Wenn ich alleine bin, beginnen die Dinge zu sprechen. Nur, wenn ich alleine bin und nicht nur sie. Es ist immer meine Stimme mit der sie sprechen, die sie sich leihen und doch ist in ihr immer etwas Anderes, Fremdes, das mir manchmal überdeutlich und manchmal nahezu unkenntlich entgegen tritt, selbst im Bekannten, im Alltäglichen noch. Ja, gerade in ihm.
Ich sprach die Sätze nach, lautlos, um sie mir zu merken, die plötzlich ungebeten und ohne jedes Wollen dagewesen waren, obwohl ich mein Notizheft und einen Bleistift eingesteckt hatte; ihretwegen war ich sogar noch einmal zurückgegangen, aber jetzt hatte ich sie vergessen, weggeschoben, wohl wegen der Kälte, denn es hatte zum ersten Mal in diesem Jahr einige Grad unter Null: Ein eisiger Wind, der meine Finger rasch klamm hätte werden lassen, trieb den Schnee in Böen die Straße entlang durch die dürren Büsche an ihrem Ende, die raschelten und schwirrten und dann in die Lichtkegel der Straßenlaternen hinein, als gelte es einen versäumten Tanz nachzuholen. Für gewöhnlich eilte dieses Ungebetene fast so schnell wie es gekommen war wieder davon, ich musste ihm hinterher, immer und nur wenn ich schnell genug war, konnte ich ihm habhaft werden. Manchmal blieben Bruchstücke zurück und angefangene Sätze, die ich nur mit viel Mühe vervollständigen konnte, ungewiss ob sie demjenigen zu dem sie gehörten, entsprachen. Aber diesmal schien es auch so zu klappen, das Memorieren half und die wenigen Sätze standen wie zum Greifen vor mir: Meine Lippen zuckten noch einige Zeit lang, ohne sinntragende Silben zu formen und ohne eine gedankliche Entsprechung.
Die Splitter und Sentenzen, die ich mir notierte, füllten Seite um Seite, Heft um Heft, blieben nach dem Aufschreiben aber unbeachtet und ungelesen, ich legte die ausgeschrieben Hefte zur Seite, in eine für sie vorgesehene Kiste und vergaß sie. Nur selten nahm ich sie wieder heraus, ich blätterte dann in meinen Heften, aber nicht weil ich etwas suchte. Ich war zu bequem dafür und nicht besonders gut darin, es mangelte mir an Geduld und Fähigkeit dazu. Außerdem war mein visuelles Gedächtnis völlig unbrauchbar und ich wurde, egal wonach ich suchte, nur selten fündig. Trotzdem beschriftete ich meine Hefte akkurat, ich notierte mir Tag, Monat und Jahr auf dem Deckblatt und den Zeitraum, über den sich die Eintragungen erstreckten, gleichsam als Titel, wie ein Buchhalter es tun würde und verstaute sie übereinander: Jedes Jahr bildete einen eigenen Stapel, mit einer ihm eigenen Höhe. War ein Jahr vorüber, band ich den Stapel mit einem Spagat zusammen, so, dass er sich wieder öffnen ließ.
Ich hatte nie gelernt mich noch im Moment zu entscheiden, das Bedeutsame vom Bedeutungslosen zu trennen, die Intensität des Aufgetauchten war immer gleich groß und dergestalt, dass ich keine Wahl hatte, als es auf Papier zu bannen. Und es dann zu vergessen: Bannen und vergessen! Damit tat ich mir einen Dienst, denn meine Kiste und die darin lagernden Notizen standen in einem mir nicht ganz klaren Verhältnis zu meinem Wohlbefinden und zwar dergestalt, dass die Aufbewahrung der Notizen wichtiger war, als deren Lektüre. Es war nicht so, dass mich ein Widerwille von der Kiste ferngehalten hätte, ich hätte sie auch entsorgen oder die Hefte als Heizmaterial verwenden können, denn ich besaß einen kleinen Schwedenofen, den ich im Winter, so oft es ging, anstelle der Zentralheizung, benutze. Hätte, denn wie gesagt, stand die Kiste und deren Inhalt in einem Verhältnis zu meinem Wohlbefinden, auch wenn sie es nicht selbst war und kein Garant dafür. Aber ich blätterte auch in meinen Heften, als Zeitvertreib, wenn mir langweilig war oder wenn ich über etwas nachdachte und mich durch das Blättern und Wenden der Seiten beruhigte. Und ich betrachte in den Pausen, die ich während des Blätterns machte, meine krakelige und doch bildhafte Schrift recht gerne, häufig ohne sie zu lesen. Dann und wann verlor ich mich in meinen eigenen Schriftbildern, sie wurden dann raumerfüllend groß und kurzzeitig meine einzige Wirklichkeit.
In diesem Augenblick blieb ich an einer Wurzel, die unter der Schneedecke verborgen war, hängen. Ich stolperte ein paar Schritte vorwärts in eine gefrorene Lacke, deren dünne Eisdecke klirrend zerbarst, blieb gerade noch auf den Füßen und stützte mich keuchend auf meine Knie: Die kalte Luft drückte auf meine Lunge, dann bemerkte ich einen brennenden Schmerz. Ich musste mit den Zehen gegen das Holz oder einen Stein gestoßen sein. Ich schob meine Zehen auf- und dann abwärts, als könnte ich durch den Schuh sehen was passiert war, schüttelte anschließend meine Füße, um die Schuhe vom Schnee zu befreien und ging etwas langsamer und einige Schritte humpelnd, weiter.
Ich grinste mich selbst an: Allerdings suchte ich in meinen Heften gelegentlich so manisch wie ich schrieb und ich ließ nicht locker bis das, was ich nachlesen wollte, auch aufgetaucht war. Im Gegensatz zu meinem visuellen Gedächtnis, war mein zeitliches hervorragend und ich irrte mich in der Einschätzung des Zeitraums in dem ich etwas aufgeschrieben hatte, nie. Allerdings: Das genaue Datum merkte ich mir nicht. Ich begann zu überlegen: Wenn das Bedeutsame der Grund meiner Notizen war, dann war es wohl auch der meines seltenen aber eben unleugbaren Interesses, also des Wiederaufsuchens bestimmter Stellen. Das war einleuchtend und entzog sich meinem gedanklichen Zugriff im selben Moment: Die Gründe meiner Bedeutsamkeiten blieben mir verschlossen, sie waren uneinsehbar, obwohl es die Bedeutsamkeiten waren, die mein Handeln begründeten, die es mir überhaupt ermöglichten in es selbst einzuwilligen. Aber jenseits davon konnte ich mir keine Gründe meines Handelns geben und so sehr ich mich auch anstrengte, es doch zu versuchen, mir blieben nur schale Rechtfertigungen und Konstrukte, die ich im Nachhinein formulierte.
Meine Schritte verursachten ein eigenartiges Knirschen im pulvrigen Schnee: Ich bleib stehen und einige Augenblicke lang schwieg alles, eine Leere begann sich aufzutun, dann drängten meine Gedanken wieder hervor und ich ging weiter: Redlich schien mir nur eine lebensgeschichtliche Begründung, ein Nachdenken, das diese Entzogenheit in sich aufbewahrte und nicht ursupierte: Das war die Wurzel jenes Geflechts, das unser Dasein ist oder besser wird, wenn wir den Mut besitzen uns unserer eigenen Geschichte zuzuwenden. Unser Grund war also irrational, den das Denken in sich aufzunehmen hatte, den es befragen, verwerfen und über dem es verzweifeln mochte. Aber erst, wenn es ihn zu ersetzten sucht, sich durch sich selbst und dabei allem anderen ledig, begründen will, ist das Unglück vollkommen, hat der Erwachsene begonnen, das Kind aus sich zu vertreiben, das er bislang in sich und das heißt in seinem Denken aufgehoben und bewahrt hatte. Mich überkam eine Leichtigkeit, ich tänzelte, meine schmerzende Zehe vergessend, und sprang vergnügt vorwärts, bis mir der Wind wieder ins Gesicht fuhr und mich zurück holte. Zu leben bedeute, dachte ich, wieder mit gemessenem Schritt und ein wenig keuchend dahingehend, etwas Bedeutsames zu suchen, oder eher noch auf es zu stoßen, nein: Von ihm ergriffen zu werden. Man konnte eigentlich wenig tun, als Mäander zu schlagen und Umwege zu nehmen, der eindeutige, geradlinige Weg, die sichere Entscheidung, die Klarheit sind eine verlockende Falle.
Ich war noch einmal weggegangen, das heißt überhaupt weggegangen. Das war wieder so etwas: Ein Einklang, den ich fühle, mit dem, was ich noch nicht begonnen habe und häufig gar nicht wollte, also es noch nicht zu bestimmen suchte. Und dann geht man einfach, handelt, innerlich frei, ungedrängt und staunenerwecked tritt einem alles entgegen. So muss es den Kindern ergehen, mit jedem ihrer Schritte und wir Erwachsene müssen glücklich sein, wenn das Staunen dann und wann wieder kommt, wenn das Wunderbare vor einem steht, obwohl es gar nicht da sein kann und das bloße Schauen genügt. Es ist die Anschauung, wegen der die Kinder so gerne bleiben und sie insistieren stets darauf weiter schauen zu können. Ihr entspringt eine Genügsamkeit, die sich ehrerbietend zu dem was sich zeigt, hinneigt. Schauen, bedeutet existieren, sich selbst in Relation zu etwas anderem hin, auszuhalten.
Sich selbst auszuhalten: Dass man sich darüber nicht mehr täuscht, nicht mehr ständig zu täuschen vermag, dafür ist das Alleinesein gut, ist die Einsamkeit ein Geschenk. Enttäuschung also und damit Schrecken und Traurigkeit, angesichts des unabänderlich Verratenen, des vermeintlich Gewesenen. Diese Einsamkeit ist nicht mit irgendetwas zu füllen, um sie endlich zu vertreiben, um zu fliehen vor dem Zustand des Selbst, schon aus einer, nicht einmal angsterweckenden Ahnung, heraus. Notwendigkeit ohne Nutzen, das ist was in der Einsamkeit beredt werden kann, das ist ihre Forderung an uns, eine Besinnung auf uns selbst, um ihr mit uns selbst, dann wieder ein Stück weit zu entwachsen, in einen Rausch, eine Intensität hinein: Heilung? Überwindung gar? Die Versunkenheit eines Tuns kann alles aufheben, aber sein Ende markiert, dass es nicht von Dauer ist: Dann bricht wieder alles über einen herein: Linderung vielleicht, vorübergehend, so wie die eigene Wahrnehmung das Andere erst aufzunehmen vermag und die eigene Spur seine Verdichtung erst ermöglicht: Tröstlich ist es, das Eigene im Anderen, als einen Anteil, zu erblicken. Das Leiden ist nicht zurückzunehmen, sondern aufzubewahren, das ist es, was den Menschen über die unbewusste, tierhafte Existenz hinausträgt. Auch davon wissen bereits die Kinder, nein, es ist ihnen selbstverständlich wie unbewusst und wir verstünden es, wenn sie es aussprechen könnten, so aber versuchen sie unaufhörlich es uns zu zeigen, den Erblindeten, das Sehen zu lehren. Es ist kein Mangel ihrer Bilder, es ist einer in den Subjekten, die ent- , aber nicht erwuchsen. Die Kinder sind noch mit den Dingen vermählt.
Der jugendliche Schnee war gottseidank nicht geräumt und vom Wind glatt gerieben und überall hin angeschmiegt worden: Da und dort riss er ihn von den Bäumen herab, die kahl und schwarz dastanden und die ich nicht mehr benennen konnte; ich freute mich durch den Schnee stapfen zu können, mir wurde wärmer, mein Körper richtete sich auf und begann Wind und Kälte in sich aufzusaugen. Ich querte die Straße und nahm einen verschneiten Fußweg entlang der Liesing, einem jener hinterlistigen Flüsse Wiens, die Tag auf, Tag ab, einem Rinnsal gleichen und wenige Male im Jahr unerwartet zu einem reißenden Strom anschwellen. Aus gutem Grund, vielleicht aus Rache, hatte man sie in ein tief eingeschnittenes, steinernes Bett gezwungen.
Irgendetwas ließ alles wieder einmal anders aussehen, mich anders empfinden. Ich war oft am Fluss entlang spaziert, es war ein Weg den ich gerne nahm, stromabwärts hin und stromaufwärts wieder zurück. Es bliebt ein ewig unlösbares Mysterium, wer da wem das Empfinden gab, warum es manchmal so hartnäckig gleich und dann wieder so wechselhaft war: Goss man sein Inneres über die Landschaft oder lockte diese es, im Spiel von Wetter und Jahreszeit, in immer neuen Nuancierungen aus einem heraus? Ich ging nahe am Fluss, dessen eisgraues Wasser leise gurgelte: Mir war unheimlich zu mute, denn ich war hier niemals so spät und im Dunkeln spazieren gegangen. Niemand begegnete mir und ich wagte nicht zu pfeifen oder zu singen, wie ich es beim Spazieren gerne tat, nicht einmal lautlos und innerlich. Mir war als ob ich etwas störte, einen Raum beanspruchte, der von anderem betreten werden wollte. Also horchte ich in die Stille, in der jedes noch so verhaltene Geräusch aufging und einen Raum ergriff, weniger durch Stärke, als durch Verästelung und Wachstum. Es war die Stunde des Verhaltenen, das sich bemerkbar machte, wo das Mächtige und Vordergründige zu zerfließen und sich in den Schatten aufzulösen begann. Die Aufmerksamkeit konnte sich ihm, sofern sie sich eine Offenheit bewahrt hatte, nun zu wenden. Mir kam irgendetwas in den Sinn, Gestalten, Worte, aber ich drängte sie zurück, es war nicht ihre Stunde, ich ermahnte mich und lies es sein: Der Fluss gewann seine Präsenz wieder, der Wind zerrte dann und wann an den Zweigen oder an den dürren Halmen an der Böschung; ich hörte wieder wie meine Füße auf den ertaubten Boden traten, das Gras knabberte an seiner Krause aus Schnee und Eis, irgendetwas murrte, ein Tier, vielleicht eine Krähe, immer mehr trat hervor, trat an mein Ohr, das immer schwieriger zu benennen war, ein säuselnder, zischender Hintergrund, eine sonst schweigende, überhörte Wirklichkeit.
Der Fluss machte einen Bogen, ich verließ ihn und hielt wieder auf bebautes Gebiet zu: Noch immer war mir niemand begegnet und ich hoffte nicht darauf, als ich eine kleine Gasse, die offen zum Fluss hin endet, betrat: Besser konnte man nicht unter Menschen sein, als durch eine leere Gasse zu gehen, vorbei an den beleuchteten Fenstern, aus denen ein süßer, heimeliger Duft strömt und Licht durch die Vorhänge und Spalten der Rollläden fällt. Einige Augenblicke genoss ich ein Gefühl von Erhabenheit, das in mir hoch kam, als ich da langsam und neugierig überall hinsehend, herum schweifte, die mir nicht zustand, aber dennoch da war. Wieviel Narretei, wieviel Spießertum mochte hinter den Scheiben liegen, fragte ich mich, während ich den lockeren, roten Lack auf dem Rahmen eines Fensters im Erdgeschoss abzublättern begann: Ich war stehen geblieben und das orangene Licht, das durch den schlampig zugezogenen, filzigen Vorhang fiel, zog mich an. Ich konnte nicht ins Innere sehen, aber das Licht verriet Behaglichkeit. Was mochte da drinnen noch zu finden sein? Wärme? Geborgenheit? Was mochten die Bewohner tun? Ich erschrak, als ich auf den Boden sah und er von Lacksplittern übersäat war. Ich riss mich los und machte mich davon, wie ein Schüler, der etwas kaputt gemacht hatte und nicht von seinen Lehrern ertappt werden wollte.
Plötzlich stand ich vor einer Gasse, die ich nicht kannte, ich ging hinein, nahm die nächste Möglichkeit rechts und ging eine Weile geradeaus: Das Neue sog meine Aufmerksamkeit auf und ich vergaß meine Angst. Sie bestand aus kleinen, maximal zweistöckigen Häusern, sie hätte gut und gerne auf dem Land Teil eines Dorfs sein können. Gleich zu Beginn entdeckte ich ein kleines Gasthaus, in dem es allerdings schon dunkel war und in der Mitte eine Tischlerei, recht groß, es musste ein gut gehender Betrieb sein. Ich blieb kurz stehen und ging so weit zurück wie ich konnte: Es war für diese Gasse ein ungewöhnliches Gebäude, es trug einen langen Schornstein und war durch mehrere An- und Zubauten gezeichnet. Meisterbetrieb, las ich am Tor. Ich wandte mich ab. Das Ende der Gasse lag im Dunkeln, ich erkannte nicht einmal ob dort Häuser standen, ich wurde wieder neugierig und ging rasch darauf zu: Verblüfft blieb ich, dort angekommen, eine ganze Weile still stehen. So weit war ich also schon gekommen! An dieser Stelle war lange Zeit eine riesige brachliegende Fläche gewesen, als Kind hatte ich häufig hier gespielt, im hohen, dürren Gras, das, wenn wir unsere Köpfe auf den Boden, ganz nahe an seine Halme gelegt hatten, den Himmel kitzelte. Aber nur hier, sonst nirgends! Vor einigen Jahren war auf dieser Kindheitsfläche, wie ich sie irgendwann zu nennen begonnen hatte, eine Reihenhaussiedlung angelegt worden, ein Art Mustersiedlung, wie sich die Architekten das Wohnen eben vorstellten. Die Architekten oder die Stadtplaner. Aber vielleicht wollten wir auch so wohnen. Es war ein Ort im Bezirk, fast ein eigener Stadteil, an Spielplätze, Kindergärten, eine Schule, Nahversorgung, Schwimmbad, an alles war gedacht worden. Die Siedlung war schön im Sinn gelungenen Designs, zweifelsohne hatte da jemand eine Idee gehabt, aber hatte er mehr gehabt, etwa diejenigen vor Augen, die darin wohnen sollten und die Funktionalität, die diese sozusagen einforderten? Alles war ganz nett, sauber und glänzend, aber wohnen wollte ich auf dieser Fläche meiner Kindheit nicht, sie zog mich nicht mehr an, das Gras war nun kurz, saftig grün und künstlich, die Spielplätze waren zum Teil sogar mit unbearbeiteten Baumstämmen ausgestattet, fast unwirklich gegen die weichen und grell leuchtenden Gummiböden. Die Laternenpfähle und die Zäune der kleinen Wohnungen im Erdgeschoss blitzten dunkelgrün und verhalten, fast fehl am Platz standen die dünnen, schütteren, erst vor kurzem gepflanzten Bäume in einiger Entfernung zu den Spielplätzen, herum: Eben, alles war irgendwie schön, die Fahrrad- und Kinderwagenräume ebenerdig und die Parkgaragen geräumig, also praktisch, aber stimmig war es nicht. Dazu passte, dass die Garagen mit einem Leitsystem ausgestattet waren und man sogar für die Miet- und Genossenschaftswohnungen der Anlage Einkommensnachweise vorzulegen hatte. Nur die Gummiwannen gefielen mir, rotorange, mit einem Rand auf dem man laufen konnte.
Ein Bekannter hatte einmal süffisant angemerkt, dass nur noch Narren heute Spielplätze mit Bäumen anlegten: Wegen der Äste, die herunterfallen könnten, setzte er nach. Ich war darüber unglaublich wütend geworden, aber meine Verteidigung der Bäume, vor allem der Platanen, ihrer breiten Blätter und kugeligen Früchte und der Schatten, die sie warfen, war vergebens. Meine Ansichten kamen mir vor, als ob sie aus der Zeit gefallen waren, ohne Chance Gehör zu finden, als ob sie Sturm gegen einen Wall liefen, den sie nie überwinden würden können, weil sich dieser auf eigenartige Weise dem Streit entzog. Ich hatte keine Lust durch die Siedlung zu gehen und nahm den Weg Richtung Kindergarten, der auf einer freien Fläche gemeinsam mit einem Spielplatz etwa im Zentrum der Anlage lag: So kam ich wenigstens nicht in die Nähe der Häuser. Am Ende der freien Fläche, nach dem letzten Spielplatz, als Abschluss zur Straße hin, ragte ein großer, künstlich aufgeschütteter und mit Gras bewachsener Hügel auf. Aus meiner Kindheit kannte ich ihn nicht, er war wohl zur gleichen Zeit wie die Siedlung entstanden. Der Hügel zog mich magisch an: Ich lief hin und hastig durch das dürre, aber noch hohe Gras, das weit über die Schneedecke hinaus ragte. Der Schnee spritzte nach allen Seiten und beinahe rutschte ich aus, als ich in eine vom Schnee gefüllte Untiefe trat. Es war steiler als ich gedacht hatte und anstrengend, auch wenn nicht viel mehr als fünfzehn Höhenmeter zu überwinden waren. Ich blieb kurz stehen, drehte mich ein Stück und ging nun schräg gegen den Hang hinauf; ich stieß auf eine Rinne, blieb in ihr und es dauerte nicht mehr lange und ich war oben. Wie ich schon von unten vermutet hatte, war der Hügel plan, seine Spitze quasi gekappt worden. Er war aufgeschüttet, unzweifelhaft. In der Mitte standen einige blecherne Vogelhäuser, übermannsgroß und skurril, die mit dem Wind, der hier wieder zu spüren war, klapperten. Sonst nichts, nicht einmal eine Bank; ich runzelte die Stirn: Wenn den Vögeln ebenso seltsam wie mir zu Mute war, warum sollte auch nur ein einziges Tier hier nach Futter suchen oder gar nisten? Ich fand keinerlei Hinweise, dass die Vogelhäuser besucht oder in irgendeiner Form genutzt wurden. Ich begann seitwärts zu rutschen, verlagerte mein Gewicht von einem Fuß auf den anderen und ging dann von der einen zur anderen Seite, sah hinunter, sah zu den Vogelhäusern zurück, hinauf in den wolkenlosen Himmel und ging beim Wechseln der Seite an ihnen vorbei: Ratlos trieb es mich hin und her. Mich hielt das alles gefangen, lange. Irgendwann ließ es mich los oder ich befreite mich und ich ging wieder zurück. Merkwürdig, dachte ich auf dem Rückweg, mich an ein Gefühl vor einiger Zeit wiedererinnernd, als ob die Unstimmigkeit der ganzen Siedlung in dem Hügel kumulierte.
Das hat mich ein wenig an M Blechers »Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit« erinnert. (Auch wenn ich mich nicht so ganz in das Buch einfinden konnte, kann ich’s doch empfehlen.)
Der Text hat auch, trotz etwas Fernheit, etwas zum Schwingen gebracht. Hoffe kann später etwas mehr antworten.
You lose yourself, you reappear /
You suddenly find you got nothing to fear /
Alone you stand with nobody near /
When a trembling distant voice, unclear /
Startles your sleeping ears to hear /
That somebody thinks they really found you /
& Belonging (Jan Gabarek)
Leseeindruck ist nun leider fast schon verhallt; worüber aber ich hatte schreiben wollen: Dass dieser Text aus einem landschaftlichen, bebauungsplanverursachten Unbehagen eine Reflexion beginnt, eine tastende Suchbewegung. Und dass mir das wieder hat klar werden lassen, worum es in der Kunst eigentlich geht: Empfindsamkeit.
Die Vokabel hat geschichtlichen Ballast, aber ich versuche sie trotzdem, weil ich denke, dass es hier um eine Kerneigenschaft geht: dass ein Künstler die Sensitivität habe, hinter den Dingen des Tagesgeschehens und des Alltags mehr zu spüren und zu sehen, und dies dann in einer eigene Sprache, eine eigene Form ausdrücken kann.
(Fast so: https://www.textlog.de/kierkegaard-ein-dichter.html)
Daran anschließend.. ja, vielleicht gibt es bei Thomas Mann, oder davor schon in ETA Hoffmanns »Sandmann« diesen dialektischen Gegensatz von prosaischem Alltag gegen die schillernde, andersartige Sphäre der Kunst (bei Mann dann eher bohème). Dies gilt es immer wieder neu auszuloten,.. um ein wahres Innen zu erschaffen, das sich gegen das »falsche« Außen behaupte. (Das wäre dann mehr der systemtheoretische Winkel: dass das künstlerische Ich/System selbst diese Grenzziehung ist, in der es sich von der Außenwelt scheidet.) Is’ ein bisschen weit abgedriftet, aber ich finde diese Abgrenzungstendenz, die Suche nach einer eigenen Position in der Definition dessen, was dich überhaupt an dem neuen Aussehen des Viertels stört, enthält das letztlich schon...
Schöner Kommentar.
Danke. Ein anderer Blick lässt häufig etwas anderes am Eigenen sichtbar werden, ich schätze das sehr. Wobei das Innere oder Eigene ein Äußeres, ein Anderes benötigt, um überhaupt sichtbar zu werden, insofern ist diese Grenzziehung niemals rein.