Kann man den Mann ohne Eigenschaften, Robert Musils unvollendeten Tausend-Seiten-Roman, dem ungefähr ebenso viele Seiten unveröffentlichter Abschnitte und diverser Bruchstücke zur Seite stehen, auf einige wenige Sätze reduzieren? Mit rhetorischer Besorgtheit stellen die Rezensenten von Nicolas Mahlers Comic-Adaptierung des Werks diese Frage. Sie ist falsch gestellt, denn natürlich kann man. Die dahinter stehende Frage ist, ob man darf. Und weil nun schon seit Jahrzehnten sowieso alles geht, darf man (ebenso natürlich). Bleibt also nur die Rhetorik, um die auch wir nicht herumkommen.
Mahlers graphic novel, sein Comic (auch im wörtlichen Sinn), bringt nur wenige Sätze aus dem Roman, die Geste des Autors ist dabei schnippisch oder patzig, etwa in dieser Bedeutung: »Da habt ihr halt wieder so ein Sätzchen von unserem berühmten Mann.« Die Essenz dieser Sätze drückt der Graphiker auf Seite 61 des Comics aus, indem er die drei Sprechblasen der drei Figuren im Salon Diotimas, wo die berühmte Parallelaktion ausgeheckt wird, leer läßt. Alles nur Blabla, es wird nichts geschehen, so lautet offenbar die Interpretation Nicolas Mahlers; die Parallelaktion ist ein fake. Fragt sich, ob seine Interpretation triftig ist. Musils Absichten entspricht sie nicht, der plante nämlich, den Roman mit dem Ausbruch des ersten Weltkriegs enden zu lassen, was die zeitliche Bewegung der ersten beiden der Bücher, in die der Roman unterteilt ist, dem Autor ja fast aufzwingt: die Handlung vollzieht sich unmißverständlich im Jahr 1913 und bricht dann Monate vor dem Sommer des Folgejahres ab. Die scheinbar so zögerliche, der Propaganda nach friedfertige Parallelaktion – Franz Joseph II. soll als »Friedenskaiser« gefeiert werden – trägt ihr Scherflein zur europäischen Katastrophe bei. Deshalb nun die Frage: Läßt sich der hier nur kurz angedeutete Gehalt des Romans durch leere Sprechblasen, die witzig wirken mögen in den hohen Räumen des Salons, auf den Punkt bringen?
Die Interpretation Mahlers ist trivial, und in dieser Eigenschaft doch wieder treffend. Führt man sich das Comic unter diesem Gesichtspunkt zu Gemüte, erscheint es eher als Kritik an Musils Hauptwerk, als Herabstufung innerhalb der Hierarchie, die es neben dem Ulysses und der Recherche du temps perdu, neben Zauberberg und Berlin Alexanderplatz zu den großen, emblematischen Romanen des 20. Jahrhunderts zählt. Die halbe Stunde, die man laut einem österreichischen Rezensenten mit dem Comic verbringt, ersetzt dann tatsächlich die mühsame Lektüre des Wälzers, und die abgeklärte Sichtweise Mahlers käme dem nahe, was Marcel Reich-Ranicki in seiner von Germanisten und Kritikern mit Empörung zur Kenntnis genommenen Abrechnung mit Musil feststellte: Der Mann ohne Eigenschaften ist schwer überschätzt, er enthält jede Menge Blabla, dazu Stilblüten, unpassende Vergleiche, mißglückte Bilder. Aus einem solchen Befund, der Wasser auf die Mühlen der Spaßkulturgeneration schüttet, lassen sich gut und gern coole Comix destillieren.
Was in Mahlers Zeichnungen vollkommen fehlt, ist die historische Dimension, ohne die der Roman nicht das wäre, was er ist. Bezieht man die Mahlerschen Sichtweise dennoch auf die zeitgeschichtlichen und gesellschaftlichen Fragen, die der Mann ohne Eigenschaften aufgreift, so kommt man zu dem Schluß, daß die einflußreichen Personen in Kakanien, das heißt in der letzten Periode der k. u. k. Monarchie, allesamt entschlußlos waren und den hausgemachten Konflikten, besonders den unerträglich gewordenen nationalen Spannungen, tatenlos zusahen. Eine solche Politik ist keine wohlüberlegte Antipolitik, sie zeugt lediglich von einer Führungsschwäche, deren Folgen ebenso katastrophal sein konnten wie eine Politik des blinden Dreinschlagens. Musils Sprachrohr, die Zentralfigur Ulrich, macht aus dieser Schwäche eine hypothetische Stärke – hypothetisch, weil er, selbst ein Unentschlossener, ja lieber im Möglichkeits- als im Wirklichkeitsmodus denkt und lebt. Musil schenkt dem verkommenen, dekadenten k. u. k. Establishment philosophische Weihen (etwa im Sinne eines zukunftsweisenden Pragmatismus), die es nicht verdient. Im übrigen ist nicht einmal Ulrichs Haltung zu den Akteuren bzw. Nicht-Akteuren der Parallelaktion klar. Er verharrt in Beobachtung, findet zu keinen Wertungen, geschweige denn zu Handlungsvorschlägen, will das auch gar nicht, in seiner Position in den Wolken des Möglichen fühlt er sich relativ wohl, von dort aus kann er auf die anderen herabblicken wie ein, ja – wie ein unbestimmter, eigenschaftsloser Gott, den das Schicksal derer da unten nicht wirklich kümmert. Mahler hat die Eigenschaftslosigkeit der konkreten Figur Ulrich vielleicht allzu wörtlich genommen, er macht eine Null aus ihm, eine Nicht-Figur, von der am ehesten mal ein süffisanter Kommentar – statt verbalisierter Leere – zu erwarten ist. Musils Roman lebt aber, wenn er denn lebt und nicht bloß eine schwere Totgeburt ist, von den Abenteuern und, mehr noch, den geistigen Hemmungen des Helden, der sehr wohl Eigenschaften besitzt, zum Beispiel Sportsgeist, den Mahler auf einen absurden Boxball reduziert. Außerdem ist dieser konkrete Ulrich ein – was bei Mahler ebenfalls nicht vorkommt, aber was kommt in dieser Novelle der Leere schon vor – ziemlich verquerer Schürzenjäger mit einem abstrusen Liebesideal, das er die längste Zeit »vergessen«, Freud würde sagen: verdrängt hat, bis es leibhaftig auftaucht in der Spiegelgestalt seiner Schwester. Auch die kommt, natürlich, bei Mahler nicht vor, die graphic novel ist um viele, in gewisser Weise um alle Figuren bereinigt.
»So gelingt Mahler trotz Kürze, Reduktion und dem Verzicht auf Musils sprachliche und stilistische Brillanz das Kunststück, die verwickelte Geschichte um die sogenannte ‘Parallelaktion’ zu erzählen«, behauptet Christian Gasser, ein ausgewiesener Comix-Fan, in seiner Besprechung des Werks in der Neuen Zürcher Zeitung und beeilt sich hinzuzufügen, worum es geht: »Mit der Parallelaktion will eine Gruppe hochrangiger Persönlichkeiten der k. u. k. Monarchie das für 1918 angesetzte 70-Jahre-Thronjubiläum von Kaiser Franz Joseph würdigen und zugleich die Gesellschaft um eine ‘große Idee’ herum einen. Die Hauptfigur Ulrich, ein beruflich gescheiterter Intellektueller ohne Ideale, Illusionen und besondere Eigenschaften, der ‘Urlaub vom Leben’ genommen hat, fungiert dabei als Berater und beobachtet das Ringen um die geheimnisvolle ‘große Idee’ aus ironischer Distanz.« – Aber halt, nein, darum geht es eben nicht im Mahler-Comic. Von dem, was man einst »Fabel« nannte, wird dort abstrahiert. Gasser, nicht Mahler, gibt uns ein Resümee des Inhalts von Musils Roman. Ein etwas flapsiges Resümee, das uns im Grunde vor dieselbe Frage stellt wie Mahler und Reich-Ranicki: Lohnt es die Mühe, sich mit diesem Typen und seinem Blabla auseinanderzusetzen? Gescheiterte Intellektuelle ohne Ideale, Illusionen und besondere Eigenschaften, davon kennen wir selber genug, sie repräsentieren heutzutage, in der Bildungs- oder besser Unbildungsgesellschaft, den Durchschnittstyp. Das einzige, was ihm und uns bleibt, ist ein bißchen Spaß. Mahler weist uns auf den bislang von den geneigten Rezipienten stiefmütterlich behandelten Musilschen Humor hin, den er im Großroman gefunden zu haben scheint. Nach Joyce und Kafka ist jetzt auch Musil lustig geworden. Am Ende wird es noch den guten Ernst Jünger treffen, etwa nach dem Motto: Damals in den Stahlgewittern, was haben wir gesoffen...
Reich-Ranicki gab zu verstehen, die Musil-Lektüre lohne die Mühe, die sie fordere, nicht. Germanisten, besonders die sogenannten Musilforscher, hören sowas natürlich nicht gern, sie bangen um ihre Arbeitsplätze. Angestachelt durch den Verriß des Großkritikers outet sich der Salzburger Professor Norbert Christian Wolf mit ironischem Unterton als Masochist, dem die Lektüre tausender Musilseiten Vergnügen bereitet. Reich-Ranickis durchaus bedenkenswertes Fazit, der Mann ohne Eigenschaften sei zur Gänze »Ausdruck der Unentschlossenheit«, wird dabei leichthin von der Hand gewiesen. Liest man die Musil-Biographie von Karl Corino, ihrerseits eineinhalb Tausend Seiten stark, erfährt man vieles über die Blockierungen des Autors, der in der Chronik seines Lebens zunehmend als verstopfte Persönlichkeit erscheint. Einen Bogen zu ziehen von den Schreibhemmungen, den endlosen Verzögerungen und Verschiebungen in Musils Literaturlabor, zu der positiv ausgelegten Lebensstrategie eines Privatgelehrten, der in seinem Wiener Schlößchen ohne Geldsorgen vor sich hin existiert, sich hin und wieder ein Weib genehmigt, ansonsten aber die Möglichkeiten seiner Zeit sondiert und kritisch begutachtet – diesen Bogen zu ziehen, liegt nahe, auch wenn der Autor selbst von Geldsorgen geplagt war und in gewöhnlichen, im Exil zuletzt eher kargen Wohnverhältnissen leben mußte. Die Figur des Ulrich hat durchaus Züge Musilscher Wunschphantasien, und auch die gehemmt-erotische Beziehung zu Agathe, seiner Schwester, könnte man als Euphemisierung des realen Ehelebens zwischen Robert Musil und seiner Frau Martha verstehen. Eine biographische Interpretation, wie sie unter Germanisten verpönt ist, von Corino aber nahegelegt wird, auch wenn er, wohl aus Pietät »seinem« Autor gegenüber, den Zusammenhang nicht direkt formulieren will.
Nicolas Mahler wird solchen Überlegungen nicht nachgehangen sein, und doch gehen seine Zeichnungen in dieselbe Richtung, sie zeigen eine unbestimmte Figur, einen Mann ohne Eigenschaften als weißen Fleck, der zu klaren Äußerungen oder Handlungen ebenso unfähig ist wie seine Umgebung und sich dank seiner hypertrophen Reflexionskraft über diese erhebt. »Beim Bleigießen, welches das Schicksal mit uns veranstaltet« (ein Satz der Erzählerautorität im Mann ohne Eigenschaften) entstehen diese unförmigen Dinger, die wir als Menschen, als »Personen« identifizieren, ähnlich den Tierchen, die wir auf den Blättern beim Rorschach-Test zu erkennenglauben: Fuchs, Hase oder Katze, Moosbrugger, dem gehätschelten Verbrecher des Romans, ist das egal, und auch dem Zeichner sind die Personenflecken egal, weil sie dem Schicksal egal sind und weil in dieser Egalität und Gleichgültigkeit sich die kakanische Lebensphilosophie ausdrückt, die Mahler zu Papier gebracht haben mag. Hauptort ist, neben der Zelle des Verbrechers, der für meinen Geschmack ein bißchen zuviel Raum erhält (schon bei der Lektüre des Romans merkt man, daß Musil nach ein paar Hundert Seiten nicht mehr recht weiß, was er mit Moosbrugger anfangen soll), und einigen belanglosen Straßenszenen der Salon Diotimas, in dem das hypothetische »große Ereignis« umschwänzelt wird. Hohe Räume, hohe Fenster, gähnende Leere, komische Tierchen, als Soldat, Priester, als »Herr« oder »Dame« vage erkennbar. Geometrische Figuren, drei an der Zahl, Pyramide, Zylinder und Kugel, warum eigentlich? Vielleicht wegen Schloß Schönbrunn mit seinem »französischen« Park, einem von der Sorte, wie ihn sich die großen und kleinen Alleinherrscher Europas bauen zu lassen beliebten? Schönbrunn, Wiener Stadtpalais, Kakanien. Zimmerfluchten, gähnende Leere. Die Frau mit der ausladenden Obstschale als Hut, eine Vielzahl von zur Pyramide getürmten Kugeln anstelle des Kopfes. Nichts, gähnende Leere. Muß man den Mann ohne Eigenschaften wirklich lesen?
Noch ein bißchen Geometrie, Kapitel 12, eine »perspektivische Verschiebung«. Eine Hausangestellte und ein Diener (im Roman ist es Soliman, der junge »Mohr«, den sich der gefühlvoll-aufklärerische Geschäftsmann Arnheim zu seinem pädadogischen Vergnügen hält) schauen durch ein Schlüsselloch, und was sehen sie? Zwei von diesen Figürchen, Ulrich und Diotima, die Frau mit zwei überkopfgroßen Haarkreisen über dem Kopf. Sie reden, das heißt: sie machen Blabla. Etwas später schaut die Hausangestellte noch einmal durch, und nun sieht sie ein anderes Figürchen, einen Gefangenen in seiner Zelle, durch seinen Rundschädel und die Bartstoppeln als primitiver Verbrecher signalisiert (was dem Moosbrugger des Romans nicht recht entspricht). Und was sagt uns die perspektivische Verschiebung, der unwahrscheinliche Szenenwechsel? Daß die beiden Herrschaften über Moosbrugger sprechen? Daß Moosbrugger Ulrich im Kopf herumgeht? Daß die Herrschaften selbst nicht viel anders sind als gemeine Verbrecher? Daß sich das Gespinst von Stimmen rund um die Leere (= das große Ereignis) nicht recht begreifen läßt?
Patzig, sagte ich, ist die Art von Mahlers Stellungnahme. Ich weiß nicht genau, was es bedeutet, aber das Eigenschaftswort scheint mir immer noch zu passen. Eine Mischung aus Unmut und Belustigung; Figuren als gadgets, ganz leicht in unsere Computerspielwelt einzugliedern. Die laufen und laufen, reden und reden, man denkt an kein Ende, kein Ziel, es gibt nur levels, immer neue. Höhere? Nein, andere. »Es könnte ebensogut anders sein«, so endet Mahlers Comic, mit diesem Satz und diesem Bild: einem Mann ohne Eigenschaften, der unter einem vergitterten Zellenfenster vorbeigeht. Es regnet nicht, könnte aber regnen. Wahrscheinlich wird es heute noch regnen. Oder auch nicht, zur Sicherheit hat das Männchen einen Regenschirm mitgenommen. Alles könnte anders sein. Aber wie? Du kannst es dir ausmalen, so oder so. An die Arbeit, Musil, keine Hemmungen! Tun wir irgendwas, befreien wir Moosbrugger!
(Ehrlich gesagt, ich habe die Moosbrugger-Obsession Ulrichs immer für eine Marotte Musils gehalten. Ein Modethema, die deutschen Autoren der Jahrhundertwende hatten zuviel Dostojewski gelesen. Marotte und Maskottchen. Ergebnis des Bleigießens einer gehemmten Phantasie.)
© Leopold Federmair
Bibliographie
Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften gezeichnet von Mahler. Berlin, Suhrkamp Verlag 2013
Norbert Christian Wolf: Kakanien als Gesellschaftskonstruktion. Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts. Wien, Köln und Weimar, Böhlau Verlag 2011
Marcel Reich-Ranicki: Der Zusammenbruch eines großen Erzählers, in: R.-R.: Sieben Wegbereiter. Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Stuttgart und München, DVA 2002
Karl Corino: Robert Musil. Eine Biographie. Reinbek, Rowohlt 2003
Nun ja. Dass angeblich nach Kafka und Joyce »jetzt auch« bei Musil Humor entdeckt werde, scheint mir ein danebengegangener Versuch der Zeitgeistschelte. Zum einen ist der »MoE«-Humor keine Einbildung; der ganze erste Band ist randvoll mit Satire. Zum anderen ist er auch nichts modisches Neues. Den Humor, die Ironie, die Karikaturen und die Satire haben schon Musil selbst, die zeitgenössichen Rezensenten und von Anfang an auch die »Musilforscher« betont.
— Mir erschließt sich auch sonst nicht ganz, warum Mahlers Comic hier für Kulturpessimismus herhalten muss. Meineserachtens kommt kein halbwegs vernünftiger Leser auf die Idee, Mahler wolle ernsthaft den Mann ohne Eigenschaften mit seinen paar Comicseiten »auf den Punkt bringen«. Der Comic »reduziert« nicht den Roman, sondern er variiert einzelne Romanmotive und macht schon durch Umfang und Gestaltung sofort klar, dass es sich um ein formales Spiel handelt, dass man überhaupt nur nachvollziehen kann, wenn man den Roman kennt. Was das mit Trivialisierung (»Spaßkulturgeneration«, »Computerspielwelt«) zu tun haben soll, ist mir schleierhaft.
Ich kenne weder den MoE noch den Comic. Wenn man den Comic nur »nachvollziehen« kann (was immer das bedeutet), wenn man den Roman kennt, ist eine interessante These, die aber den Leserkreis für den Comic sofort sehr einschränkt. Unterschwellig suggeriert das Genre ja (wie übrigens auch immer eine Verfilmung eines Romans damit spielt), dass man den Roman vielleicht erst einmal nicht kennen muss. Ansonsten wäre der Comic im Nachteil.
Mahler will den Roman (vielleicht) nicht auf den Punkt bringen, aber er tut es.
Herr Keuschnig, es ist tatsächlich so, wie Sie sagen: Der Comic richtet sich an einen sehr eingeschränkten Leserkreis. Wer aus dem Medium ‘Comic’ gleich Popularisierung herleitet, liegt in diesem Fall falsch.
Nehmen wir Ihr Beispiel Romanverfilmung. Gängiges Rezept: Den Plot auf eine Liebesgeschichte zusammenschneiden, ein paar hübsche Schauspieler in teure Kostüme stecken, reichlich Musiksoße drüber. Mahler macht gerade das Gegenteil. Von ihm bekommt man ein paar abstrakte, leere, schwarzweiße Bilder mit kaum Text vorgesetzt, denen man eigentlich überhaupt erst Sinn oder eine Beziehung untereinander zuschreiben kann, wenn man sich an Romanstellen oder ‑motive erinnert, auf denen sie beruhen. Und das soll jetzt für die »Spaßkulturgeneration« sein?
Reich-Ranicki hat damals ja eine »Leseausgabe« gefordert, die aus den »schönsten« und »wichtigsten« Stellen einen besseren Mann ohne Eigenschaften hätte kompilieren sollen. Wenn Mahler das jetzt versucht hätte, könnte man meinetwegen die großen Kulturpessimismusgeschütze auffahren.
@Wabbeldickwurst [die Pseudonyme waren früher auch irgendwie kunstvoller]
Dann brauche ich also den Comic gar nicht lesen, wenn ich den Roman kenne?
Ich hatte von Federmairs Text nicht unbedingt den Eindruck, dass das große Kulturkritik-Geschütz aufgefahren wird. Wenn »Figuren als gadgets« bei Mahler erscheinen, ist das vielleicht nichts anderes als die Kostümierung in Filmen. (Sorry für mein Insistieren auf den Film-Vergleich, der womöglich unzureichend sein muss, zumal ich ja, wie gesagt, weder Comic – »Graphic Novel«? – noch Roman gelesen habe. Würde ich wählen müssen, entschiede ich mich immer für das »Original«.)
Andersrum: Wenn Sie den Roman nicht kennen, brauchen Sie auch den Comic nicht lesen.
Wie auch immer, es besteht ein Zusammenhang zwischen Roman und graphischer Adaptierung. Ohne Musils Roman kein Malhler-Comic. Ob beabsichtigt oder nicht, der Comic macht eine Aussage über den Roman, und zwar mit ähnlicher Tendenz wie das, was Reich-Ranicki über den »Mann ohne Eigenschaften« und Musil als hochtalentierten, aber gescheiterten Autor schrieb. Reich-Ranicki wurde von Kritikern und Germanisten für seine Schelte zerrissen. Ich teile seine grundsätzliche Haltung gegenüber Literatur nicht, aber meines Erachtens sind einige seiner Argumente triftig. Mahlers Comic äußert auf coole und sehr knappe, stilistisch antithetische Weise, daß da eine ganze Gesellschaft (»Kakanien«) und ihre Protagonisten (Musils Alter Ego Ulrich) viel Blabla um nichts machen, daß sie irgendetwas Großes anvisieren, von dem sie keine rechte Ahnung hatten, was es sein sollte. Nüchtern betrachtet ist das ein wenig enttäuschend für einen tausend- oder zweitausendseitigen Roman.
Musil notierte irgendwann in den dreißiger Jahren, als der Roman für ihn persönlich längst zur Zwangsanstalt geworden war, der er nicht mehr entkommen würde, er sei eben ein Satiriker. Er schrieb das mit einem bitteren, resignativen Unterton. Satire, ja – Humor, wenig. Musil ging sein Unternehmen mit monumentalem Ernst an und verfolgte es wie ein Berserker. Das führte, so empfand ich viele Stellen bei der zweiten genauen Lektüre (zwanzig Jahre nach der ersten), zu Verkrampfungen und auch immer wieder zu Vergleichen und Bildern und zu geistreichen Sentenzen, die zumindest hinterfragenswert sind. Germanisten neigen in diesen Fällen dazu, Musil eine »kühne Bildlichkeit« u. dgl. zu attestieren.
Kulturkritik wollte ich in meinem Beitrag nicht groß treiben, aber es liegt immer wieder nahe, die Dinge in ihrem Kontext zu sehen. Minimalismus (Mahler) versus Monumentalismus (Musil), Lockerheit versus Hochspannung in Permanenz, Dilettantismus versus Könnerschaft – da prallen eben auch zwei grundverschiedene Epochen und Stile aufeinander. Der Beitrag von W. hilft, diese Dinge in schärferem Licht zu sehen und Mahlers Comic mehr abzugewinnen, jenseits der Sprechblasen sozusagen.
An dieser Stelle bin ich auch hängen geblieben:
Mahler weist uns auf den bislang von den geneigten Rezipienten stiefmütterlich behandelten Musilschen Humor hin, den er im Großroman gefunden zu haben scheint. Nach Joyce und Kafka ist jetzt auch Musil lustig geworden. Am Ende wird es noch den guten Ernst Jünger treffen, etwa nach dem Motto: Damals in den Stahlgewittern, was haben wir gesoffen…
Gerade in Kafkas Erzählungen steckt (bisweilen) ein feiner, hintergründiger Humor, den man doch nicht mit Spaß gleichsetzen kann (nicht wegen Kafka, sondern weil Humor etwas anderes als Spaß ist). Da möchte ich Wabbeldickwurst beipflichten, dieser Seitenhieb ist vielleicht zu sehr gewollt...
Ich habe einen Freund der Comics sammelt und sich für Literatur interessiert, witziger (oder konsequenter?) Weise mit der »graphic novel« aber nichts anfangen kann. Nun bin ich alles andere als ein Comic-Kenner, meine aber, an einem Comicgeschäft, dass sich gleich um die Ecke befindet, zu beobachten, dass literarische Vorlagen für »graphic novels« (scheinbar) in Mode sind. Ist das Genre-typisch? Oder doch nur Mode? Absatzfördernd? Eine Herausforderung? Oder für den Zeichner praktikabel, weil schon eine Handlungsvorlage existiert?
Wenn man »die« Handlung oder »den« Kerngedanken eines Romans zusammenfasst, streicht man, sozusagen, alles Ästhetisch, seine Welt, das Beispielhafte, Ambivalente, usf., nur das Allgemeine bleibt bestehen, eine notwendige Verkürzung, wenn man bestimmte Aspekte herausgreifen und diskutieren will, ähnlich, wie man aus einem philosophischen Werk die Kerngedanken herausstreichen kann, die Argumente, Überlegungen und Prämissen, das Selberlesen und ‑denken bleibt allerdings auf der Strecke...
Es gibt durchaus Graphic Novels die versuchen, dem Inhalt und der Struktur ihrer Vorlage sozusagen gerecht zu werden. Zum Beispiel Isabel Kreitz mit ihren Comic-Adaptierungen von Romanen Erich Kästners oder auch Uwe Timms. Zugang und Stil sind bei Kreitz dem Verfahren Mahlers diametral entgegengesetzt, sie versucht, Historisches auch bildlich wiederzugeben und macht den Abstand bewußt, der den heutigen Leser von diesen Geschichten trennt. Es ist wohl ein eher realistischer Stil, während Mahler abstrahierend vorgeht und die Chronologien der Geschichten von vornherein außer Acht läßt und die narrativen Elemente (soweit welche bleiben) ganz anders kombiniert. Natürlich ist es bei einem Riesenwerk wie dem »Mann ohne Eigenschaften« fast ausgeschlossen, alles noch einmal der Reihe nach in Bildfolgen zu erzählen – ganz abgesehen von der Frage, ob ein Roman nicht viel mehr ist als seine erzählten Handlungsinhalte, die im Prinzip natürlich zu bejahen ist. Pointiert formuliert könnte man sagen, Mahler habe einen visuellen Anti-Musil geschaffen. Was sich allein schon in der ostentativen Kargheit seines Werks ausdrückt.
Ein Nachtrag. Der »Mann ohne Eigenschaften« hat satirische Tendenz, aber kaum Humor. Sein Autor hatte ein tiefernstes Sendungsbewußtsein, dem die zeitgenössischen Umstände nicht recht Folge leisten wollten. In seiner 1927 gehaltenen Rede zur Rilke-Feier in Berlin äußerte Musil seine Überzeugung, »die innere Reinheit, die innere Klarheit und Würde, der unbestechliche Ernst« bildeten »das höchste Gut« einer Literatur.
Über diese Ernsthaftigkeit kann man sich (mit einigen Gründen) lustig machen. Ein Humorist oder gar Witzbold war der Autor nicht.
Ernsthaftigkeit ist in Zeiten der grassierenden Dauerironie wirklich nicht mehr angesagt. Leider macht sich kaum jemand mal über die Lustigmacher lustig.
Geht das? Sich über die Lustigmacher lustig machen?
Aufgeben mag (und kann) ich die Ernsthaftigkeit auch nicht.