Bahrs Wort, dass die Überwindung des Status quo dadurch gelingt, indem der Status quo zunächst nicht verändert werden soll stiess auf Unverständnis und Ablehnung. Die Auguren hatten da kleine Wörtchen zunächst in der Eile überlesen. Es sollte noch sechs Jahre dauern, bis essentielle Bestandteile dieses Denkens in die Ostpolitik der sozial-liberalen Koalition einflossen.
Die »Tutzinger Rede« hält heute noch interessante politische Erkenntnisse bereit, die jedem politisch Handelnden ins Stammbuch geschrieben gehörten. So lässt sich Bahr über den Unsinn von Wirtschaftsboykotts aus (Es ist eine Illusion, zu glauben, dass wirtschaftliche Schwierigkeiten zu einem Zusammenbruch des Regimes führen könnten.) und plädiert mit Verve gegen eine Politik des Alles oder Nichts, die er als hoffnungslos antiquiert und unwirklich und für eine langfristige Strategie des Friedens auch sinnlos ausmacht. Auch den Einwand, man akzeptiere mit politischen Verhandlungen automatisch das Bestehende, lässt Bahr nicht gelten. Zum einen streicht er heraus, dass es sehr wohl immer schon irgendwo Akzeptanzen gibt und andererseits wäre bei konsequenter Berücksichtigung dieses Vorgehens Politik als Konfliktlösung per se unmöglich.
Bahr plädierte für Annäherungen (d. h. Verhandlungen), um für die Menschen in den entsprechenden Ländern (insbesondere die DDR, die er – hier Kind seiner Zeit -, Zone nennt) Erleichterungen…in so homöopathischen Dosen zu erreichen, dass sich daraus nicht die Gefahr eines revolutionären Umschlags ergibt. Bahr befürchtete andernfalls eine Eskalation, die bis zum Atomkrieg gehen könnte.
Heute, am 18. März, wird der Architekt von Willy Brandts Ostpolitik 85 Jahre alt. Nicht wenige behaupten, Bahr gebühre der 1971 an Brandt vergebene Friedensnobelpreis mindestens zur Hälfte. Hierauf angesprochen, würde er es vermutlich mit einem einfachen »Quatsch« abtun. Eitel war Bahr nie; eher bescheiden. Er war ein glänzender aussenpolitischer Stratege und begnadeter Strippenzieher. Brandt hatte das Charisma – und Bahr arbeitete die Politik aus. In seinem sehr lesenswerten Buch Zu meiner Zeit kann man das nachlesen und erfährt auch viel über die innenpolitischen Störfeuer wider die Ostpolitik und über das Selbstbewusstsein der deutschen Aussenpolitik auch den USA gegenüber.
Zum Idol Willy Brandt bleibt Bahr über den Tod hinaus loyal und äussert sich nur sehr zurückhaltend über Brandts gesundheitliche Probleme, die von Zeit zu Zeit die Regierungsarbeit fast verunmöglichten. Zum Binnenverhältnis Brandt – Schmidt – Wehner nimmt er allerdings kein Blatt vor dem Mund; vieles spricht dafür, dass Bahrs Sicht der Realität sehr nahe kommt.
Schachspieler haben ein Wort dafür, einen materiellen Vorteil zu Gunsten eines strategischen Vorteils anzubieten, wobei der strategische Vorteil am Ende mehr die Entscheidung über den materiellen hervorbringt: Man bietet einen »vergifteten Bauern« an. Mit jedem neuen Vertrag, den Bahr mit den osteuropäischen Staaten aushandelte, wuchsen die Interdependenzen zwischen West und Ost. Der Prozess gipfelte 1975 in der (ursprünglich von der Sowjetunion vorgeschlagenen) »Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa« und dem Beschluss des sogenannten »Korb 3«, der essentielle Verbesserungen auf dem Gebiet der Menschenrechte in Europa brachte – Wandel durch Zusammenarbeit! Aus der KSZE entstand dann später die OSZE.
Merkwürdig ist, dass der Erfolg der Politik des Wandels durch Annäherung offensichtlich derart in Vergessenheit geraten ist, dass sie kaum Auswirkungen für heutige politische Konfliktlösungen hat. Die Zahl der Konflikte, die dringend zu lösen wären, sind ja nicht unbedingt weniger geworden: Naher Osten; Iran; Darfur; Nordkorea, etc. Heute scheint es zur Tugend zu gehören, erst einmal mit Maximalforderungen und –drohungen konstruktive Verhandlungen zu erschweren oder gar im Vorfeld zu desavouieren, um sich vor den entscheidenden politischen Schritten so lange wie möglich herumzudrücken.
Gäbe es mehr Politiker wie Egon Bahr – die Welt sähe anders aus. Mit wortgewaltig-komplizierten Theorieentwürfen hat er nie beeindruckt; die »Tutzinger Rede« blieb da fast einmalig. Bahr war ein Mann des Handelns, des Verhandelns; das Ziel fest im Auge, und daher in Grenzen immer kompromissbereit. Nach der Verhandlung war für ihn immer vor der Verhandlung; was man jetzt nicht umsetzen konnte, wurde später versucht. Er hat Grosses geleistet. Sein Urteil zu politisch-strategischen Fragen ist heute noch wertvoll. Und es ist schön, ihn ab und an im Fernsehen in guter Gesundheit und geistiger Frische sehen zu dürfen. Dies möge ihm noch lange erhalten bleiben.
1961 besuchte ich Egon Bahr in Berlin – er war Redakteur im Rias. Ich wollte in der DDR »Widerstand« leisten...
Ich war damals fast 19 Jahre alt, lebte in Ostberlin, war in einem stberliner portverein, dem SC Einheit Berlin, 1958 und 1959 DDR-Jungendmeister im Hüdenlauf – ging aber in Westberlin zur Oberschule, stand kurz vor dem Abitur.
Egon Bahr fragte mich zunächst, ob ich unten beim Pförtner meinen richtigen Namen gesagt hatte. Ich antwortete mit »Ja« und hatte mich damit für mein Ansinnen ohnehin disqualifiziert.
Er riet mir aber auch sonst mit vernünftigen Argumenten ab. Die globale Entwicklung werde Bewegung in die Politik bringen, man solle sich nicht sinnlos opfern...
Allerdings ging die politische Bewegung erst einmal in die »falsche« Richtung. Wenige Monate später, am 13. August 1961, wurde die Demarkationslinie in Ostberlin mit bewaffneten Kräften und mit Stacheldrahl abgesperrt – ich diskutierte heftig an den Absperrungen und wurde drei Jahre eingesperrt.
Würde gern noch einmal mit Egon Bahr reden. Im Rias Berlin ist er ja nicht mehr...
Mit freundlichen Grüßen
Roland Exner