat.

    @metepsilonema, ich hielt mei­ne 5‑­Sei­ten-The­se im Zu­sam­men­hang mit dem »Zeitknappheit«-Argument für er­wäh­nens­wert. Wenn Herr Scheck näm­lich ca. 6000 »gu­te« Bel­le­tri­stik-Ti­tel im Jahr (dar­un­ter fal­len aber auch vie­le Klas­si­ker-Edi­tio­nen etc.) prü­fen soll, dann ist das schlicht­weg men­schen­un­mög­lich. Bei 500 Sei­ten pro Ti­tel wä­ren es im­mer­hin noch Text­men­gen, die 60 an­spruchs­vol­len Bü­chern pro Jahr ent­spre­chen. Un­ter der Vor­aus­set­zung, daß Herr Scheck nur die er­sten 5 Sei­ten an­liest. Das wä­re kein ab­schlie­ßen­des Ur­teil, aber ein hilf­rei­cher Lack­mus-Test. Soll Herr Scheck aber 60.000 Ro­ma­ne pro Jahr prü­fen, um über­haupt erst die »gu­ten« 6000 her­aus­zu­fi­schen, was macht er dann? Liest er dann 600 Bü­cher pro Jahr? Ei­gent­lich brau­chen wir ein staat­lich ver­sorg­tes Kri­ti­ker­heer, da­mit auch wirk­lich al­le Ti­tel fair be­spro­chen und ar­chi­viert wer­den. So­zu­sa­gen ein Mi­ni­ste­ri­um für Buch­re­zen­si­on mit aus­ge­la­ger­ten Kon­troll­gre­mi­en etc.

  27. Ich glau­be nicht, daß Herr Scheck sich schon die Hän­de reibt, wenn sich wie­der Col­lege-Vam­pi­re wech­sel­sei­tig in die Teen-Häl­se bei­ßen. Herr Scheck läßt sich von der Best­sel­ler­li­ste si­cher­lich auch gern an­ge­nehm über­ra­schen. Das wür­de sei­ne Ar­beit we­sent­lich er­leich­tern. Nun hat die Best­sel­ler­li­ste aber oft nichts Le­sens­wer­tes zu bie­ten. Was kann Herr Scheck da­für? Der auch von mir oft an­ge­führ­te Mas­sen­ge­schmack ist nicht zwangs­läu­fig, aber zu oft schlecht, weil un­be­darft. Manch­mal läßt er sich von ei­nem Li­te­ra­ri­schen Quar­tett zum Kauf ei­nes Ma­ri­as Fran­co ver­füh­ren, oh­ne zu wis­sen, was auf ihn zu­rollt – ein Mas­siv von Text. Ob­wohl, die­se Zei­ten sind auch vor­bei ... .

    Hier kann man un­ten le­sen, wie Herr Scheck als gro­ßer Ken­ner der ame­ri­ka­ni­schen U- und E‑Szene mit gu­tem Ge­wis­sen auch Vam­pir­ro­ma­ne emp­feh­len kann:

    http://www.hr-online.de/website/fernsehen/sendungen/index.jsp?rubrik=56465&key=standard_document_39899251

  28. @Michael Platt­ner
    Je­der Kri­ti­ker hat ei­nen Stand­punkt, der Sub­jek­ti­vi­tät ein­schließt, man wird sich al­so nicht im­mer dar­über ver­stän­di­gen kön­nen, ob ein Text gut, sehr gut, oder nur mit­tel­mä­ßig da­her kommt – viel­leicht wird man dar­über ei­nig was miss­lun­gen ist. Wich­ti­ger schei­nen mir vie­le kri­ti­sche Stim­men, die ver­schie­de­ne Aspek­te be­leuch­ten, als ein zu apo­dik­tisch vor­ge­tra­ge­ner Qua­li­täts­be­griff (nicht, weil er nicht exi­stiert, son­dern weil er sich nicht ein­deu­tig fest­ma­chen lässt).

    Was Herr Scheck macht oder nicht, ist sei­ne Sa­che (ich se­he in die­ser Spie­gel­best­sel­ler­li­sten­kri­tik eher ein mehr des Pro­blems, als des­sen Lö­sung, aber gut, dar­über kann man ge­teil­ter Mei­nung sein, das ist nicht wei­ter schlimm). Es geht auch nicht dar­um, dass er sich al­le Bü­cher vor­neh­men muss, da­für gibt es an­de­re Kri­ti­ker und je­der Kri­ti­ker darf sei­ne sub­jek­ti­ve Aus­wahl tref­fen, das fin­de ich so­gar wich­tig. Al­ler­dings soll­te die Form der Kri­tik dem Le­ser und Au­tor ge­recht zu wer­den ver­su­chen, an­ge­mes­sen sein (al­so sich auf das Werk auch ein­las­sen).

    Es könn­te sein – ich mut­ma­ße et­was -, dass es für Nach­wuchs­au­to­ren so­gar wich­tig ist sich nicht gleich zu ver­or­ten, weil sie zu­erst ei­ne (ih­re) Stim­me fin­den müs­sen; und egal ob man nur ei­nen Ro­man oder »the no­vel to end all no­vels« schrei­ben möch­te, oh­ne ei­ge­ner Stim­me (Stil) wird es nichts wer­den: Zu viel zu le­sen, kann die ei­ge­ne Stim­me ver­schüt­ten oder zu sehr in ei­ne schon be­kann­te Rich­tung len­ken.

  29. Ja, @metepsilonema, ich glau­be, das ist ei­ne gu­te Be­schrei­bung, wie Li­te­ra­tur­kri­tik tat­säch­lich statt­fin­det (In­ter­sub­jek­ti­ver Dis­kurs und Mul­ti­per­spek­ti­ve) – viel­leicht mit dem Zu­satz, daß man sich im­mer sel­te­ner auch über die miß­lun­ge­nen Wer­ke ei­nig wird. Al­so ei­nen Zu­stand der Po­la­ri­sie­rung und Spal­tung in »Fans« und »Ha­ters« er­zielt, wie bei Frau Ro­che. Das ist, glau­be ich, in der Kunst auch kein neu­es Phä­no­men, viel­leicht so­gar ein Merk­mal der Kunst. Ich stel­le mir ge­ra­de die Fra­ge, war­um ich so pe­ne­trant auf den »Qua­li­täts­maß­stab« (den ich ja auch nur mit Na­me­drop­ping an­deu­ten kann) po­che. Ich glau­be, mich äng­stigt die Me­tho­de der Text­im­ma­nenz und Re­la­ti­vie­rung des Werks in im­mer klei­ner de­fi­nier­ten Gen­res und Sub­gen­res (al­so: »das Werk ist für sich al­lein be­trach­tet ein star­kes Stück« – oder: »die­ser Vam­pir­ro­man ist im Ver­gleich mit an­de­ren Vam­pir­ro­ma­nen gar­nicht so übel«), weil man dann leicht In­ter­tex­tua­li­tät (»na, da gibts’ aber Bes­se­res in die­sem Kon­text!«) und Re­le­vanz (»was sagt uns ei­gent­lich Vam­pir­ro­man XYZ?«) über­sieht. Bei­de Her­an­ge­hens­wei­sen ha­ben wohl ih­re Be­rech­ti­gung und Gren­zen. Ich ge­be zu, daß ich im­mer zur Hi­sto­ri­sie­rung und »Ver­or­tung« nei­ge. Ich mag mei­nen Kind­ler. Sprich: ich bin ein Zet­tel­ka­sten-Freund. Daß im Kind­ler Li­te­ra­tur­ge­schich­te auch an­ders ge­schrie­ben wer­den könn­te, ist mir auch be­wußt. Letzt­end­lich ist der gan­ze Ord­nungs-Kampf ge­gen die mensch­li­che Schreiblust und ‑wut so­wie­so ver­lo­ren. Ein End­los­spiel der in­ein­an­der krei­sen­den Zei­chen und Sym­bo­le. Was ja auch schreck­lich schön ist.

    Herr Scheck hat nun ein­mal das recht kurz­at­mi­ge TV- und Ra­dio­for­mat als Haupt­aus­drucks­mit­tel mit ent­spre­chen­der Brei­ten­wir­kung. Ich glau­be, die­sen Job kann man we­sent­lich un­ehr­li­cher, un­fä­hi­ger und harm­lo­ser aus­fül­len, als Herr Scheck es tut. Kei­nem Ro­man kann man wahr­schein­lich un­ter 5 Sei­ten (!) Re­zen­si­on »ge­recht« wer­den – schon al­lein aus Aus­führ­lich­keits- und Dif­fe­ren­zie­rungs­grün­den. Es wer­den ja auch nicht um­sonst gan­ze Uni-Schrif­ten meh­re­rer For­scher­ge­ne­ra­tio­nen ei­nem Groß­werk ge­wid­met.

    Ih­re Mut­ma­ßung über die Pflicht des frisch­ge­backe­nen Künst­lers zur Nai­vi­tät un­ter­schrei­be ich voll und ganz. Es ist der Um­kehr­schluß aus mei­ner Be­haup­tung, daß vie­le Nach­wuchs­schrift­stel­ler die Tra­di­ti­on igno­rie­ren, bzw. die an­de­re Sei­te der­sel­ben Glei­chung. Schrei­ben ist an­ders gar­nicht mehr vor­stell­bar – al­lein, um das Ir­re­wer­den zu ver­mei­den. Ab­ge­se­hen da­von: wie­viel und was ge­nau soll denn der Jung­schrift­stel­ler schon ge­le­sen ha­ben? Nur: wenn die Nai­vi­tät nicht durch Ta­lent wett­ge­macht wird, dann wirds’ nicht gut ... . An­de­rer­seits: Bil­dung kann Ta­lent nicht er­set­zen usw.

  30. Schö­ne Dis­kus­si­on

    Ja, Mi­cha­el Platt­ner, in ei­ni­gen Din­gen ha­ben Sie recht. Aber Sie wi­der­spre­chen mir in an­de­ren, ob­wohl wir uns doch ei­gent­lich ei­nig sind.

    Na­tür­lich be­treibt Herr Scheck auf sei­ne Wei­se ein Spiel mit und in den Me­di­en. Aber er hat nie das Po­ten­ti­al von Skan­dal­nu­deln à la Ro­che. Das mei­ne ich gar nicht de­spek­tier­lich. Scheck (und al­le an­de­ren Kri­ti­ker) kön­nen im­mer nur auf Skan­da­le re­agie­ren bzw. sie in­iti­ie­ren. Letz­te­res ge­schieht üb­ri­gens im­mer mehr nicht im to­ta­len Ver­riss, son­dern in der wohl­mei­nen­den Um­ar­mung – dann fällt ein biss­chen Flit­ter auf ei­nen selbst. Den­noch: Die Kri­tik er­rei­chet nie das Po­ten­ti­al ei­nes Skan­da­lons sel­ber (Reich-Ra­nicki war da die Aus­nah­me, ob­wohl das da­mals [Grass’ »Ein wei­tes Feld«] reich­lich künst­lich war). Sie sind – sa­lopp for­mu­liert – die­je­ni­gen, die den Au­tor / die Au­torin erst in den Vor­der­grund spie­len. Von den 2 Mil­lio­nen Bü­chern, die Ro­che von »Feucht­ge­bie­te« ver­kauft hat, se­hen die Kri­ti­ker kei­nen Hel­ler. Ich ver­glei­che das in et­wa mit der Rol­le des Schieds­rich­ters im Fuß­ball: Wäh­rend die Her­ren Mil­lio­nen im Jahr ver­die­nen, be­kom­men Schieds­rich­ter im Ver­hält­nis da­zu ei­nen Scho­ko­pud­ding. Im Zwei­fel müs­sen sie sich dann von den Mil­lio­nä­ren auf dem Ra­sen noch an­pö­beln las­sen.

    Da­her hat die­ses ewi­ge Krit­teln an Vam­pir­ro­ma­nen oder son­sti­gen Scheuß­lich­kei­ten auch ein biss­chen den Haut­gout der Miß­gunst. Auch das mei­ne ich nicht so ne­ga­tiv, wie es viel­leicht klin­gen mag und über­haupt nicht in fi­nan­zi­el­ler Hin­sicht: Scheck nei­det den Au­toren nicht das Geld, das sie mit ih­ren Best­sel­lern ver­die­nen (bzw.: ich will das nicht un­ter­stel­len). Aber er dürf­te – was ich nicht eh­ren­rüh­rig emp­fän­de – die­ser Auf­merk­sam­keit ge­gen­über miss­gün­stig ge­stimmt sein. Nach dem Mot­to: Wie kann mit die­sem Mist nur so ei­nen Er­folg ha­ben.

    Mit die­sem Phä­no­men kann man ver­ein­facht ge­sagt auf drei­fa­che Wei­se um­ge­hen:

    1. Mit Sar­kas­mus und Zy­nis­mus
    2. Mit ge­nau­er Ana­ly­se
    3. Mit Igno­ranz

    Scheck hat sich für 1 ent­schei­den – und das auf ei­ne kon­ti­nu­ier­li­che Art. Sei­ne Ar­beit beim DLF ist ganz an­ders: Hier ist er zu­meist Mo­de­ra­tor. Nur wenn es dort die­se Spie­gel-Best­sel­ler­li­ste gibt (mit schreck­li­cher Mu­sik üb­ri­gens un­ter­malt) wird Dr. Jekyll zum Mr. Hi­de. Ge­nau das wer­fe ich auch »Druck­frisch« vor: Die­se sehr de­vo­te Ge­sprächs­füh­rung mit Au­toren; man braucht ei­gent­lich gar nicht mehr zu­hö­ren, weil man weiss: al­le nur halb­wegs kri­ti­schen Ein­wän­de blei­ben un­er­ör­tert. Hin­zu kommt dann ein In­sze­nie­rungs-Ex­hi­bi­tio­nis­mus bei »Druck­frisch«. Ein­mal ist er nach Is­land ge­fah­ren. Ein Au­tor ba­de­te dort in ei­ner Quel­le. Scheck ba­de­te mit – al­ler­dings mit An­zug. Das ty­pi­sche Ver­hal­ten ei­nes Par­ve­nüs.

    (Zur oben an­ge­führ­ten kur­so­ri­schen Ein­schät­zung noch zwei Be­mer­kun­gen: Zur 2. Be­wäl­ti­gung wür­de ich den »Bild­blog« als Bei­spiel an­füh­ren. Und das 3. hat sehr vie­le Vor­tei­le, auch wenn man sich dann den Vor­wurf der Ab­ge­ho­ben­heit aus­setzt.)

    Ich will ei­gent­lich run­ter von der Dis­kus­si­on, ob die Best­sel­ler­kri­tik mu­tig ist oder nicht. Mu­tig wä­re es viel­leicht, Herrn Grass ge­gen­über zu sit­zen und mit ihm sei­nen Ro­man un­ter li­te­ra­risch-äs­the­ti­schen Punk­ten zu be­spre­chen. Ich re­de da­mit üb­ri­gens dem pseu­do-in­ve­sti­ga­ti­ven Ge­re­de ei­ni­ger No­vi­zen nicht das Wort, die bei je­dem ih­nen po­li­tisch nicht ge­neh­men Satz gleich in wil­der Ra­se­rei auf Grass (oder auch Wal­ser, Strauß, Hand­ke) ein­prü­geln. Die ha­ben rein gar nichts ver­stan­den, weil sie es auch nicht wol­len und küh­len nur ihr lä­cher­li­ches Müt­chen. Es macht auch we­nig Sinn zu spe­ku­lie­ren, ob Scheck sich tat­säch­lich in Gän­ze all die­se Bü­cher an­tut (das glau­be ich nicht). Und na­tür­lich ist Scheck ein pro­fun­der Ken­ner der ame­ri­ka­ni­schen Li­te­ra­tur – er macht ja aus sei­nem Her­zen kei­ne Mör­der­gru­be. War­um auch.

    Ich glau­be auch nicht, dass Li­te­ra­tur­kri­tik die Auf­ga­be hat, ei­nem Buch zur Gän­ze ge­recht zu wer­den. Hier­für gibt es die Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft. Aber Li­te­ra­tur­kri­tik soll­te ei­ne er­ste Ein­ord­nung vor­neh­men. Da­bei ist es un­er­läß­lich das ge­ra­de be­spro­che­ne Buch dort ab­zu­ho­len, wo es steht. So wä­re es ab­surd, Frau Ro­che mit Schil­ler oder An­net­te von Dro­ste-Hüls­hoff ver­glei­chen zu wol­len. Aber war­um gibt es kei­ne Auf­ar­bei­tung des Bu­ches in Rich­tung 70er Jah­re Li­te­ra­tur? Erst wenn man aus die­ser Ebe­ne her­aus be­wer­tet, er­kennt man, wie schlecht das Buch ist (ab­ge­se­hen jetzt von den sprach­li­chen Ver­wer­fun­gen; die könn­te man im­mer­hin noch als ge­woll­te »Au­then­ti­zi­tät« an­prei­sen). Erst wenn ich Ro­che mit Ka­rin Struck, Bri­git­te Schwai­ger oder auch der frü­hen El­frie­de Je­li­nek ver­glei­che (es wür­den sich be­stimmt noch an­de­re Au­torin­nen an­bie­ten, die ich je­doch zu we­nig ken­ne), ver­mag man den Le­ser zu er­klä­ren, wie lä­cher­lich und künst­lich-skan­da­li­sie­rend, al­so kal­ku­liert, »Schoß­ge­be­te« ist. Schecks letz­ter Hin­weis in die­ser Sa­che, dass die­ses Buch von ei­nem Nicht-Pro­mi un­be­ach­tet ge­blie­ben wä­re, fällt ja stark auf den Be­trieb zu­rück. Aber in­dem er dies am Bei­spiel der Ro­che bringt und nicht wei­ter the­ma­ti­siert, muss die Ka­thar­sis der Bran­che aus­blei­ben.

    Pro­ble­ma­tisch fin­de ich es, wenn die un­über­seh­ba­re Fül­le der Neu­ver­öf­fent­li­chun­gen mit der Qua­li­täts­sen­se be­ar­bei­tet wer­den soll. Da­her ha­be ich mich über die »90% Schrott« echauf­fiert. Ma­chen wir uns doch nichts vor: Die Bü­cher, die im et­was brei­te­ren Fo­kus der Öf­fent­lich­keit ste­hen (das sind im Be­reich Bel­le­tri­stik viel­leicht rd. 150/Jahr), sind zu­meist Re­sul­ta­te per­fi­der Mar­ke­ting­stra­te­gien. Dass sich hier­un­ter her­vor­ra­gen­de Bü­cher – und manch­mal so­gar mehr – be­fin­den, ist klar. Aber ei­nen wie auch im­mer ge­ar­te­ten Quer­schnitt er­hält man kaum. Aber was macht das Feuil­le­ton? Es be­spricht lie­ber 20x den neu­en Grass als statt­des­sen viel­leicht 10 an­de­re Bü­cher zu »ver­su­chen«. In die­se Bre­sche könn­ten Li­te­ra­tur­blogs sto­ssen, aber auch die sind zu­meist schon zu stark fi­xiert.

    Okay, re­den wir nicht von den an­de­ren, son­dern von mir: Ich be­ken­ne mich in die­sem Sin­ne durch­aus auch als »schul­dig«. Aber die Ro­che hät­te ich nicht ge­le­sen und be­spro­chen, wenn mich nicht je­mand um mei­ne Mei­nung ge­fragt hät­te. Und im Ge­gen­satz zu ei­ni­gen an­de­ren Ver­la­gen, die Blogs nur als gut- oder bös­ar­ti­ge Tu­mo­re an ih­rem Ver­lags­kör­per an­se­hen, hat­te mir dann Pi­per auch ein Le­se­ex­em­plar ge­schickt. Wenn ich Pech ha­be, war’s dann das letz­te. Soll mir auch recht sein.

  31. [et­was OT: Zur Ge­nau­ig­keit beim Bild­blog gab es kürz­lich ein Bei­spiel, das mich schon fast in Zwei­fel ge­stürzt hat, – http://www.bildblog.de/32666/spanische-post/ – da wur­de sich über das stil­le Post Spiel lu­stig ge­macht, dass ein Zei­tungs­ar­ti­kel ei­nen Blog­ein­trag wei­ter­ver­wen­det und da­bei of­fen­kun­dig wird, dass die­ser über­haupt nicht ver­stan­den oder ge­nau ge­le­sen wor­den war. Al­ler­dings wur­de dort, die­se Trans­pa­renz ist na­tür­lich gut, auch der spa­ni­sche Ori­gi­nal­ar­ti­kel ver­linkt. Als ich die­sen las, da er­schie­nen mir die bei­den Sät­ze aus dem Blog­ein­trag, auf die der Zei­tungs­ar­ti­kel Be­zug nahm doch auch leicht miss­ver­ständ­lich, bzw. wie­der­hol­te der Bild­blog-Ein­trag zu­nächst ei­nen der Feh­ler des Zei­tungs­ar­ti­kels, wor­auf un­ter­halb des Ar­ti­kels aber ver­wie­sen wur­de... Ein Hau­fen Nich­tig­kei­ten, dem auch ich nicht so­viel Wor­te wid­men soll­te, aber da fehl­te mir dem er­sten Bild­blog-Ein­trag doch ge­ra­de die Prä­zi­si­on, auf die man sich lei­der, wie auch bei Zei­tun­gen eben nicht blind ver­las­sen darf.]

    PS. Ich hat­te mich schon fast ge­fragt, war­um Sie sich der Schoß­ge­bie­te über­haupt »schul­dig« ma­chen... (und woll­te viel­leicht kon­tra­stie­rend auch auf die­se Re­zen­si­on hin­wei­sen: http://www.struppig.de/vigilien/?p=3264 )

  32. @Phorkyas
    Die Vi­gi­li­en-Kri­tik kann­te ich schon. Ehr­lich ge­sagt, ver­ste­he ich den Schluß nicht. Bzw. ich in­ter­pre­tie­re es dann doch als ein ge­wis­ses Ein­knicken. Ro­che sei nicht lang­wei­lig – in­ter­pre­tie­re ich (so­was sagt Reich-Ra­nicki ja auch im­mer). Und da ist von ei­ner »sehr un­ter­halt­sa­men Kämp­fe­rin« die Re­de, was dem vor­her Ge­sag­ten wenn nicht wi­der­spricht, so doch in ei­nen merk­wür­di­gen Kon­trast stellt. Kämp­fe­rin doch höch­stens für ih­ren ei­ge­nen Geld­beu­tel.

  33. Hof­fent­lich hat die­ser Sei­ten­ast der Dis­kus­si­on nicht ge­scha­det. (Zu Scheck hat­ten wir nur schon dis­ku­tiert, das woll­te ich nicht wie­der­ho­len)

    Bei Ro­che ten­die­re ich wie meist bei »un­wür­di­gen The­men« zu Op­ti­on 3; ein Wort dar­über ist ei­gent­lich schon zu viel. Ich fin­de es schwer mich über­haupt sinn­voll da­zu zu ver­hal­ten, weil im Hin­ter­kopf im­mer die­ser lä­sti­ge Hype mit­schwingt, der im­mer schon mit An­kün­di­gung und Vor­ab­pro­test doch pro­du­ziert wird. Viel­leicht ist es auch ge­ra­de die­ser Hype, der so po­la­ri­siert, und der auch die Kri­tik läh­men kann, weil man sich doch ir­gend­wie zu die­sem ver­hal­ten muss – »um­ar­mend«, wie Sie so schön sag­ten oder ver­sto­ßend – und die­se Öf­fent­lich­keits-/Markt­dy­na­mi­ken sind mir schon zu­wi­der. (Denn es be­för­dert ja nichts In­halt­li­ches zu­ta­ge, an den Pro­zes­sen der Hype-Ver­teu­fe­lung kann ich auch teil­ha­ben, oh­ne das Buch ge­le­sen zu ha­ben – und selbst wenn ich es ge­le­sen hät­te, wä­re ich ver­mut­lich nicht schlau­er, au­ßer zu wis­sen dass der gan­ze Bu­hei mal wie­der nichts mit der »Sa­che« zu tun hat.
    [Frucht­brin­gen­der er­schie­ne mir viel­leicht die Dis­kus­si­on über an­de­re po­la­ri­sie­ren­de Kunst-/Kul­tur­wer­ke – »Tree of Life« z.B., hät­te ich doch mal bei der Per­len­tau­cher-Dis­kus­si­on mit­ge­tan..])

    PS. Hät­te mir klar sein kön­nen, da ich auch über Ihr Blogroll auf den Ar­ti­kel ge­sto­ßen war – die Re­zen­si­on ist in der Tat et­was merk­wür­dig, als wür­de der Au­tor sich durch­weg da­für ent­schul­di­gen, dass er das Buch doch nicht ver­reißt, was er ja ei­gent­lich hät­te tun müs­sen...

  34. Der Nach­teil von Po­si­ti­on 3, lie­ber Phor­k­yas, ist, dass wir dem­nächst dann al­le kol­lek­tiv schwei­gen. Ich fand ja den Spruch, dass der Klü­ge­re nach­gibt, nie be­son­ders ein­leuch­tend. Wenn ich dann al­le Phä­no­me­ne, die mir nicht pas­sen, mit Igno­ranz stra­fe, ster­ben die Un­ver­nünf­ti­gen zwar nicht aus, aber sie ver­stum­men. Und das wä­re ei­ni­gen dann doch wie­der ziem­lich recht. (Wo­bei dies kei­ne Hy­bris ob der ei­ge­nen Wir­kung ist; sie­he die Dis­kus­si­on auf Ih­rem Blog.)

    Die Grat­wan­de­rung ist schwie­rig, weil man auch schnell zum Ge­trie­be­nen wird. Um Hype-Ver­teu­fe­lung darf es na­tür­lich nicht ge­hen – we­nig­stens nicht nur. Und na­tür­lich wä­re es wun­der­bar, ei­nen Blog mit Goe­the- und Kleist­re­zen­sio­nen (!) zu ver­öf­fent­li­chen (dann könn­te Frau Bün­ger so­gar noch et­was ler­nen [sie­he Link oben und hier]). Aber auch das wä­re an­ma­ßend und/oder red­un­dant, oder?

  35. @Michael Platt­ner
    Es wird nur im­mer schwie­ri­ger ei­nen (ir­gend­ei­nen) Über­blick zu be­hal­ten, ei­ner­seits weil die ge­gen­wär­ti­ge Pro­duk­ti­on im­mens ist und an­de­rer­seits, weil ihr die ver­gan­ge­ne nicht um all zu viel nach­steht. Es ist al­so viel­leicht so­gar et­was wie Ehr­lich­keit, wenn man so (»das Werk für sich al­lei­ne be­trach­tet«) vor­geht, weil man es nicht mehr zu­frie­den­stel­lend schafft. Aber na­tür­lich: Es ist si­cher­lich höchst sinn­voll es zu ver­su­chen, man darf viel­leicht nicht zu ho­he Er­war­tun­gen ha­ben (et­was Ähn­li­ches tut im Grun­de je­der Le­ser, der das Ge­le­se­ne im Kopf be­hält: Er ver­gleicht mit dem was er kennt, nur meist nicht sy­ste­ma­tisch). Ei­ne Ge­fahr die sol­che Ein­ord­nun­gen für mich be­sit­zen, ist, dass sie mei­ne ei­ge­ne Sicht­wei­se be­ein­flus­sen und die ist ei­gent­lich noch wich­ti­ger, weil die Viel­falt von Per­spek­ti­ven ei­nes Werks, ja ei­gent­lich Li­te­ra­tur erst aus­macht (oder we­sent­lich mit aus­macht).

    Sie ha­ben si­cher recht, dass Scheck sei­ne Sa­che viel schlech­ter ma­chen könn­te, und viel­leicht spie­len bei mir auch per­sön­li­che Din­ge her­ein (ich bin, wie Gre­gor das for­mu­liert hat, igno­rant, mich in­ter­es­sie­ren kei­ne Best­sel­ler­li­sten und ei­ne Kri­tik, die sich stark auf die­se fo­kus­siert, auch nicht sehr – aber es ist na­tür­lich nicht nur die­ser ei­ne Punkt).

    Sie stel­len im­pli­zit die gro­ße Fra­ge, wel­chen An­teil Ta­lent und wel­chen Ler­nen und Ar­beit am Ent­ste­hen ei­nes Werks ha­ben; da­zu gibt es un­ter­schied­li­che An­sich­ten, ich kann das nicht ent­schei­den, aber viel­leicht gibt es ein­fach un­ter­schied­li­che Ty­pen des künst­le­ri­schen Schaf­fens (mir fal­len da im­mer zwei Ge­gen­sät­ze aus der Mu­sik ein: Mo­zart und Beet­ho­ven).

    @Gregor
    Ich weiß nicht ob Fair­ness ein gu­tes Wort ist, ge­recht ist viel­leicht über­trie­ben; je­den­falls soll­te ein Kri­ti­ker die Of­fen­heit be­sit­zen, das Werk für sich spre­chen zu las­sen, usw. ( nicht ganz ein­fach, das ge­nau in Wor­te zu fas­sen).

  36. Hol­la! Ei­ne Text­la­wi­ne ... . Wo ich doch ir­gend­wo oben von Schreiblust und ‑wut ge­spro­chen ha­be ... .

    Na, Herr Keu­sch­nig, ich mer­ke schon, Sie MÖGEN Herrn Scheck NICHT. Dem soll­te ich gleich fol­gen las­sen, daß ich Herrn Scheck sehr gern mag. Ich glau­be, daß Herr Scheck sei­nen Sar­kas­mus, oder sa­gen wir mal mil­der und an­ge­mes­se­ner, sei­ne bei­ßen­de Iro­nie, wohl­do­siert und an­ge­bracht ein­bringt. Man­che Bü­cher ver­ur­sa­chen sol­che Zahn­schmer­zen, da kann Herr Scheck über­haupt nicht tief ge­nug boh­ren. Zy­nisch ist er mei­nes Wis­sens nie ge­we­sen, er ist kein Men­schen­ver­äch­ter. Ich hat­te ja auch schon an­ge­merkt, daß sein Ra­dio- und TV-Me­di­um, in dem auf die Se­kun­de ge­nau ge­sen­det wird, ei­ne aus­führ­li­che Ana­ly­se über­haupt nicht er­mög­licht. Im Rah­men der Sen­de­zeit schafft es Herr Scheck, Au­toren­ge­sprä­che und Buch­vor­stel­lun­gen poin­tiert und knackig zu mo­de­rie­ren. Das ist auch ei­ne Kunst. Und die über­steigt auch meist die Fä­hig­keit ei­nes Prak­ti­kan­ten. Zu­sam­men mit der schmun­ze­lig-trocke­nen Ka­me­ra­ar­beit ent­ste­hen für mich klei­ne, op­ti­sche und in­halt­li­che Kunst­wer­ke. Die sind zwar – wie mei­ne Freun­din im­mer durch ih­re Zäh­ne pfeift – recht de­ka­dent (muß denn Herr Scheck nach Rom zum Freund Hett­che flie­gen? Ja muß er, – weil der Hett­che da ge­ra­de lebt und schreibt und kei­ne Zeit und Geld hat, nach Köln zu flie­gen ... ), aber die schö­nen Rei­sen und In­sze­nie­run­gen gön­ne ich Herrn Scheck von Her­zen. Von mir aus kann er ru­hig ei­ne Bou­ton­niè­re tra­gen. Denn Herr Scheck ist ein flei­ßi­ger Dan­dy des Li­te­ra­tur­be­triebs, aber be­stimmt kein Par­ve­nü. Wenn er im An­zug ins hei­ße Was­ser zum Au­toren steigt, dann nicht aus An­bie­de­rung, son­dern aus Selbst­iro­nie und Mar­ke­ting­grün­den. Herr Scheck wirbt näm­lich für sei­ne Prä­fe­ren­zen in je­der Mi­nu­te der Sen­dung, ab­ge­se­hen von der Best­sel­ler­li­ste, die er, wie ich selbst, als po­li­ti­sche und öf­fent­li­che Auf­ga­be wahr­neh­men mag (die­se Best­sel­ler­li­ste ist ja ein In­di­ka­tor des deut­schen Durch­schnitts­ge­schmacks. Das ist nicht un­er­heb­lich für die Ein­schät­zung der Si­tua­ti­on.). In­so­fern igno­riert Herr Scheck auch ge­hö­rig. Was ihn nicht in­ter­es­siert, wer­den Sie in sei­ner Sen­dung nicht fin­den. Zum Bei­spiel Frau Ro­che.

    Da ma­chen Sie ei­ne höchst in­ter­es­san­te Au­toren-Rei­hung auf, Herr Keu­sch­nig. Bei Grass, Wal­ser, Strauß und Hand­ke fällt mir ein, daß li­te­ra­risch-äs­the­ti­sche Wahr­neh­mungs­wei­sen manch­mal rea­li­täts­blind ma­chen, bzw. der Künst­ler sich in sei­ner Welt­deu­tung und Welt­be­deu­tung klar über­for­dert und über­schätzt. Al­le vier Au­toren zie­hen auch we­nig an­ders als Frau Ro­che zur rich­ti­gen Zeit an den rich­ti­gen Strip­pen, da­mit die Kas­sen­glocken klin­geln. Mög­li­cher­wei­se noch weit ge­schmack­lo­ser als Frau Ro­che, die ein pri­va­tes Schick­sal aus­wei­det. Ausch­witz oder Ser­bi­en be­tref­fen weit­aus mehr Men­schen.

    Et­was mehr li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­li­che Prin­zi­pi­en in der Li­te­ra­tur­kri­tik tä­ten der Bran­che gut. Sie re­du­zie­ren die Be­lie­big­keit des Ur­teils, brem­sen aber meist die Lei­den­schaft. Sprich: liest sich nicht so schön. Und noch­mal: »90% Schrott« ha­be ich nie be­haup­tet. 10% sehr gut bis gut, 60% be­frie­di­gend, 30% Schrott.

    Das Li­te­ra­tur-Blog­ging wird die Lö­sung der kom­men­den Jahr­tau­sen­de sein (un­se­re Exi­stenz als tech­ni­sche und ba­sis­de­mo­kra­ti­sche Zi­vi­li­sa­ti­on vor­aus­ge­setzt). Wie sonst soll­te der In­put be­wäl­tigt wer­den kön­nen? Was Wi­ki­pe­dia mit dem Welt­wis­sen an­stellt, kön­nen Le­ser und an­de­re User auch mit der Li­te­ra­tur an­stel­len. Auf Ama­zon le­se ich manch­mal er­staun­li­che Ana­ly­sen – von Men­schen mal so ein­ge­streut, die ein­deu­tig vom Fach sind. Blog­gen Sie ru­hig über Frau Ro­che, Herr Keu­sch­nig, Ihr Ser­ver­spei­cher wird es Ih­nen nach­se­hen ... . Heu­re­ka!

    Die Vigilien-»Kritik« ist die Ele­gie ei­nes weh­mü­ti­gen »Fan­boys«, wie er sich selbst be­zeich­net. Kann ich nach­voll­zie­hen. Mir war Frau Ro­che als Plem-Plem-Mäd­chen vom Mu­sik­ka­nal – und auch in spä­te­ren Sen­de­for­ma­ten – im­mer sehr, sehr sym­pa­thisch. Ha­be neu­lich ir­gend­wo ei­ne Fla­schen­dreh-Sen­dung mit Ro­ger Wil­lem­sen, Fer­risMC, Mia etc. ge­fun­den (auf dem »Frei­tag« ...). Das ist schon ein Un­der­ground-High­light. Lin­dert nach­hal­tig mei­ne chro­ni­sche Ver­dü­ste­rung. Um­so ent­täusch­ter bin ich von Ro­ches Weg in die Sumpf­ge­bie­te der Selbst­ver­mark­tung. Ich emp­fin­de dies viel­leicht so­gar (halb­be­wußt) als ei­nen po­li­ti­schen Ver­rat. Von der Lang­strumpf-Rock­gö­re zur adret­ten Haus­frau und Bio­/­Well­ness-Tus­si? Bu­uhhh ... . Wie öde. Wenn das »Rei­fe« ist, dann bit­te un­reif, für im­mer.

    @Phorkyas, be­tei­li­gen Sie sich doch ru­hig am »Tree«-Diskurs auf Per­len­tau­cher. Als ich in den letz­ten Wo­chen zu­schal­te­te, ha­ben im­mer wie­der mal Leu­te was ge­po­stet. Das geht im­mer – und ent­zün­det das Feu­er oft von Neu­em ... .

    @metepsilonema, jetzt spü­re ich, daß ich mein Pul­ver schon fast ver­schos­sen ha­be. Viel­leicht noch die­ses: mo­men­tan hat das In­ter­net ein In­for­ma­ti­ons­vo­lu­men ge­schaf­fen, das ex­po­nen­ti­ell die Men­ge der je­mals in der Mensch­heits­ge­schich­te ge­schaf­fe­nen In­for­ma­ti­on um den Fak­tor 1000 über­steigt. Die In­for­ma­ti­on ex­plo­diert ge­ra­de­zu – und im­plo­diert viel­leicht bald un­ter ih­rer ei­ge­nen, kri­ti­schen Mas­se.

    Ja, die zu ho­hen An­sprü­che. Die kön­nen viel ver­mie­sen. Aber auch zu den Fra­gen füh­ren, die im­mer wei­ter boh­ren, manch­mal auch tie­fer. Ir­gend­wann löst sich die Spra­che als Be­wußt­seins­zu­stand oh­ne­hin auf. Was kommt dann?

    Das of­fe­ne Kunst­werk (Eco).

    Mo­zart: be­gna­det chao­tisch. Beet­ho­ven: ta­len­tiert streb­sam?

  37. @Michael Platt­ner

    Wo­bei die In­for­ma­tio­nen eher im In­ter­net ge­la­gert wer­den, der Pro­duk­ti­ons­ort ist oft ein an­de­rer. Ich ha­be das nicht mehr pa­rat, aber es ist z.B. er­nüch­ternd, wenn man hört – so die Zah­len stim­men – wie »we­ni­ge« wis­sen­schaft­li­che Ar­bei­ten in der gro­ßen Mas­se der Er­schei­nun­gen noch von vie­len Wis­sen­schaft­lern wahr­ge­nom­men wer­den. Ich den­ke, dass sich die Über­last an In­for­ma­ti­on schon deut­lich be­merk­bar macht – das Ein­zi­ge was man tun kann, ist, sich so weit ab­zu­schot­ten, dass man nicht fort ge­spült wird (oder an Über­for­de­rung zu­sam­men­bricht).

    An­sprü­che sind ei­ne am­bi­va­len­te Sa­che, da ha­ben Sie voll­kom­men recht: Aber so­lan­ge man den Weg wei­ter­geht, er be­rei­chert, sind sie nicht falsch (tra­gisch nur wenn man sei­ne Sa­che, der ei­ge­nen An­sprü­che we­gen, ver­liert – das wä­re dann ein zu viel an Ideen).

    Wie mei­nen Sie das Auf­lö­sen von Spra­che? Ein Zer­bre­chen? Ein Ver­sa­gen? Wir wür­den noch mehr auf uns selbst zu­rück ge­wor­fen; an­de­rer­seits: Ge­dan­ken sind nicht von Spra­che ab­hän­gig. Das of­fe­ne Kunst­werk wä­re als frag­men­ta­risch zu ver­ste­hen?

    Mo­zart als ein Ge­nie, das al­les kann, je­de Gat­tung be­herrscht, dem es leicht von den Fin­ger geht, der die End­ge­stalt »so­fort« zu Pa­pier bringt; und Beet­ho­ven als der gro­ße Ar­bei­ter, der von ei­nem ein­fa­chen Aus­gangs­punkt erst durch zahl­lo­se Um­ar­bei­tun­gen, zu ei­nem fer­ti­gen Werk ge­langt, was man sehr gut an sei­nen Skiz­zen­bü­chern nach­voll­zie­hen kann. Bei­de ha­ben zwei­fel­los blei­ben­des hin­ter­las­sen, Wer­ke die zu den größ­ten zäh­len, so ver­schie­den ih­re Schaf­fens­wei­se auch ge­we­sen sein mag (ich ha­be das ist jetzt na­tür­lich et­was pla­ka­tiv for­mu­liert). Von Bert­rand Rus­sell ha­be ich auch ein­mal ge­le­sen, dass er gan­ze Ma­nu­skript­sei­ten oh­ne Um­ar­bei­tun­gen und Strei­chun­gen her­un­ter schrei­ben konn­te.

  38. Hal­lo Herr Keu­sch­nig,

    wenn wir ganz alt­mo­disch wä­ren, könn­ten wir ja ein­fach sa­gen: Nicht­li­te­ra­tur kann man mit Mit­teln der Li­te­ra­tur­kri­tik eben nicht be­geg­nen, sie wür­de näm­lich dau­ernd nur das sa­gen, was al­le se­hen: Das ist kei­ne Li­te­ra­tur, und wenn doch, be­steht es nicht vor der Li­te­ra­tur­ge­schich­te. Nun muß aber auch gar nicht al­les, was zwi­schen zwei Buch­deckel ge­druckt wird, li­te­ra­tur­kri­tik­fä­hig sein – es steht ei­nem Buch ja frei, lie­ber in ei­ner Tra­di­ti­on von Me­di­en­er­eig­nis­sen zu ste­hen als in ei­ner Tra­di­ti­on von sprach­li­chen Er­eig­nis­sen. Wie geht man da­mit um? Er­klärt man so ein Buch ein­fach zur Nicht­li­te­ra­tur und für nicht sa­tis­fak­ti­ons­fä­hig? Da­bei macht man sich ei­nes Ho­he-Kunst-Sno­bis­mus schul­dig, der in sei­ner Wir­kung auf die Li­te­ra­tur­pro­duk­ti­on ja hoch pro­ble­ma­tisch war und ist. Be­geg­net man ihm da­ge­gen mit Mit­teln der Li­te­ra­tur­kri­tik, läuft man Ge­fahr, das Of­fen­sicht­li­che zu sa­gen und muß sich fra­gen las­sen, ob man nicht ei­gent­lich doch den Hype re­zen­siert. Mei­ne Stra­te­gie war, wie Sie rich­tig be­mer­ken, al­so Af­fir­ma­ti­on: Ich ha­be da eben nicht Spra­che und Au­ra ge­kauft, son­dern Char­lot­te zum Le­sen, und die mag ich er­stens, zwei­tens ist sie strecken­wei­se ver­gnüg­lich, und drit­tens spielt sie ein an­er­ken­nens­wert cle­ve­res Spiel, in­dem sie ih­rer Le­ser­schaft, die sich mit der ih­rer Fein­de eben (an­ders als bei all die­sen 3000-Ex­em­pla­re-aber-Kunst-Neu­erschein­gun­gen) über­schnei­det, die Le­vi­ten liest. Ge­gen all­das ist gar nichts ein­zu­wen­den.

  39. @Michael Platt­ner
    Ob Sie’s mir glau­ben oder nicht: Es geht nicht dar­um, ob ich Herrn Scheck mag oder nicht. Wirk­lich nicht. Und es zieht auch nicht das – par­don – letz­te, an Ver­zweif­lung er­in­nern­de Ar­gu­ment, man miss­gön­ne ir­gend­je­man­dem ge­büh­ren­fi­nan­zier­te Rei­sen nach Rom oder Is­land.

    Was mo­de­riert Herr Scheck denn im »Bü­cher­markt« im Wech­sel mit Stei­nert und Win­kels? In der Re­gel sind das Über­gän­ge zwi­schen zwei oder drei Bei­trä­gen. Mehr nicht. Schön, dass das der­art viel Bei­fall fin­det. Ab und an gibt es Kri­ti­ker­ge­sprä­che oder auch mal ein In­ter­view (wie neu­lich mit Rad­datz). Das »schärf­ste« ist hier das Best­sel­ler­bas­hing. Sei­ne Fern­seh­sen­dung ist ins­ge­samt deut­lich von an­de­rem Ka­li­ber. Tat­säch­lich kommt mir Scheck wie ei­ne Mi­schung aus Rad­datz (Ex­al­tiert­heit) und Reich-Ra­nicki (Scharf­rich­ter­tum) vor. Nicht mehr und nicht we­ni­ger. Manch­mal kommt das doch fast pein­lich rü­ber, wenn er sich in ei­nen Buch­la­den stellt, und Leu­ten ein Buch auf­schwatzt. Mit Li­te­ra­tur­kri­tik hat das herz­lich we­nig zu tun. Eher mit Li­te­ra­tur­prä­sen­ta­ti­on. Dass ein Vam­pir­ro­man schreck­lich ist – noch mal die­ses Bei­spiel – sagt auch Frau Hei­den­reich.

    Mei­ne Auf­zäh­lung der vier Groß­kop­fer­ten war si­cher­lich in­kon­si­stent. Dass Hand­ke aus ego­ma­ni­schen und/oder kom­mer­zi­el­len Grün­den nach Ser­bi­en ge­fah­ren und über Ju­go­sla­wi­en er­zählt hat, ist – mit Ver­laub – ha­ne­bü­chen­der Blöd­sinn. Es hat ihm in mehr­fa­cher Hin­sicht ge­scha­det – und das war ihm im Vor­feld auch klar (vgl. Her­wigs Bio­gra­phie). Ich bin im Rah­men die­ses The­mas nicht be­reit, das wei­ter aus­zu­füh­ren. Ähn­li­ches gilt auch für Bo­tho Strauß und sei­nen »Bocks­ge­sang«. Hier zeigt sich, wie Ver­mark­tung nicht »funk­tio­niert« (zu­mal, wenn man die »fal­sche Mei­nung« hat). Bei Grass und Wal­ser mö­gen Sie teil­wei­se recht ha­ben – es sind ja im üb­ri­gen bei­des Au­toren, die Scheck in »Druck­frisch« aus­gie­big pflegt und ih­nen in In­ter­views Ho­nig ums Maul schmiert.

    Ro­che moch­te ich als VI­VA2-Mo­de­ra­to­rin auch. Ich fand al­ler­dings Ma­kat­sch (das war dann wohl VIVA) nach­her ir­gend­wie bes­ser.

  40. @spalanzani
    Den glei­chen Sno­bis­mus, den sie den Igno­ran­ten un­ter­stel­len, pfle­gen Sie sel­ber, wenn Sie von den »3000-Ex­em­pla­re-aber-Kunst-Neu­erschei­nun­gen« re­den. Als sei mit Mas­se ein Ur­teil ge­fällt (auch das gilt na­tür­lich in bei­de Rich­tun­gen: nur weil et­was we­nig ge­le­sen wird, ist es des­we­gen nicht per se bes­ser als der 2 Mil­lio­nen-Sel­ler). Dass Frau Ro­che ih­ren »Fein­den« die Le­vi­ten liest, ist mir ir­gend­wie ver­bor­gen ge­blie­ben, was zwei­fel­los an mir lie­gen muss.

    Und doch: Da­ge­gen ist et­was ein­zu­wen­den. Denn »Schoß­ge­be­te« er­hebt ja sehr wohl ei­nen An­spruch, den Frau Ro­che auch im­mer wie­der for­mu­lie­ren darf. Dem wird sie we­der mit sprach­li­chen Mit­teln noch in­halt­lich in ir­gend­ei­ner Form ge­recht. Da müss­te es auch ei­gent­lich nicht ent­schei­dend sein, ob man die Au­torin »mag« oder nicht.

    PS: Ih­re Kri­tik fin­de ich den­noch ge­lun­gen, weil sie gar nicht erst den Ver­such un­ter­nimmt, ei­nen dop­pel­ten Bo­den zu ent­decken. Das un­ter­schei­det sie von vie­len an­de­ren Lob­hu­de­lei­en der »Main­stream­m­e­di­en«, die ex­akt die Auf­la­dung vor­neh­men, die sie sonst an den »3000-Exemplar«-Büchern prak­ti­zie­ren. Das ist ja im­pli­zit mein Vor­wurf.

  41. Aber zwei­fel­los ein wich­ti­ger Punkt al­ler Qua­li­täts­dis­kus­sio­nen: Wel­chen im­pli­zi­ten und ex­pli­zi­ten An­spruch stel­len Werk und/oder Au­tor? (Wes­we­gen sich die Kri­tik von Pop und Po­pu­lä­rem in man­cher Hin­sicht er­üb­rigt, denn die wol­len mit­un­ter gar nichts an­de­res als eben un­ter­hal­ten.)

  42. Jetzt wird’s schwie­rig: Darf ich mich von dem wie auch im­mer ge­ar­te­ten An­spruch des Au­tors be­ein­flus­sen las­sen? Dient nicht all­zu schnell die Aus­sa­ge, bloß un­ter­hal­ten zu wol­len als Im­mu­ni­sie­rungs­stra­te­gie? Ist ei­ne wie auch im­mer vor­ge­nom­me­ne Selbst-Be­ur­tei­lung ei­ne Ba­sis für die Re­zep­ti­on?

    Ein Mei­ster des Dumm­stel­lens in die­sem Zu­sam­men­hang ist Tho­mas Gott­schalk. Sein Cre­do »Ich will doch nur un­ter­hal­ten...« ist m. E. die Ka­pi­tu­la­ti­on vor so et­was wie »Ver­ant­wor­tung«. Ich will gar nicht das Ador­no-Fäss­chen vom »gu­ten Le­ben im Schlech­ten« auf­ma­chen. Wie Gott­schalk re­agiert, wenn er sich Her­aus­for­de­run­gen stellt, kann man hier sehr schön se­hen. So­fern man das rd. 43 Mi­nu­ten oh­ne Zu­füh­rung ir­gend­wel­cher Dro­gen aus­hal­ten kann.

  43. (pfuhh.. Ihr Link war aber ganz schön hart. Der Dampf­plau­de­rer Gott­schalk ist ja gar nicht zu brem­sen; in­ner­halb kür­ze­ster Zeit hat der Pu­bli­kum, Zu­schau­er und je­den Ge­dan­ken in Grund und Bo­den ge­la­bert. Wenn die­se Sen­dung so auch das Po­si­ti­ve zeigt, was er ger­ne ver­brei­tet sä­he, – sich ge­gen­sei­tig so­viel Ho­nig ums Maul zu schmie­ren, dass die letz­ten er­hel­len­den Ge­dan­ken auch noch ver­klebt und er­säuft wer­den – dann blei­be ich doch lie­ber in den »bö­sen, schwarz­se­he­ri­schen Blags«)

  44. Es macht m.E. ei­nen Un­ter­schied, ob je­mand ver­sucht ei­ne li­te­ra­ri­sche Ka­te­go­rie (Text­sor­te) zu er­fül­len oder nicht, ob er durch sein Werk ei­nen An­spruch stellt oder nicht (Ich ge­be zu, mit den Aus­sa­gen ei­nes Au­tor wird es pro­ble­ma­tisch, aber auch hier kann man sich an­se­hen: Was hat er, wäh­rend sei­ner Kar­rie­re al­les ge­macht? In wel­chem Zu­sam­men­hang steht die vor­lie­gen­de Ar­beit?).

    Ist es nicht Un­sinn, ei­nem Volks­lied vor­zu­wer­fen, dass nicht die Hö­he ei­nes Kunst­lieds er­reicht? Oder ei­nem Pop­song? Muss man sie nicht an ih­rem Maß­stab mes­sen? Es geht mir um Äs­the­tik, um die Er­fül­lung ei­ner ge­wähl­ten Form, nicht dar­um, dass man nur un­ter­hal­ten wer­den will, wel­che Pro­ble­me das wie­der­um auf­wirft und ob et­was Kunst ist oder nicht?

    Ich ha­be da im­mer et­was Herbsts An­ti-Pop-Ge­stus im Hin­ter­kopf, der m.E. teil­wei­se, aus den oben ge­nann­ten Grün­den, ins Lee­re geht.

    [Ok, lan­ge hält man es nicht aus.]

  45. @metepsilonema, es wer­den im­mer mehr »offline«-Medien di­gi­ta­li­siert und ins Netz ge­speist, ja (Goog­le und den flei­ßi­gen Hän­den, die il­le­gal scan­nen, sei Dank ... .). Aber das ex­po­nen­ti­el­le Wachs­tum der In­for­ma­ti­on ent­steht mo­men­tan durch ih­re Pro­duk­ti­on im Netz selbst, wenn Sie Blogs, Fo­ren, Mail­groups, hoch­ge­la­de­ne PDFs etc. als In­for­ma­ti­on gel­ten las­sen. Der the­men­spe­zi­fi­sche Wert die­ser In­si­der-In­for­ma­ti­on ist oft ge­wal­tig. Ich könn­te oh­ne Netz mich in mei­nen In­ter­es­sen nicht »wei­ter­bil­den«. Un­vor­stell­bar. Das Netz or­ga­ni­siert, fil­tert und macht In­for­ma­ti­on zum Teil über­haupt erst zu­gäng­lich. Das ist ei­ne enor­me, un­glaub­lich macht­vol­le, kol­lek­ti­ve Kul­tur­lei­stung – mit al­len im­pli­zi­ten Pro­ble­men von Macht- und Ka­pi­tal­kon­zen­tra­ti­on (Goog­le).

    Die Auf­lö­sung der Spra­che be­tref­fend mei­ne ich bei­des: ein Zer­bre­chen an der Wahr­neh­mung von Un­mit­tel­bar­keit und ein Ver­sa­gen vor der un­mit­tel­ba­ren Wirk­lich­keit, die ei­ne völ­lig an­de­re ist, als wir ge­mein­hin mit­hil­fe der Spra­che kon­stru­ie­ren. Wenn sich die Spra­che auf­löst, dann, weil sich das Den­ken und das Ich auf­ge­löst ha­ben. Was bleibt, ist das of­fe­ne Kunst­werk des Selbst als un­trenn­ba­re To­ta­li­tät des Seins. Erst in der ge­dank­li­chen Re­fle­xi­on wird das Selbst frag­men­ta­risch und des­halb leid­voll. Sie fin­den das of­fe­ne Kunst­werk aber auch in kon­kre­ten Ma­ni­fe­sta­tio­nen als Mu­sik, Ma­le­rei, Text etc. So­zu­sa­gen als Spie­gel des Kos­mos.

  46. Herr Keu­sch­nig, Sie be­zeich­ne­ten Herrn Scheck als krie­che­ri­schen Em­por­kömm­ling (Par­ve­nü) und be­schei­nig­ten ihm ei­nen Neid auf die Auf­merk­sam­keit, die Best­sel­ler ge­nie­ßen. Dar­aus schloß ich, daß Sie ihn nicht mö­gen. Jetzt stel­len Sie ihn als Men­schen ir­gend­wo zwi­schen Rad­datz und Ra­nicki auf, was Herr Scheck wahr­schein­lich als Kom­pli­ment auf­fas­sen wür­de. Sie mö­gen aber Rad­datz und Ra­nicki wo­mög­lich auch nicht.

    Das Gön­nen der lu­xu­riö­sen Lust­rei­sen des Herrn Scheck be­zog ich auf die Ein­wän­de mei­ner Freun­din. Sie be­zie­hen es als Miß­gunst auf sich selbst. Ich ver­zweif­le nicht, wenn Sie an­de­rer Mei­nung sind.

    Die Pein­lich­keit emp­fin­de ich meist bei den Be­su­chern der Buch­hand­lung, die in die Fän­ge des Herrn Scheck stol­pern. Meist Ver­kör­pe­run­gen der Plan­lo­sig­keit. Lie­ber von Herrn Scheck, als von den Buch­hand­lungs-Mit­ar­bei­tern be­ra­ten wer­den, den­ke ich. So wird zu­min­dest der Row­ling- und Fun­ke-Ab­satz kurz un­ter­bun­den.

    Wenn Sie al­so noch­mal den Vam­pir­ro­man be­mü­hen – ha­ben Sie denn mei­nen Link nicht zur Kennt­nis ge­nom­men? Herr Scheck ur­teilt selbst im Gen­re der Vam­pir­ro­ma­ne dif­fe­ren­ziert. Die Goth No­vel blickt auf gu­te 200 Jah­re Welt­li­te­ra­tur-Tra­di­ti­on zu­rück, da hat sich Ei­ni­ges er­eig­net.

    Ego­ma­nie ist ein­deu­tig ein Merk­mal al­ler vier von Ih­nen ge­nann­ten Au­toren. Herr Grass setzt sich selbst ein Denk­mal in je­der noch so lang­wei­li­gen, aber eit­len Äu­ße­rung, Herr Wal­ser fühlt sich an­geb­lich von der »Mo­ral­keu­le Ausch­witz« um sei­ne po­si­ti­ven Kind­heits­er­in­ne­run­gen ge­bracht (und stieg da­mit zum Best­sel­ler auf), Herrn Strauß be­frem­det vor lau­ter Mas­sen­haß sein ei­ge­nes Kind un­term Ap­fel­baum – und Herr Hand­ke for­dert wie­der­holt (!) Ge­rech­tig­keit für sei­ne »Hei­mat« Ser­bi­en aus ei­ner selt­sam ver­bo­ge­nen Per­spek­ti­ve des Ver­schwei­gens. Je­der der Au­toren in­iti­iert ge­zielt Buch- und Es­say­pro­jek­te, die zwangs­läu­fig kom­mer­zi­el­le Un­ter­neh­mun­gen sind.

  47. Herr Platt­ner, ich ha­be Scheck nie­mals ei­nen »krie­che­ri­schen« Par­ve­nü ge­nannt. Ich be­nutz­te den Aus­druck im Be­zug auf sei­ne be­wusst in­sze­nier­ten, je­doch für den ei­gent­li­chen Ge­gen­stand voll­kom­me­nen un­nö­ti­gen Selbst­in­sze­nie­run­gen, die ge­le­gent­lich pseu­do-avant­gar­di­sti­sche Zü­ge tra­gen. Und dass Sie jetzt im­mer wie­der das Ge­schmacks­ar­gu­ment an­brin­gen zeigt, dass auch Sie zu häu­fig in Ka­te­go­rien von »gut« und »bö­se« ver­fal­len. Es ist näm­lich völ­lig un­er­heb­lich, ob ich FJR oder MRR »mag«. Es geht dar­um, wie sie Li­te­ra­tur ver­mit­teln – und da ent­decke ich bspw. bei MRR ei­ne bis ins nar­ziss­ti­sche hin­ein­ge­hen­de Selbst­ver­liebt­heit, die – lei­der – sei­ne sehr um­fas­sen­den Kennt­nis­se über­la­gern. Vor dem Men­schen Reich-Ra­nicki ha­be ich den größ­ten Re­spekt; sei­ne Kind­heit und Ju­gend wa­ren schreck­lich über­la­gert von der Na­zi-Ka­ta­stro­phe. Aber all das darf doch kei­ne Rol­le spie­len, wenn es dar­um geht, sein Wir­ken in, für und mit der Li­te­ra­tur zu be­leuch­ten. Und ob Herr Rad­datz Mes­ser­bänk­chen beim Abend­essen braucht ist un­er­heb­lich, um sei­ne Ver­dien­ste um Tu­chol­sky fest­zu­stel­len.

    Ih­re Ar­gu­men­ta­ti­on bzgl. der Kom­mer­zia­li­sie­rung der Au­toren ist – da­bei blei­be ich – lä­cher­lich. Hand­ke und Strauß ha­ben reich­lich Nach­tei­le aus ih­ren »En­ga­ge­ments« ge­zo­gen; zu Hand­ke äu­ße­re ich mich an an­de­ren Stel­len die­ses Blogs aus­führ­lich. Grass ist in die Rol­le des mo­ra­li­schen Ge­wis­sens über die Jahr­zehn­te hin­ein­ge­scho­ben wor­den – ent­spre­chend ist die Ent­rü­stung im­mer be­son­ders groß bei de­nen, die ihn frü­her auf den Schild ge­ho­ben ha­ben, wenn er et­was »ab­we­gi­ges« ge­sagt oder ge­tan ha­ben soll. (Manch­mal fin­de ich es ge­ra­de­zu drol­lig, wie je­mand ein Werk in ei­nem hal­ben Satz »ent­larvt« – aber ei­gent­lich nur sich sel­ber bloß­stellt.)

    Über­nimmt man die­se The­se, ist je­des Buch »kom­mer­zi­ell« und ent­spre­chend ein­zu­stu­fen und zu »ver­dam­men«. Au­toren, die nicht über ei­ne ge­wis­se Por­ti­on Selbst­be­wußt­sein ver­fü­gen, sind letzt­lich fehl am Plat­ze. Das ist üb­ri­gens kein Zei­chen un­se­rer Zeit; das war im­mer so. Es ist aber ein Un­ding, wenn Re­zen­sen­ten dem nach­fol­gen möch­ten – üb­ri­gens nicht un­be­dingt aus fi­nan­zi­el­len Er­wä­gun­gen her­aus (auch wenn Ge­rüch­te über die Kor­rum­pier­bar­keit des Be­triebs mehr sind als nur Ge­rüch­te).

  48. @Phorkyas #45
    Ich hat­te ja durch­aus ge­warnt...

    In­ter­es­sant ist die­se Sen­dung we­gen der zum Teil wirk­lich lo­ri­ot-haf­ten Sen­ten­zen. Et­wa nach dem Du-An­ge­bot von Gott­schalk an Kehl­mann: »Das ich das noch er­le­ben darf.« Oder Frau von L in Be­zug auf li­te­ra­ri­sche »Helden«:»Bei mir ist es im­mer das Pferd von Win­ne­tou«.

  49. Ich hat­te ja durch­aus ge­warnt… Da­mit doch aber das Schau­en noch mehr pro­vo­ziert, oder?
    Die bei­den Bei­spie­le, die Sie nen­nen, rie­fen bei mir auch schon leich­tes Un­wohl­sein her­vor – ich hät­te mir ge­wünscht, dass da je­mand aus der Re­gie plötz­lich ins Bild läuft und die Schwaf­ler ohr­feigt... Da­bei, we­der In­tel­li­genz und noch Ta­lent kann und will ich den Leu­ten ab­spre­chen, um­so ver­werf­li­cher fin­de ich es, dass sie so ei­nen Schmu (mit)machen. Der auch nicht bes­ser wird, da­durch dass es schon Me­ta-Schmu ist. Be­son­ders die­se Win­ne­tou-Sa­che: Da la­chen sie ja schon über sich selbst. Da könn­ten sie sich recht­fer­ti­gen; das ist doch aber iro­nisch, ka­piert doch je­der... Ja, aber die Iro­nie be­kommt euch nicht! (Ih­re Me­ta-Dau­er­i­ro­ni­ker las­sen grü­ßen?)

    Der Gott­schalk sagt ja auch so vie­le Din­ge, da muss auch ich ab und zu mal Kopf­nicken, aber dann schlä­fert er das gan­ze Pu­bli­kum kopf­nickend ein, dass es nur noch für ein paar mü­de Gags auf­schreckt und al­le kol­lek­tiv la­chend sich ver­si­chern in der rich­ti­gen Mit­te zu ste­hen. Und da­bei ist die si­mu­lier­te Aus­ein­an­der­set­zung völ­lig vir­tu­ell. Me­ta-eben. Flach und oh­ne je­de Ecke und Kan­te (App­le­pro­dukt?). Die ker­ni­gen, lei­den­schaft­li­chen De­bat­ten wer­den be­schwo­ren, das Voll­korn­brot der Li­te­ra­tur­sen­dun­gen, wäh­rend man selbst doch nur so ei­ne dün­ne, pap­pi­ge Toast­bro­ast­schnit­te ab­lie­fert...

    Ge­nug! – Es le­be die Blog­kom­men­tar-Blei­wü­ste (in der das hof­fent­lich ganz an­ders sein kann)!

  50. @Michael Platt­ner
    Ja, wo­bei ein PDF – aber nicht nur der – auf ei­nem Pc er­stellt und dann hoch­ge­la­den wird, das meint ich; oder auch die Fül­le von wis­sen­schaft­li­chen Ar­bei­ten, die in Jour­na­len – ko­sten­pflich­tig oder nicht – ver­füg­bar sind, wer­den nicht im Netz ge­schaf­fen. – Aber Letzt­end­lich ist der Pro­duk­ti­ons­ort nicht ent­schei­dend.

    Zwei­fel­los ein Kul­tur­lei­stung; und schön ist auch, dass da­bei ei­ne Hand die an­de­re wäscht, ob­wohl sie nichts von ein­an­der wis­sen: Ein paar Leu­te pro­gram­mie­ren ko­sten­lo­se Plug­ins für mei­nen Brow­ser, an­de­re schrei­ben Li­te­ra­tur­kri­ti­ken und selbst liegt man auch nicht auf der fau­len Haut ... das ist ei­gent­lich recht er­freu­lich.

    Sie ha­ben mich neu­gie­rig ge­macht: Darf ich fra­gen, um wel­che In­ter­es­sen es sich han­delt?

    Das of­fe­ne Kunst­werk: Ein blo­ßes Da­sein des Selbst? Ver­bun­den mit dem üb­ri­gen Sei­en­den?

  51. Al­so, auf die Ge­fahr hin, daß ich Ih­nen jetzt so rich­tig auf den Puf­fer ge­he, Herr Keu­sch­nig, muß ich doch noch an­fü­gen: »krie­che­risch« im Sin­ne Ih­res aus­ge­schrie­be­nen »de­vot« und »Ho­nig ums Maul schmie­ren«. Ich as­so­zi­ie­re mit sol­chen Vo­ka­beln beim Schrei­ben­den Ge­füh­le der An­ti­pa­thie. Zu­min­dest wür­de ich zu sol­chen Wör­tern grei­fen, um An­ti­pa­thie aus­zu­drücken. Die ja nie sach­lich ist. Die Ge­schmacks-Ach­se »Sympathie/Antipathie« ist na­tür­lich auch ei­ne an­de­re als die ethi­sche Ach­se »gut/böse« (die Frau Ro­che stän­dig auf al­les und je­den an­wen­den muß). Mei­nen Sie auch den TV-MRR, oder den schrei­ben­den MRR ? Sie for­dern von MRR und Herrn Scheck ei­ne Aus­führ­lich­keit der Li­te­ra­tur­kri­tik, die das For­mat TV und Ra­dio bei die­sen Sen­de­zei­ten nicht her­ge­ben kön­nen (es sei denn, Sie wün­schen EINE Be­spre­chung pro Sen­dung). Ich woll­te nur mit mei­nem Wi­der­spruch zum Aus­druck brin­gen, daß ich Herrn Scheck und auch den Her­ren MRR und Rad­datz die Kom­pe­tenz ei­ner »in-depth«-Analyse von Li­te­ra­tur nie­mals ab­spre­chen wür­de. Sie müs­sen auch da­von aus­ge­hen, daß Herrn Reich-Ra­nickis ge­sam­tes Le­ben seit 1941 von der »Na­zi-Ka­ta­stro­phe« ir­repa­ra­bel be­schä­digt wur­de (Ce­lan nicht un­ähn­lich).

    Hier ist nicht der Ort, um das Hand­ke-Pro­blem zu er­ör­tern. Se­he ich ein. Nur so­viel: mein Ein­druck bleibt be­stehen, daß al­le vier Au­toren in Zei­ten schwä­cheln­der Um­sät­ze auf den Putz hau­en woll­ten. Lie­ber Schel­te als über­haupt kei­ne Auf­merk­sam­keit. Grass hat sich im­mer selbst gern in den Vor­der­grund ge­scho­ben – und sein »po­li­ti­sches« SPD-Be­wußt­sein war Teil der bun­des­deut­schen »ro­ten« Kul­tur ei­ner be­stimm­ten Ära. Ich ha­be noch drei (!) Bän­de »Po­li­ti­sche Schrif­ten und Re­den« von Grass in mei­nem Re­gal ste­hen. Un­les­ba­re Be­lang­lo­sig­kei­ten. Zeit­geist-Sprech. Heu­te kommt ihm ja auch ei­ne SS-Zu­ge­hö­rig­keit ge­ra­de recht, da­mit die Mi­kro­fo­ne sich wie­der auf ihn rich­ten. Und Strauß und Hand­ke hat­ten das Pech, zum fal­schen Zeit­punkt ih­re Streit­schrif­ten oh­ne viel Ge­gen­lie­be zu ver­öf­fent­li­chen. Be­rufs­ri­si­ko. Strauß ist heu­te harm­los im Ver­gleich zur spe­zi­fi­schen und sa­lon­fä­hi­gen Sar­ra­zin­schen Het­ze. Und der Bal­kan­krieg der 1990er in­ter­es­siert heu­te nur noch die Be­trof­fe­nen (Tä­ter und Op­fer). Der ein­zi­ge Ge­win­ner die­ser »Vie­rer­ban­de« ist für mich Wal­ser – als Wort­füh­rer der »Auschwitz-nervt«-Fraktion, die in Deutsch­land im­mer schon die Mehr­heit bil­de­te.

    Zur kom­mer­zi­el­len Ver­strickung der Kri­tik – zu­min­dest der Haupt­mul­ti­pli­ka­to­ren wie Frau von Loven­berg – hat­te ich ja schon et­was auf Per­len­tau­cher ge­sagt. Frau von Loven­berg wird für ih­re Mo­de­ra­ti­ons­tä­tig­keit ho­no­riert. Ob dort Gott­schalk oder die Ro­che sitzt: Na­men ha­ben Mar­ken- und Markt­be­deu­tung. Da wird von Loven­berg schnell selbst zur Mar­ke mit ent­spre­chen­dem Markt­wert. Glei­ches läßt sich na­tür­lich auch von Scheck (oder MRR/Raddatz) sa­gen. Das ist TV-Macht und ‑Markt. Der GEZ-Pool ist üp­pig. Wir soll­ten aber be­den­ken, daß die ei­gent­li­che De­ka­denz ganz wo­an­ders liegt: bei Jauch, Schmidt, Gott­schalk, dem Ta­ges- und Abend­pro­gramm der Öf­fent­lich-Recht­li­chen, Ta­ges­schau in­klu­si­ve. DORT wird der Un­geist pro­du­ziert, nicht bei Herrn Scheck, ja noch nicht ein­mal bei Frau von Loven­berg (in der Re­gel).

  52. @metepsilonema, hängt da­von ab, wie Sie »Netz« de­fi­nie­ren wol­len. Ich se­he die User-PCs im­mer als Teil des Net­zes. Das Netz rea­li­siert sich erst über die Hard- und Soft­ware Ih­res Rech­ners, der über ei­ne Netz­ver­bin­dung ver­fügt. Herrn Keu­sch­nigs Blog be­fin­det sich ge­ra­de – im Mo­ment des Tip­pens – in mei­nem Ar­beits­spei­cher.

    Wis­sen­schafts­re­zep­ti­on und Pu­bli­ka­ti­ons­flut? Rie­sen­pro­blem, kei­ne Fra­ge. Ich ha­be mal ver­sucht, die­ses Pro­blem für mich selbst mit tech­ni­schen Mit­teln der Com­pu­ter­lin­gu­istik zu lö­sen. Das ist aber ei­ne sehr har­te Nuß. So­mit deu­te ich an, wo­für ich das Netz haupt­säch­lich brau­che: IT im All­ge­mei­nen, mo­men­tan Game De­sign im Be­son­de­ren.

    Ein un­ter­schieds­lo­ses Sein-wie-es-ist. To­tal und un­ge­schie­den. All­um­fas­send. Sie wer­den un­schwer er­ken­nen, daß ich ei­ne my­sti­sche Po­si­ti­on ver­tre­te.

  53. Ich for­de­re kei­ne »in-depth«-Analyse von der Li­te­ra­tur­kri­tik – we­der im Fern­se­hen noch im Print-Feuil­le­ton. Hier­für gibt es die Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft. Aber schau­en Sie sich doch die Kri­ti­ken an: Die be­stehen im ge­schrie­be­nen Feuil­le­ton zu­meist zu 70% aus In­halts­an­ga­ben. Die Kurz­kri­ti­ken be­stehen aus 100% Meinung(en). Ei­ne Syn­the­se zwi­schen bei­den Tei­len pas­siert zu sel­ten. Da fin­de ich die Kin­der­gar­ten­be­wer­tung man­cher Li­te­ra­tur­blogs zwi­schen ei­nem und fünf Ster­nen ehr­li­cher.

    Es be­steht m. E. kaum ein Un­ter­schied zwi­schen dem Fern­seh-MRR und dem Schrei­ber-MRR. Bei­den ist ge­mein, dass sie ein fest­ge­füg­tes Welt­bild ha­ben und dann die Li­te­ra­tur, die sie ge­ra­de ha­ben, da­mit ver­glei­chen. Das wer­fe ich MRR gar nicht vor. Ich wer­fe ihm die­ses Heuch­le­ri­sche vor, »dem Le­ser« da­mit die­nen zu wol­len: das apo­dik­ti­sche Ur­teil (wel­ches sich an ein ganz be­stimm­tes Li­te­ra­tur­bild ab­ar­bei­tet) ist dann auch noch mes­sia­nisch. Das ist of­fen­sicht­lich ei­ne Be­rufs­krank­heit der so­ge­nann­ten Kri­ti­ker. Zu be­ob­ach­ten bei sei­ner »En­ke­lin« Frau Hei­den­eich und auch bei Herrn Scheck, der sei­ne Emp­feh­lung im­mer gar­nie­ren muss mit der Phra­se (sinn­ge­mäß): »Ver­trau­en Sie mir, ich weiss, was ich tue«. (Rad­datz hat sich vom Fern­se­hen ja im­mer eher ab­sen­tiert.)

    Ich ver­heh­le nicht, dass ich das Ge­spräch des Kri­ti­kers mit ei­nem Au­tor für die schlech­te­ste Mög­lich­keit hal­te, ein Buch li­te­ra­tur­kri­tisch vor­zu­stel­len. Wo­bei ich gar nicht Wert dar­auf le­ge, dass je­mand mit An­dré-Mül­ler-Po­se den Ge­sprächs­part­ner an­geht – aber ein biss­chen mehr dürf­te es schon sein. Das gilt na­tür­lich nicht nur für Scheck, der in sei­ner »Druckfrisch«-Sendung auch noch die In­sze­nie­rung in­sze­niert, und so­mit ei­ne ge­wis­se Iro­nie ste­hen lässt.

    Und na­tür­lich gibt es zu al­len mög­li­chen Me­di­en­for­ma­ten noch schlech­te­re Aus­füh­run­gen. Aber nur weil ein Hü­gel von 200 m in den Nie­der­lan­den die höch­ste Er­he­bung ist, kann man ihn noch nicht mit dem Ei­ger ver­glei­chen.

    Wenn Sie nur ein biss­chen Ah­nung von Hand­ke hät­ten, wüss­ten sie, dass der Vor­wurf sein Ser­bi­en-En­ga­ge­ment sei aus kom­mer­zi­el­len Grün­den ge­sche­hen, Un­sinn ist. Selbst bei Grass’ »Zwie­bel« glau­be ich das nicht. In­ter­es­sant bei Grass’ SS-»Geständnis« ist ja, dass das Buch wohl schon wo­chen­lang in den Re­dak­ti­ons­stu­ben lag und nie­mand die­se Stel­le ent­deckt hat­te. Erst im In­ter­view mit der FAZ wur­de die Sa­che dann »ent­deckt«. Das war ei­ni­ge Ta­ge vor der Ver­öf­fent­li­chung für’s Pu­bli­kum. Al­ler­dings: Auf die Idee, Grass ha­be 50 Jah­re mit die­sem »Ge­ständ­nis« ge­war­tet, um dann da­mit Geld zu ma­chen, muss man erst ein­mal kom­men. Es sagt ei­ni­ges über die aus, die es sa­gen (fin­de ich).

    Über die po­li­ti­schen Ein­las­sun­gen von Grass’ sind wir ver­mut­lich ei­ner Mei­nung. Auch hier glau­be ich aber, dass man ihn in die Po­si­ti­on des Mo­ral­apo­stels über die Jahr­zehn­te hin rein­ge­schrie­ben hat. Kul­tur­jour­na­li­sten glau­ben ja, dass ein Schrift­stel­ler (oder an­de­rer Künst­ler) be­son­ders be­fä­higt ist, po­li­ti­sche Aus­sa­gen von Re­le­vanz zu tref­fen. Das trifft ab und an ja durch­aus auch zu, aber es ist nicht zu ge­ne­ra­li­sie­ren. Die Bei­spie­le, die das Ge­gen­teil be­zeu­gen, sind Le­gi­on. War­um man aber im­mer glaubt, die so­ge­nann­ten In­tel­lek­tu­el­len sei­en scharf­sin­ni­ge­re Men­schen als an­de­re, ist si­cher­lich dem Phä­no­men der me­dia­len Prä­senz ge­schul­det. So lädt man ja in deut­schen Talk­shows im­mer wie­der Pro­mi­nen­te ein, die zwar zum ei­gent­li­chen The­ma nichts bei­zu­steu­ern wis­sen (au­ßer ih­rer »Mei­nung«), aber dann durch den Pro­mi-Fak­tor »glän­zen«.

    Was Sie zu Loven­berg und »Markt­wert« sa­gen, ist na­tür­lich rich­tig. Ähn­li­ches gilt ja für ih­re te­le­ge­ne Mit­strei­te­rin Thea Dorn (bei­de ha­ben im SWR-Fern­se­hen die Sen­dung »Li­te­ra­tur im Foy­er«). Die ei­ne soll zur Star­kri­ti­ke­rin wer­den (man sieht förm­lich, wie sich Tho­mas Gott­schalk als Ker­be in ih­rem Le­bens­lauf ein­schnitzt), die an­de­re Star­in­tel­lek­tu­el­le. Ir­gend­je­mand, der sich noch an Thea Dorns Kri­mis und de­ren Qua­li­tät er­in­nert?

  54. @Michael Platt­ner

    Ein un­ter­schieds­lo­ses Sein-wie-es-ist. To­tal und un­ge­schie­den. All­um­fas­send. Sie wer­den un­schwer er­ken­nen, daß ich ei­ne my­sti­sche Po­si­ti­on ver­tre­te.

    Aber war­um das noch Kunst nen­nen? Wä­re das nicht viel­mehr ihr En­de? Zu­min­dest des Schaf­fens von Kunst (nicht un­be­dingt der Re­zep­ti­on)?

  55. Gut, Herr Keu­sch­nig. Wir kön­nen jetzt sei­ten­lang un­se­re Mei­nun­gen über Schwä­chen und Stär­ken der Sze­ne-Dar­stel­ler und Show­grö­ßen vor­tra­gen. Ei­tel­kei­ten und Grö­ßen­wahn sind wohl je­dem ei­gen, der sich bis zum Fern­se­hen vor­ge­kämpft hat, ob nun Schrift­stel­ler oder Kri­ti­ker. Ich stim­me Ih­nen zu, daß es er­heb­li­che Pro­ble­me in der Li­te­ra­tur­ver­mitt­lung gab/gibt, teil­wei­se for­mat­be­dingt, teil­wei­se qua­li­täts­be­dingt. Sonst wä­re mir auf Per­len­tau­cher nicht die Gal­le über­ge­lau­fen.

    Thea Dorns Kri­mis ha­be ich nicht ge­le­sen, aber das Gen­re und die Gen­der-Stu­dies-be­ein­fluß­ten The­men der Frau Dorn las­sen nichts Gu­tes ver­mu­ten. Uni-Stoff meets Sex&Crime. Wer ge­zielt »Kri­mis« schreibt, ist Op­fer der Gen­re-Ki­sten oder hofft (ver­geb­lich) auf Ver­kauf. Trotz­dem muß man Frau Dorn las­sen, daß sie ge­nau über das in­tel­lek­tu­el­le (Uni-)Training ver­fügt, das Frau vL ver­mis­sen läßt. Frau Dorn lei­det sicht­lich, wenn Herr Wal­ser an­ge­trun­ken von sei­ner »ora­len Ob­ses­si­on« lallt. Bald zum zwei­ten Mal im TV. Oder wur­de das schon aus­ge­strahlt!? Frau vL lei­det in an­de­rer Hin­sicht, wenn sie sich so­gar vom aus­ge­bil­de­ten Deutsch­leh­rer Gott­schalk, der sei­nen Ho­mer als Ju­gend­li­cher ge­le­sen hat, über Li­te­ra­tur-Qua­li­tä­ten be­leh­ren las­sen muß. Frau vL tat mir fast et­was leid. Wirk­te ir­gend­wie an­ge­grif­fen und platt­ge­bü­gelt, ein­ge­schüch­tert. Mög­li­cher­wei­se gab es FAZ-in­ter­ne De­bat­ten über den zu­künf­ti­gen Kurs. Man­che Le­ser­brie­fe müs­sen hart ge­we­sen sein.

    Ich ge­be zu, zur sim­pel­sten Er­klä­rung für Hand­kes Ser­bi­en-Tick ge­grif­fen zu ha­ben. Da aber selbst Ihr In­si­der-In­ter­view mit sei­nem Über­set­zer ein zwie­späl­ti­ges Licht auf Herrn Hand­ke wirft, bzw. ihn als ei­nen lau­ni­schen Ma­ni­pu­la­tor der Pres­se und der In­ter­view-Part­ner zeigt, wür­de mich mal in­ter­es­sie­ren, was denn Ih­rer Ken­ner-Mei­nung nach, Herr Keu­sch­nig, Herrn Hand­ke zur Serbien-»Verteidigung« be­wo­gen hat?

    So, wie Sie die »Zwiebel«-Einführung beim Le­ser über ein Vor­ab-In­ter­view mit der FAZ dar­stel­len, EXAKT so stel­le ich mir ei­nen per­fek­ten PR-Coup des Herrn Grass vor. Es reicht schon lan­ge nicht mehr bei die­ser Me­di­en- und Pu­bli­ka­ti­ons­dich­te, daß Sie ein gu­tes Buch ge­schrie­ben ha­ben. Die Qua­li­tät des Bu­ches ist fast ir­rele­vant ge­wor­den. Sie be­nö­ti­gen ei­ne gut ge­tim­te Mar­ke­ting-Kom­bi­na­ti­on aus Ju­gend oder Pro­mi-Sta­tus und Pro­vo­ka­ti­on, da­mit Ver­lag und Au­tor sich wirk­lich freu­en kön­nen. In un­se­rer Zeit hat Frau Ro­che den Her­ren Grass und Hand­ke längst das Was­ser ab­ge­gra­ben, wie die Auf­la­gen­stär­ken be­le­gen. Das be­deu­tet et­was. Herr Grass hat tat­säch­lich 50 Jah­re mit sei­nem SS-Ou­ting ge­war­tet, ein frü­he­res Be­kennt­nis hät­te ihn ähn­lich wie Hand­ke oder Strauß ernst­lich im Er­folg be­droht. Nein, nein, das kam schon zum rech­ten Zeit­punkt. Ich bin mir zu 100% si­cher, daß Herr Grass sei­ne Waf­fen-SS-Mit­glied­schaft schon bei der Nie­der­schrift als ver­kaufs­för­dern­de An­ek­do­te mit Skan­dal­po­ten­ti­al ein­ge­schätzt hat. Ver­gleich­bar Wal­ser mit sei­nem »neu­en« Ausch­witz-Ver­ständ­nis als »Be­lä­sti­gung«. Al­te Her­ren punk­ten ge­ra­de noch ziel­grup­pen­ge­recht mit dem Drit­ten Reich, jun­ge Da­men mit ei­nem gu­ten Blo­wjob.

    Der spä­te­re Herr Grass zeigt sich mir in mei­ner Werk­aus­ga­be sei­ner »Es­says und Re­den« (bis 1997) als ein buch­stäb­li­cher Mo­ral­apo­stel mit gro­ßem Glau­ben an sei­ne Ge­wich­tig­keit. Ich glau­be, er ach­te­te im­mer schon mehr auf den Klang sei­ner An­spra­chen, als auf de­ren In­hal­te, die sich wie kul­tur­kri­ti­sches Ver­satz­stück­werk aus­ma­chen. Kei­ne Ori­gi­na­li­tät, nir­gends.

  56. Weil es Kunst IST,@metepsilonema. Die Kunst der Schöp­fung. Die­se um­faßt so­wohl Ihr Selbst wie auch das »ir­di­sche« Kunst­werk, das Ihr Selbst ma­ni­fe­stiert. Selbst und Kunst­werk sind ih­rem We­sen nach un­er­schöpf­lich und un­er­gründ­lich wie die Schöp­fung selbst. So ent­steht das Eco­sche, Of­fe­ne Kunst­werk mit sei­nen zahl­lo­sen In­ter­pre­ta­tio­nen und »Les­ar­ten«, per­spek­ti­vi­sche Bre­chun­gen Ih­res Ich/Egos. Sie ha­ben das­sel­be Pro­blem auch in den gei­stes­wis­sen­schaft­li­chen Her­me­neu­ti­ken, z.B. in der Ge­schichts­wis­sen­schaft, in der das hi­sto­ri­sche »Er­eig­nis« als to­ta­le Sze­ne (Kin­der sin­gen Lie­der der fran­zö­si­schen Re­vo­lu­ti­on ...) je nach Per­spek­ti­ve des For­schers ganz an­de­re Wirk­lich­keits­aspek­te of­fen­bart (po­li­ti­sche Ge­schich­te der Stadt Pa­ris, So­zi­al­ge­schich­te der Kind­heit, Me­di­en­ge­schich­te etc.). In­ters­sant wä­re die Fra­ge, wie­vie­le und wel­che »Les­ar­ten« das mensch­li­che Ich tat­säch­lich kennt/kennen kann. Tat­säch­lich un­end­lich vie­le?

  57. @Michael Platt­ner #57

    Ich glau­be nicht, dass es sich bei Grass’ Waffen-SS-»Geständnis« um ei­nen lan­ge vor­be­rei­te­ten PR-Coup han­del­te. Zwar hat er mit dem FAZ-In­ter­view dem Skan­da­lon Fut­ter ge­ge­ben, aber das hät­te er auch fünf oder zehn Jah­re vor­her tun kön­nen. Ich glau­be nicht, dass es das pri­mä­re Ziel war, über die­ses »Ge­ständ­nis« auch noch Auf­la­ge zu ge­rie­ren (was ja der Vor­wurf von Frau Knob­loch war). Zu­mal ja – an­geb­lich? – der Sach­ver­halt bei »In­si­dern« durch­aus be­kannt ge­we­sen sein soll.

    Dass man Grass spä­te­stens seit den 70er Jah­ren als das mo­ra­li­sche Ge­wis­sen Deutsch­lands nahm und er die­se Rol­le dann ir­gend­wann auch mit ent­spre­chen­dem Ha­bi­tus aus­füll­te, ver­mag man ihm an­la­sten. Wenn man sein »Ta­ge­buch« von 1990 liest, weiss man um die Be­schrän­kun­gen von Grass’ po­li­ti­schem Bild. Den­noch hät­te man sein »wei­tes Feld« nicht zer­rei­ssen dür­fen, wie dies MRR ge­macht hat.

    Es ist eben auch ei­ne Sa­che der me­dia­len In­sze­nie­rung, je­man­den in die­se Rol­le hin­ein­zu­trei­ben. Dass sich Schrift­stel­ler (und In­tel­lek­tu­el­le all­ge­mein) als po­li­ti­sche Kräf­te füh­len sol­len, wird ih­nen mehr und mehr zu­ge­schrie­ben. Den­ken Sie an die »Pro­te­ste« von so­ge­nann­ten Men­schen­rechts­grup­pen, die Preis­ver­ga­ben an Ta­ra Ben Jell­oun und den sy­ri­schen Schrift­stel­ler Ado­nis mit der Be­grün­dung kri­ti­sier­ten, bei­de setz­ten sich nicht ge­nü­gend von den po­li­ti­schen Re­gi­men ih­rer Hei­mat­län­der ab. Ein mei­nes Er­ach­tens ab­sur­der Vor­wurf, so lan­ge es sich um ei­nen Li­te­ra­tur­preis han­delt.

    Hin­zu kam, dass das links­li­be­ra­le Estab­lish­ment von Grass maß­los ent­täuscht war. Dies er­klärt die Ve­he­menz. Bei Sta­si-Schrift­stel­lern ver­fuhr man sehr viel mil­der; Grei­ners At­tacke auf Chri­sta Wolf zu Be­ginn der 90er Jah­re wur­de mehr oder we­ni­ger ab­ge­schmet­tert – nicht um­sonst ver­tei­digt Grass Wolf ja. Das hat da­mit zu tun, dass man ei­nem Sart­re sei­ne po­li­ti­schen Dumm­hei­ten im­mer mehr ver­ge­ben hat­te als ei­nem Ham­sun. Man »durf­te« in den 50er/60er Jah­ren glü­hen­der Sta­lin-An­hän­ger sein – das galt/gilt als »Un­fall«. Als 17jähriger in ei­ner Waf­fen-SS-Ein­heit ge­we­sen zu sein als mo­ra­li­sche Ka­ta­stro­phe. Der Gip­fel der Heu­che­lei war dann die Fra­ge, war­um Grass dies nicht vor­her be­kannt ge­macht ha­be: Das »Schick­sal« all de­rer, die in den 50er/60er Jah­ren als »Nazi«-Schriftsteller gal­ten, muss­te Grass Ab­schreckung ge­nug sein.

    Und da schließt sich – nicht nur bei Ih­nen- der Kreis: Be­trach­ten die doch bit­te den »Hea­der« der Süd­deut­schen Zei­tung für das Li­te­ra­tur-Res­sort: Hier. – Grass ne­ben Ro­che und ein zei­ge­fin­gern­der Reich-Ra­nicki. Q. e. d.

  58. Neu­lich rief El­len an, sie ist 45 und zwei­te Kraft der Pres­se­ab­tei­lung ei­nes Au­to­kon­zerns. El­len liest gern Ro­ma­ne, sie liest auch län­ge­re Re­zen­sio­nen und kauft manch­mal, was da emp­foh­len wird. Neu­lich be­nö­tig­te sie ein Ge­schenk für ei­ne Kol­le­gin. Wenn es den Dicken da im Fern­se­hen nicht gä­be, den mit der Ton­ne, sag­te El­len, dann wä­re ich auf­ge­schmis­sen ge­we­sen. Sie such­te ein Buch, das sie gu­ten Ge­wis­sens ver­schen­ken könn­te, oh­ne ein Wort selbst ge­le­sen zu ha­ben. Ein Buch, das vie­le le­sen, aber kei­nen Schrott, An­spruch soll es schon ha­ben. Da kam ihr der Dicke aus dem Fern­se­hen, der mit der Ton­ne, ge­ra­de recht. Wel­ches Buch sie ge­kauft ha­be, frag­te ich, weiß ich nicht mehr, sag­te sie, ir­gend­ei­ne Ser­bin, die in der Schweiz lebt, den Na­men ha­be ich ver­ges­sen, das Ge­schenk aber war ein Voll­tref­fer.

    Dann saß ich am frü­hen Abend in ei­nem Re­stau­rant. Am Ne­ben­tisch ein dick­li­cher End­vier­zi­ger, ihm ge­gen­über ei­ne zehn Jah­re jün­ge­re et­was zu schö­ne, zu glat­te Frau. Ich sah, er war der Fir­men­chef, sie ran­gier­te in der Hier­ar­chie nicht mehr als zwei Stu­fen tie­fer. The­ma war ei­ne Zei­tungs­bei­la­ge, die ge­plant wur­de, ei­ne Mes­se stand be­vor. Dr. Dick­lich kam so­fort zur Sa­che: Das hier wird der Auf­ma­cher! Frau Zug­latt sag­te, da lie­ge ihr schon was vor, nur ha­be der Au­tor ein zwei Vor­be­hal­te. Dann macht das ein an­de­rer, sag­te Dr. Dick­lich, der Fein­wein, der fin­det das gut, der macht ei­ne Hym­ne, sag doch dem Be­scheid. Mach ich, sag­te sie. Ich sah ihr an, dass sie das Ding, das Auf­ma­cher wer­den soll­te, nicht be­son­ders toll fand, ich sah ihr an, sie hielt nicht viel von Fein­wein. Aber sie nick­te und nick­te. Dann fiel ihr ein, dass Fein­wein ge­ra­de im Kran­ken­haus liegt. Dann mach du das, sag­te Dr. Dick­lich. Frau Zug­latt fand das blöd, wie ich er­ken­nen konn­te, aber sie frag­te nur, wie­viel Zei­len es sein sol­len. Na ei­ne gan­ze Sei­te!

    Neu­lich schrieb ein Klatsch­re­por­ter von der Mes­se, der Dicke aus dem Fern­se­hen, der mit der Ton­ne, und Frau Zug­latt hät­ten bei ei­nem Es­pres­so köst­lich über ih­re Chefs her­ge­zo­gen, der Dicke über den Pro­gramm­di­rek­tor, der ein zwei Sa­chen in den Gift­schrank ver­bannt ha­be, und Frau Zug­latt über den Her­aus­ge­ber, der sich in al­les ein­mi­sche.

    El­len rief wie­der an. Sie le­se das Buch, das neu­lich auf Sei­te eins so ge­lobt wur­de. Es lang­wei­le sie. Sie kau­fe jetzt ein an­de­res, das be­kam kei­ne po­si­ti­ve Kri­tik, ist aber wohl eher was für sie.

  59. @Michael Platt­ner
    Die­se Sicht­wei­se er­wei­tert den Kunst­be­griff auf die nicht von Men­schen ge­schaf­fe­ne, be­leb­te und un­be­leb­te Welt (ich zäh­le die Ge­burt ei­nes Le­be­we­sens jetzt ein­mal nicht als Schaf­fen, ob­wohl man dar­über dis­ku­tie­ren kann). Kon­sti­tu­ie­rend wä­re nach wie vor ih­re In­ter­pre­ta­ti­ons­be­dürf­tig­keit (Un­ent­scheid­bar­keit, Leer­stel­le, Viel­deu­tig­keit, etc.).

    Auf Ih­re Fra­ge kann man aus sy­stem­theo­re­ti­scher Per­spek­ti­ve ant­wor­ten: Ei­ner­seits ent­schei­den die Zei­chen, die ein Kom­mu­ni­ka­ti­ons­part­ner ver­wen­det über das Ver­ständ­nis ei­ner Bot­schaft, an­de­rer­seits, der Kon­text des­je­ni­gen, der die Bot­schaft über­nimmt, al­so sein Ver­ständ­nis von Welt, sein Wis­sen, sei­ne Ge­fühls- und Er­fah­rungs­räu­me, das wor­in er die Bot­schaft ein­bet­tet. Kei­ne Bot­schaft ist ein­deu­tig, aber man kann zu­min­dest in­ner­halb ei­nes kul­tu­rel­len Kon­texts, den Grad an Ein­deu­tig­keit mit­be­stim­men (sta­ti­stisch ge­se­hen zu­min­dest).

    Die­se Viel­schich­tig­keit, al­so Un­mög­lich­keit der De­fi­ni­ti­on was das Selbst oder der Mensch sind, soll­te man aus ei­ner hu­ma­nen Per­spek­ti­ve nicht ge­ring schät­zen (sie­he auch hier).

  60. Puh! ... Ich brauch­te erst­mal ei­nen Tag Pau­se, wir kom­men hier ja wirk­lich vom Stöck­chen Ro­che zum Wald der Li­te­ra­tur. Aber es juckt mir bei die­ser Dis­kus­si­on dann doch in den Fin­gern.

    Ich ma­che das mal so wie Sie, Herr Keu­sch­nig: ich kenn­zeich­ne die Post­num­mer, dann muß ich Sie nicht per­ma­nent di­rekt an­spre­chen (was manch­mal un­frei­wil­lig ag­gres­siv wir­ken mag ...).

    @Gregor Keu­sch­nig #59

    Ich glau­be, wir dre­hen uns eher ge­mein­sam im Kreis, als daß er sich schlie­ßen will (da­bei ma­chen Sie so vie­le wei­te­re, in­ter­es­san­te Th­reads auf ...). Es war nicht mei­ne In­ten­ti­on zu sug­ge­rie­ren, Herr Grass ha­be sich 1945 vor­ge­nom­men, sei­ne SS-Mit­glied­schaft in 50 Jah­ren li­te­ra­risch zu ver­wer­ten. So ab­surd den­ke ich nicht. Was ich mein­te, war: er hat das für ihn gün­stig­te Zeit­fen­ster ge­wählt, um mit mi­ni­ma­lem Scha­den und ma­xi­ma­lem Ge­winn die­se klei­ne SS-An­ek­do­te, die im Ver­gleich zum all­be­kann­ten Sal­ba­dern der rest­li­chen »Zwie­bel« auch fast die EINZIGE in­ter­es­san­te Neu­ig­keit ge­we­sen ist, als »Aufhänger«/»Zugpferd«/»Gimmick« etc. zu miß­brau­chen. Frau Knob­loch hat­te recht. Die­ses hat et­was mit der Ausch­witz-Re­zep­ti­on im BREITEREN deut­schen Pu­bli­kum zu tun. Deutsch­land hat­te ge­nau zwei De­ka­den, um sich Ausch­witz über­haupt kri­tisch und um­fas­send zu nä­hern. Im Zeit­raum 1980 bis 2000 fin­det Ausch­witz zur BREI­TEN­wir­kung in Film, TV und Pres­se, in der Nach­kriegs­zeit müh­sam von ein­zel­nen Vor­kämp­fern der Gei­stes­wis­sen­schaf­ten und de­ren Schü­lern gut vor­be­rei­tet (Ador­no, Are­ndt, Lanz­mann, ei­ni­ge mu­ti­ge »Nest­be­schmut­zer« und NS-Op­fer wie Ko­gon, Lang­bein etc.). Es fin­det auch ver­stärkt Auf­nah­me in den Schul­un­ter­richt. Vor 1980 wur­de lang­haa­ri­gen »Gamm­lern« auf of­fe­ner Stra­ße Ar­beits­la­ger und Gas­kam­mer vom Bür­ger ins Mi­kro­fon des TV-Sen­ders an­ge­droht. Das war das Durch­schnitts­be­wußt­sein Deutsch­lands in der Ausch­witz-Fra­ge. Ne­ben dem be­wuß­ten Schwei­gen der Vie­len, die ak­tiv und mit­schul­dig »da­bei« wa­ren – und ih­re Be­ru­fe als In­ge­nieu­re, Ärz­te, Rich­ter, An­wäl­te, Po­li­ti­ker, Hoch­schul­leh­rer und Pu­bli­zi­sten hoch­de­ko­riert aus­üb­ten oder schon ih­ren üp­pi­gen Ru­he­stand ge­nos­sen. Die­se gei­sti­ge Kä­se­glocke wur­de erst mit der Aus­strah­lung der ame­ri­ka­ni­schen TV-Se­rie »Ho­lo­caust« zer­trüm­mert, ei­ne Art un­ge­plan­ter Spät­auf­klä­rung durch die Be­sat­zungs­macht (für Hol­ly­wood war Ausch­witz schon längst Pulp- und Soap-Stoff ). Die Te­le­fon­an­ru­fe von be­stürz­ten, schluch­zen­den und sich recht­fer­ti­gen­den Führer-»Muttis« (»Wir wuß­ten das doch nicht!«) beim Sen­der wa­ren Le­gi­on. Es wur­de ex­tra ei­ne Seel­sor­ge-Sta­ti­on zur Nach­be­treu­ung der »Holocaust«-Zuschauer ein­ge­rich­tet. Wür­gen­de und wü­ten­de Schuld­ge­füh­le, lang ver­dräng­te Er­in­ne­rungs­bil­der. Hi­sto­ri­ker­streit, Spie­gel, zu­neh­men­de Pu­bli­ka­ti­ons­dich­te, Gui­do Knopp und nicht zu­letzt »Schind­lers Li­ste« sen­si­bi­li­sier­ten ei­ne brei­te­re deut­sche Öf­fent­lich­keit zum er­sten Mal für ei­ne kom­ple­xe und grau­en­haf­te Ver­gan­gen­heit. Wenn Sie jetzt schrei­ben, Herr Keu­sch­nig, Grass hät­te auch vor 10 Jah­ren, al­so Mit­te der 1990er sei­ne »Zwie­bel« ge­trost ver­öf­fent­li­chen kön­nen, so wä­re dies der denk­bar un­gün­stig­ste Zeit­punkt des Hö­he­punk­tes der Ausch­witz-Re­zep­ti­on in Deutsch­land ge­we­sen: 50 Jah­re La­ger Ausch­witz auf al­len Sen­dern und Ka­nä­len. Und 5 Jah­re, al­so um das Jahr 2000 her­um, das wä­re noch zu nah am Glut­ofen ge­we­sen, an dem sich Wal­ser die Fin­ger erst ver­brannt, dann ge­wärmt hat. Wal­ser, der auch 1978 (wie von Gün­ter Amendt kol­por­tiert) Bob Dy­lan für ei­nen ‘her­um­zi­geu­nern­den Is­rae­li­ten’ – und spä­ter MRR für ei­nen ty­pi­schen Ju­den hielt. So­viel zur deut­schen, durch das nicken­de Pu­bli­kum hoch­ge­spül­ten »Gei­stes­eli­te«. Seit 2001 ist Ausch­witz durch den »War on Ter­ror« (und Wirt­schafts­kri­se) aus dem Be­wußt­sein ge­drängt, neue Feind­bil­der sind po­li­tisch und pu­bli­zi­stisch ge­schaf­fen wor­den. So­mit konn­te Grass im Wind­schat­ten der Schäub­le­schen »Ter­ror­ge­fahr« sei­ne SS-An­ek­do­te ver­kau­fen, zu ei­nem Zeit­punkt, wo er selbst mit sei­nen Me­moi­ren sein Al­ters­werk ein­ge­läu­tet hat. Das nimmt, ab­ge­se­hen von den Nach­fah­ren der zu­meist schon ver­stor­be­nen Op­fer, nie­mand mehr ernst – trotz der gan­zen ge­heu­chel­ten Ent­rü­stungs­schrei­be­rei, da ha­ben Sie Recht. Sie dür­fen auch nicht ver­ges­sen, Herr Keu­sch­nig, daß der Buch­markt ex­trem kurz­le­big ge­wor­den ist. Sie brau­chen als Schrift­stel­ler für je­des 2‑Jahresprojekt ei­nen gu­ten Trick, für je­des 5‑Jahresprojekt ei­nen sehr gu­ten Trick. Grass hat­te nur die­sen ei­nen SS-Trick. Der muß­te WENIGE Ta­ge vor der Ver­öf­fent­li­chung an­ge­wen­det wer­den. Denn wei­ter reicht das kul­tu­rel­le Ge­dächt­nis des Feuil­le­tons und sei­ner Le­ser nicht.

    Glau­ben Sie mir, Grass hat sich im­mer ge­schmei­chelt ge­fühlt, wenn man ihm als »In­tel­lek­tu­el­len« zu­hör­te. Die­se Rol­le hat ihm nie­mand auf­ge­drängt, die woll­te er fe­der­füh­rend be­set­zen. Ei­ne Pa­ra­de­rol­le mit Er­folgs­ga­ran­tie in den Glanz­zei­ten des Links­in­tel­lek­tua­lis­mus. Heu­te wirkt da­von das Mei­ste zwangs­läu­fig ver­staubt und zeit­hi­sto­risch, auch zu kurz ge­dacht. Die Uhr hat sich halt wie­der 30 oder 40 Jah­re wei­ter­ge­dreht. Die Ana­ly­se­mit­tel sind heu­te an­de­re.

    In den 50/60er Jah­ren gab es tat­säch­lich sehr vie­le, buch­stäb­li­che Na­zi-Schrift­stel­ler und Lehrer/Hochschullehrer/Publizisten. Die Nicht-Na­zi-Schrift­stel­ler wa­ren ent­we­der tot, emi­griert oder sehr jung. Ich selbst ha­be als Kind ja auch noch Hans-»Denn heu­te hört uns Deutschland/Und mor­gen die gan­ze Welt«-Baumanns Alex­an­der-Feld­zü­ge ver­schlun­gen. So­viel könn­te ich gar­nicht wie­der aus­kot­zen, wenn ich es be­den­ke ... .

    Was Sie zum Hit­ler/­Sta­lin-Kom­plex und sei­nen Spal­tun­gen der »Intellektuellen«-Szene Eu­ro­pas – von Ham­sun, Sart­re bis zu Wolf (als Spät­aus­läu­fe­rin) sa­gen, kann ich nur be­stä­ti­gen. Über die Po­li­ti­zi­tät von Kunst läßt sich al­ler­dings strei­ten. Im al­ten Rom war ei­ne Pu­bli­ka­ti­on im­mer Teil der »res pu­bli­ca«, der öf­fent­li­chen Sa­che (da­her die von den Zeit­ge­nos­sen sehn­süch­tig er­war­te­ten »Hi­sto­ri­en« der Se­na­to­ren im Ru­he­stand – Po­lit­klatsch der Zeit ...). Ich den­ke eher: glück­lich ist der­je­ni­ge Künst­ler, der sich das Weg­schau­en mit gu­tem Ge­wis­sen lei­sten kann. Nur soll­ten sich meist aus­län­di­sche Men­schen­rechts­grup­pen die Fra­ge stel­len, ob sie selbst den Mut auf­brin­gen wür­den, er­mor­det oder inhaftiert/gefoltert zu wer­den, zu­mal, wenn Fa­mi­li­en­an­ge­hö­ri­ge und Freunde/Bekannte mit­be­trof­fen wä­ren.

    Dan­ke für Ih­ren Süd­deut­sche-Link. Den kann­te ich zwar schon, aber der ge­hört un­be­dingt hier­her. Ich hat­te mal vor ein paar Wo­chen den Im­puls, dar­über auch noch auf Per­len­tau­cher zu schrei­ben. Dach­te, aber: laß es gut sein – sonst wirst du ver­hal­tens­auf­fäl­lig. Hat mich an­fangs auf­ge­regt (der Ro­che noch mehr Flä­che ge­ben ...), dann aber als Ge­gen­pro­vo­ka­ti­on der Süd­deut­schen (die FAZ(=MRR): vom No­bel­preis­trä­ger zur Ro­che – al­les ei­ne So­ße!) amü­siert. Schaut wirk­lich lu­stig aus. Der Opa und die En­kel­toch­ter. Deutsch­land, dei­ne Li­te­ra­ten!

    Jetzt hat sich für mich wirk­lich ein Kreis ge­schlos­sen. Ich be­dan­ke mich für die­ses Ge­spräch, Herr Keu­sch­nig.

  61. Schö­ne Glos­se, Herr @Bloch #60!

    Mich wür­de mal in­ter­es­sie­ren, ob Sie für den In­halt bür­gen könn­ten!?

    Wenn ich das rich­tig ent­zif­fe­re, hat Dr. Schirr­ma­cher al­so der ar­men Loven­berg die »Schoß­ge­be­te« ge­ra­de­zu auf­ge­drängt, wäh­rend Herr Scheck auch nur An­wei­sung von Oben hat, die Ro­che zu miß­ach­ten!?

    DAS wä­re Kol­por­ta­ge und Klatsch nach mei­nem Ge­schmack! Don­ner­wet­ter, Herr Bloch, an wel­chen Re­stau­rant-Ti­schen sit­zen Sie denn?

  62. Ja, ge­nau, @metepsilonema #61. Wo­bei sich mir schon seit lan­ger Zeit die Fra­ge stellt, ob Zei­chen und ih­re Kon­tex­te nicht durch kul­tu­rel­le UNIVERSALIA der Welt­wahr­neh­mung und Welt­deu­tung struk­tu­riert wer­den.

    Ich se­he, Sie be­trei­ben wirk­lich flei­ßig ei­ne ei­ge­ne Sei­te mit künst­le­risch-phi­lo­so­phi­scher Aus­rich­tung. Das wer­de ich mir mal ge­nau­er an­schau­en.

    Ei­nem Men­schen Un­aus­schöpf­lich­keit zu­zu­spre­chen, be­deu­tet auch, ihm ei­ne Chan­ce zu ge­ben, an sei­ne Ent­wick­lung zu glau­ben, ihn nicht vor­zu­ver­ur­tei­len, sich von ihm über­ra­schen zu las­sen – sprich: selbst frei vom Vor­ur­teil zu sein. Vor al­lem aber: in ihm das Selbst zu se­hen.

  63. @Michael Platt­ner
    Selbst wenn, da­mit ist es ja nicht ge­tan. Ein pla­ka­ti­ves Bei­spiel: Ein Mensch, der ei­ne Trau­ma­ti­sie­rung durch­lebt hat, wird die­se Welt, Per­so­nen, Din­ge, Zei­chen, in man­cher­lei Hin­sicht an­ders er­le­ben, als je­mand der die­se »Er­fah­rung« nicht ge­macht hat. Und ver­hält es sich, auf ei­ner sub­ti­le­ren Ebe­ne nicht bei je­dem von uns ähn­lich? Mir kommt vor, als teil­ten wir be­stimm­te Grund­la­gen der Wahr­neh­mung von Welt, die dann sub­jek­tiv über­malt wer­den.
    Aber un­be­nom­men da­von: Was für Uni­ver­sa­lia könn­ten das sein?

    Ja, ich be­trei­be und trei­be – und freue mich über (neue) Le­ser und Kom­men­ta­to­ren! Se­hen Sie sich ru­hig um.

    An die Sa­che mit den Vor­ur­tei­len glau­be ich nicht, oder an­ders: Wir kom­men nicht oh­ne aus; es ist viel wich­ti­ger sie wie­der auf­ge­ben zu kön­nen, wenn sie un­zu­tref­fend sind (man könn­te ar­gu­men­tie­ren, dass der Glau­be an ei­ne Ent­wick­lung auch ein Vor­ur­teil ist).

  64. »Und ver­hält es sich, auf ei­ner sub­ti­le­ren Ebe­ne nicht bei je­dem von uns ähn­lich? Mir kommt vor, als teil­ten wir be­stimm­te Grund­la­gen der Wahr­neh­mung von Welt, die dann sub­jek­tiv über­malt wer­den.« (me­tep­si­lo­n­e­ma #65)

    Ex­akt. Und wenn die »Ebe­ne« sehr sub­til ist, dann ver­schmel­zen die Sub­jek­te zu EINEM Sub­jekt. Denn im Grun­de IST der Be­ob­ach­ter das Be­ob­ach­te­te SELBST. Der Arzt ist der Pa­ti­ent und um­ge­kehrt.

    Na­tür­lich kann die­se Vor­stel­lung ei­ne Un­wahr­heit sein. Dann wä­re auch der Glau­be an das Po­ten­zi­al des Ein­zel­nen ein Irr­tum. Den­noch wä­re es bes­ser, man lie­ße das Vor­ur­teil fal­len, denn es blockiert nur, pro­du­ziert oh­ne­hin un­ve­ri­fi­zier­ba­re Ge­dan­ken, die den Blick auf die Wirk­lich­keit ver­schlei­ern. Mit an­de­ren Wor­ten: das, was wir hier be­trei­ben, das »In­tel­lek­tua­li­sie­ren« der (gei­sti­gen) Ob­jek­te un­se­rer Wahr­neh­mung schafft Pro­ble­me und ist letzt­end­lich ein lee­res Spiel der Zei­chen mit zwei­fel­haf­ter Lo­gik als Uni­ver­sa­lie, die nicht trägt, die Wirk­lich­keit nicht aus­hal­ten kann. Es wä­re an­ge­bracht, wie Mi­ch­aux Mes­ka­lin zu schlucken, um klar zu se­hen ... .

  65. Mi­cha­el Platt­ner #62
    Ja, der Kreis hat sich auf wun­der­sa­me Wei­se ge­schlos­sen. Da­bei macht es dann nichts, wenn un­se­re par­ti­el­len Dif­fe­ren­zen of­fen­lie­gen. Mö­ge sich nun je­der sein ei­ge­nes Ur­teil bil­den.

  66. @Michael Platt­ner
    Im all­täg­li­chen Be­wusst­sein exi­stie­ren die­se Un­ter­schie­de aber – zu­min­dest mei­ner Er­fah­rung nach. Ei­ne my­sti­sche (Einheits)erfahrung sagt na­tür­lich et­was an­de­res.

  67. @metepsilonema #68, ge­nau das ist das Di­lem­ma. Be­son­ders, wenn man der my­sti­schen »Er­fah­rung« ei­nen em­pi­ri­schen Wert, al­so ei­ne kon­kre­te Rea­li­tät bei­mißt. Die phä­no­me­no­lo­gi­schen Quel­len sind ja zahl­reich.

  68. Heu­te steht in der »Süd­deut­schen« ein Be­richt über den Stief­va­ter und die »Mar­ke« Char­lot­te Ro­che. Bei al­ler Skep­sis über jour­na­li­sti­sche Be­richt­erstat­tung ein in­ter­es­san­ter Ar­ti­kel, wie ich fin­de. Be­stärkt mich wei­ter, kein Buch von ihr je­mals zu le­sen.

  69. ...und die FAZ setzt die­se Form der Mar­ken­be­richt­erstat­tung in ih­rer Buch­mes­sen­bei­la­ge fort. Sehr ver­rä­te­risch.

    Aber auch die ver­meint­li­che Avant­gar­de spielt mit: Die Preis­ver­ga­be der »In­de­pen­dent Ver­la­ge« wird von Ja­kob Aug­stein und – na? – Char­lot­te Ro­che mo­de­riert. Er­bärm­li­cher geht’s ei­gent­lich nicht mehr.

  70. Ich hat­te vor kur­zem bei Be­kann­ten die Ge­le­gen­heit ein paar Zei­len und Ab­sät­ze der Schoß­ge­be­te zu le­sen; was auch im­mer ein so ober­fläch­li­cher und zu­fäl­li­ger Ein­druck zu sa­gen ver­mag, das Ge­schrie­be­ne war der­art un­rhyth­misch und stol­pernd, dass ich gar nicht lan­ge le­sen woll­te.

  71. Ei­ne Frau schreibt ein Buch und ist er­folg­reich da­mit. Die Welt bleibt wei­ter­hin wie sie ist. Trotz­dem ist das In­ter­net ist voll von Men­schen, die sehr viel Zeit und En­er­gie auf­wen­den, um Frau Ro­ches Ar­bei­ten zu dis­kre­di­tie­ren. Ich ver­ste­he das nicht, habt ihr al­le nichts kon­struk­ti­ve­res zu tun?

  72. @Simon
    Ich dis­kre­di­tie­re Frau Ro­ches Buch nicht, son­dern set­ze es in ei­nen Kon­text. Ver­mut­lich ha­ben Sie mei­nen Text ent­we­der nicht ge­le­sen oder nicht ver­stan­den.