Mario Vargas Llosa wird achtzig
Es war fast ein bißchen spät für diese Auszeichnung, als Mario Vargas Llosa 2010 den Nobelpreis für Literatur zugesprochen bekam. Nicht weil er zu alt dafür gewesen wäre, sondern weil sein Lebenswerk damals bereits eine beeindruckende Zahl an Büchern umfaßte, von denen viele aus der Geschichte der lateinamerikanischen Literatur und einige aus der Weltliteratur nicht mehr wegzudenken sind. Wenige Wochen vor seinem 80. Geburtstag erschien nun ein neuer Roman des peruanischen Autors, der in den neunziger Jahren in seinem Heimatland spielt, in einer Zeit, als er selbst mit guten Aussichten für die Präsidentschaft kandidierte, während sein Gegner Alberto Fujimori, heute Gefängnisinsasse, sich anschickte, mit populistischen Slogans das Land für ein Jahrzehnt unter seine zweifelhaften Fittiche zu bringen.
Fast drei Jahrzehnte vor Vargas Llosa hatte sein kolumbianischer Kollege Gabriel García Márquez den Nobelpreis erhalten, vor allem für ein Buch, den Beststeller Hundert Jahre Einsamkeit. Über »Gabo«, mit dem er eine Zeitlang befreundet war, hatte Vargas Llosa schon 1971 in Madrid seine Doktorarbeit abgeschlossen, Untertitel: »Geschichte eines Gottesmords«. Der gemordete Gott ist, Vargas’ Interpretation zufolge, die verhaßte Wirklichkeit, die der Romancier durch sein fiktionales Gebäude ersetzt. Diese Idee, Wahrheit durch die kunstvolle Lüge der Literatur zu vermitteln, entwickelte Vargas Llosa später weiter, er machte sie zum Fundament seines eigenen Schaffens und nahm sich dabei unter anderem den Uruguayer Juan Carlos Onetti zum Vorbild. Vargas Llosa ist nicht zuletzt ein hervorragender Essayist, der eine Reihe von Gestalten aus Kunst und Literatur mit seltenem Großmut porträtierte. Fragt man, welches seiner eigenen »Lügengespinste«, die immer auch einen starken Gehalt an zeitgenössischer oder historischer Realität aufweisen, im Zentrum seines Schaffens steht, fällt die Antwort bei solcher Vielfalt schwer. Hat man den »totalen Roman« Gespräch in der Kathedrale ob seiner kompositorischen Kühnheit und der Fülle an Figuren und Szenen aus der Diktatur Manuel Odrías (1948–1956) bewundert, wo die Hauptfigur (wie Vargas Llosa selbst) für kurze Zeit der kommunistischen Ideologie anhängt, so wird man den acht Jahre später (1977) erschienenen komödiantischen Roman Tante Julia und der Kunstschreiber mit Staunen über die schwankhafte Leichtigkeit lesen, mit welcher ein und derselbe Autor zu schreiben versteht.
Diese beiden Romane spielen in Lima und Umgebung, also an der peruanischen Küste. Zuvor schon hatte Vargas Llosa die Geschichte von Das grüne Haus im Amazonasgebiet angesiedelt, mit einer Hauptfigur, dem Polizisten Lituma, der in mehreren Werken wiederkehren sollte und 1993 schließlich im Titel eines Romans auftaucht: Lituma in den Anden. Hier nimmt sich Vargas Llosa einer weiteren geographischen Zone seines Heimatlands an; vor allem aber ist dieser Roman eine glaubwürdige Auseinandersetzung mit dem politischen Messianismus, der viele Jahre lang in Peru virulent war, vor allem in Gestalt der Guerilla »Leuchtender Pfad«. Zuvor hatte Vargas Llosa bereits über eine historisch frühere, religiöse Form des Messianismus geschrieben, wie sie im Brasilien des 19. Jahrhundert grassierte: Der Krieg am Ende der Welt, ein weiterer Monumentalroman.
Blickt man auf diese Biographie von 80 Jahren, die mehr als 60 Jahre literarisches Schaffen und ein starkes politisches und humanistisches Engagement enthält, so verblüfft die Konsequenz, mit der die verschiedenen Ebenen, Perioden, Themen und Ausdrucksformen ineinandergreifen und auseinander hervorgehen. Vargas Llosa ist ein zutiefst peruanischer Autor, dessen Sprache und Erfahrungen in ganz bestimmten Regionen wurzeln. Er hat seinen Horizont sukzessive erweitert, auf ganz Lateinamerika und schliesslich zu weltweiten Perspektiven ausgedehnt, die er zu bündeln versucht, im Spätwerk manchmal fast ein wenig zu routiniert, so in Das böse Mädchen, wo die aus dem Viertel Miraflores in Lima stammende Titelfigur einen Parcours rund um die Welt hinlegt. Eines der letzten Werke, ernsthafter als dieses, ist der historische Roman Der Traum des Kelten, der in parallelen Handlungssträngen die Geschichte des Kolonialismus und der Naturausbeutung im afrikanischen Kongo sowie im lateinamerikanischen Amazonasgebiet aufarbeitet. Zuletzt konnte man fast den Eindruck habe, Vargas Llosa wolle uns mit aller Macht etwas beweisen, was er längst nicht mehr zu beweisen braucht: Wenn es einen »kompletten«, allseitig gewandten und bewanderten Erzähler gibt, der sein Tun auch noch locker zu reflektieren versteht, dann ihn, den hochbegabten und fleissigen Varguitas, den kleinen großen Julio, den Kunstschreiber, den seine zehn Jahre ältere Tante Julia, lang lang ist’s her, einst in die Liebe einführte, die ihn gewiß auch in seinem Schriftstellerdasein bestärkte (wie in einem der fröhlichsten Romane des 20. Jahrhunderts nachzulesen ist).
© Leopold Federmair