Philosophisches und Aphoristisches von Byung-Chul Han und Botho Strauß
In seinem Buch »Lichter des Toren – Der Idiot und seine Zeit« (LT; 2013) findet Botho Strauß eine konzise Formulierung für das Phänomen des Schwarms im Internet: »Netz-Schwärme sind keine konsumistische Masse, sondern lassen in korrelierten Prozessen dominante Leitsysteme entstehen, die im Kern dieselbe Botschaft verbreiten – in Meinungen, Vorlieben, Verdammungen und Direktiven.« (LT 79)
Diese Form einer Definition ist in Strauß’ ansonsten meist sentenziösem Buch ungewöhnlich. Es könnte jedoch als Leitspruch auch über den unlängst erschienenen Essay »Im Schwarm – Ansichten des Digitalen« von Byung-Chul Han stehen (IS; 2013). Wo Strauß etwas nebulös vom »Plurimi-Faktor« schreibt, der »das Hohe zugunsten des Breiten« abwerte (LT 32), spricht Han vom Schwarm. Wie Strauß unterscheidet Han Masse von Schwarm und spricht zunächst neutral von Menge. »Die neue Menge heißt der digitale Schwarm« (IS 19). Die Unterschiede zur Masse sind immanent. Der Schwarm hat, so die These, keine Seele, keinen Geist. Seele sei »versammelnd«, so Han, der Schwarm bestehe jedoch aus »vereinzelten Individuen«. Eine Masse »offenbart Eigenschaften, die auf die Einzelnen nicht zurückzuführen sind. Die einzelnen verschmelzen zu einer neuen Einheit« (IS 19). Das Ganze ist eben mehr als die Summe seiner Teile. Die Individuen des Schwarms »entwickeln kein Wir.« Sie blieben alleine: »Elektronische Medien…versammeln Menschen, während die digitalen Medien sie vereinzeln.« Der Schwarmteilnehmer, der homo digitalis, sei kein Niemand, sondern ein Jemand, »der sich ausstellt und um Aufmerksamkeit buhlt«. Für Strauß ist der Schwarm sogar bedrohlich: »Wenn sich der Geist des Schwarms als Ordnungsmacht etabliert, schlägt die Stunde der Insurgenten« (LT 41), so heißt es ein wenig bedrohlich.
Han bleibt beschreibend. Das »Medium des Geistes sei die Stille« (IS 32). Die digitale Kommunikation zerstöre diese Stille nicht nur, sie lärme. »Das Nein« des Schwarms (es ist immer ein »Nein«) sei »immer laut«, so Han. Respekt und Rücksicht sind jedoch essentiell für ein konstruktives Miteinander. »Der Respekt bildet sich durch Zuschreibung personaler und moralischer Werte. Der allgemeine Wertezerfall lässt die Kultur des Respekts erodieren.« Es wird kein Respekt mehr gezollt (IS 12). Der Shitstorm im Netz sei Ausbund einer »Kultur der Respektlosigkeit und Indiskretion« (IS 10), eine billige Empörung der Unzufriedenen. Dem Shitstorm fehlt die eine Stimme, daher wird er als Lärm wahrgenommen. « (IS 20)
Im Gegensatz zum Leserbrief früherer Zeiten, der vergleichsweise aufwendig zu händeln war, ermöglichten die digitalen Medien die sofortige zeitnahe Affektabfuhr. Ergänzend möchte man noch einfügen, dass die Schreiber von Leserbriefen unabhängig und unwissend voneinander agierten. Sie wussten und sahen nichts voneinander. Erst auf der entsprechenden Seite der Zeitung, Tage oder gar Wochen später, wurde, von Redakteuren gesammelt und selektiert, der Meinungsstrom ausschnittweise sichtbar. Der Shitstorm ist also nicht nur beschleunigend, sondern auch (in der Theorie) für alle öffentlich. Han nennt ihn ein bisschen verniedlichend »Smart Mob«; das »Smart« wird nicht näher erläutert. Die Rede von der Demokratisierung durch die digitalen Medien wird in Anbetracht des Mob-Wesens ambivalent. Han berührt diesen Punkt nicht.
Strauß ist da deutlicher. Er kokettiert mit der Selbstbezichtigung als »Idiot«, dem »Privatmann« und besteht ausdrücklich darauf, Idiot genannt zu werden. Zunächst ist der Idiot derjenige, der den »Millionen Kleinteufeln des zernagten Alphabets«, den »600 Millionen Netz-Autoren«, die ihr »Unbuch« schreiben, (LT 33) sein »Dagegen« entgegen schmettert (LT 188), freilich längst »ohne Salon und Wirkung« (LT 28). Strauß’ Aphorismen changieren immer wieder zwischen Hybris, Selbstzweifel und Larmoyanz. Ein Blick in die Massenmedien zeigt, dass der »Salon« sehr wohl Kenntnis von Strauß’ Buch nimmt. Der »Idiot« ist in Strauß’ Welt eine Art reaktionärer Hofnarr, ein hochgebildeter Mahner, der jeder sogenannten Demokratisierung skeptisch begegnet. Exemplarisch dafür steht seine Befürchtung, das Wissen durch Verbreitung nivelliert werde. »Die Vielen verdünnen das Gut« (LT 32) lautet die These. Wortgewaltig ruft Strauß eine neue Avantgarde aus, allerdings wissend, auf verlorenem Posten zu stehen. Ständig hat er ein Kippen des Idiotenbegriffs vor Augen. Der »Idiotes« droht durch den »Idioten der Belange, einer willenlosen Puppe an den Drähten öffentlicher Stimmen« verdrängt zu werden (LT 115). Überspitzt formuliert: Der Idiot (Reaktionär) trifft auf den Idiot (des Schwarms; der Transparenz).
Souverän ist…
Nach Carl Schmitt ist derjenige machtpolitisch souverän, der über den Ausnahmezustand entscheidet. Byung Chul-Han paraphrasiert dieses Diktum (zunächst) auf die digitale Welt: Souverän sei derjenige, »wer eine absolute Stille zu erzeugen, jeden Lärm zu beseitigen, mit allem Schlag alle zum Schweigen zu bringen vermag.« Pointiert bedeutet dies: »Souverän ist, wer über die Shitstorms des Netzes verfügt« (IS 13). Übersehen wird zumeist dabei, dass diese Verfügung das Vorhandensein von funktionierenden Hierarchien impliziert. Dabei sagt Han selber, dass der Shitstorm in flachen Hierarchien ablaufe. Die Hierarchielosigkeit anzunehmen ist ein Fehler der Kritiker, die sich die Parolen der Aktivisten zu eigen machen. Die jederzeit mindestens theoretische Möglichkeit, die sofortige Affektabfuhr durchzuführen, bedeutet keinesfalls, dass das Medium hierarchielos ist. Die behauptete Egalität des Netzes ist Verklärung. Tatsächlich kristallisieren sich auch hier Rangstrukturen heraus, die sich meist nicht direkt zeigen.
Oberflächlich betrachtet ist der Blick auf Twitter oder Facebook ähnlich dem eines naturwissenschaftlichen Laien auf einem Ameisenhügel. Das Gewimmel, welches man sieht, hält man für egalitär. Dabei ist das Gegenteil der Fall. Für die Arbeiterameise bleibt die Hierarchie verborgen, in der sie sich bewegt. Auch der Twitterer erkennt zumeist nicht Wurzeln und Hintergründe des Schwarms, in dem er sich bewegt und äussert. Im Unterschied zur Masse, die offen ihre intentionale Gerichtetheit bekennt und Repräsentanten vorweisen kann, bleibt der Schwarm amorph.
Der vermeintliche Ruhm des Kurznachrichtenschreibers ist flüchtig; weit entfernt von den Warhol’schen 15 Minuten. Twitterer und Daumen-Hoch-Aktivisten sind Ameisen, die vielleicht einmal kurz sichtbar geworden sind, bevor sie im Durcheinander wieder unbeobachtet verschwinden. Der Unterschied zum Ameisenhügel ist, dass das Gewimmel der Ameisen dem direkten Überleben der Art dient. Der digitale Schwarm produziert und dient Meinungsströmungen. Hinter den Meinungsströmungen sitzen immer Meinungsführer und Multiplikatoren, die ihre Anschauung allgemein setzen. Nach Strauß ist das Urteilen »der größte Leichtsinn des Gesellschaftsmenschen. Dauernd Urteile zu fällen ist seine verwerflichste Eigenschaft« (LT 127–128). Strauß verwendet Urteil und Meinung synonym. Die Meinung ist die kleinste Münze, die in der Regel im Schwarm als gültiges Zahlungsmittel genügt. Im Schwarm wird versucht mit Münzen ein Haus zu bezahlen.
Welche Rolle nimmt nun die sich im Schwarm zeigende Empörungsgesellschaft im Diskursraum ein? Han konstatiert eine »sehr geringe gesellschaftliche oder politische Relevanz« (IS 15). Es bilde sich lediglich eine »Skandalgesellschaft« ohne Contenance und ohne Haltung. Die Sorge des Wutbürgers im Netz sei »weitgehend« die »Sorge um sich« (IS 16). Dagegen setzt Han den Zorn, der narrativ und episch sei und Handlungen und sogar Dichtung hervorbringe.
…derjenige, der dem Shitstorm standhält
Die digitale Empörung ist also »ein affektiver Zustand, der keine handlungsmächtige Kraft entfaltet«. Die digitalen Schwärme »marschieren nicht«, sie sind »flüchtig und instabil«. Ihr Wir folgt keinem strategischen Plan, sondern nur vereinzelten, zum Teil komplexitätsreduzierten Meinungen oder Parolen, die quantitativ multipliziert werden und somit die Aura der Bedeutung erzeugen sollen. Die Gemeinsamkeit der Schwarmteilnehmer ist immer nur diese konkrete Meinung (oder, wie Strauß ergänzt, Verdammung, Vorliebe, Direktive), die nicht gespiegelt wird. Die Bindungen, die für einen Augenblick erzeugt werden, verpuffen im Datenstrom, wenn sie nicht in anderen Medien fortgeschrieben werden. So hinterlassen Shitstorms kaum dauerhafte Spuren. Insofern kann Hans These über die Macht desjenigen, der über die Shitstorms verfügt, ergänzt werden: Souverän wäre demnach derjenige, der dem Shitstorm standhält.
Han kritisiert – und das ist fast schon Konsens unter Intellektuellen – die Anonymisierung des Netzes vehement. »Anonymität und Respekt schließen einander aus« (IS 9) heisst es apodiktisch. Dabei unterscheidet er nicht zwischen Anonymisierung und Pseudonymisierung. Wenn sich die Teilnehmer nicht klarnamentlich bekennen möchten (wofür es durchaus profane Gründe geben kann, die nicht mit Heckenschützenabsichten verbunden sein müssen), verwenden sie ein Pseudonym. Natürlich gibt es hier Missbräuche, etwa den Gebrauch mehrerer Pseudonyme, mit denen künstlich Relevanz erzeugt werden soll. Aber eine Aussage aufgrund der Pseudonymisierung oder Anonymisierung per se zu diskreditieren, wäre falsch. Ein Ansatzpunkt gegen die sogenannte Anonymität im Netz wäre übrigens die Vergötterung der Transparenz, die häufig von den gleichen Protagonisten verfochten wird. Die Thematisierung dieses Widerspruchs unterbleibt jedoch.
»Das digitale Medium, das die Botschaft vom Boten, die Nachricht vom Sender trennt, vernichtet den Namen« (IS 9), so Han. Tatsächlich ist dieses Verständnis der Koppelung von Botschaften in die Person ein hierarchischer Topos, kommend aus einer Zeit als Honoratioren allein durch ihre Stellung in der Gesellschaft nicht nur Autorität sondern auch Wahrheitsansprüche formulierten. Han revitalisiert und variiert mit seinem kategorischen Bestehen auf den Namen den Geniekult des 18. Jahrhunderts. Im Literaturbetrieb ist diese Kopplung an den Namen längst wieder Usus. Dabei geht es immer weniger um den Text, die Prosa, das Gedicht, sondern um den Autor, die Autorin und dessen/deren Biographie. Er wird zum »Autorendarsteller« (Jochen Jung); sein Werk findet nur noch »bei Gelegenheit statt« (LT 62), z. B. bei Festivals. Der Autor wird zum Event-Manager seiner selbst. Das Verschwinden des Autors ist verschwunden; die Kritik lechzt nach griffigen biografischen Details, um sich nicht mehr länger mit der sperrigen Ästhetik beschäftigen zu müssen.
Der Schwarm kann für Han nur über das Nadelöhr der Vermittlung, der Transformation in ein anderes, dauerhafteres Medium Wirkung erzeugen. Dieses Nadelöhr wird durch die klassischen Türhüter wie Journalisten, Publizisten, Verlage, also klassische Massenmedien belegt. Tatsächlich ist dies immer noch gängige Praxis. Daher suchen so viele souveräne Netz-Protagonisten so schnell wie möglich an die klassischen Medien anzudocken und dort zu reüssieren.
Narzisstische Inseln
Immer häufiger klingen jedoch aus den vermeintlichen Qualitätsmedien selber die Vorbehalte an, etwa wenn vom »Betriebssystem der allgemeinen Banalität« (Christian Schüle) die Rede ist, die zunehmend die Publizistik wie ein Virus zu befallen scheint. Nebenbei: Wasser auf die Mühlen von Botho Strauß. Die Relevanzlosigkeit des Netzes für den scheinbar »seriösen« Debattenraum ist zwar ein Faktum, darf aber nicht generalisierend mit Qualität verwechselt werden. Sie ist sowohl mit der Hierarchie im Medienbetrieb als auch mit dem Interagieren der Schwarmteilnehmer untereinander verbunden. Digitale Vernetzung besteht eben tatsächlich zumeist aus »narzisstischen Inseln von Egos«, so der überaus scharfe Befund (IS 63) (als gäbe es beispielsweise in den akademischen Zirkeln nicht ebensolche »Inseln«). Virulent für das Netz ist jedoch, dass es kein (oder kaum) Miteinander gibt, sondern nur parallele, zum Teil gleiche Handlungen, die über Quantität Bedeutung gerieren sollen. Das Gegenüber, die physische Präsenz des Anderen verschwindet. Der Einbruch des Anderen, so Han, sei nicht möglich (was gewünscht ist). Stattdessen gebe es nur das Gleiche. »Durch das Smartphone spricht nicht der Andere« (IS 35). Das Digitale ist nicht dialektisch, sondern solipsistisch. Immer wieder kann man in sozialen Netzwerken feststellen, wie man dezidiert Leute mit anderen Meinungen »entfreundet« oder »entfolgt« und sich dessen noch rühmt. Aber der »Geist erwacht angesichts des Anderen« (IS 70). Wo dieser fehle verkümmert der Geist, wird, so wusste schon Hegel, zum »toten Sein«.
Die Gleichen glauben, da sie in ihrem Referenzraum auf ausreichende Resonanz stoßen, dass sie Relevanz besitzen. Das ist jedoch ein Trugschuss. Sie sind Bewohner einer platonischen Höhle (die Han treffend »Schattentheater« nennt [T 62]). Wenn sie 3000 Freunde haben, die ihnen folgen, glauben sie, eine Macht außerhalb ihres Netzraumes zu besitzen. Dabei haben Fußballspiele der Dritten Liga oft mehr Zuschauer. »Postings« sind fast immer nur bezogen auf den eigenen Referenzraum wichtig. Außerhalb dessen sind sie zumeist nur Folklore, die bestenfalls von gelangweilten Journalisten als Volkes Meinung missbraucht werden. Han bringt das Wort vom »symmetrischen Kommunikationsraum« auf, in dem »Machtverhältnisse« schwierig zu installieren seien. Wie bereits erwähnt, halte ich diese Einschätzung für nicht richtig. Mit dem Gegensatz symmetrisch vs. asymmetrisch kommt man der Kommunikationsstruktur und auch der Eingeschränktheit nicht auf die Spur.
Die sozialen Netzwerke transportierten, so Han, kein Wissen, sondern Informationen. »Das Wissen liegt nicht vor«. Geprägt wird das Wort vom »Informationsjäger«, der Neuigkeiten lediglich aufhäufe (bzw. weiterleitet, bspw. »retweetet«), statt über sie zu kommunizieren. Kommunikation ist eine Schimäre. Strauß ist mit seiner Klage über die »Rattenplage der Kommunikation« (LT 80) unpräzise. Die Timeline sei »additiv und nicht kumulativ« (IS 50), so Han. Und vor allem sei sie nicht narrativ. Informationen zeichnen sich durch »reine Äußerlichkeit« aus. »Die ungefilterte Informationsmasse lässt…die Wahrnehmung ganz abstumpfen«. » Eine Information oder ein Content, auch mit sehr geringer Signifikanz, breitet sich wie eine Epidemie oder Pandemie rasend im Netz aus. Keine Schwere des Sinns belastet sie« (IS 75), so Han. Ergänzen möchte man: Der Sinn spielt für und im Rahmen der Verbreitung keine signifikante Rolle mehr, da alle Informationen simultan fließen. Der Rezipient wird zum Sucher des Sinns, kann dies aber aus der Quantität gar nicht mehr leisten. Dabei entsteht, so Han, eine Müdigkeit, die die analytischen Fähigkeiten verkümmern lässt. Wichtiges von Unwichtigem zu trennen wird immer schwerer. Es droht Deformation durch Übermass. Wo nur noch gezählt wird verkümmere das Denken, verkümmere die Erzählung (IS 79).
Andere Aussichtspunkte: Müdigkeit, Transparenz und Eros
Han benutzt den Schwarm nur als eine Art Aussichtspunkt um die Verfasstheit der Gesellschaft zu diagnostizieren. So irrelevant das Schwarmverhalten im Netz derzeit auch (noch?) sein mag – es gibt über die eigentlichen Implikationen in den Netzwerken hinausgehende Bedeutungen, die zu gravierenden Veränderungen in kulturellen und gesellschaftlichen Interaktionen und Verhaltensweisen führen. In den letzten Jahren hatte Han schon einige andere Aussichtspunkte für seine Blicke ins Tal inspiziert.
In seinem Buch »Müdigkeitsgesellschaft« (M; 2010) beschäftigte er sich mit einer »neue[n] Topologie der Arbeit« (IS 57), die aus dem arbeitenden Subjekt ein »Leistungsobjekt« (M 5) mache, welches »gefesselt wie Prometheus« in eine Beschleunigung und Dauerpräsenz pressen lasse. Aus der »Disziplinargesellschaft«, die das Individuum glaubte zwingen zu müssen, bestimmte Leistungen zu erbringen, wurde eine »Leistungsgesellschaft«, in der die Subjekte »Unternehmern ihrer selbst« geworden seien: Immer erreich‑, jederzeit abrufbar.
Dieses System der freiwilligen Selbstausbeutung (selbst die »Pause ist nur eine Phase der Arbeitszeit« [IS 48]) ist erfolgreicher als die Ausübung des Zwangs. Strauß dagegen schallend: »Raus aus dem Schlund mit allen verbunden zu sein!« (LT 118) Denn die Folgen dieses »Terrors der Immanenz« (M 17) führen zu psychischen Infarkten wie Burn-Out und Depressionen, zur »Schaffens- und Könnensmüdigkeit« im »nichts ist möglich« (M 23). Dieser Müdigkeit setzt Han kühn die »beredte, sehende, versöhnende Müdigkeit« aus Peter Handkes Essay »Versuch über die Müdigkeit« entgegen. (M 58f) Diese Müdigkeit ist »kein Zustand, in dem alle Sinne ermatten würden. In ihr erwacht vielmehr eine besondere Sichtbarkeit« (M 59). Han bekennt sich zu dieser »immanente[n] Religion der Müdigkeit«, die zum »Nicht-Tun« inspiriere und wendet sie gegen die krankmachende »Aktivgesellschaft« (M 63).
In »Transparenzgesellschaft« (T; 2012) spezifizierte Han seine Theorie von der »Positivgesellschaft«. Baudrillard wird zitiert, der die Positivgesellschaft beherrscht sieht »von der ‘Transparenz und Obszönität der Information in einem Gefüge, in dem es keine Ereignisse mehr gibt’« (T 8). Han konstatiert: »Die Positivgesellschaft verabschiedet sich sowohl von der Dialektik als auch von der Hermeneutik. Die Dialektik beruht auf der Negativität.« Sie nähre »das Leben des Geistes. Das Andere im Selben, das eine Negativspannung erzeugt, erhält den Geist lebendig« (T 12). Die Forderung nach Transparenz dient nach Han zum einen strategisch dazu, Machtinstanzen dauerhaft zu implementieren. Und zum anderen werde die Positivität, d. h. die Ausblendung des Anderen, festgeschrieben. Transparenz leiste der Tendenz zur Uniformierung der Gesellschaft Vorschub, erzeuge einen »starken Konformismuszwang« (IS 30) und sei als »totale Transparenz« totalitär. Die sukzessive Ausschaltung der Negativität führe in die »Hölle des Gleichen« (T 6). In dieser Hölle treffen sich – partiell angewidert – Han und Strauß.
Plädoyer für die Negativität…
Transparenz sei ein wichtiger Baustein der Positivgesellschaft, die das Negative ausblende. Negativität sei jedoch sowohl für das Einzelwesen als auch für eine pluralistisch funktionierende Gesellschaft essentiell. Ein Leben ohne Verborgenheit, ohne Distanz, ohne Schein, ohne Intimität sei nicht wünschbar. In die gleiche Kerbe schlägt Strauß, wenn er der allgegenwärtigen Transparenz- und Bekenntniskultur die Diskretion entgegensetzt. »Diskretion wäre heute das zentrale Widerwort zu allem, was da läuft, sich äußert und sich outet « (LT 31). Im Weltbild der vollkommenen Transparenz wird jeder per se verdächtigt. Am Ende, so Han, stehe eine Kontrollgesellschaft, in der Alle Alle überwachen. Schon bei Rousseau und dessen Verbot des Theaters »lässt sich beobachten, dass die Moral totaler Transparenz notwendig in Tyrannei umschlägt« (T 72). Es ist eine Tyrannei der Ausmerzung des Anderen, wie sie in den schrecklichen Verbrecherdiktaturen des 20. Jahrhunderts ihren Höhepunkt hatte. Han unterlässt einen Hinweis darauf; er emotionalisiert niemals.
Im Ruf nach Transparenz erkennt Han eminente Auswirkungen auf die Politik. Politiker, so die These, hätten keine Visionen, keine Ideen über die bloße Verwaltung des Status quo hinaus mehr, sie gehen dem Wähler nicht mehr voraus (IS 29). Der Einwand ist sehr wichtig, wird von Han aber nur angerissen. Entwickelt man ihn weiter zeigt sich, wie der Repräsentant in der Politik, der Abgeordnete, am Ende nur noch als Abstimmungsobjekt fungieren soll, der mit einem imperativen Mandat den jeweiligen Willen des Wählers auszuführen hat. In den USA gibt es »Wahlmänner«, die man bei der Präsidentenwahl vorgeschaltet hat. Sie besitzen (bis auf wenige Ausnahmen) ein imperatives Mandat.
In der deutschen Politik gibt es streng genommen kein imperatives Mandat. Der Abgeordnete bleibt seinem Gewissen verantwortlich. Wie Transparenz dies entkernt, zeigt sich am so genannten »ZDF-Parlameter«. Die 2009 mit dem Grimme Online-Preis ausgezeichnete Webseite macht kenntlich, wie Abgeordnete im Bundestag zu Gesetzentwürfen abgestimmt haben und protokollieren auch die Anwesenheit. Es gibt inzwischen nur noch wenige Abstimmungen, die geheim durchgeführt werden müssen; meist wird »namentliche Abstimmung« dekretiert. Das Recht, seine Stimme geheim abzugeben, ist jedoch essentiell in einer Demokratie. In Parlamenten von Diktaturen existiert es meist nicht; hier wird offen abgestimmt und damit ein Druck erzeugt, um auf das gewünschte Ergebnis zu kommen. Ein Publizieren über das Abstimmungsverhalten bindet den demokratisch gewählten Abgeordneten stärker an informelle Zwänge durch Fraktion und Partei und erschwert die freie Ausübung seines Mandats. Die namentliche, transparent gemachte Abstimmung im Deutschen Bundestag ist ein Droh- und Disziplinarmittel geworden. Wer sich der Parteiräson verschließt, wird mit einem schlechteren Listenplatz bei den nächsten Wahlen bedroht.
Der Wunsch nach Transparenz zeigt gemäß Han den Verlust von Vertrauen in einer Gesellschaft an; beispielsweise auch zwischen Politik und Bürger. Vertrauen ist jedoch unabdingbar für ein Zusammenleben. Man hätte sich einige Sätze über die Gründe für den innergesellschaftlich stetig wachsenden Vertrauensverlust untereinander gewünscht. Und auch die Merkwürdigkeit, dass gerade die Verfechter der totalen Transparenz gleichzeitig die Anonymisierung bzw. Pseudonymisierung des Internet gutheißen, wird nicht aufgenommen.
Ausgiebig beschäftigt sich Han mit der »Tyrannei der Sichtbarkeit« (T 24) in einer »ausgestellte[n] Gesellschaft«, die es zum »ikonischen Zwang« treibt, »zum Bild zu werden«. Dabei unterscheidet Han das analoge vom digitalen Bild. Das analoge Foto ist vergänglich: die Zeit nagt an ihm. Er nennt das die »Negativität der Zeit«. Dabei ist diese Negativität nicht gleichbedeutend mit einer Verfall oder gar drohender (Seins-)Vergessenheit. In der Vergänglichkeit selber zeigt sich erst das Gewesene als Zeiterscheinung. Die digitale Bilderflut in sozialen Netzwerken, der Zwang zur Selbstdarstellung (der am Ende Teil der Selbstausbeutung sein kann), ist für ihn ein Zeichen von »Positivität«, die alles Alternative, Andere, Außenseiterhafte ausblendet. Damit wird alles Unsichtbare per se verdächtig.
Es ist hochinteressant, wie Han den Transparenz- und Bilderkult als Element der kapitalistischen Leistungsgesellschaft herausarbeitet. Transparenzzwang erzeugt also nicht nur gesellschaftliche Konformität und vernichtet Intimität und Privatheit sondern wird zum ökonomischen Imperativ (T 81) des »Neoliberalismus«. Wenn Neigungen und Wünsche und am Ende vielleicht sogar die finanziellen Möglichkeiten aller transparent sind, können Unternehmen nicht nur maßgeschneiderte Werbung platzieren, sondern auch Bestell- und Bedarfsvorgänge überwachen und neue Bedürfnisse zielgerecht erzeugen.
…und das Eros
In »Agonie des Eros« (AG; 2012) führt Han die Konsequenzen der »Erosion des Anderen, jener Nivellierung zum Gleichen (AG 6) in drastischer Form vor. »Eingeebnet zum Objekt der Konsumtion« seien Labilität, Burn-Out oder Depression die Folge. Diese sind, so die These, nur durch das Eros zu besiegen. Aber die »Totalisierung der Gegenwart« verunmögliche das Aufkommen des »erotische[n] Begehren[s]«. Der Eros bedinge den »Vorrang des Anderen« (AG 34). Wie die Liebe, die immer auch den Tod beinhaltet, also die Negativität. In der Positivgesellschaft sei der Tod nicht präsent. Han findet in diesem Zusammenhang ein schönes Wortspiel: »Das nur Positive ist leblos« (AG 37). Die Abwesenheit des Todes macht das Leben leblos und uninteressant.
In der Realität ist das Eros profanisiert und geheimnislos geworden (AG 44). Dagegen setzt Han die Phantasie, das Verborgene – eben jene »Negativität« – und findet dafür mit der berühmten Szene aus »Madame Bovary«, in dem die Titelfigur in einer Kutschfahrt hinter herabgelassenen Vorhängen einen Mann leidenschaftlich liebt, ein wunderbares Beispiel. Flaubert beschreibt in aller Ausführlichkeit Straßen, Plätze und Brücken, die während der Fahrt passiert werden. Über das, was sich in der Droschke abspielt, schreibt er kein Wort. Das Verborgene, das Nicht-Gezeigte und Nicht-Gesagte erregt und erzeugt die Phantasie des Lesers. Eine Phantasie, die in der permanenten Sichtbarkeit der Transparenzgesellschaft gar nicht erst aufkommen kann, erstickt wird (T 29). »Am Ende der erotischen Irrfahrt streckt Emma ihre Hand aus dem Kutschenfenster…« (AG 51). Fast en passant wird von Han auch noch Kunstkritik geübt: »Die heutige Krise der Kunst und auch der Literatur lässt sich auf die Krise der Fantasie, auf das Verschwinden des Anderen, d. h. auf die Agonie des Eros zurückführen« (AG 54).
Hans Plädoyer für das Eros ist wuchtig und nicht ohne Risiko, weil der Begriff des Pornografischen nicht scharf definiert wird. Er wird nämlich nicht alleine mit den gängigen Assoziationen verknüpft. Schon die »Ausstellung der Intimität und Privatsphäre«, das »allein auf seine Ausgestelltheit reduzierte, nackte Gesicht« (AG 44), die allgegenwärtige Bilderflut des Immergleichen in sozialen Netzwerken – alles das sei »pornografisch« (IS 9) und zwar dadurch, dass es als Ware ausgestellt werde (AG 44), unabhängig davon, ob die Bilder beispielsweise explizit sexuelle Handlungen zeigten. Das Pornografische ist, so das Paradoxon, im Kern entsexualisiert. Hans Eros-Begriff ist existentiell. Er bezeichnet eine sinnliche Lebensweise. »Ohne Eros verkomme….der Logos zur datengetriebenen Berechnung« (AG 56). Schärfer formuliert heißt es dann etwas später: »Der Logos ist kraftlos ohne die Macht des Eros« (AG 66).
Diagnose der Gegenwartsmoderne
Han geht mit seinen Ausführungen über Schwarmverhalten, Transparenz und Eros weit über den gängigen, auf das Internet fixierten Diskurs hinaus. Es wird eine grundlegende Diagnose der Gegenwartsmoderne vorgenommen, die jenseits des Netzes das gesellschaftliche und soziale Leben beeinflussen, es zu dominieren beginnen und damit schleichend neue Werte implementieren. Das dürfte ein Grund dafür sein, dass seine Bücher bei den Protagonisten der sogenannten Netzgemeinde kaum diskutiert werden: Sie bieten kein Erregungspotential, weil sie schlichtweg zu komplex sind. Der andere Grund liegt in der digitalimmanenten Ausblendung der Negativität.
Erfrischend, wie Han die gängigen Interpretationslamenti unterläuft. Etwa wenn er schreibt: »Die Zeitkrise von heute ist nicht die Beschleunigung, sondern die temporale Zerstreuung und Dissoziation. Eine temporale Dyschronie lässt die Zeit richtungslos schwirren und zur bloßen Abfolge punktueller, atomisierter Gegenwart zerfallen. Dadurch wird die Zeit additiv und jeder Narrativität entleert. […] Da die Beschleunigung an sich nicht das eigentliche Problem darstellt, so besteht seine Lösung nicht in der Entschleunigung. Die Entschleunigung alleine erzeugt keinen Takt, keinen Rhythmus… […] Sie verhindert nicht den Sturz in die Leere.« (T 55–56)
Das Verhalten des ortlosen homo digitalis sickert in die Gesellschaft ein. Es gehört zu den schönen Momenten bei der Lektüre der Bücher von Byung-Chul Han, wenn er beispielsweise vom »fingernde[n], handlose[n] Mensch[en]« spricht, der statt zu Handeln auf seinem Smartphone oder Tablet herumfingert. Wo die Tätigkeit mit der Hand noch Widerstand böte, huscht der Finger ohne Problem über den Bildschirm (IS 52f). Aber »Denken [ist] ein Hand-Werk«, so Han in seltener Emphase. Oder in der »Müdigkeitsgesellschaft« gemeinsam mit Hannah Arendt, Paul Cézanne und Maurice Merleau-Ponty »das Staunen über das So-Sein der Dinge« als Leitbild heraufbeschwört und mindestens für einen Augenblick feststellt: »Der cartesianisch-neuzeitliche Zweifel löst das Staunen ab« (M 30).
Byung-Chul Han ist ein hellwacher Beobachter, der Phänomene beschreibt und luzide Schlüsse in Sätzen formuliert, die oft genug scharf wie Messerschnitte sind. Dabei vermeidet er jegliche Aufgeregtheit oder Skandalisierung. Neben gängigen Klassikern der Philosophie (Augustinus, Kant, Hegel) dienen Han vor allem Denker der Moderne als Referenzen, besser: Ausgangspunkte, wie beispielsweise Walter Benjamin (den er u. a. mit dem Ideal der »Gabe des Lauschens« zitiert [M 24]), Michel Foucault, Marshall McLuhan, Roland Barthes, Friedrich Nietzsche, Alain Badiou (dessen Ausführungen über die »geheime Verbindung zwischen Eros und Politik« Han sehr instruktiv einbringt [AG 57]), Georgio Agamben, Paul Virilio, Richard Sennett oder Vilém Flusser. Er stimmt ihnen nicht immer zu (etwa Flussers Vision der direkten Dorfdemokratie [IS 88] oder Agambens Thesen über die »pornografische Nacktheit« [T 38–39]), transformiert ihre Ausführungen gelegentlich an die Zeit, ohne sie zu derangieren oder zeigt, wo sie heute ergänzt werden müssten.
Über allen steht jedoch Martin Heidegger, um den Han promoviert hat. Schon in der Sprache Hans und seiner Wortsuchekunst zeigen sich deutliche Parallelen. Die einzelnen Bücher haben teilweise Schnittmengen; gelegentliche Redundanzen sind demzufolge nicht zu vermeiden. Dennoch ist ihre Lektüre immer aufregend. Man hat das Gefühl, da schreibt jemand eine Art »Sein und Zeit« »des Digitalen«. Die schmalen Bücher täuschen: Die Texte Hans sind derart konzentriert und vielschichtig, dass man fast gezwungen wird, nach der Lektüre weniger Seiten immer wieder inne zu halten. Es ist unmöglich, diese Texte ohne höchste Aufmerksamkeit zu lesen. Wer über die gesellschaftlichen und sozialen Folgen des Digitalen mitreden will, kommt an Byung-Chul Han nicht vorbei – unabhängig davon, ob man alle seine Beobachtungen in allen Nuancen teilt oder nicht.
Botho Strauß’ Aphorismensammlung endet fast versöhnlich mit der »Heiterkeit der Abstinenz« (LT 175). Auf die ornamentale Wortkunst wurde bereits anlässlich seines Aufsatzes »Der Plurimi-Faktor« hingewiesen. Dieser Aufsatz ist eine Patchwork-Arbeit, der aus dem ganzen Buch Versatzstücke enthält und zu einem neuen Text zusammengeklebt wurde. So, wie er dann im »Spiegel« abgedruckt war, hinterlässt er den Eindruck eines veritablen Netzverächters. Das ist Strauß nicht; wer das behauptet (wie neulich ein Netzgemeindeschreiber in der FAZ), hat entweder das Buch nicht gelesen oder kann nicht lesen. Strauß hat den Erregungsraum des Digitalen längst hinter sich gelassen und betrachtet ihn nur noch wie ein interessierter Laie den bereits erwähnten Ameisenhügel. Daher der allzu häufige, resignativ daherkommende Klageduktus, der zuweilen dann auch kryptisch daherkommt. Strauß begnügt sich damit, seine Spezies weiterhin als überlegen einzuordnen. In der aristokratischen Haltung erinnert das an die Tagebücher Ernst Jüngers, wenn auch die Sprache beider unterschiedlich ist. Mit manchen seiner Einwürfe trifft Strauß die von ihm verachtete Gesellschaft ins Mark. Etwa wenn er, wie schon in seinem Essay »Der Konflikt« von 2007 eine gewisse Überlegenheit eines spirituell-religiösen Wertesystems gegenüber der demokratisierten, sich am Ende dem Kapitalismus und den Naturwissenschaften bereitwillig hingebenden Gesellschaft ausmacht. »Lichter des Toren« ist ein Buch, das man Jahre später wieder zur Hand nehmen, darin aufs Neue blättern und dann ziemlich verblüfft sein wird.
Bibliographie und Siglen:
AG Byung-Chul Han: »Agonie des Eros«, 2. Auflage 2013, Matthes & Seitz Berlin
IS Byung-Chul Han: »Im Schwarm – Ansichten des Digitalen«, 1. Auflage 2013, Matthes & Seitz Berlin
LT Botho Strauß: »Lichter des Toren – Der Idiot und seine Zeit«, Diederichs, 2013
M Byung-Chul Han: »Müdigkeitsgesellschaft«, 8. Auflage 2013, Matthes & Seitz Berlin
T Byung-Chul Han: »Transparenzgesellschaft«, 3. Auflage 2013, Matthes & Seitz Berlin
Han ringt um die richtigen Begriffe für eine Zustands- und Live-Beschreibung der neoliberalen Gesellschaft, das kann ich konstatieren.
Aber nicht immer glücklich: z.Bsp. ist sein erweiterter Begriff des Pornographischen bei genauer Betrachtung ein erweiterter Begriff des Obszönen. Die Hervorkehrung, die zur Schau-Stellung des Unziemlichen. Das Vergessen, das Leugnen abgestufter Lebensbereiche mit Konventionen und Verboten, etwa in der Reihenfolge Öffentlichkeit, Arbeit, Nachbarschaft, Partnerschaft, Solitudinis. Facebook und Shit-Entgrenzung sind nicht per se pornographisch. Der Begriff verliert seine Bedeutung, wenn er nicht mehr sinnvoll als Attribut eingesetzt werden kann.
MIt dem Machtbegriff hat Han auch Probleme: wenn ich alle Phänomene einer Beeinflussung, einer Mode, unreflektierter Anpassung und Nachahmung als Ergebnis einer Machteinwirkung auffasse, dann steht es um die eigentlich politische Dimension schlecht. Will er das Einen mit dem Anderen erklären?! Eine diffuse Schwarmexistenz und das (erkennbar) sinkende politische Interesse?! Eine Anästhesierung?
Ja, die Einwände sind nachvollziehbar. Zur politischen Macht gibt es tatsächlich keine Erläuterungen. Die von ihm neoliberal genannten Gesellschaftseinflüsse sind ja nicht vom Himmel gefallen. Die sehr gedehnte Metapher des »Pornografischen« schreibe ich einer durchaus realen Empörung zu. Han ist, was die Selbstausbeutung des Individuums angeht, einfach eminent erschüttert. Vielleicht kommt ja noch was zum im engeren Sinne »Politischen«.
Pier Paolo Pasolini begann in den siebziger Jahren von einer »anthropologischen Mutation« zu sprechen. Verantwortlich für die (in seinen Augen) düsteren Aussichten machte er Konsumismus und Massenkultur. Mir scheint, daß das, was Pasolini visionär heraufdämmern sah, erst mit der Herrschaft des Digitalen und der allgegenwärtigen Technokommunikation ganz und gar Wirklichkeit wird. Diese Vorgänge zu begreifen und zu beschreiben, ist nicht einfach. Byung-Chul Han widmet sich dieser Aufgabe, und ich denke wie Keuschnig, daß er das mit einigem Erfolg tut.
Der Sachverhalt hat so viele Aspekte und ist teilweise noch so neu, daß man schwerlich erwarten kann, die Darstellung und Interpretation und Kiritik könne immer überzeugend und umsichtig genug ablaufen. Bei Han sehe ich eine Tendenz, geläufige Konzepte der Philosophiegeschichte mit Beobachtungen an der digital-virtuellen Welt kurzzuschließen. Manchmal ein bißchen sehr kurz, die Begriffe wirken eher aufgepappt als aus Befunden und Erfahrungen heraus entwickelt. Und bei der Gegenüberstellung mit älteren, von der Digitalgesellschaft verdrängten Positionen (oder Werten), etwa Masse und Schwarm oder Eros und Pornographie, kommt mir manchmal vor, daß er das Ältere idealisiert oder reduktiv darstellt. Beispielsweise ist mir der Begriff Liebe, den er der Pornographie (im weiteren Sinn verstanden) entgegensetzt, zu sehr von Levinas’ Konzept des Anderen her gedacht, zu sehr darauf beschränkt. Liebe könnte, sollte man komplexer sehen, als Wechselspiel von Distanz und Nähe, von Abstandhalten und Vereinigung.
Ein wenig beschleicht mich beim Han-Lesen der Verdacht, seine Art eines raschen (nicht-entschleunigten?) Philosophierens sei von der digitalen Welt, der er die Stirn zu bieten versucht, infiziert. Wenn Keuschnig bemerkt, die Sprache Botho Straußens unterscheide sich von derjenigen Ernst Jüngers, mit dem er doch viel gemeinsam hat, dann scheint mir das auch für Han und Heidegger zu gelten. Mag sein, daß Byung-Chul Hans Essays Aufmerksamkeit fordern. Überwiegend schreibt er jedoch knappe Hauptsätze, die fast an Slogans gemahnen (in Slogans spricht die Welt von Werbung und Technokommunikation). »So verstärkt die Pornographie die Narzissifizierung des Selbst.« Wumm, wumm. Gemeinsam ist Heidegger und seinem Vorgänger dennoch, wie Keuschnig bemerkt, das tastende, fragende Suchen nach dem gerechten Ausdruck, bei dem sie sich von der Sprache selbst leiten lassen. Han auch von der Sprache des Internets, und er tut recht daran.
Auch an dieser Stelle: Es sind so viele Aspekte, sie verlangen nach einer neuen Ordnung (wie Heidegger in »Sein und Zeit« seinerzeit eine neue Ordnung versuchte). Zum Beispiel die Reduktion des Wertens auf Quantitäten (likes, Einschaltquoten, FB-Freunde...). Ist das nicht das Prinzip der Demokratie, wie sie sich in den westlichen Gesellschaften nach dem zweiten Weltkrieg ausgeprägt hat? Und hängt der heute zu konstatierende Überdruß nicht auch damit zusammen? Und sind die Überdrüssigen nicht sehr oft selbst in diesem Zwang zum Quantifizieren (den der elitäre Botho Strauß naturgemäß verabscheuen muß), verstrickt? Ist es nicht an der Zeit, neue Konzepte von Demokratie auszudenken? Könnte es etwa entscheidend sein, Demokratie und Bildung miteinander zu koppeln? Und wie wäre der Bildungsbegriff im digitalen Zeitalter zu bestimmen?
@ Leo
Sehr gute Hinweise, vorallem den Stil betreffend. Vielfach wird der Stil in der Philosophie wenig beachtet. Dabei ist der Stil zugleich das Oberflächlichste und das Tiefste.
Ich kann das bei Han nachvollziehen: die raschen »Mutationen« (Pasolini) schreien förmlich nach raschen Eingrenzungen (Hundeerziehung). Je länger das Begreifen ausbleibt, desto mehr Verluste drohen. Die Schreibweise wird hektisch, man hofft auf die Überzeugungskraft von Parolen.
Nur den Hinweis auf den Verfall des Wertens zum Vorteil des Zählens, vermag ich nicht in der Kürze nachzuvollziehen. Gerade die Demokratie führt doch die Formalität des Zählens ein. Das macht sie schrecklich banal. Der Verdruß, der daher rührt, ist natürlich ein Problem, vorallem für die Begabteren. Übrigens auch für die begabteren Politiker, wie mir scheint. –Ja, wir kommen wieder in Teufel’s Küche, genau dahin, wo wir in WEIMAR schon waren. Die Demokratie kann man aus theoretischer Sicht rechtfertigen, aber kann man sie wirklich empfehlen?!
@Sophie
Ja, nur daß politische Parteien und einzelne Politiker in der Nachkriegszeit und bis in die achtziger Jahre ernsthaft Handlungskonzepte ausarbeiteten und vertraten und ihr Handeln mehr an inhaltlichen – qualitativen, wenn man so will – ausrichteten und nicht ausschließlich an quantitativen, wie es heute der Fall ist. Demokratie wird tendenziell synonym mit Populismus, von rechts bis links, Grüne eingeschlossen. Liest man im Internet die »Leserkommentare« – unter Anführungszeichen, weil kaum einer von denen als die Reizwörter liest, um sich so rasch wie möglich in irgendeiner Form aufzupudeln – nicht nur der Boulevardzeitungen, sondern auch der Qualitätszeitungen, so kann man schon erschüttert sein, mit welcher Schwarm-Arroganz die Leute auf ihre Stimme pochen, oft auch auf ihr Mehrheit-Sein, ihr Schwarm-Sein. Das Demokratieverständnis dieser Mehrheit erinnert mich an den Slogan »Der Kunde ist König«. Mein Geld, meine Steuern – ein Dauerbrenner bei den »Argumenten«. Das Ganze flankiert von einem völligen Mangel an Sorgfalt und Zweifelsbereitschaft beim Behaupten von angeblichen Tatsachen und dem Verbreiten von »Theorien« (bevorzugt Verschwörungstheorien). Keuschnig deutet an, im exhibitionistischen Posting-Verhalten würde sich nicht das spiegeln, was in den Köpfen der Leute vor sich geht. Ich fürchte, daß er sich in diesem Punkt täuscht. Ein Grund, warum man über den Internet-Exhibitionismus (der auf Verschleierung fußt, auf Ano- und Pseudonymisierung), ist, daß man heute besser denn je Auskünfte über die Verfaßtheit der Volksseele bekommt, vor allem über deren Abgründe, eben wegen der Anonymität, die wiederum gepaart ist mit Individualismus.
Man kann natürlich darauf verzichten, sich über die Gesellschaft insgesamt Gedanken zu machen. Wenn man sich aber Gedanken macht, dann denke ich doch, daß Demokratie nicht auf den Mülleimer der Geschichte zu werfen ist, solange nichts Besseres heraufdämmert. Eher scheint mir eine Neubegründung von Demokratie notwendig. Als treuer Nietzsche-Leser hat sich mir im Lauf der Jahre der Gedanke eingenistet, man könne doch Elitenbildung und Demokratisierung zusammenbringen. Eine Bevölkerung, die ausschließlich aus gebildeten Eliten besteht, das wäre doch was, da würde kein Populismus mehr grassieren. Nietzsche hat beides immer auseinanderdividiert, als handelte es sich da um einen naturhaften Gegensatz, und Botho Strauß tut das, soweit ich sehe, auch.
Aber ist nicht Demokratie mindestens in der Moderne immer die Willensbildung der Mehrheit? Ist »Populismus« nicht implizit in einer politischen Gesellschaft, in der um Mehrheiten qua Abstimmung geworben wird? Ich sehe natürlich auch, dass die wohlige Aufgehobenheit beim »Mehrheit-Sein« durch das Netz noch verstärkt, vielleicht potenziert wird. Aber eben auch – hier hat ja Hans Diagnose auch eine Spur Hoffnung – nur für sehr kurze Zeit. Die Affekte verpuffen schnell. Deutlich zeigt sich dies am Abschneiden der deutschen Piratenpartei, die 2012 in einigen Bundesländern in die Parlamente kam (fast bis 9%) und nun glaubte, sie wären wegen ihrer (nur rudimentär vorhandenen) Programmatik gewählt worden. Tatsächlich waren es aber zumeist Affekt- bzw. Proteststimmen. Die Dominanz der Protagonisten und Probleme der Piraten im Netz zeigte keine signifikanten Auswirkungen auf das Ergebnis bei der Bundestagswahl. 2009, als es den Hype nicht gab, bekam man 847.870 Zweitstimmen (2,0%) – 2013 mit der »Unterstützung« in den Ländern 959.177 (2,2%). Das ist nicht wenig, aber im Verhältnis zu der Präsenz im Netz ernüchternd.
Die Nörgler, Pöbler, Verschwörungstheoretiker und Maulhelden gab es immer. Sie tummelten sich bisher nur meist im Verborgenen, an den (oft zu Unrecht stigmatisierten) »Stammtischen«. Sie trauten sich auch nicht so recht, weil sie nicht wussten, wie weit ihr Kosmos reicht. Das ändert sich nun; man kann sich vernetzen. Jede noch so kleine Partikularmeinung findet eine »Masse« [vielleicht mit Ausnahme dieses Weblogs hier]. Man kann dabei ganz gut »unter sich« bleiben; Han beschreibt das ja ausführlich (wobei die Tendenz, nur das Genehme wahrzunehmen, nicht dem Netz geschuldet ist).
Die These vom Segen der Mehrheitsgesellschaft geht ja davon aus, dass durch die große Anzahl der Beteiligten Extreme nicht zum Zuge kommen bzw. ausgeglichen werden. Daher kann man jede Stimme gleich gewichten – den Professor wie den Hilfsschüler, den ehrenamtlich Engagierten wie den Neonazi. Im Grunde läuft es darauf hinaus, dass sich die »Vernunft« durchsetzt, d. h. die Mehrheit zu vernünftigen Ergebnissen kommt. Als Sicherheitsmechanismen haben fast alle demokratischen Staaten noch zweite Kammern oder andere Institutionen nach- bzw. vorgeschaltet.
Übersehen wird dabei meist, dass die Mehrheit an sich keinerlei qualitative Aussage in sich trägt. Wenn ich einer QUizsendung 200 Leute über die Antwort einer Frage abstimmen und sich eine Mehrheit von beispielsweise 45% für eine Antwort entscheidet, ist diese damit noch nicht automatisch richtig. Und was, wenn 51% aller Leute plötzlich dafür wären, Brillenträger umzubringen? Norbert Lammert, der Bundestagspräsident hat bei der ersten konstituierenden Sitzung des neuen deutschen Bundestages in Anbetracht der Möglichkeit, dass eine Große Koalition rd. 80% der Sitze im Parlament habe, einen klugen Satz gesagt:
Dieser Satz ist sehr schön formuliert und bringt es auf den Punkt. Aber wer bestimmt nun, welche Minderheitenrechte von welchen Minderheiten derart sakrosankt sind?
Noch zwei andere Bemerkungen. Sie schreiben:
...daß politische Parteien und einzelne Politiker in der Nachkriegszeit und bis in die achtziger Jahre ernsthaft Handlungskonzepte ausarbeiteten und vertraten...
Das mag sein. Aber es ist ein irrtum zu glauben, dass diese Handlungskonzepte nicht auch »populären« Strömungen geschuldet waren. So hat man in Deutschland jahrzehntelang Sozialleistungen immer weiter ausgebaut – und dafür Schulden gemacht. Das Volk wurde damit beruhigt; der Lebensstandard war für die Zukunft gesichert. Jetzt stellt sich heraus, dass die Parameter sich verschoben haben. Aber den geist bekommt man nicht mal mehr zur Nacht in die Flasche – man sehe sich Frankreich an, wo jede noch so kleiner Veränderung mit wuchtigen und schweren Streiks belastet wird. (Mir geht es dabei nicht um die Politik an sich, sondern nur darum zu zeigen, dass die Gesellschaftsentwürfe der früheren Zeiten auch entsprechenden Erwartungen in der Bevölkerung nachgebildet waren.)
Dann noch zur Elite: Hier verlässt mich meine Hoffnung vollkommen. Dass gebildete Eliten vor politischen Verführungen, also das was Sie unter »Populismus« subsumieren, gefeit sind, halte ich für nicht zwingend. Ich will jetzt nicht mit dem Eliteversagen in Deutschland in der Weimarer Republik anfangen...
@leo und (indirekt) @georg
Ich fand im Gegenteil gleich den ersten Hinweis von Leo sehr überzeugend, die Abweichung der Politiker (Verlagerung des Politischen?!) von den Handlungskonzepten zur Logistik. Ich glaube, Georgs Einwand greift zu kurz. Das Politiker nur noch Systeme justieren müssen, suggeriert doch der Normal-Bevölkerung, dass sie sich »unbeschränkt und frei« innerhalb der Systeme bewegen können, einen Endo-Liberalismus. Diese Suggestion entspricht keineswegs den lebensweltlichen Bedingungen, passt aber bestens mit den konsumistischen und medialen Axiomen im Spät-Kapitalismus zusammen. Für mich ist das sogar eine Verlagerung des Ethischen, Politik eingeschlossen.
Ich bin ebenfalls Nietzscheaner, deshalb getraue ich mich, deine (Leo) Hinweise auf Elite und Bildung unter Wahrung der Egalität zu entschärfen. Es scheint mir immer deutlicher zu werden, dass die Elite in einen Minderheitenstatus geraten ist, der nicht einmal demokratisch repräsentiert werden kann. Das macht mir schwer zu schaffen, offen gestanden, denn ich glaube, dass außerhalb der demokratischen Beteiligung alle identifikatorischen Gruppenfunktionen weitgehend zum Erliegen gekommen sind. Selbst Habermas (kaum Nietzscheaner) spricht von einem Eliten-Versagen angesichts der Lage Europas, OHNE SICH SELBST dazu zu rechnen... Da hat ein schizoider Kreislauf eingesetzt, den ich gerne unterbrechen würde.
Je öfter ich sogenannte Koalitionsverhandlungen mitverfolgt habe, desto mehr sind mir Zweifel an der Feststellbarkeit eines »Wählerwillens« gekommen. Läßt sich dieser arithmetisch ausdrücken? Entsprechen Regierungen, die daraus resultieren, tatsächlich einem Willen?
Ich stamme aus Österreich, dort wählt seit mehr als zwei Jahrzehnten konstant ein Fünftel bis zu einem Viertel (derzeit) rechtsextrem. Ich bin zwar auch nicht der Meinung, daß Bildung vor Gewaltbereitschaft und Intoleranz schützt, aber man muß nicht alles durch die Brille der historischen Erfahrung (Nationalsozialismus) sehen. Seit Jahrzehnten wird nun in Österreich und in anderen europäischen Gegenden, Frankreich z.B., genau dort rechtsextrem gewählt, wo die Bildung gering ist. Ich lasse mir das gelegentlich durch in den Medien publizierte Umfragen und Statistiken sagen, vor allem aber durch persönliche Erfahrungen von Verwandten und Bekannten, in diversen Schulen z.B.
Das Internet stellt Unmengen von Information zur Verfügung, aber in dieser Überfülle wird die Orientierung schwierig, wenig Gebildete nehmen mehr denn je zu vereinfachenden Darstellungen Zuflucht. Sämtliche Informationen sind jederzeit im Nu abrufbar. Ich bestaune manchmal das rasende Herumklicken von Halbwüchsigen, die tatsächlich fündig werden. Fündig werden, um sofort wieder zu vergessen. Das Internet – ein mechanisches, nicht lebendiges Gedächtnis, dessen einzelne Repräsentationen sich niemals ändern – rechtfertigt, daß der »User« sich seines eigenen, lebendigen, sich zwangsläufig verändernden Gedächtnisses nicht mehr bedient, dieses verkümmert. Darin besteht eine der anthropologischen Mutationen im Internet- und Telekommunikationszeitalter. In den sechziger und siebziger Jahren aufgewachsen, mußte ich mir alles Wissen, jede Vorliebe, jede kleinste Ahnung, jede Erkenntnis erarbeiten und manchmal erkämpfen. Genau deshalb haben alle diese Erfahrungen tiefe Spuren in mir hinterlassen. Bei heute zwanzigjährigen Studenten beobachte ich, daß sie, wenn irgendeine Form von Wissen, irgendeine »Info« gefragt ist, auf eine digitale Maschine klicken, ganz automatisch. Sie merken sich nichts, können aus sich selbst gar nichts hervorholen. Viele erinnern sich auch nicht an ihre eigene Lebensgeschichte, was sie zum Beispiel im Vorjahr zu einem bestimmten Zeitpunkt getan haben. Gedächtnisschwund, nicht politisch oder sozial bedingt, sondern durch die bekannten technischen Entwicklungen.
Ich könnte mir eine Situation vorstellen, wo man für die Teilnahme an demokratischen Prozessen eine Art Reifezeugnis erwerben muß. Wer das nicht schafft, darf eben nicht mitmachen. Zurück zu den griechischen Anfängen, aber nicht durch soziale oder geschlechtliche Diskriminierung, sondern durch bildungsmäßige. – Eine vage Idee, nur angedacht, im Bewußtsein, daß sie verstörend wirken kann... Z. B. stellt sich sofort die Frage: Wer entscheidet über die Kritierien für das Reifezeugnis? Elitäre Antwort: Die jetzt schon Gebildeten, das heißt Toleranten, Nachfragenden, Zweifelnden, Suchenden, Geschichtsbewußten...
Die Plutokratie durch elitäre Zugangsschwellen verhindern...
Genau dieselbe Idee hatte mein Latein-Lehrer vor ca. 25 Jahren. Ich kann mich noch erinnern, was ich damals (17) gesagt habe: Die Dummheit verteilt sich doch auf alle Seiten gleichmäßig. Da hat früh der Mathematiker aus mir gesprochen.
Dass das Internet die Rechten und Rechtsextremen nicht hindert, kann ich bestätigen. Der Front National in Frankreich wird 2014 wohl stärkste Kraft, vermutet heute Nonnenmacher in der FAZ. Trotzdem halte ich die Rechten nicht per se für dümmer als die Liberalen oder die Linken bzw. Öko-Libertären. Vergleichsweise sind sie durchsetzungsfähiger, die Linken dafür kommunikativer. Leider führt dieser kommunikative Aspekt nicht zu einer intellektuellen Überlegenheit, wie man gerne suggeriert. Ergebnis ist eher eine Kunst der Selbstdarstellung.
Aber das ist alles schon bekannt. Vor den Mutationen wie der »Auslagerung des Gedächtnisses« habe ich ebenfalls große Angst. Diese korreliert direkt mit der Ansicht, dass alle non-privaten Entscheidungen nur von Experten, den mutmaßlichen Quellen der Informationen, getroffen werden können. Die Rolle des BÜRGERs (eher Begriffsperson als Identitätsanteil) wird obsolet. Damit kann ein politisches Interesse tendenziell sogar als irrational bzw. präpotent erscheinen.
Bei den politischen Bewegungen sehen wir eine andere Entwicklung: immer unbedarftere Personen konkurrieren um die Macht. Fast das Gegenteil, möchte man ausrufen. Aber letztlich geht die Entwicklung mit der »Erwartung an die Experten« konform. Gewählt werden Kreti und Pleti, –entscheiden wird derjenige, der etwas von der Sache versteht. Eine Mischung aus Gottvertrauen und Defätismus, wie mir scheint.
[Kommentar auf Wunsch des Verfassers gelöscht. – G. K.]
Das Aufkommen rechts- bzw. linksradikaler Parteien, die unverhohlen die Demokratie nutzen, um ihre Zwecke durchzusetzen, geht fast immer mit den Verfehlungen der sogenannten demokratischen Kräfte einher. Die ganze Flut von anti-europäischen Parteien in Europa hat damit zu tun, dass die Europäische Union im Großen und Ganzen ein Eliteprojekt darstellt, welches als »gut« und »alternativlos« dekretiert wird. Die Leute bemerken nun, wie die Vereinheitlichung, die zum Teil skurrile Auswüchse annimmt, auch Nachteile mit sich bringt. Statt diskursiv aufzuklären, wird weiter paternalistisch Politik gemacht.
Ich könnte mir vorstellen, dass Habermas diese Entwicklung als Versagen ausmacht. Er hat ja immer betont, dass die EU – ungeachtet vielleicht berechtigter Vorbehalte – eine europaweite Legitimation braucht. Aus Angst vor dem Ergebnis ist dies bis auf wenige Ausnahmen immer unterblieben. Es ist ja auch einfacher, von oben herab etwas zu bestimmen, als »umständlich« die Leute zu überzeugen. Sein spezifisches »Versagen« könnte darin bestehen, nahezu unverständliche Aufsätze über die EU und deren Notwendigkeit geschrieben zu haben.
FN, FPÖ oder wie sie auch heißen saugen Nektar aus diesen vergebenen Chancen. Ihr »Populismus« spiegelt nur das Versagen der Anderen. Le Pen gewinnt ihre Stimmen auch dadurch, dass sie sich außerhalb des politischen Systems der großen Parteien/Parteiströmungen in Frankreichs positioniert. Das kaufen ihr die Leute solange ab, bis sie nicht für ihre Thesen in politischer Verantwortung einzustehen hat.
Schön, danke. Ein paar Anmerkungen und Fragen, ohne die bisherige Diskussion gelesen zu haben.
Steht Han und Strauß zufolge hinter »Phänomenen« (Projekten) wie der Wikipedia, die hier nur stellvertretend und prominent genannt sein soll, auch der Schwarm? Und wie passt das zu Verdikten wie den »Leitsytemen« ... »die im Kern dieselbe Botschaft verbreiten — in Meinungen, Vorlieben, Verdammungen und Direktiven«. Stände der Schwarm auch hinter diesen Dingen, wofür doch einiges spricht, dann wäre dies nicht länger haltbar: »Die digitalen Schwärme »marschieren nicht«, sie sind »flüchtig und instabil«. Ihr Wir folgt keinem strategischen Plan, sondern nur vereinzelten, zum Teil komplexitätsreduzierten Meinungen oder Parolen, die quantitativ multipliziert werden und somit die Aura der Bedeutung erzeugen sollen.«
»Elektronische Medien…versammeln Menschen, während die digitalen Medien sie vereinzeln.« Vielleicht bin ich der einzige, der diesen Satz nicht versteht: Was kann damit gemeint sein? Digitale Medien sind nicht elektronisch? Seit wann denn? Ist womöglich »analog« gemeint?
Dass der Einbruch des Anderen im Netz nicht möglich wäre, dass es kaum ein Miteinander gäbe, sondern nur das Gleiche ... darüber kann ich nur den Kopf schütteln.
Ist mit der Negativität bei Han eine Empfindung gemeint, die mit dem Anderen zusammenhängt, von ihm ausgelöst wird?
Transparenz ist eine ambivalente Angelegenheit; genausogut kann man ins Feld führen, dass sie ein Mittel gegen autoritäre Züge des Staates ist (man denke an das in Österreich noch immer existierende »Amtsgeheimnis«).
Zuletzt ist das Netz, der digitale Raum, eben nicht nur, sondern durchaus: mehr als der Schwarm.
Projekte wie Wikipedia kommen bei beiden nicht vor. Sie äußern sich dazu nicht. Tatsächlich bliebe ja die Frage, ob es sich z. B. bei der Wikipedia um ein Schwarm-Phänomen handelt, so institutionalisiert es in der Zwischenzeit längst geworden ist. Bei Strauß ist durchaus eine gewisse Abneigung aus der Verwissenschaftlichung der Welt festzustellen.
Mit »digitalen Schwärmen« sind hauptsächlich die Ströme in den sozialen Netzwerken gemeint (Twitter, Facebook, u. a.). Hans Beobachtungen sind hier m. E. zutreffend. Die Negierung eines »Wir« beruht auf der Differenz zwischen Masse und Schwarm. Salopp formuliert könnte man sagen, dass der Schwarm bei Twitter, der ja unverholen Definitionsmacht beansprucht, für Han in der Reduktion dessen, was und wie dort verhandelt wird, eine Art »Masse light« darstellt (das ist meine Formulierung). Eine dauerhafte Bindung wird dort nicht erzeugt. jeder, der in diesen Shitstorms einmal wenn nicht eingetaucht, so doch diese beobachtet hat, kann dem zustimmen.
Auch die Beobachtung, dass der Einbruch des Anderen nicht besonders erwünscht ist, ist richtig. Beispielsweise wurde neulich über Twitter eine Graphik verbreitet, die auswies, dass die USA 57% ihrer Haushaltsausgaben für Militär ausgebe. Das ist nun in dieser Form schlichtweg falsch, weil es mehrere Komponenten unberücksichtigt lässt (z. B. die Haushalte der einzelnen Bundesstaaten). Ungeachtet dessen, dass die Einwände durchaus formuliert wurden (auch auf Twitter), wurde diese Graphik immer mehr »retweetet«, also weiter publiziert. Darauf angesprochen, bekam ich von einer Person ein »gähn« geschickt und die Information, dass sie sich eigentlich nicht besonders dafür interessiere. Aber die unkorrekte, ja fahrlässig falsche Information weiterzuverbreiten – dafür reichte scheinbar das Interesse aus.
Der Begriff der Negativität ist komplex: Es ist, auch hier stark vereinfachend gesagt, die Möglichkeit, das Andere als Möglichkeit jederzeit zuzulassen. Die Positivgesellschaft blendet alles ihr im Weg stehende schlichtweg aus. Es ist eine Genußgesellschaft, die für den Moment und ausschließlich im Moment lebt. Und dies zum Prinzip erhoben hat. Negativität »zulassen« bedeutet demnach, Sachverhalte umfassend zu durchdenken. Negativität heißt Verborgenes jenseits einer glänzenden Oberfläche wahrzunehmen.
Dass das Netz mehr ist als Schwarm – das ist genau die Crux bei den Thesen Hans und auch von Strauß. Sie betreiben am Ende das, was sie dem Schwarm vorwerfen – sie reduzieren ein Phänomen, in dem sie es pauschalisieren. Vielleicht muss man das, um bestimmte Auswüchse plastisch zu machen. Den Schönrednern und Philistern einer glänzenden Zukunft durch und mit dem Internet – der geballten Positivität – setzen sie nun die geballte Negativität entgegen. Dennoch sind die Bücher lesenswert, weil sie den Aktualitäts- und Nachrichtenjunkie ein bisschen aus dem Shitstorm-Café herausholen.
»E pluribus unum« war angeblich der Wahlspruch des GuttenPlag Wikis (Guttenberg-Affäre). Der GuttenPlag ist m.E. ein sehr gutes Beispiel für den digitalen Schwarm jenseits von Twitter oder sozialen Netzwerken, und er zeigt auch, dass die Äußerungen und Ergebnisse andere sein können (es ist vielleicht doch nicht so einfach und das Schwarmphänomen nicht nur negativ zu beurteilen, es scheint doch möglich, dass die Quantität, die Vielen, auch eine neue Qualität, eben durch ihr gemeinsames Wirken erzeugen können — ist das schlimm? Oder nicht eher: bemerkenswert?).
Dass der Einbruch des Anderen auf Twitter und Facebook im Allgemeinen nicht besonders erwünscht ist, glaube ich gerne (und die Ausführungen, so weit sie dargelegt sind, treffen sicher zu), aber oben wurde das ja auf das gesamte Netz ausgedehnt, und das ist m.E. einfach nicht richtig (auch dass die Möglichkeit gar nicht gegeben sein soll verstehe ich nicht; hier interagieren ja immerhin Menschen und die physische Präsenz des Anderen ist beim Lesen eines Buchs auch nicht gegeben).
Das was im Leben hält und leben lässt, ist, denke ich, am Ende meist ein bejahendes Element, das sollte nicht übersehen werden (das Leben ist unbeständig, die Zustände wechseln, ich will da keinem den Vorrang geben, das entscheidet sich doch wieder im Moment, trotz der berechtigten Kritik).
Weil das Thema oben angesprochen wurde: Dass die Wähler den Rechtspopulisten in die Arme laufen, darüber braucht sich niemand wundern, die müssen dafür nicht einmal einen Finger rühren (die alte und neue Regierung in spe trägt schon Sorge dafür).
Es wird auf Dauer auch wenig nutzen, die Leute vorschnell in eine bestimmte Ecke zu stellen; in Frankreich zeigt sich gerade, wie kontraproduktiv das sein kann.